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ADB:Wagenseil, Johann Christoph

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Artikel „Wagenseil, Johann Christoph“ von Edward Schröder in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 40 (1896), S. 481–483, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wagenseil,_Johann_Christoph&oldid=- (Version vom 15. November 2024, 06:30 Uhr UTC)
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Band 40 (1896), S. 481–483 (Quelle).
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Wagenseil: Johann Christoph W., Polyhistor, wurde am 26. November 1633 zu Nürnberg als Sohn eines angesehenen Kaufherrn geboren und hat länger als 38 Jahre der reichsstädtischen Hochschule zu Altdorf als einer ihrer berühmtesten Gelehrten angehört. Die erste Hälfte seines Lebens aber verlief um so unruhiger und brachte ihm die Bekanntschaft eines großen Theiles von Europa; seine Schriften wie seine Vorlesungen geben davon vielfach und mit Vorliebe Kunde. Als der Knabe kaum 3/4 Jahr alt war, siedelten die Eltern mit ihm nach Stockholm über. 1646 kehrten sie zurück und übergaben ihren Sohn, der inzwischen durch Privatunterricht erst in Stockholm, dann (seit 1645) in Greifswald und Rostock vorgebildet worden war, dem Gymnasium zu St. Aegidien. 1649 bezog W. die Universität Altdorf, deren Schüler er fast 6 Jahre hindurch blieb; schon damals scheint er den Grund zu seiner vielseitigen, aber niemals zu den Problemen vordringenden Gelehrsamkeit gelegt zu haben, die er in der Folgezeit als langjähriger Hofmeister österreichischer Adliger (seit 1654) und besonders auf Reisen zu vermehren strebte. 1654–1661 blieb er noch in Deutschland (Oesterreich, Heidelberg, Straßburg), 1661 verließ er als Begleiter des jungen Grafen Ferdinand Ernst von Traun den deutschen Boden und durchzog Italien, Spanien, Frankreich, Holland und England. Er sammelte mannichfache Kenntnisse und Curiositäten, knüpfte allerlei gelehrte Bekanntschaften, wurde Mitglied mehrerer italienischer Akademien, ja gelangte in [482] Frankreich durch die Empfehlung Colbert’s zum Bezug einer ansehnlichen königlichen Pension, die ihm drei Jahre hindurch ausbezahlt wurde. 1665 zu Orleans feierlich zum Dr. jur. promovirt, widerstand er weiteren Verlockungen der Fremde und kehrte im Frühjahr 1667 heim, um gleich darauf zu Altdorf eine ordentliche Professur der Geschichte und des öffentlichen Rechts zu übernehmen, 1668 auch in den großen Rath der Vaterstadt einzutreten. 1674 vertauschte er die historische Professur mit derjenigen der orientalischen Sprachen, für die er sich im gleichen Jahre durch eine erste Arbeit auf talmudistischem Gebiete ausgewiesen hat: „Sota, h. e. liber mischnicus de uxore adulterii suspecta“, Altdorf 1674. W. wußte sich auch weiterhin das besondere Vertrauen hoher Herrschaften zu erwerben, wie er denn 1676 zwei Prinzen von Pfalz-Zweibrücken in Kost und Unterweisung nahm und 1691 in Wien gelegentlich der Vorführung des von ihm (angeblich) erfundenen „Wasserschildes“ (zur Rettung von der Gefahr des Ertrinkens) eine mehrfache Audienz bei Kaiser Leopold hatte. Auf damals empfangene Anregungen geht die in seinem Todesjahr erschienene Schrift zurück: „Von Erziehung eines jungen Prinzen, der vor allen Studien einen Abscheu hat, daß er dennoch gelehrt und geschickt werde“ (Leipzig 1705) – eine Specialität des Nürnbergischen Trichters, wie jene Zeit mehrere hervorgebracht hat. Nachdem W. 1693 eine Berufung als Orientalist nach Leiden abgelehnt hatte, trat er 1697 als Professor des kanonischen Rechts in die Juristenfacultät über. Zweimal bekleidete er die Würde ihres Decans, zweimal war er Rector der Hochschule. Das 1699 noch übernommene Amt des akademischen Bibliothekars trat er bald darauf an seinen Schwiegersohn Prof. D. W. Moller ab, den Gemahl seiner gelehrten Tochter Helena Sibilla. Am 9. October 1705 ist er gestorben.

Während Wagenseil’s juristische und orientalistische Schriften großentheils längst vergessen sind und seine Zuverlässigkeit als Historiker schon von den Zeitgenossen gering geachtet wurde, haben zwei gelehrte Sammelwerke von ihm bis heute eine gewisse Bedeutung bewahrt, vorzugsweise durch die Mittheilung werthvollen Quellenmaterials. Zunächst sein reichhaltiges, wenn auch ungeordnetes und kritikloses Buch: „De civitate Noribergensi commentatio, accedit de Germaniae phonascorum, von der Meistersinger origine, praestantia, utilitate et institutis sermone vernaculo liber“ (Altdorfi 1697). Der Anhang ist eine der ältesten litterarhistorischen Monographien und scheint als solche in Altdorf Schule gemacht zu haben: 1724 hat dort der (spätere Göttinger) Historiker Joh. Dav. Köhler ein Programm De scaldis geschrieben. – Freilich die Anordnung und Verarbeitung des Stoffes, die Art, wie die verschiedensten Quellen förmlich durcheinander gerüttelt werden, spottet der Elemente historischer Forschung. Hatte die Kritik der meistersingerischen Tradition genau 100 Jahre früher bei Cyr. Spangenberg einen bescheidenen Anlauf genommen, so sind ihr hier auf Schritt und Tritt neue Hindernisse bereitet: das drastischste Exempel dürfte wol die Art sein, wie W. (S. 515) das in Adam Puschmann’s „Gründtlichem Bericht“ von 1571 enthaltene Wappen der Stadt Görlitz für ein Meistersingerwappen genommen und, ohne Angabe seiner Quelle, ausführlich blasonnirt hat, mit dem kecken Hinzufügen, daß es in dieser Gestalt von Kaiser Karl IV. verliehen oder doch erneuert sei. Unter den Quellenschriftstellern für die Geschichte des Meistergesangs verlangt keiner größere Vorsicht als W. – und gerade er hat als Nürnberger Kind von jeher ein günstiges Vorurtheil genossen und die Darstellungen der Litterarhistoriker lange beherrscht. – Von ähnlichem Vorwurf der Quellentrübung hält sich Wagenseil’s „Belehrung der Jüdisch-Teutschen Red- und Schreibart“ (Königsberg 1699) frei, ein Buch, das zum ersten Male die Aufmerksamkeit der Gelehrten auf eine eigenartige und ziemlich umfangreiche [483] Litteraturgruppe gelenkt und wichtige Vertreter derselben ans Licht gezogen hat. In der allgemeinen Einleitung („Fürtrag“) freilich und in den sonstigen eigenen Beigaben tritt auch hier die unleugbare Gelehrsamkeit des Verfassers zurück vor dem abschreckenden Eindruck seiner Geschmacklosigkeit und Confusion.

Will-Nopitsch IV, 144–155; VIII, 368–370, wo ältere Litteratur.