ADB:Petersen, August

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Artikel „Petersen, August“ von Otto Dreyer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 25 (1887), S. 496–500, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Petersen,_August&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 05:03 Uhr UTC)
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Petersen: Johann Christoph August P., geb. am 18. November 1808 in Erfurt, † am 1. November 1875 als Generalsuperintendent des Herzogthums Gotha. P. hatte früh seinen Vater, einen Erfurter Fabrikanten, durch den Tod verloren. Er wuchs unter den Augen einer sorgsamen Mutter und wohlwollender Lehrer als ein überaus fleißiger und gut gearteter Knabe auf und absolvirte zu Ostern 1828 das Gymnasium seiner Vaterstadt mit dem Reifezeugniß ersten Grades. Mit der Absicht, classische Philologie zu studiren, ging er nach Berlin, wurde aber bald durch den Einfluß Schleiermacher’s – welchem er später, bei der 100jährigen Wiederkehr seines Geburtstages 1868 ein schönes litterarisches Denkmal gesetzt hat („Schleiermacher als Reformator der deutschen Bildung“. Festrede. Gotha 1869) – für die Theologie gewonnen. Die 4 Jahre seines Berliner Studiums sind für sein Leben entscheidend gewesen. Als Schüler von Schleiermacher, Neander, Theremin, Steffens und im persönlichen Umgang mit diesen hervorragenden Männern, besonders auch durch häufigen Verkehr im Hause des Hofpredigers Strauß, den er seinen geistlichen Vater nannte, gewann er jenen offenen Sinn für alles menschlich Große und Schöne und in unauflöslicher Verbindung damit jene begeisterte Liebe zur evangelischen Kirche, jene wechselseitige „Durchdringung des Evangelismus und des Humanismus“, wie er sich theologisch auszudrücken liebte, durch welche er Vielen zum Segen geworden ist. Auch als Hauslehrer bei dem Grafen Karl von der Gröben in Berlin brauchte er von dem liebgewordenen Verkehr nicht zu scheiden und gewann er überdies reichliche Nahrung seiner vaterländisch-christlichen Gesinnung. Nachdem er das erste theologische Examen „sehr gut“, das zweite „vorzüglich gut“ bestanden hatte, fand er in seiner Vaterstadt Erfurt 1834 eine Anstellung als Diakonus an der Thomaskirche, wurde aber schon im folgenden Jahre als Pfarrer nach Buttelstedt bei Weimar berufen, wo er 15 glückliche, arbeits- und segensvolle Jahre verlebt hat. Seine Hauptsorge galt der Gemeinde. Er war ein Seelsorger von unermüdlichem Eifer und gewissenhafter Treue. Aber seine Amtspflichten ließen ihm noch Muße genug zu schriftstellerischer Thätigkeit. Durch eine seiner Examenarbeiten: „Aus welchen Ursachen muß die Entstehung der [497] Differenzen und Spaltungen zwischen der lutherischen und der reformirten Kirche abgeleitet werden?“ hatte er den ersten Anstoß zu gründlicher Vertiefung in die Lehre von der Kirche erhalten. Als nun 1837 Richard Rothe’s epochemachendes Werk über „die Anfänge der christlichen Kirche und ihrer Verfassung“ erschien, fand Petersen sich durch die genialen Gedanken dieses Buches ebensosehr gefesselt wie zum Widerspruch gereizt. Rothe trug hier zum ersten Male seine vielfach mißverstandene Lehre von dem Aufgehen der Kirche in den Staat vor. Nach ihm hat Christus das Gottesreich, welches er auf Erden gestiftet, in seiner Vollendung nicht unter der Form der Kirche, sondern als eine politische Gemeinschaft gedacht. Christus hat nach Rothe ein eigenthümliches geistiges Leben in der Menschheit angezündet, welches dazu berufen ist, auf dem Wege der geschichtlichen Entwicklung sich der natürlichen Form des menschlichen Gemeinschaftslebens immer mehr zu bemeistern und diese von ihm beseelte natürliche Form selbst, mithin den christlichen Staat, zum Organ für seine weitere Wirksamkeit zu machen. Als Bedingung und Mittel für die Realisirung dieses seines letzten Zweckes mußte der Herr auch eine Kirche wollen d. h. eine rein und ausschließlich religiöse Gemeinschaft. Denn ohne sie würde die Erfüllung des natürlichen Gemeinschaftslebens mit christlichem Geist nicht erreichbar sein. Je weiter aber der geschichtliche Proceß fortschreitet, desto mehr tritt die Kirche zurück, bis sie in der Vollendung gänzlich aufgehört haben wird, eine besondere Form der Gemeinschaft zu bilden. Eine Hauptetappe auf diesem Wege ist die Reformation. – Diesem kühnen Gedanken trat P. in seinem Buche: „Die Idee der christlichen Kirche. Zur wissenschaftlichen Beantwortung der Lebensfrage unserer Zeit ein theologischer Versuch. Erster analytisch-critischer Theil.“ 1839, entschieden entgegen, indem er die Rothe’schen Ausführungen Schritt für Schritt zu widerlegen suchte. Seine Ansicht, daß die Kirche auch im vollendeten Gottesreich neben dem Staate und der Cultur und auf’s innigste mit diesen beiden vereinigt ein bleibender Theilorganismus sein werde, entwickelte und begründete er ausführlich in der „Lehre von der Kirche“, deren erstes und zweites Buch: „von dem Wesen und der Organisation der Kirche“ als zweiter, synthetisch-dogmatischer Theil des ganzen Werkes 1842 an das Licht der Oeffentlichkeit trat, während der dritte, historisch-pragmatische Theil: „von der Entwickelung der Kirche“ 1846, das umfangreiche Gebäude krönte. Dieser dritte Theil „und mit ihm das Ganze“ ist der theologischen Facultät zu Erlangen gewidmet, welche bei Gelegenheit ihres 100jährigen Jubiläums 1843 P. zum Doctor der Theologie creirt hatte. In dem dreibändigen Werke steckt eine Fülle theologischer Gelehrsamkeit. Alle mit dem Hauptthema in Verbindung stehenden Fragen, Lehre, Cultus und Disciplin der Kirche, das Amt des Geistlichen, die Kirchenverfassung, Katholicismus und Protestantismus, Reformation, Confession, und Union werden unter fortlaufender Berücksichtigung der einschlägigen Litteratur und unter Hinweis auf den Zusammenhang mit fernerliegenden theologischen Problemen gründlich erörtert. Leider ist der schwerfällige Formalismus der Darstellung einer weiteren Verbreitung des Buches hinderlich gewesen. Ein schöner Erfolg für den Verfasser selbst war die Herzensfreundschaft mit seinem Widersacher Rothe, die, aus der edlen Haltung der wissenschaftlichen Polemik geboren, im Briefwechsel und persönlichen Verkehr sich entfaltend, P. bis zum Heimgange Rothe’s 1867 hoch beglückt hat. Das praktische Resultat seiner Studien aber war, daß er bei allem Wechsel der Zeiten als ein treuer Sohn der lutherischen Kirche zugleich für das gute Recht der Union mit mannhafter Ueberzeugung eintreten konnte. Gegen die Lichtfreunde einerseits und die hereinbrechende Reaction andererseits suchte er in den vierziger Jahren auf stürmisch [498] bewegten kirchlichen Versammlungen in Weimar, Apolda, Kösen, Wittenberg das Bekenntniß zu der Souveränität Christi und seines Wortes als das für den Bestand der Kirche einzig Nothwendige mit flammender Rede in die Herzen zu pflanzen. Auch mit der Feder arbeitete er rastlos für diesen hohen Zweck. Nicht mehr für die Gelehrten wollte er nun schreiben, sondern für sein theures deutsches Christenvolk. Größeres kannte er nicht, als – nach dem immer wieder von ihm citirten Uhland’schen Wort – „für unser Volk ein Herz“. Diese Liebeswärme fühlt man der „bürgerlichen Geschichte“ an, welche unter dem Titel: „Der Lichtfreund oder die Kindtaufe“ 1847 erschienen ist. „Wie das Büchlein von einem geschrieben wurde, dessen Freude und Stolz es ist, ein Sohn des deutschen Volkes zu sein, so sollte es aus dem Herzen des Volkes heraus geschrieben sein, um in’s Herz des Volkes einzugehen. O möchte es doch ein deutsches Volksbuch werden, ein Buch für Alle aus allen Ständen, die als echte Deutsche auch rechte Christen sein wollen!“ Ein biederer Handwerker, der sich von der lieblosen Strenggläubigkeit seiner Verwandten abgestoßen fühlt, wird aus der Gefahr, von den Netzen der Freigeisterei umstrickt zu werden, durch den Einfluß eines bewährten Christen und durch die Kreuzschule des Lebens gerettet und zum rechten, in der Liebe thätigen Glauben geführt. An den Faden dieser Erzählung werden als Hauptbestandtheil des Buches Gespräche über die religiösen Zeitfragen aufgereiht. Das Buch würde ohne Zweifel mehr Leser im Volke gefunden haben, wenn in der Geschichte mehr geschähe und weniger gesprochen würde. Dem gleichen Zwecke, wahres Christenthum im Volke zu pflanzen, diente die Herausgabe einer fast vergessenen geistvollen Schrift des Grafen von Zinzendorf, gewöhnlich kurzweg „der Passagier“ genannt. Der eigentliche Titel lautet: „Sonderbare Gespräche zwischen einem Reisenden und allerhand anderen Personen von allerlei in der Religion vorkommenden Wahrheiten“. Diese Schrift, die bei ihrem ersten anonymen Erscheinen 1739 bereits drei Auflagen erlebt hatte, ist auch in der Ausgabe von P. zweimal aufgelegt worden (1849 und 1869).

Die vielseitigen Verdienste Petersen’s und sein kräftiges Auftreten hatten zur Folge, daß er 1850 als Nachfolger Bretschneider’s zum Oberpfarrer der Stadt Gotha gewählt wurde. Herzog Ernst ernannte ihn unter Bestätigung der Wahl alsbald zum Superintendenten, 1852 zum Oberconsistorialrath und Generalsuperintendenten des Herzogthums. In dieser hohen und verantwortungsvollen Stellung ist es ihm noch gerade 25 Jahre zu wirken vergönnt gewesen. Er übte sein Amt mit Milde und nahm sich mit wahrhaft väterlicher Sorgfalt der ihm untergebenen Geistlichen an. Die Generalvisitationen gereichten ihm zu wahrer Herzerquickung, abgesehen von den Fällen, wo er tadeln und strafen mußte, was ihm schwer wurde. Den in Thüringen festgewurzelten Rationalismus behandelte er schonend, suchte ihn aber evangelisch zu vertiefen. Um das Volksschulwesen hat er sich durch Aufstellung eines Lehrplans, den er selbst als eine „Sorgenarbeit vieler Jahre“ bezeichnete, durch Bearbeitung einer Fibel und eines Lesebuchs und namentlich durch die Organisation des Religionsunterrichts große Verdienste erworben. Die Volksschule hatte er besonders lieb, und es war ein tiefer Schmerz für ihn, als 1863 bei durchgeführter Trennung der Kirche von der Schule im Herzogthum Gotha das Wirken auf diesem Gebiete ihm fast ganz entzogen wurde. In der Prima des Gymnasiums gab er mit Freuden den Religionsunterricht.

Man könnte P. nicht mit Unrecht einen Virtuosen der Frömmigkeit nennen. Alle großen und kleinen Erlebnisse dienten ihm selbst zur Vertiefung des Sündenbewußtseins sowohl wie zu erneutem Lobpreis der göttlichen Gnade in Christo. So waren denn auch seine Predigten ausgezeichnet durch die eindringliche Kraft der glaubensvollen Ueberzeugung, die aus jedem Worte zu spüren [499] war. Ein warmes, überwallendes Gefühl, das namentlich bei festlichen Gelegenheiten zu mächtiger Begeisterung sich steigerte und den Redner über sich selbst hinaushob, riß die Gemeinde mit sich fort. Seine Predigten vorher auszuarbeiten und zu memoriren war einem Manne wie P. unmöglich. Sie waren nach vorausgegangener ernster Geistes- und Herzensarbeit ein freier Erguß des frommen Gemüthes. Wenn ebendeshalb zu günstiger Stunde und auf festlicher Höhe der Eindruck ein bedeutender war, so konnten freilich an gewöhnlichen Sonntagen oder bei körperlicher Indisposition auch die Mängel einer solchen Methode nicht verborgen bleiben. Hinter der Ueberschwänglichkeit des Gefühls blieben die häufig wiederholten und nur locker verknüpften Gedanken alsdann wohl empfindlich zurück. Einzelne Predigten hat P. auf Wunsch, nachdem er sie gehalten, für den Druck aufgeschrieben. Die gelesenen geben auch nicht von ferne die Wirkung des gehörten Wortes wieder. Wir heben als charakteristisch hervor: „Wir sind Gottes Volk! Eine Landpredigt zum 1000jährigen Jubelfeste Deutschlands.“ 1843. (Diese Predigt mußte sich in der Röhr’schen kritischen Predigerbibliothek eine sehr abfällige und ungerechte Beurtheilung gefallen lassen, welche von dem Verfasser als „unbarmherzige Mißhandlung seines Lieblingskindes“ schmerzlich empfunden wurde.) Ferner: „Gottes friedebringender Segen in Kriegzeit.“ 1866, und: „Unsere Siegesfreude.“ 1870. Auch die treffende Rede am Grabe seines Freundes Fritz Reuter mag hier erwähnt sein, abgedruckt in: „Ein Andenken an Fritz Reuter’s Begräbnißfeier.“ 1874.

Seit 1858 stand an der Spitze der Gothaischen Landesgeistlichkeit neben P. der Oberhofprediger D. Carl Schwarz. Beide hatten sich zum Text ihrer Antrittspredigt das apostolische Wort 2. Cor. 1,24 gewählt: „Nicht, daß wir Herren seien über euren Glauben, sondern wir sind Gehilfen eurer Freude; denn ihr stehet im Glauben“, und befanden sich in der Anwendung dieses Grundsatzes auf ihre Amtsthätigkeit in erfreulichster Uebereinstimmung. Von Art aber waren sie grundverschieden. Bei Schwarz zeigte sich eine bewunderungswürdige Schärfe des Gedankens, ein rücksichtsloses Urtheil, ein rasches und entschiedenes Vorgehen, eine unüberwindliche Abneigung gegen jede Art von Vermittelung, während P. auf allen Seiten das Gute herausfand und anerkannte, gern dilatorisch verfuhr, stets den Frieden zu bewahren oder wiederherzustellen suchte und allem Parteiwesen abhold war. Es ist beiden, dem tapferen Streiter und dem milden Vermittlungstheologen, nicht leicht geworden, sich in einander zu finden. Der Gothaischen Landeskirche aber hat dieses sich ergänzende Nebeneinander zu großem Segen gereicht. Schwarz war einer der Stifter und Führer des deutschen Protestantenvereins. Auch P. trat, wenngleich nicht ohne schwere Gewissenskämpfe, dem Vereine bei, dessen rechten Flügel er mit Rothe und Baumgarten bildete. Von seinen früheren Freunden mußte er manches bittere oder befremdete Wort wegen seiner Zugehörigkeit zu diesem Vereine hören, konnte aber auf den Ausdruck des Bedauerns, daß er in eine seiner nicht würdige Gesellschaft hineingerathen sei, ehrlich erwidern, er sei vielmehr hineingewachsen. Auf dem ersten Protestantentage in Eisenach 1865 war P. der einzige, der sich gegen die von Schwarz aufgestellten und vertheidigten Thesen über die protestantische Lehrfreiheit erklärte, weil ihm die positive Stellung des Geistlichen zur heiligen Schrift nicht genügend in diesen Thesen gewahrt schien. Bei der Friedensliebe Petersens gehörte gewiß ein sehr anerkennenswerther Wahrheitsmuth zu dieser isolirten Opposition gegen seinen eigenen nächsten Collegen, der nicht gern Widerspruch ertrug. Diese von seinem Gewissen geforderte That und seine Stellung zu der verhandelten wichtigen Frage hat P. in einem lesenswerthen Schriftchen erklärt: „Die protestantische Lehrfreiheit und ihre Grenzen. Ein offenes Wort zum ersten [500] deutschen Protestantentage.“ 1865. Dem Protestantenverein ist P. bis an sein Ende unwandelbar treu geblieben. Daß ein solcher Mann mit seinem warmen Herzen voll Liebe in seinem Hause beglückt und beglückend lebte, bedarf der Versicherung nicht. Seine Gattin starb schon im Jahre 1857 nach 18jähriger Ehe, aus welcher zwei Töchter, gegenwärtig an Gothaische Superintendenten verheirathet, entsprossen sind. P. selbst feierte noch im October 1875 mit voller, vielleicht zu tiefer Betheiligung seines Gemüthes das 25jährige Jubiläum seiner Wirksamkeit in Gotha. Am Tage darauf erkrankte er und entschlief sanft und schmerzlos am 1. November. Er bleibt im Lande Gotha unvergessen.