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ADB:Vermehren, Johann Bernhard

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Artikel „Vermehren, Johann Bernhard“ von Oskar Franz Walzel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 623–626, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Vermehren,_Johann_Bernhard&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 07:25 Uhr UTC)
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Band 39 (1895), S. 623–626 (Quelle).
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Vermehren: Johann Bernhard V. hat die kurze vom Schicksal ihm gegönnte Lebensfrist nicht mit hervorragenden selbständigen Werken, nur als treufleißiger Anhänger der Romantiker durch emsige Kärrnerthätigkeit ausgefüllt. Weder die Schlegel noch die Arnim und Brentano haben ihn jemals als einen Ebenbürtigen betrachtet oder auch nur in den engeren Kreis ihrer Bestrebungen hineingezogen. Die Frage muß offen bleiben, ob bei längerer Lebensdauer Vermehren’s Begabung ihm gestattet hätte, über die engen Grenzen bescheiden-ehrlicher Maklerthätigkeit hinauszukommen. In die Arme der Romantik scheint nicht innere Verwandtschaft, nicht congeniales Temperament, lediglich vielmehr das Jenenser Milieu ihn geführt zu haben. 1774 in Lübeck geboren, debütirte er mit Gedichten in Schiller’s Musenalmanach und im Berlinischen Archiv der [624] Zeit (November 1800, S. 339 ff.), dann mit einem versificirten Panegyricus auf Schiller’s „Maria Stuart“. Den weiten Weg von diesem Kunstwerke zu Friedrich Schlegel’s „Lucinde“ führte ihn fremder Antrieb, nicht schrankenlose Begeisterung für das vielumstrittene und vielgescholtene Werk des im Kampfe gegen lahme Decenz alle Schranken eines sinnenfreudigen Sensualismus niederwerfenden romantischen Heißsporns. Dreimal – er bekennt es selbst mit rührender Offenheit – dreimal mußte V. die Lucinde lesen, um den Eindruck schamlosester Frechheit zu verwinden. Die reine Natur, die er in dem schönen Symbol der Liebe verehrt und angebetet hatte, fand er in dem Romanfragmente auf die schändlichste Art entweiht. Allein das stärkere Temperament eines ungenannten Freundes, der nur die Form der Dichtung verurtheilte, ihrer Absicht aber Gerechtigkeit widerfahren ließ, zwang ihn, dem Buche von neuen Gesichtspunkten aus näher zu treten. Und so entstanden Vermehren’s zehn „Briefe über Friedrich Schlegel’s Lucinde zur richtigen Würdigung derselben“ (Jena, Stahl, 1800), ein dicker Band von dritthalbhundert Seiten. Sichtlich ist V. bestrebt an der „hohen Gluth der leuchtenden Lucinde“ durchzuführen, was Wilhelm v. Humboldt für Goethe’s „Hermann und Dorothea“ gethan hatte. In langen und breiten, übermäßig ausführlichen Deductionen construirte er sich ein moralisches und ästhetisches Formelgebäude, von dem aus die „Lucinde“ zu retten wäre. Komisch berührt die ans Philisterhafte streifende Trockenheit, mit der V. das verfängliche Thema erörtert; fühlte er sich doch, der ehrliche Pedant, sogar bewogen, Friedrich Schlegel des breiteren gegen den Vorwurf geschäftlicher Speculation auf die niedrigen Instincte des Publicums zu wahren. Komisch mußten Sätze wirken, wie dieser: „Man könnte zwischen (F. H. Jacobi’s) Woldemar und Lucinde gewissermaßen eine Parallele ziehen. Woldemar gibt uns das von oben hinein, was Lucinde uns von unten herauf gibt, oder: Woldemar steigt von der Höhe herab in die Tiefe, Lucinde aus der Tiefe in die Höhe“ (S. 213*). Unbilligen Recensenten gaben solche ungewollte Zweideutigkeiten einer falsch angewendeten abstracten Schulsprache zu hämischem Spotte reichlichen Anlaß. Knapp zusammengefaßt lautete Vermehren’s These, alles Anstößige des Romans verschwinde, sobald man annehme, F. Schlegel habe die Geschichte der Liebe von der ersten rohen Sinnlichkeit bis zu ihrer höchsten Läuterung darstellen wollen, dabei aber stillschweigend den Menschen in seiner Vollendung, den Zustand vor Augen gehabt, „wo wir durch Bildung wieder in Arkadien angelangt sein werden“. Seine These zu erhärten, kämpfte V. mit den Waffen der Fichte’schen Philosophie und spricht von griechischer Sinnenfreude in jenem Ton schrankenloser Griechenverehrung, den seine beiden Meister und Muster Schiller und Fr. Schlegel angeschlagen hatten. Die Recensenten des Buches, an sich schon Gegner der Romantik, sprangen mit Vermehren’s hülflosem Werkchen böse um. Der Wolfenbüttler Bibliothekar Langer höhnt in der „Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek“ (59, 351 ff.) den „bekehrten Aristarch“; schärfer noch urtheilt der anonyme Kritiker der Jenaischen „Allgemeinen Litteraturzeitung“ (1800 3, 692–694; L. F. Huber?, vgl. Koberstein 3⁴ 2481, Anm. 22). Er trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er V. einen sittlich gestimmten, bescheidenen jungen Mann nennt, der noch nicht fähig sei, in Kunstsachen ein Urtheil zu fällen. Flittergold könne seinen Verstand bestechen, sein Herz aber nicht verderben. Selbst im romantischen Lager hatte V. mit seiner Apologie wenig Erfolg, und in Schleiermacher, der dem Romanfragmente schon vor dem Erscheinen der „Briefe“ Vermehren’s eine kurze Anzeige gewidmet hatte, erstand ihm bald ein siegreicher Concurrent. Schleiermacher’s „Vertraute Briefe“ über die Lucinde drängten den Vorläufer völlig in Schatten (vgl. Dilthey’s Leben Schleiermacher’s I, 494 ff.). Allerdings, [625] Friedrich Schlegel’s Zuneigung war gewonnen. Schon bei seiner Docenten-Disputation nahm er den eifrigen Schildknappen zum Opponenten (vgl. Haym’s Romantische Schule, S. 677*) Wirklichen Nutzen brachte seine Unterstützung, als V. sich anschickte, einen romantischen Musenalmanach zu schaffen. Er trat gleichzeitig mit dem Schlegel-Tieck’schen Almanach hervor, brachte es zu zwei Jahrgängen (Leipzig 1802, Jena 1803), und gehört zu jener Gruppe ephemerer Anthologien, in der neben Seckendorf’s „Ostertaschenbuch“ der „grüne“ Musenalmanach des Berliner Nordsternbundes anzutreffen ist (vgl. die Einleitung meiner Chamisso-Ausgabe S. XVII ff.). Fr. Schlegel’s Beistand war um so wichtiger, als Goethe und Schiller ihre halben Zusagen bald zurücknahmen, Wilhelm Schlegel und Tieck jede Mitwirkung energisch ablehnten. Freilich behandelte auch Fr. Schlegel die Sache sehr von oben herab und schrieb etwa an den Bruder: „Was V. und Seckendorff betrifft, so ist das eine ganz unschädliche Art von kleinen Filzläusen. Ich denke, 500 solche schaden der Poesie nicht so viel als Schiller … Mein Glaubensbekenntniß ist eben: Nicht die Englischen Blättchen schaden der Kunst, wol aber die Propyläen“ (S. 464). Thatsächlich gab er fünfzehn Gedichte in den Almanach Vermehren’s. An seinen Namen reihen sich aus dem romantischen Kreise an: Brentano’s spätere Gattin Sophie Mereau, der durch Brentano’s „Godwi“ uns nahe gebrachte August Winkelmann, W. Schlegel’s Schützling Neubeck, Novalis’ Bruder Karl v. Hardenberg-Rostorf, der Philologe Ast. Die Schiller’sche Partei ist vertreten durch Louise Brachmann und Knebel. Aus Schwaben stellten sich Conz und Haug ein. Hoch über all dies Gelichter ragen Klopstock und Hölderlin empor. Vermehren’s eigene Beiträge zeigen keine charakteristische selbständige Note. Gern producirt er sich in den malerischen Kunststücken der Romantik, nicht nur im Sonette, das sich freilich überhaupt stark in beiden Jahrgängen vordrängt. Gern bewegt er sich auch in Form und Gedankenwelt der Schiller’schen lebhaften Distichen, behandelt auch gelegentlich romantische Lieblingstheorien in dieser Form, so das Verhältniß von Mann und Weib, die Emancipationsidee. Er huldigte Monarchen wie Karl August und Friedrich Wilhelm III.; Goethe bekommt gleich fünf Sonette dedicirt, und natürlich wird Fr. Schlegel von ihm und von anderen angesungen. Herzlich ungeschickt, oft bombastischem Schwulste verfallend, beschreitet V. das Feld der Romanze. Von den großen Errungenschaften der neunziger Jahre scheint er wenig gelernt zu haben, doch auch an Bürger und Stolberg gemahnt er nicht immer, eher an Gleim’s ernsteren Romanzensingsang. Seiner Gattin sind mehrere Gedichte gewidmet. Henriette V., die älteste Tochter des Juristen und Geheimen Hofraths Johann Ludwig v. Eckardt, war in erster Ehe mit dem Postrath Eber verbunden gewesen. V. heirathete die Wittwe, die schon zwei Jahre nach seinem frühen Abscheiden zum dritten Gatten den Mathematiker Joh. Heinr. Voigt (1751–1823) nahm. Ihrer Ehe mit V. entstammte der Geheime Oberappellationsgerichtsrath B. V., dessen Sohn als Professor am großherzoglichen Gymnasium zu Jena im J. 1893 starb. Henriette V. verschied den 5. December 1842. Ihre Beiträge zum Musenalmanache wandeln die Wege, die der Gatte ihr vorgezeichnet hatte; auch sie lieferte einige Sonette und eine in ihren allzu zarten Gefühlsäußerungen herzlich unklar gerathene Ballade. Ihr Gatte wurde schon den 29. November 1803 von einem tückischen Scharlachfieber dahingerafft. Goethe schrieb (an Schiller am 2. December) ihm mit einem ironischen Seitenblick auf den ersten Gatten Henriettens folgenden Nekrolog: „Der arme V. ist gestorben. Wahrscheinlich lebte er noch, wenn er fortfuhr mittelmäßige Verse zu machen. Die Postexpedition ist ihm tödtlich geworden“. Sein früher Tod ließ ihn auch auf dem Gebiete der akademischen Wirksamkeit [626] keine Erfolge ernten; er hatte sich als Privatdocent an der philosophischen Facultät in Jena habilitirt. 1803 gab er noch ein romantisches Mährchen „Schloß Rosenthal“ heraus. Die Familientradition, der die vorliegende Skizze manchen Wink dankt, schreibt ihm noch eine anonyme populäre Darstellung von Jesu Leben zu, die sich in den Bahnen des gemäßigten Rationalismus Niemeyer’s bewegt („Jesus, wie er lebte und lehrte“, Halle 1799).

Eine zusammenfassende Charakteristik ist V. bisher nicht zutheil geworden; einzelne Notizen finden sich bei Koberstein 3⁴, 2267, in Haym’s Romantischer Schule, S. 518 f., in dem Schiller-Cotta’schen Briefwechsel, S. 416 f., 421, 427 und in meiner Ausgabe der Briefe Fr. Schlegel’s an seinen Bruder Wilhelm (Register). Goedeke 2, 55 gibt unvollständige und zum Theil falsche Daten. Proben aus Vermehren’s Almanach liegen in Mendheim’s Sammlung Lyriker und Epiker der classischen Periode vor. (Kürschner’s Deutsche National-Litteratur 135, 3, 170 ff. 223–257.)