ADB:Reinbeck, Johann Gustav
Andreas R., angeblich aus einer altadligen Familie des Herzogthums Schleswig abstammend, war Prediger auf der Blumlage zu Celle, später Propst und Pastor zu Lüchow, und hat durch zwei Schriften über die hebräischen Accente als gründlichen Kenner dieser Sprache sich bekannt gemacht († 1705). Von ihm erhielt der trefflich begabte Sohn eine sorgfältige Erziehung, wurde von Hauslehrern, besonders einem nachmaligen Prediger Lindenberg, gründlich unterrichtet und bezog mit guten Kenntnissen, besonders in den alten Sprachen, ausgerüstet, 1700 die Universität Halle, wo damals in der theologischen Facultät die pietistische Richtung in J. J. Breithaupt, P. Anton, A. H. Francke, J. H. Michaelis, J. Lange u. s. w. ihre Vertreter hatte, wo aber auch seit 1706 die Wolfische Philosophie Eingang gewann. R. erregte durch seine glückliche Begabung, seinen musterhaften Fleiß, seinen frommen und geordneten Wandel bald die Aufmerksamkeit und gewann die Liebe seiner Lehrer. Schon 1702 wurde er Mitglied des von Francke gestifteten Collegium orientale theologicum und Mitarbeiter von J. H. Michaelis bei Vergleichung der verschiedenen Ausgaben und Handschriften der hebräischen Bibel zum Zweck der von ihm veranstalteten kritischen Ausgabe des Alten Testamentes. Neben den philologischen und theologischen wandte er sich bald mit Vorliebe auch philosophischen Studien zu: hier war er zuerst ein Schüler und Anhänger von Joh. Franz Buddeus, eines Gegners der Wolfischen Philosophie (s. A. D. B. III, 500), besuchte aber auch die Vorlesungen Christian Wolf’s, anfangs in der polemischen Absicht, den nachtheiligen Einfluß seiner Lehre auf die Theologie zu bekämpfen. Bald aber, bei gründlicherem Studium der Leibnitz-Wolfischen Philosophie gewann er zu seiner Freude die Ueberzeugung, daß dieselbe Vieles enthalte, was für die Theologie brauchbar sei, ja daß der Nutzen derselben den von ihr gefürchteten Schaden überwiege, und wurde von da an ein Hauptvertreter des „theologischen Wolfianismus“, obwohl er selbst niemals zu den „Wolfianern der strikten Observanz“ gehörte und gehören wollte. Seine Lehrer in der Theologie waren vorzugsweise Breithaupt und Anton; unter ihrem Einfluß verfaßte er seine erste theologische Schrift: „Von der Erlösung durch das Lösegeld des Blutes Christi“ (tractatus theol. de redemtione per λύτρον, qua satisfactio Christi asseritur eoque fine Democriti Christiani: Apostolischer Wegweiser examinatur, Halle 1710; 2. Aufl. Berlin 1740; deutsch übersetzt von J. M. Keck, Jena 1740), – eine Vertheidigung der kirchlichen Lehre von der stellvertretenden Genugthuung und dem Heilswerth des Todes Christi gegen die Angriffe von Johann Konrad Dippel.
Reinbeck: Johann Gustav R., einer der würdigsten, helldenkendsten und einflußreichsten protestantischen Theologen des 18. Jahrhunderts, ist geboren am 25. Januar 1683 zu Celle in Hannover, † am 21. August 1741 zu Schönwalde bei Berlin. – Sein Vater,Nach Vollendung seiner theologischen Studien wurde er 1709 infolge einer einstimmigen Empfehlung der Halleschen theologischen Facultät Adjunct des Berliner Propstes Johann Porst und einige Jahre später Prediger an der Friedrichswerderschen und Dorotheenstädtischen Gemeinde in Berlin. Er führte sein geistliches Amt mit Liebe und Treue, beschäftigte sich aber daneben auch mit wissenschaftlichen Studien und schriftstellerischen Arbeiten, z. B. zwei Gegenschriften gegen die damaligen, vom Hofe ausgehenden Unionsprojecte zwischen Lutheranern und Reformirten (1712–13), einer Streitschrift gegen Christian Thomasius „Ueber die Natur des Ehestandes und die Verwerflichkeit des Concubinates“, 1715, einer Schrift gegen L. C. Sturm „Ueber die Einsetzungsworte des heiligen [3] Abendmahls“, 1716, sowie mit Herausgabe einer theologischen Zeitschrift unter dem Titel: „Freiwilliges Hebopfer von allerhand theologischen Materien“, Berlin 1715 ff. (in 5 Bänden oder 48 Beiträgen zur Erklärung dunkler Stellen des Alten und Neuen Testamentes). Unterdessen war er dem König Friedrich Wilhelm I., der ihn längst als einen trefflichen Kanzelredner und vielseitig gebildeten Gelehrten geschätzt hatte, persönlich bekannt geworden, und wurde von ihm nach dem Tode des bisherigen Propstes der Petrikirche, Schnaderbach, 1717 zu dessen Nachfolger als Propst von Cölln, später 1729 auch zum Consistorialrath ernannt. Er benutzte seine kirchenregimentliche Stellung besonders zur Verbesserung des Predigtwesens: wie seine eigenen Predigten, von denen viele gedruckt sind, durch klare Begriffsentwicklung und praktische Erbaulichkeit sich auszeichnen, mitunter aber freilich auch einen allzugroßen Einfluß der philosophischen Schulsprache zeigen, so verfaßte er aus Anlaß der königl. preußischen Generalkirchenvisitation vom Jahr 1738 eine eigene homiletische Anleitung unter dem Titel: „Grundriß einer Lehrart, ordentlich und erbaulich zu predigen nach dem Inhalt der K. Preuß. Cabinetsordre u. s. w.“, und ließ nach dieser Anleitung die Candidaten Predigten anfertigen, bei denen er vor allem drang auf „sorgfältige Disposition, gründliche Anwendung, correcte und faßliche Begriffsentwicklung, Verbindung von biblischen und philosophischen Beweisgründen“. Andere machten ihm freilich zum Vorwurf, daß er auf der Kanzel zu viel philosophire, und besonders der Wolfischen Philosophie zu viel Einfluß auf seine Predigten gestatte, und der Göttinger Professor Joachim Oporinus gab eine Gegenschrift gegen Reinbeck’s Grundriß heraus unter dem Titel: Bedenken über den Grundriß, nach der Wahrheit, Bescheidenheit und Liebe abgefaßt, 1741. Die Gunst und das Vertrauen seines Königs, der seine ernste Frömmigkeit, seinen gediegenen Charakter und seinen edlen Freimuth achtete, aber auch seine universelle Bildung und seine geselligen Talente schätzte, und der seines Rathes in kirchlichen Fragen und besonders bei Besetzung geistlicher Stellen sich gern bediente, blieb ihm unverändert erhalten bis zu seinem Tod; und auch sein Nachfolger, König Friedrich II., schätzte R. als einen Mann von Geist und Herz, ja sein Einfluß war bei ihm fast noch größer als bei seinem Vater. Insbesondere war es R., der schon in den letzten Regierungsjahren Friedrich Wilhelm’s I. und dann nach Friedrich’s II. Regierungsantritt die Verhandlungen mit Christian Wolf, wegen dessen Zurückberufung nach Preußen leitete: schon 1736 als Mitglied einer auf königlichen Befehl niedergesetzten Prüfungscommission sprach er sich dahin aus, daß „in Wolf’s Schriften viele schöne und für die Gottesgelahrtheit brauchbare Gedanken zu finden seien, daher es schade wäre, wenn dieselben länger confiscirt bleiben sollten“; und schon am sechsten Tage nach Friedrich’s II. Regierungsantritt erhielt R. von diesem den eigenhändigen Auftrag, „sich um den Wolf Mühe zu geben und ihn zum Rücktritt in die preußischen Dienste zu persuadiren“ (s. das Weitere in der Biographie von G. v. Reinbeck S. 90; vgl. auch Ludovici, Vollst. Historie der Wolf’schen Philosophie). Freilich nur kurze Zeit überlebte R. seinen königlichen Gönner: er starb, erst 58 Jahre alt, nach längerem Kränkeln, an einem plötzlichen Kolikanfall während eines Besuches bei der ihm eng befreundeten Familie eines Herrn v. Rosay auf dem adligen Gute Schönwalde bei Berlin, am 21. August 1741, hochgeachtet und von Allen betrauert. Sein Freund de Rosay setzte ihm ein Denkmal; die Gesellschaft der Alethophilen ließ eine silberne Denkmünze auf ihn prägen mit seinem Brustbild und der Umschrift Theologo φιλοσοφωτάτῳ ingenio, doctrina, integritate eximio etc.; sein Bild wurde gemalt von Pesne, in Kupfer gestochen von J. G. Wolfgang 1742. Auch erschienen nach seinem Tode noch verschiedene Sammlungen seine Predigten („Gedächtniß- und Leichenpredigten“, 1742); „Fortgesetzte Sammlung [4] ausgewählter Predigten“, 1743, 50; „Auserlesene Predigten, bei besonderen Gelegenheiten gehalten“, herausg. von Rambach 1750; „Auserlesene Predigten über die Sonn- und Festtagsevangelien“, 1754), sowie eine „Sammlung nachgelassener kleiner Schriften sowie Ehrengedächtniß des Verfassers“, 1743. Von seinen philosophischen Schriften fanden besonderen Anklang seine „Philosophischen Gedanken über die vernünftige Seele und deren Unsterblichkeit nebst Anmerkungen über eine französische Schrift, daß die Materie denke“, Berlin 1741, 8°, und seine Schrift über die „Harmonia praestabilita“, 1737, 4°. Sein bedeutendstes theologisches Werk aber, das ihm den größten Beifall der Zeitgenossen erwarb, allerdings aber auch manche Angriffe von Seiten der Orthodoxen zuzog, sind seine – freilich mehr populärtheologischen als streng wissenschaftlichen, und mitunter sehr stark nach Aufklärung schmeckenden – „Betrachtungen über die in der Augsburgischen Confession enthaltenen und damit verknüpften göttlichen Wahrheiten“, Berlin 1731–41, in 4 Theilen in 4° (nach seinem Tode fortgesetzt in 5 Theilen 1743–47 von dem Tübinger Theologen I. G. Canz). Dieses Werk, aus Predigten entstanden, herausgegeben zur Gedächtnißfeier der Augsburgischen Confession, will nicht sowohl eine historische Darstellung des Inhaltes der Conf. Augustana geben, als vielmehr einen populärphilosophischen Nachweis von der Vernünftigkeit der christlichen Weltanschauung, einen Beweis gegenüber den heutigen Räsonneurs, wieviel göttliche Wahrheiten der heiligen Schrift auch aus vernünftigen Gründen hergeleitet werden können. Auf besonderen Befehl des Königs Friedrich Wilhelm I. mußte dieses Werk von allen Kirchenbibliotheken in den preußischen Landen angeschafft werden; aber auch anderwärts fand es in hohen und niederen protestantischen und katholischen Kreisen (z. B. bei dem Prinzen Eugen von Savoyen) vielen Anklang; ja sogar eine französische Uebersetzung desselben beabsichtigte der König, damit auch den auswärtigen Nationen die Wahrheiten der evangelischen Religion besser bekannt werden. Aber auch an Angriffen gegen das Werk von Seiten der Orthodoxen und Pietisten wegen der darin entdeckten Spuren Wolfischer Philosophie fehlte es nicht. Friedliebend wie er war und mild im Urtheil über Andere, ertrug er solche Angriffe mit seltenem Gleichmuth und war insbesondere weit davon entfernt, die Gunst seines Königs für sich zu benutzen, um seine Gegner zum Schweigen zu bringen, – treu dem Grundsatz, „daß man große Herren nicht in gelehrte Streitigkeiten hineinziehen, und theologisch-kirchliche Fragen nicht durch Machtsprüche entscheiden lassen dürfe, da dies für die Wissenschaft ebenso verderblich sei wie für die Kirche.“ Aber auch an Zeichen der Anerkennung von Seiten Gleichgesinnter fehlte es ihm nicht: so verlieh ihm 1738 die theologische Facultät der Universität Königsberg die Würde eines Doctors der Theologie. – Seine häuslichen Verhältnisse waren sehr glückliche: er war seit 1710 verheirathet mit seiner Cousine Margarethe Scott, der Tochter eines kurfürstlich braunschweig-lüneburgischen Leibarztes, und Vater einer zahlreichen Kinderschaar, für deren Erziehung und Ausbildung er gewissenhaft sorgte. Ein Sohn von ihm war der im Jahre 1805 in Berlin verstorbene Archidiakonus an der Petrikirche, Senior und Consistorialrath R., sein Enkel der 1849 in Stuttgart verstorbene Professor und Hofrath Georg v. R., der 100 Jahre nach des Großvaters Tod dessen Leben beschrieben hat unter dem Titel: Leben und Wirken des Dr. th. Johann Gustav Reinbeck, nach Urkunden und Familiennachrichten u. s. w., Stuttgart 1842.
- Außerdem vgl. Büsching, Lebensgeschichte denkw. Personen, I. Theil, 1783, S. 141 ff. – Jöcher-Rotermund III, 1985; VI, 1663. – Hirsching, IX, 340 ff. – Neubauer, Nachrichten, 307. – Döring, Die gel. Theologen Deutschlands, III, 499 ff. – Gaß, Geschichte der prot. Dogmatik, III, [5] 126 ff., 178 ff. – Tholuck, Gesch. des Rationalismus, I, S. 141 ff. – Sack, Gesch. der Predigt, S. 19 ff. – Christlieb in der Prot. Real-Encyklopädie VI, 287; XVIII, 574.