Zum Inhalt springen

ADB:Wagner, Moritz

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Wagner, Moritz“ von Friedrich Ratzel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 40 (1896), S. 532–543, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wagner,_Moritz&oldid=- (Version vom 14. November 2024, 17:51 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Wagner, Matthias
Nächster>>>
Wagner, Otto
Band 40 (1896), S. 532–543 (Quelle).
Moritz Wagner bei Wikisource
Moritz Wagner in der Wikipedia
Moritz Wagner in Wikidata
GND-Nummer 117103527
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|40|532|543|Wagner, Moritz|Friedrich Ratzel|ADB:Wagner, Moritz}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=117103527}}    

Wagner: Moritz W., Naturforscher und wissenschaftlicher Reisender, geboren am 3. October 1813 zu Baireuth, † am 31. Mai 1887 zu München. Der Vater war ein hochgebildeter Mann von unabhängiger Gesinnung. Er wirkte, als ihm Moritz geboren wurde, als Gymnasialprofessor in Baireuth, von wo er 1820 nach Augsburg versetzt wurde. Seine Familie wurde groß und seine Mittel blieben klein. Die Mutter war eine energische thatkräftige Frau, der die Sorgen des Haushaltes zwar den Blick beschränken, aber nicht den Muth niederdrücken konnten. Moritz W. hat beider Eltern noch in späteren Jahren viel und gern gedacht und besonders der Mutter ihre treue Liebe reich erwidert. Er lebte aber unter dem Eindruck, daß der enge Zuschnitt des elterlichen Haushaltes seiner Entwicklung und der seiner Brüder nicht günstig gewesen sei und beklagte oft die längst hinübergegangene Mutter, daß sie ihre Tage und Nächte in der Sorge und Arbeit für ihre sechs Kinder hingebracht und für edle Lebensgenüsse kaum Zeit und Stimmung übrig behalten habe. Moritz zeigte früh eine große Neigung zur Beobachtung der Thiere und Pflanzen, er legte Sammlungen aller Art an und gewann bald beträchtliche Kenntnisse in Zoologie und Botanik. Auch litterarische Versuche, gereimte und ungereimte, entflossen schon seiner Feder, ehe er mit 15 Jahren die Schule verließ, um in dem Augsburger Bankhaus von Stetten als Lehrling einzutreten. Daß darunter ein politischer Leitartikel war, den ein Augsburger Localblatt druckte, vollendet den merkwürdigen Eindruck, daß W. alle Neigungen des späteren Lebens und alle Seiten seiner Begabung schon als Knabe zeigt. Er hielt auch in Nürnberg, wo er ein halbes Jahr in dem Merkel’schen Handelshause als Gehülfe arbeitete, litterarische Verbindungen aufrecht. Er hat damals einige größere Erzählungen u. dgl. für Almanache und Zeitschriften geschrieben, bildete sich aber auch wissenschaftlich weiter und scheint den Plan einer wissenschaftlichen Forschungsreise besonders unter dem Einfluß seines Bruders Rudolf, damals Professor in Erlangen, gereift zu haben. Dieser rieth ihm, seine zoologischen Kenntnisse, die auf dem entomologischen Gebiete schon jetzt bedeutend waren, zu vertiefen. W. hatte in Marseille eine kaufmännische Stellung bekleidet und [533] von hier aus Algier flüchtig besucht. Dieser kurze Besuch im J. 1835 in Afrika ließ ihn den Plan fassen, als Beobachter und naturwissenschaftlicher Sammler wieder dahin zurückzukehren. Im Frühjahr 1836 war er wieder in Deutschland und arbeitete in den Naturaliencabineten von Erlangen und München. Es gelang ihm, in Deutschland Unterstützung und in Paris wissenschaftliche Empfehlungen zu finden. Am 23. October 1836 schiffte er sich in Toulon ein. Ich weiß nicht, ob seine Erzählung von einer Fußreise von Paris nach dem Mittelmeer und einem günstigen Zufall, der allein dem Unbemittelten die Ueberfahrt nach Algier gestattete, sich auf diese zweite Reise bezieht. Jedenfalls fand er in Algier durch seine Pariser Empfehlungen gute Aufnahme, kam besonders mit Adrian Berbrugger in nähere Berührung und wurde von dem General Damrémont einer wissenschaftlichen Commission zur Erforschung Algeriens angeschlossen. Er machte die Züge nach Constantine, Belida und Rhegaia mit und besuchte nach geschlossenem Frieden unter dem Schutze des Emirs das Innere von Maskara. Seine Briefe über die algerischen Zustände an die „Allgemeine Zeitung“ begründeten seinen litterarischen Ruf und zunächst die Verbindung mit dem Hause Cotta, die für ihn folgenreich wurde. Die Briefe verrathen den guten vielseitigen Beobachter und den gewandten Erzähler. Vortrefflich sind die Naturschilderungen. Aber auch den politischen Verhältnissen gegenüber zeigt W. hier schon Scharfblick und Umsicht. Sogar von den militärischen Ereignissen und Zuständen weiß er seinen Lesern wie ein alter Soldat zu erzählen. Es war in seiner muthigen, offenen Natur etwas, was ihn zu den Kriegern hinzog, wenn er später auch den Krieg verabscheute. Kurz vor 1870 hat er seine letzten militärischen Artikel in die Allgemeine Zeitung geschrieben, eine Vergleichung des Werthes der deutschen und französischen Armeen, in denen er scharfsichtig der Ueberschätzung des Franzosen als Soldaten entgegentrat. Cotta erkannte die politischen und litterarischen Talente Wagner’s von Anfang an. Nachdem die Berichte Wagner’s aus Constantine nicht bloß in Deutschland das größte Interesse erregt hatten, erhöhte er seine Honorarbezüge, so daß W. in Algerien sich freier bewegen konnte. Nach der Herausgabe des dem Herzog von Orleans gewidmeten Werkes „Reisen in der Regentschaft Algier in den Jahren 1836, 1837 und 1838“ (3 Bde. mit Atlas), das werthvolle Beiträge von Rudolf W. u. a. Gelehrten enthält, trat W. 1838 in die Redaction der Allgemeinen Zeitung als zweiter Redacteur ein. Er redigirte bis 1842 den französischen Artikel. Kolb, der damalige Leiter der Allgemeinen Zeitung, führte W. in die Praxis der Journalistik ein und übte wohl auch einigen Einfluß auf seine politischen Ansichten aus. In dem Kreise, der sich um die geistvolle Gattin Kolb’s versammelte, berührte sich W. mit den bedeutendsten Männern der damaligen litterarischen und politischen Bewegung, unter denen List ihm einen besonders tiefen Eindruck machte. Das Ehepaar Kolb blieb für W. allezeit ein Gegenstand dankbarer Verehrung. Um Lücken seiner naturwissenschaftlichen Bildung auszufüllen, ging W. nach Göttingen, wohin 1840 sein Bruder Rudolf berufen worden war, und hörte besonders bei Hausmann Geologie. Die Begegnung mit Leopold v. Buch auf einer Harzexcursion im J. 1842 war für Wagner’s Zukunft bedeutsam. Durch Buch gewann er Fühlung mit Alexander v. Humboldt und beide vermittelten ihm eine Unterstützung der Berliner Akademie der Wissenschaften für seine Reise in die pontischen Küstenländer. Auch seine letzte Reise nach Südamerika wurde durch Empfehlungen Humboldt’s und Ritter’s gefördert. W. ging 1843 über Wien, wo er mit Metternich und andern österreichischen Staatsmännern zusammentraf, und Belgrad nach Constantinopel, dann nach Südrußland, in den Kaukasus, wo er in Tiflis und dem damals noch türkischen Lasistan verweilte und die Nordseite des Ararat kennen lernte. Im folgenden Jahre reiste er über Trapezunt nach Türkisch-Armenien, wo er [534] längere Zeit in Erzerum und Bajasid verweilte, die Euphratquelle besuchte, den Ghiaurdhag und den Ararat bestieg. In dem angrenzenden Theil Persiens besuchte er von Täbris aus das Sahautgebirge und den Urmiasee und drang in das kurdistanische Grenzgebirge ein. W. hat über diese Reise vier Werke veröffentlicht: „Reise nach dem Ararat und dem Hochland Armenien. Mit einem Anhang: Beiträge zur Naturgeschichte des Hochlandes Armenien“ (1848); „Der Kaukasus und das Land der Kosaken in den Jahren 1843–1846“ (1850); „Reise nach Kolchis und nach den deutschen Colonien jenseits des Kaukasus. Mit Beiträgen zur Völkerkunde und Naturgeschichte Transkaukasiens“ (1850); „Reise nach Persien und dem Lande der Kurden. Mit einem Vorläufer: Denkwürdigkeiten von der Donau und dem Bosporus und Beiträge zur Ethnographie und Naturgeschichte Vorderasiens“ (1852). Die wissenschaftlichen Ergebnisse sind nur zum kleinsten Theile diesen trefflichen, lebendigen Schilderungen einverleibt. Jeder Band enthält allerdings einige wissenschaftliche Abschnitte, die aber gewiß von den wenigsten Gelehrten gerade hier gesucht worden sind. Jedenfalls haben die politischen Capitel neben den erzählenden mehr Beachtung gefunden als diese wissenschaftlichen. Die Denkwürdigkeiten von der Donau und vom Bosporus und die Betrachtung über die politische Stellung Persiens in der „Reise nach Persien“ behalten historischen Werth. Sie lassen in W. einen ungemein scharfblickenden unbestochenen Realpolitiker erkennen, dessen Auffassungen fast ausnahmslos durch die seitherige Geschichte bestätigt worden sind.

Es wird immer zu bedauern bleiben, daß W. die Ergebnisse dieser dreijährigen Reisen in Vorderasien nicht in einer Weise veröffentlichen konnte, die ihm seine Stelle unter den eigentlichen Forschungsreisenden angewiesen hätte. Er schreibt es in einer Anmerkung der Entmuthigung des deutschen Buchhandels in den bewegten Jahren nach seiner Rückkehr zu. Später hat er auch seine eigene Ruhelosigkeit dafür verantwortlich gemacht und die Nothwendigkeit, fürs Brot zu schreiben. Diese erschien ihm besonders im Rückblick aus seinen letzten beiden Jahrzehnten, die ihm die volle Muße zu wissenschaftlicher Arbeit gaben, als das Verhängniß seines Lebens. Aber die Art, wie er nach einem kurzen Aufenthalt in Italien als Correspondent der Allgemeinen Zeitung und des Morgenblattes die Wirren der Jahre 1847–1850 zuerst während des Sonderbundskrieges in der Schweiz, dann 1848 und 1849 in Baden, Frankfurt und Wien und neuerdings mitten unter den Flüchtlingen in der Schweiz miterlebte und in ungemein lebendigen Schilderungen festhielt, zeigt ihn doch mit Leib und Seele bei der Tagesschriftstellerei. Seine Berichte im Morgenblatt aus dem belagerten Wien des October 1848 gehören zu den werthvollsten Documenten jener Zeit. Die Erstürmung schildert W., wie er sie unter Lebensgefahr vom Thurm der Stephanskirche aus beobachtete. Die Ereignisse hatten W. mitgerissen und enttäuscht, wie so Viele. Die Schwüle nach dem Sturme bedrückte ihn. „Nachdem jene Bewegung ebenso winzig und erbärmlich geendigt hatte, als sie groß und vielverheißend begonnen, wurde der Zug nach dem Westen zur unbezwinglichen Sehnsucht“, schreibt er in der Vorrede zu den „Reisen in Nordamerika in den Jahren 1852 und 1853“, die er 1854 mit seinem Reisegefährten Karl Scherzer aus Wien herausgab. Gern erzählte er noch in späteren Jahren, wie er im Frühling 1851 mit dem jungen liebenswürdigen Oesterreicher in Meran zusammentraf, bald mit ihm befreundet wurde, und wie sie gemeinsam den Plan zu der Reise entwarfen, die sie im Mai 1852 antraten. W. ging vom S. Lorenzstrom und den Niagarafällen gleich nach dem jungen Nordwesten, wo ihn der damals von Deutschen viel aufgesuchte Staat Wisconsin fesselte, er bereiste dann mit seinem Reisegefährten Illinois und Missouri und verbrachte mit ihm den Winter in Louisiana. Wie auf früheren Reisen sammelte, jagte und [535] fischte W. auch hier, was ihn nicht hinderte, der politischen und socialen Lage des Landes, die das besondere Studium Scherzer’s bildete, und vorzüglich seiner deutschen Bürger eine lebhafte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Mit Präsident Fillmore, Daniel Webster, General Scott u. a. hervorragenden Männern traten die Reisenden in persönliche Beziehungen. Sie wollten zuerst Jahre in Nordamerika bleiben, dessen glückliche Bedingungen und freie Einrichtungen W. ganz besonders anzogen. Doch gewann es der im Grund noch lebhaftere Trieb, endlich in dem ganzen Reichthum der tropischen Natur unterzutauchen, und die Reisenden fuhren nach Mittelamerika, wo sie die beiden folgenden Jahre verweilten. Wagner’s lange zurückgedrängte wissenschaftliche Neigungen brachen sich angesichts der Vulkane und der merkwürdigen Verbreitungserscheinungen der Organismen breitere Bahn. Man kann diesen Abschnitt der amerikanischen Reise als den Beginn der Verwirklichung seines Jugendideals betrachten. Zwar hat er auch über diese Reise keinen geschlossenen wissenschaftlichen Bericht veröffentlicht, aber aus den Einzelaufsätzen sehen wir, wie er von bestimmten Problemen stärker gefesselt wird, die in den nächsten Jahrzehnten ihn immer mehr beschäftigen sollten. Am Schluß der Reise untersuchten die Gefährten Ruinenstätten in Guatemala und kehrten im Mai 1855 über die Antillen nach Europa zurück. Mit der Ordnung der Sammlungen – W. hatte allein an 40 000 Arten wirbelloser Thiere, darunter 300 neue Arten mitgebracht – und mit Veröffentlichungen beschäftigt, empfing W. 1857 von seinem König die Aufforderung, den Plan zu einer selbständigen wissenschaftlichen Reise vorzulegen, von der zugleich Belehrung über die Probleme deutscher Auswanderung und Colonisation zu erwarten wäre. Der König hatte ursprünglich W. der österreichischen Novaraexpedition zutheilen wollen, der Plan war aber nicht auszuführen gewesen und nun schlug W. eine Reise nach Mittel- und Südamerika zwischen 8° N. und 2° S. B. vor, demselben Gebiete, wo er 1855 wegen Mangels an Mitteln hatte umkehren müssen. Sein Plan wurde genehmigt und er machte sich 1858 mit einer Reiseunterstützung von 8000 Gulden, für die er dem bairischen Staat seine Sammlungen von der vorigen Reise abtrat, und Empfehlungen der Akademie (vom 14. August 1857) an alle wissenschaftlichen Körperschaften auf den Weg. Er nannte sich zwar einen „alternden Kranich, der zu dem jüngeren Volk in die Lüfte sich schwingt, wenn der Ruf zur Reise ertönt“, aber er führte mit großer Spannkraft seine Aufgabe durch, froh, daß es ihm endlich beschieden war, ohne Sorge für das Reisegeld und deshalb ohne Zwang zur Schriftstellerei wissenschaftlicher Forschung zu leben. Die topographische und geologische Aufnahme des Isthmus von Panama machte den Anfang, dann folgte eine wahre Entdeckungsreise auf den von keinem Naturforscher bisher besuchten Isthmus von S. Blas und eine Reise nach Chiriqui, bei der W. besonders die Colonisationsfrage im Auge hatte. In Südamerika machte W. in den Vulkangebieten von Quito 1858 und 1859 geologische und geographische Studien, stellte Beobachtungen über Firn- und andere Höhengrenzen an den Abhängen des Cotopaxi und Chimborazo an, wo er als Erster auf die Gletscher der äquatorialen Anden hinwies und widmete überall der horizontalen und Höhenverbreitung der Organismen besondere Aufmerksamkeit. Eine Reise am untern Pastassa schnitt ein heftiger Fieberanfall zu frühe ab. W. kehrte 1860 nach Europa zurück, ordnete seine ungewöhnlich reichen Sammlungen und arbeitete mit Ruhe, wie nie vorher, seine Ergebnisse aus. Erst 1870 erschienen sie vereinigt in dem reifsten Werke, das ihm zu schaffen vergönnt gewesen ist: „Naturwissenschaftliche Reisen im tropischen Amerika“. Es sind lose aneinander gereihte Monographien, wissenschaftlich, aber in lesbarer Form. Man merkt das Muster der kleineren Schriften Alexander v. Humboldt’s. Es ist zu bedauern, daß das Buch [536] zu wenig Leser gefunden hat. Es ist durch Inhalt und Form gleich bedeutend. W. trat nun in die ruhigsten Jahre seines Lebens ein. 1862 war er zum außerordentlichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu München gewählt, wozu wesentlich der Einfluß des damaligen Präsidenten Justus von Liebig beitrug, und am 4. Mai 1862 zum Ehrenprofessor der Universität zu München ernannt worden, mit der Ermächtigung, Vorlesungen über Geographie und Ethnographie zu halten. Er hat von diesem Recht, soviel ich weiß, keinen Gebrauch gemacht. Dagegen hielt er in der Akademie am 12. November 1864 seinen ersten Vortrag über die von Boucher des Perthes im Diluvialkies von Abbeville gefundenen Spuren des Menschen, öfters sprach er in den folgenden Jahren über pflanzen- und thiergeographische Dinge und erstattete 1866 den ersten Bericht über die Pfahlbauten an der Roseninsel im Würmsee, die Desor entdeckt und W. seit dem Juni 1864 mit glänzenden Ergebnissen durchforscht hatte. Zu seinen Baggerungen stellte ihm die Akademie 1864 Mittel zur Verfügung. Als 1862 die ethnographischen Sammlungen des Staates vereinigt wurden, gab man W. die Stelle eines Conservators mit 800 Gulden Gehalt. Wesentlich seinen Bemühungen ist der Ankauf Siebold’scher, Schlagintweit’scher u. a. Sammlungen zu danken, aus denen seit 1867 das königl. Ethnographische Museum hervorgegangen ist. Schade, daß Wagner’s Aufmerksamkeit gerade in dieser Zeit dauernd auf das biogeographische Gebiet abgelenkt worden ist. Er hat auf das Ethnographische Museum viel Fleiß verwendet, es aber nicht wissenschaftlich ausgenützt und auch nicht eingreifend wissenschaftlich geordnet.

In den Abhandlungen der Akademie von 1866 steht eine wissenschaftliche Monographie „Ueber die hydrographischen Verhältnisse und das Vorkommen der Süßwasserfische in den Staaten Panama und Ecuador“, die erste größere rein wissenschaftliche Monographie unter so vielen geplanten und begonnenen. Sie ist von besonderem Interesse, weil in ihr die Migrationstheorie sich ankündigt, die von da an die ganze Forscherarbeit Wagner’s an sich fesseln sollte. W. hatte schon 1853 im ersten Bande seiner „Reisen in Nordamerika“ das Wort Migrationsgesetz von der Ausbreitung der Menschen und der Cultur über die Erde gebraucht. Hier erkennt er aber bestimmt in der Ausdehnung und Abgrenzung der Flußsysteme die Ursache des Vorkommens und der Verbreitung besonderer Arten. Wagner’s Verdienst ist es, zum ersten Mal die Verbreitung einer und derselben Flußfischart an beiden Oceanufern nachgewiesen zu haben; es ist dort, wo zwischen den Sierras Trinidad und Del Penon die Gebirgskette in niedere Hügel (Cerros) sich zusammenzieht. Der lange schon keimende Gedanke, daß die Wanderung und Absonderung eine ungeahnt große Rolle in der Artbildung spielen, wurde durch diese Arbeit in W. recht zur Entfaltung gebracht. W. hatte als Jäger und reisender Sammler die Standorte und Verbreitungsgebiete der Thiere und Pflanzen von jeher mit Aufmerksamkeit betrachtet. Das für alle Auffassung der Lebewelt entscheidende Wesen der naturgeschichtlichen Arten, Gattungen u. s. w. war ihm praktisch viel vertrauter geworden, als manchem Museumszoologen. Die Art und ihre Verbreitung standen daher allezeit im Mittelpunkt seiner folgenreichen biogenetischen Gedanken und Studien. In seinen „Beiträgen zur Völkerkunde und Naturgeschichte Transkaukasiens“, 1850 erschienen, spricht er eingehend über „die wichtige Frage, wo ursprünglich Pflanzen- und Thierarten auf der Erdoberfläche entstanden sind und wie sie sich weiter verbreitet haben“. Die stellvertretenden (vicariirenden) Arten stehen ihm dabei merkwürdigerweise im Mittelpunkt, dieselben, von denen er 15 Jahre später bei der Begründung der Migrationstheorie ausging. Schon damals betonte er die Erfahrungen, die ihn Reisen in den Alpen, Pyrenäen, Apenninen, Karpathen, im Atlas, Taurus und Kaukasus hatten machen lassen: [537] „In allen Gebirgen von gleicher Meereshöhe, unter gleichen oder ähnlichen Breitegraden und mit verwandten klimatischen Verhältnissen strebt die Natur auch nach den gleichen Formen der Organismen, erzeugt die gleichen Pflanzen- und Thiergeschlechter, ja zum Theil dieselben Arten“. 1850 glaubte W. noch an eine „Tendenz der Naturkräfte, unter gleichen äußeren Einwirkungen die gleichen Organismen ins Leben zu rufen“. Das war wol unter dem Einfluß seines Bruders Rudolf. Er bewies aber auch an zahlreichen Fällen die Abhängigkeit der Größe der Verbreitungsgebiete von den Bewegungs- und Verbreitungsmitteln, was er dann in dem „Migrationsgesetz“ von 1868 weiter ausgeführt hat. Seine Reisen in Nord-, Mittel- und Südamerika brachten ihm neue Beispiele wiederkehrender und stellvertretender, weit und beschränkt verbreiteter Arten. Aber der verbindende, das Räthsel lösende Gedanke der Abwandlung der organischen Formen unter dem Einfluß der Oertlichkeit und Ortsveränderung ist ihm vor Darwin nicht aufgestiegen. Neidlos hat er den tiefen Eindruck geschildert, den auf ihn und andere Gelehrte das Darwin’sche Buch „On the Origin of Species“ gleich nach seinem Erscheinen gemacht hat. In W. tauchten dann sofort alle die merkwürdigen Erscheinungen der Pflanzen- und Thierverbreitung auf, die er seit so vielen Jahren gesehen, verzeichnet und wieder und wieder überdacht hatte, ohne die unablässig gesuchte Erklärung zu finden. Auf seine allerfrühesten Sammlererfahrungen sah er sich zurückgeführt. Hatte er nicht zuerst auf die Abgrenzung von Verbreitungsgebieten durch Flußrinnen hingewiesen? Macroscelides Rozeti und Mus barbarus, deren östliche und westliche Verbreitungsgrenze der Schelif in Algerien bildet, tauchten jetzt vor ihm auf, aber in viel hellerem Licht als je, und er nannte diese kleinen Säugethiere mit Zärtlichkeit die Bringer des Gedankens der durch Absonderung artbildenden Wanderung.

W. widmete die spärlichen Arbeitsstunden seines von immer mehr körperlichen Leiden heimgesuchten Alters dem Studium der Schriften Darwin’s und der rasch anwachsenden darwinistischen und antidarwinistischen Litteratur. Er that dies mit fast jugendlicher Frische, die ihn auch noch mehr als einmal auf den litterarischen Kampfplatz führte. Er liebte die bedeutenden litterarischen Erscheinungen einiger Jahre in kritischen Uebersichten zu behandeln. Dabei leitete ihn sichtlich ein dreifaches Bestreben: die Entwicklungslehre als vollkommen begründet nachzuweisen; die Zuchtwahl einzuengen; und die Wanderung und Absonderung im Sinne der Migrationstheorie als die wichtigste Triebkraft der organischen Entwicklung zu erweisen. Die Erfolge seiner Aufsätze waren unzweifelhaft bedeutend im ersten Punkt. Außer Haeckel dürfte kein zweiter deutscher Forscher so viel zum Verständniß der Entwicklungstheorie beigetragen haben. In München gehörte er zu den Wenigen, die ihr schon 1861 rückhaltslos beistimmten. Die Alten und Maßgebenden hielten sich zurück, nur Liebig kam ihr mit Verständniß entgegen; unter den Jüngern trat zuerst Kollmann entschieden für sie ein. Lange ehe W. am 7. März 1868 in der Akademie der Wissenschaften mit seiner ersten Mittheilung des Migrationsgesetzes der Organismen hervortrat, hat er dort und durch kleinere Veröffentlichungen im „Ausland“ und in der „Beilage zur Allgemeinen Zeitung“ die umwälzende Bedeutung der Entwicklungslehre vertreten. Der Theorie der natürlichen Zuchtwahl stand er jedoch von Anfang an anders gegenüber. Zuerst nahm er sie allerdings an, betonte aber die unzureichende Berücksichtigung der geographischen Verbreitung und erblickte eben darin einen Mangel des Darwin’schen Aufbaues. „Ich vermisse eine klare bestimmte Darlegung des Gesetzes, nach welchem die Natur verfahren, um mittelst der Zuchtwahl die merkwürdige Artenvertheilung der jetzigen Pflanzen- und Thierwelt zu Stande zu bringen“. Er suchte diese Lücke durch sein 1868 nach jahrelangem Erwägen zuerst aufgestelltes Migrationsgesetz der Organismen [538] auszufüllen, das auf der Ueberzeugung beruht, daß die Zuchtwahl ohne eine Wanderung der Organismen, und ohne die längere Isolirung einzelner Individuen vom Verbreitungsbezirk der Stammart nicht wirksam werden könne. W. hatte zweifellos eine viel ausgebreitetere Kenntniß, aber auch tiefere Auffassung der biogeographischen Probleme als Darwin und sah daher sofort, daß mit der Darwin’schen Theorie allein sie nicht zu lösen seien. Zuerst sollte das Migrationsgesetz die Zuchtwahl nur ergänzen. So tritt es uns in seiner ersten Form in dem am 17. März 1868 in der Akademie der Wissenschaften zu München gehaltenen Vortrag: „Die Darwin’sche Theorie in Bezug auf die geographische Verbreitung der Organismen“ entgegen und so auch noch in dem kleinen, inhaltreichen, fesselnden Buch „Die Darwin’sche Theorie und das Migrationsgesetz der Organismen“, dessen Vorrede vom Juni 1868 datirt ist. Zwar wird hier die Wanderung und Colonienbildung als die nothwendige Bedingung der natürlichen Zuchtwahl hingestellt, zugleich aber ausgesprochen, daß sie sie bestätige, die wesentlichsten dagegen erhobenen Einwürfe beseitige und den ganzen Naturproceß der Artenbildung klarer und verständlicher mache. Darwin hatte ihm nach seinem akademischen Vortrag geschrieben, daß das Migrationsgesetz viele Schwierigkeiten und Einwürfe der Transmutationstheorie in einer Weise beseitige, die ihm gar nie eingefallen wäre. Es ist aber kaum zweifelhaft, daß Darwin schon damals nicht so weit ging in der Anerkennung der Bedeutung der Migration wie W., der am Ende seiner Schrift folgende Grundgedanken ausgesprochen hatte: Je größer die Aenderung der Lebensbedingungen einer auswandernden Art, desto stärker ihre Veränderlichkeit. Je schärfer die Absonderung, desto leichter die Herausbildung einer neuen Abart. Je vortheilhafter die Abänderungen für die Abart, und je besser angepaßt an die Umgebungen, und je länger ungestört in Absonderung die Abart sich erhält, desto leichter die Entwicklung der Abart zur Art. Auf diesem Wege schritt W. fort, indem er wie bisher besonders die geographische Verbreitung ins Auge faßte und bei scheinbar räthselhaften Erscheinungen mit Vorliebe verweilte. Dabei wandte er sich von der Zuchtwahlhypothese immer mehr ab und schränkte seine Anerkennung der Darwin’schen Lehre immer enger auf die eigentliche Entwicklungstheorie ein, wie schon Lamarck sie formulirt hatte. In dem akademischen Vortrag vom 2. Juli 1870 „Ueber den Einfluß der geographischen Isolierung und Colonienbildung auf die morphologischen Veränderungen der Organismen“ ist dieser Fortschritt schon vollzogen. W. faßt seine jetzt als Separationstheorie bezeichnete Lehre in den Satz: Die Natur züchtet nur periodisch neue Formen stets außerhalb des Wohngebietes der Stammart durch geographische Isolirung und Colonienbildung, ohne welche bei allen höheren Thieren getrennten Geschlechts keine constante Varietät oder neue Art entstehen kann. Der Gestaltungsproceß einer neuen Form kann nicht von langer Dauer sein. In diesem Vortrage vertiefte W. den Begriff der Absonderung gegen Einwürfe Häckel’s und Weismann’s, indem er hervorhob, wie die räumliche Absonderung und die Veränderung der Lebensbedingungen durchaus keine großen Räume und gewaltigen Naturschranken verlange, sondern im engen Raum eines kleinen Binnensees durch Aenderungen der Bodenform, der Temperatur, auf verschiedenen und doch räumlich einander nahen Nährpflanzen der Raupen u. dgl. sich vollziehen könne. Seine neue Stellung legte er dann in einer Aufsatzreihe „Neue Beiträge zu den Streitfragen des Darwinismus“ im Ausland 1871 und in „Neueste Beiträge zu den Streitfragen der Entwickelungslehre“ in der Allgemeinen Zeitung 1873 eingehend dar. In einer neuen Aufsatzreihe „Der Naturproceß der Artbildung“ im Ausland 1878 faßt er die Ergebnisse seiner immer noch intensiv auf dieses große Problem gerichteten Gedankenarbeit in 21 Thesen zusammen und 1880 bot er in einer größeren [539] Abhandlung „Ueber die Entstehung der Arten durch Absonderung“ im Kosmos das letzte geläutertste Ergebniß, aus dem alles Nebensächliche ausgeschieden und fast alles Polemische vermieden ist. Es kommt W. in dieser letzten Aussprache darauf an, einige Einwände zu widerlegen, denen er selbst Gewicht beilegte. Er suchte zu zeigen, daß aus dem Zusammenvorkommen zahlreicher Planorbis-Varietäten im tertiären Steinheimer Becken kein Beweis für die Zuchtwahl und kein Widerspruch gegen die Migrationstheorie zu gewinnen sei. Die von Wallace in so fesselnder Weise vorgetragene Erklärung der Mimicry als ein glänzender Fall vom „Ueberleben des Passendsten“, suchte er durch den Hinweis auf das instinctive Schutzsuchen der Thiere in schützenden Medien zu entkräften. Während er die Mitwirkung des damals übertrieben betonten Kampfes ums Dasein bei der Artbildung auf gelegentliche Anstöße einschränkt, jedenfalls sie nicht entscheidend sein läßt, weist er dem natürlichen Altern der Arten eine viel größere Bedeutung zu. Statt „Ueberleben des Passendsten“ möchte er sagen „Ueberleben des Jüngeren und daher Lebenskräftigeren“. In einem brieflichen Bekenntniß Darwin’s aus dieser Zeit, daß er den Hauptfehler seiner Theorie in der zu geringen Berücksichtigung der unmittelbaren Wirkung der äußeren Verhältnisse erkenne, sah er eine willkommene Bekräftigung seiner immer stärker gewordenen Ueberzeugung, daß „die einfache functionelle Anpassung isolirter Organismen an veränderte Nahrungsverhältnisse für sich allein schon genüge eine neue Art, unabhängig vom Kampf ums Dasein auszuprägen“.

W. hat trotz alles Scharfsinns und trotz des Reichthums der beweisenden Thatsachen, zu dem er viel Merkwürdiges aus eigener Beobachtung beibrachte, keinen großen Erfolg mit seiner Migrationstheorie erlebt. Kein namhafter Biolog hat sein Einverständniß mit der Migrationstheorie öffentlich erklärt. K. E. v. Baer schrieb ihm zwar einen langen Brief voll Lob, bezeichnete aber seine Schrift von 1868 doch nur als die beste über die Darwin’sche Theorie. Was aber W. tief kränkte, war der Mangel an tieferem Eindringen, der aus den Widerlegungen sprach. Schreiber dieses gab zwar seiner Ueberzeugung von der hohen Bedeutung der Migrationstheorie warmen Ausdruck, ging aber W. nicht tief genug in die Einzelheiten ein. Den gleichen Mangel beklagte er bei allen seinen Freunden. Er ließ wol durchblicken, daß sie eben nach Art jüngerer Gelehrten mit ihren eigenen Plänen und Arbeiten zu beschäftigt seien, um seinen so oft wiederholten Argumenten die nöthige Aufmerksamkeit zuzuwenden. Am meisten erbitterte ihn aber die Verdächtigung seitens eines namhaften Zoologen: er wolle Darwin von seiner hohen Stelle verdrängen und sich an dessen Platz bringen. Nichts lag W. ferner als die Gelehrteneitelkeit. Als diese niedrige Vermuthung ausgesprochen wurde, hatte W. längst Leopold v. Buch die Ehre der ersten Aeußerung des Grundgedankens der Migrationstheorie zugesprochen. Er schrieb darüber einen eigenen Aufsatz im Kosmos 1883. Und doch hat Buch in seinem Werk über die Canarien den Gedanken gleichsam nur hingeworfen. Von einer wissenschaftlichen Begründung, wie W. sie ihm dann gegeben hat, ist dort keine Rede. Wenn W. auf der einen Seite mit seinem Gedanken immer mehr verwuchs, der ja thatsächlich den ganzen Inhalt seines productiven Denkens und Schaffens in den letzten 20 Jahren seines Lebens bildete, so sah er ihn doch auch immer gegenständlicher vor sich hintreten. Er erkannte sehr wohl die Unklarheiten in der ersten Form, war für Einwürfe sehr empfänglich, und arbeitete rastlos an der Verbesserung. Aus der Tiefe seiner Erfahrung holte er immer neue biogeographische Thatsachen, er verfolgte aber auch die neueste Litteratur, und nicht zuletzt bemühte er sich um die Klarheit und Gedrungenheit der Form. Wenn der ersten Veröffentlichung noch einige Unklarheiten angehaftet hatten, so waren die abschließenden Aufsätze, die 1882–84 unter dem Titel „Darwinistische Streitfragen“ [540] im Kosmos erschienen, von vollkommener Durchsichtigkeit. Man fühlte durch, wie viel tiefer W. jetzt alle die einschlägigen Fragen erfaßte und mit jedem Jahr tritt die philosophische Neigung stärker hervor. W. gehörte zu der Generation, die Moleschott’s und Büchner’s Materialismus durchgekostet hatte, und er war nicht befriedigt. Er wandte sich hoffnungsvoll an Spencer, dessen Principien der Biologie er mit Genuß durchstudirte, war aber sehr unzufrieden mit dessen dürftiger Definition des Lebens, die er in der angezogenen Reihe von Aufsätzen durch eine vorzügliche ersetzte. Um den schwerwiegenden Einwurf zu entkräften, daß seine Theorie die Zweckmäßigkeit der Organismen nicht erkläre, vertiefte er sich auch in dieses schwierige Problem, ohne es doch wesentlich zu fördern. Es ist doch sehr bezeichnend, daß er in dem letzten und dritten 1884 veröffentlichten Aufsatz der „Darwinistischen Streitfragen“ auf den Ausgangspunkt, die räumliche Trennung der vicariirenden Arten und die kettenförmige Anordnung ihrer Wohngebiete als einen der stärksten Beweise für seine Theorie zurückkommt und noch eine Menge von Thatsachen dafür ins Feld führt, die die Zuchtwahllehre nicht zu erklären weiß. Seine Zusammenfassung der auf Grund der Variabilität und Vererbungsfähigkeit die morphologischen Veränderungen hervorbringenden Ursachen, als: „Kreuzungsverhinderung und gesteigerte Fortentwickelung persönlicher Merkmale durch Inzucht und veränderte äußere Lebensbedingungen, welche in jeder neuen Ansiedelung besonders durch veränderte Uebung der Organe auf die Colonisten und ihre Nachkommen umbildend wirken“ kann als die letzte Fassung seines Grundgedankens angesehen werden. Auf ihn wird sicher die Wissenschaft zurückkommen, zuerst die Biogeographie, die schon jetzt durch eine Reihe von berufenen Vertretern ihre Zustimmung erklärt hat. Während W. sich an dem Streite über die Anwendung der Entwicklungslehre auf den Menschen nur gelegentlich betheiligte, verfolgte er doch alle einschlägigen Versuche mit dem regsten Interesse. Dem Studium der geographischen Verbreitung des Menschen, das Schreiber dieser Zeilen zur „Anthropogeographie“ führte, wandte er in allen Stadien eine lebendige Theilnahme zu. Zuletzt vertiefte er sich aber ganz in einen originellen Gedanken, mit dessen Darlegung er 1885 überhaupt seine schriftstellerische Thätigkeit schloß: Die Culturzüchtung des Menschen. Er ging von der auf allen Stufen der Völkerentwicklung festgehaltenen Vermeidung der Blutschande aus, die die Inzucht unmöglich gemacht und damit auch die Schöpfung neuer Rassen ausgeschlossen hat. Daraus leitete er eine Richtung der Entwicklung des Menschengeschlechtes ab, die im ganzen Thierreich kein analoges Beispiel findet. Die Menschenrassen als „Dauertypen“ aufzufassen, die seit der Diluvialzeit unverändert geblieben seien, hatte damals Kollmann versucht. W. sah in diesem Stehenbleiben der Rassenbildung einen Beweis für die Eigenartigkeit der Entwicklung der Menschheit, die er „Culturzüchtung“ nannte. Wie er die Entstehung der menschlichen Cultur und Sprache in den Beginn der Eiszeit verlegte, die Steigerung der Migrationsfähigkeit mit den ersten Culturerwerbungen beginnen läßt, den hohen Erwartungen widersprach, die von den Schädelmessungen gehegt wurden, die Entstehung der Scheu vor Blutschande psychologisch begründet und zuletzt das Ergebniß der Untersuchung in vier Thesen zusammenfaßt, das alles zeigt W. noch im Vollbesitz seiner geistigen Kraft. Und doch erklärte er, als er die letzten Seiten dieser wahrhaft ideensprühenden, tiefgedachten Abhandlung dictirt hatte, daß dieses sein letztes Wort sein solle. Und so blieb es. Die körperlichen Leiden allein konnten ihm die geistige Arbeit verleiden, deren Werkzeuge noch frisch und scharf waren. Auch seine Briefe wurden jetzt spärlicher. Er las oder ließ sich vorlesen, saß viele Stunden sinnend in den Isaranlagen, im Hofgarten oder an dem Wasserfall im Englischen Garten und [541] liebte selbst das Gespräch nicht mehr so wie früher, wo es ihm unmöglich erschienen wäre, den Besuch eines Freundes abzulehnen. Nach einem früher regen Briefwechsel war ich Monate ohne Nachricht gewesen, als am Pfingstmontag 1887 ein Telegramm seines Museumsdieners meldete, daß er sich am Vormittag erschossen habe. Quälender Husten, Neuralgien und zuletzt noch ein Blasenleiden und im Gefolge Unfähigkeit zu arbeiten, oder auch nur geistig zu genießen, hatten jetzt den Punkt erreicht, von dem er längst vorausgesagt hatte, daß er sich an ihm berechtigt halten würde, seinen Lebensfaden selbst zu zerschneiden. Wenige Monate vor seinem Tode hatte er noch bekannt, daß es ihm trotz aller Leiden schwer falle, der süßen freundlichen Gewohnheit des Daseins und Wirkens zu entsagen.

W. war hoch und schmal gebaut. Er hatte hellblaue, blitzende Augen, eine stark gebogene Nase und schmale Lippen, trug Schnauz- und Knebelbart. Ehe er im Jahre 1870 durch einen unglücklichen Sturz beim Abspringen vom Eisenbahnwagen zum Krüppel geworden war, der an Krücke und Stock gehen mußte, war seine Haltung aufrecht und man hätte ihn für einen Mann des Schwertes halten können. In der That liebte er es, mit Waffen umzugehen, war ein geschickter Pistolenschütze und erfolgreicher Jäger. Mehr als einen Ehrenhandel hat er mit der Waffe auszufechten gehabt. Sein Wort und seine Feder konnten verletzen. Sich in die lebhafteste Erörterung öffentlicher Angelegenheiten, ohne Ansehen der Person, mit Witz und Ironie zu stürzen, war ihm einst so Bedürfniß geworden, daß er auch selbst in der Periode wissenschaftlicher Vertiefung noch dann und wann einen Zeitungsartikel hinwarf. Doch ist er in allen Discussionen immer milder geworden. Selbst der Aerger über das seichte Geschwätz mancher sogenannter Naturforscher, die den Darwinismus zur Parteisache machten, hat ihm höchstens noch eine leicht ironische Bemerkung eingegeben. Im Gespräch bewahrte er sich die Neigung über menschliche Schwächen, zunächst über seine eigenen, liebenswürdig zu spotten. W. hatte die Kämpfe der 30er und 40er Jahre um politische Freiheit und freie Forschung mitgekämpft. Die Reaction war ihm so zuwider, daß er ihr 1852 nach Amerika auswich. In der Politik kehrte er zwar auf den gegebenen Boden zurück und gehörte nach 1866 zu den wärmsten Bewunderern des alten Wilhelm und Bismarck’s. Die Allianz mit Oesterreich pries er als dessen schönstes segensreichstes Werk. Zur Kirche, der seine nächsten Verwandten sogar mit Entschiedenheit zugewendet waren, kehrte er aber nicht zurück. Er blieb ein Aufklärer, war aber kein Spötter. Besonders mit Leuten aus dem Volke unterhielt er sich liebevoll über ihren Glauben. Er besuchte manchmal die Vorträge in der Münchener freireligiösen Gemeinde und las seines Freundes Strauß „Der alte und der neue Glaube“ mit wahrer Begeisterung; den Freunden, die sie nicht theilten, warf er leicht einen mystischen Hang vor. Er selbst kam aber über den Materialismus bald hinaus. Der angeborene Gegensatz seiner fein organisirten Natur zu der Rohheit und Plattheit eines Vogt und Büchner unterstützte ihn dabei. Ich war Zeuge des üblen Eindrucks, den ein Besuch des letzteren in den ersten 80er Jahren bei ihm hinterließ. Mit der Vertiefung in die Schöpfungsprobleme, die die letzten 20 Jahre seines Lebens ihn ununterbrochen beschäftigten, ging eine philosophische Einkehr Hand in Hand, die zum Pantheismus führte. Er beschäftigte sich nun viel mit der Seelenlehre des Buddhismus. Jahre vor seinem Tode dichtete er sich die Grabschrift: Mitleidlos bricht die Natur Ihr Gebild’ entzwei; Steten Wechsel liebt sie nur, Alles zieht vorbei. Doch wenn auch Vergänglichkeit Treibt ihr grausam Spiel: Ew’ges Schaffen bleibt der Zeit, Wie der Kräfte Ziel!

Er war auch immer duldsamer gegen religiös Andersdenkende geworden. [542] Er gehörte zu den Deutschen, an denen Goethe seine erziehende Arbeit bewährt hat; in den letzten zehn Jahren las er von poetischen Schöpfungen wenig anderes als Goethe’sche, diese aber mit immer noch steigendem Genuß. Früher hatten Jean Paul und Schiller verwandte Saiten in ihm angeschlagen. Seine geschichtlichen Kenntnisse waren überraschend reich und seine Neigung für geschichtliche Lectüre wuchs, während die für philosophische zurückging. So wie er aus engen Verhältnissen hervorgegangen war und zeitlebens mit wenig zufrieden zu sein wußte, verstand er auch die Sorgen der kleinen Leute, deren Vertrauen er rasch gewann. Er gab alle seine kleinen Ersparnisse den Armen und hat gerade soviel hinterlassen, als zur Beerdigung hinreichte. Seine schönste Weihnachtsfreude war die Bescheerung in einer armen Familie. Daß ihm die Sorge ums Leben die Gründung eines Hausstandes verboten hatte, pries er zuletzt als ein günstiges Geschick; sie habe ihn gehindert, in die Sklaverei des Familienegoismus zu fallen. Der steigende Luxus war ihm zuwider, besonders wo er in den Kreisen der Gebildeten und geistig Arbeitenden hervortrat, und an der socialen Bewegung hatte er zuletzt im Grunde nur noch den Mangel nationalen Empfindens auszusetzen. Er dachte in religiösen, politischen und socialen Dingen zu selbständig, um sich zu einer Partei zu rechnen. Mit seinem Idealismus, seiner Weltbildung, seiner Leidenschaft für das Schöne in Poesie, Kunst und Leben, und nicht zuletzt seiner hohen Auffassung von Ehre und Ritterlichkeit war er einerseits zu viel Aristokrat, um sich einer Volksbewegung rückhaltlos anschließen zu können. Auf der anderen Seite war er viel zu lange in der Schule des süddeutschen und französischen Liberalismus gewesen, um nicht gegen den professionellen Conservativismus, Antisemitismus und Aehnliches einen lebhaften Widerwillen zu empfinden. Stärker als monarchische waren in ihm die Gefühle der Achtung und Dankbarkeit gegenüber Männern von großen Leistungen, sei es auf wissenschaftlichem, künstlerischem oder politischem Gebiete. Hier hörte für ihn jeder Parteiunterschied auf. Das Talent der Heldenverehrung besaß er im höchsten Grade. Mit einer wahren Zärtlichkeit sprach er von Spinoza und Kant, mit grenzenloser Bewunderung von Goethe. Unter den Zeitgenossen standen ihm König Maximilian II. von Baiern, Justus Liebig, Alexander v. Humboldt, Bismarck am höchsten. Auch von weniger hervorragenden, wie dem älteren Cotta und Gustav Kolb, sprach er mit einer Wärme, die wohlthuend wirkte. Darin war etwas von der Freudigkeit des Anerkennens, die er vor allem für die Freunde hegte, die ihm nie gefehlt haben. Besonders die letzte ruhigere Hälfte seines Lebens hat ihm der Verkehr mit lieben Freunden und Freundinnen verschönt, an deren Schicksalen er einen familienhaften Antheil nahm.

Zum Schluß noch ein Wort über Wagner’s litterarische Stellung.

W. nimmt unter den deutschen Reiseschriftstellern einen hervorragenden Platz ein. An Ideenreichthum, Wissen und Stil übertraf er weit den gerade zu seiner Zeit so hochgeschätzten J. G. Kohl. Er hat aber nie einen Erfolg beim großen Publicum gehabt wie dieser, weil er nicht in platter Umständlichkeit den Lesern entgegenkam. In Wagner’s productivste Zeit fällt der unvermeidliche Rückgang der einst so großen Neigung für die mit Betrachtungen durchsetzte, memoirenähnliche und in Schilderungen sich ergehende Reisebeschreibung. Er hat geistvolle Bemerkungen darüber in der Vorrede zu seinem letzten Reisewerk niedergelegt. Doch das nicht allein hat der Verbreitung seiner Bücher geschadet; seine ganze Begabung war zu vielseitig. Mit seinen wissenschaftlichen Tendenzen konnte er nie populär sein und zum packenden Schriftsteller fehlte ihm die plastische Kraft. W. gehörte zu den Glücklichen, zu denen früh die Poesie sich gesellt, und die sie ihr Leben lang nicht verläßt. Er hat von der Erzählung oder Novelle an, die er Anfangs der 30er Jahre preisgekrönt [543] mit stolzen Hoffnungen in einem Almanach abgedruckt sah, bis zu seiner Grabschrift viel gedichtet, Ernstes und Heiteres. In Nordamerika soll er einen Verleger mit nachgeahmten Heine’schen Liedern zum besten gehalten haben. In den letzten Jahrzehnten ist nichts mehr von seinen Dichtungen ans Licht getreten, überhaupt wol nicht mehr, seitdem er sich den Wissenschaften ganz ergeben hatte. Gern las er den Freunden und noch lieber den Freundinnen ein Gedichtchen vor, zu dem ihn eine Naturstimmung, für die er unendlich fein angelegt war, begeistert hatte. Im letzten Jahrzehnt wurde leider immer mehr die Resignation seine Muse und er variirte stets von neuem das Thema von der Vergänglichkeit im ewigen Wechsel. Aber selbst da brach noch oft sein Humor durch und hing dem tief philosophisch begonnenen Vers einen Schluß voll Selbstironie an. Die politische Poesie, die ihn einst gepackt hatte, ließ ihn (oder ließ er) bald wieder los, aber für die verwandte didactische Poesie behielt er zeitlebens eine starke Neigung. Als unabhängiger Charakter schätzte W. die üblichen Auszeichnungen nicht hoch. Von seiner Verspottung der Titel und Orden nahm er indessen zwei aus: den Doctortitel, den ihm die Universität Erlangen am 24. März 1838 auf Antrag seines Bruders Rudolf verliehen, und den eines Ehrenprofessors der Universität München, den er 1862 empfangen hatte.

Eigene Erinnerungen. – Curriculum Vitae in den Acten der Erlanger Philosophischen Facultät. – Acten des k. Ethnographischen Museums in München. – Nekrolog von Dr. Karl Scherzer in der Beil. z. Allgem. Ztg. 1887. – Die von einem Neffen mit Einleitung herausgegebenen biogeographischen Schriften u. d. T. „Die Entstehung der Arten durch räumliche Sonderung. Gesammelte Aufsätze“, 1889.