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ADB:Widmanstetter, Johann Albrecht

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Artikel „Widmanstetter, Johann Albrecht“ von Sigmund Ritter von Riezler in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 42 (1897), S. 357–361, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Widmanstetter,_Johann_Albrecht&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 13:02 Uhr UTC)
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Widmanstetter: Johann Albrecht W. (Widmestadius; die deutsche Form: Widmanstadt scheint nur aus falscher Rückverdeutschung dieser von W. und anderen gebrauchten Form entsprungen), Staatsmann und Humanist, besonders Orientalist, geboren um 1506 in dem zum Gebiete der Reichsstadt Ulm gehörigen Dorfe Nellingen, † 1557, kurz vor dem 28. März, in Regensburg. Nach der Sitte der Zeit hatte er sich einen Gelehrtennamen beigelegt: Lucretius. Eine Autobiographie, die er nach dem Vorbilde des Rutilius Rufus schrieb, ist verschollen, doch unterrichten uns zerstreute Angaben in den Vorreden seiner Editionen und in seinen Streitschriften (bes. clm. 27 081, f. 12) einigermaßen über seinen Lebens- und Bildungsgang. Daß ihn Capnion, während er sich als Knabe an griechischen Buchstaben übte, zu diesen Studien ermunterte, erschien ihm als gutes Omen. Er studirte weltliches Recht, Philosophie und Humaniora und nennt außer Jakob Jonas in Tübingen und anderen die Humanisten Heinrich Glareanus, Bonifaz Amerbachius, Sebastian Münster als Lehrer, deren Unterricht oder Anregung er in Deutschland genoß. Nach seinem eigenen Geständniß verdankte er jedoch erst Italien, wohin er 1527 kam und wo er nun (zunächst in Unteritalien) für eine Reihe von Jahren seine zweite Heimath fand, seine gründliche Bildung. Eifrig benützte er dort zumal jede Gelegenheit Kenntnisse in den orientalischen Sprachen zu erwerben. Gleich im Beginne seines italienischen Aufenthaltes gestattete ihm der Verkehr mit Clemens Rhomäus, dem Erzbischof von Rhodus, der nach der Einnahme dieser Stadt durch die Türken nach Italien geflohen war, sich im Griechischen zu vervollkommnen und im Umgang mit dessen Neffen Basilius eignete er sich große Geläufigkeit in der griechischen Umgangssprache an. In die Geheimnisse der hebräischen Sprache und Theologie weihte ihn der greise Dattilus in Turin, Lehrer des Pico von Mirandula, und später der gelehrte afrikanische Jude Zematus ein, der beim Cardinal Aegidius von Viterbo zugleich lernte und lehrte. Arabisch lernte er von dem Spanier Jakob Lopes Stunica und einigen in Italien lebenden Afrikanern, über den Koran hörte er in Rom Benjamin Arignanus, Syrisch lehrte [358] ihn in Bologna, wohin er 1529 im Gefolge Kaiser Karl’s V. kam, ein syrischer Mönch, Theseus Ambrosius, und später Simeon, Bischof der Syrer auf dem Berge Libanon. Er selbst durfte an berühmten italienischen Universitäten, was wenigen Deutschen vor ihm beschieden war, öffentliche Vorträge aus dem Bereich der freien Künste halten. Auch Soldat soll er einige Zeit in Italien gewesen sein. Dann trat er als Secretär in den Dienst des Cardinals Nikolaus von Schönberg, Erzbischofs von Capua, an den ihn Karl V. mit einer Botschaft gesandt hatte, vertauschte aber diese Stellung bald mit der gleichen beim Papste Clemens VII. Vor diesem Papste und mehreren Cardinälen hielt er 1533 im Garten des Vaticans einen Vortrag über das neue Weltsystem des Copernicus und ward vom Papste dafür mit einer griechischen Handschrift beschenkt. Auch bei Paul III. bekleidete er noch das Amt eines päpstlichen Haussecretärs, als solcher folgte er seinem Herrn 1538 zu den Friedensverhandlungen nach Nizza. 1539 treffen wir ihn als Rath des in Landshut residireuden Herzogs Ludwig X. von Baiern, der vielleicht aus Anlaß seiner Theilnahme an dem provençalischen Feldzuge Karl’s V. des päpstlichen Secretärs Bekanntschaft gemacht hatte. Mit einem Auftrage dieses Fürsten kam er am 1. October dieses Jahres wieder nach Rom. Im April 1540 reiste er in diplomatischer Sendung zum Kaiser nach Gent, von wo er zunächst wieder nach Rom, dann nach Landshut zurückkehrte. In Rom hatte auch der Bischof von Eichstätt, Moriz von Hutten, seine Dienste bei der Curie in Anspruch genommen. Da W. bei diesem Anlaß das unredliche Gebaren eines anderen bairischen und eichstättischen Geschäftsträgers in Rom, seines früheren Freunds Ambrosius v. Gumppenberg (s. A. D. B. X, 122), rügte, gerieth er in erbitterten Streit, der mehr als ein Jahrzehnt seines Lebens trübte, nicht nur mit Gumppenberg, sondern auch mit römischen Hausgenossen desselben und mit einem anderen bairischen Diplomaten in Rom, der Gumppenberg’s Partei ergriff, dem Venetianer Bonacursio von Gryn. Gumppenberg warf W. u. a. jüdische Abstammung, lutherische Gesinnung und schändliche Unsittlichkeit vor, dagegen behauptete W. von seinem Gegner nicht nur, daß er das vom Bischof von Eichstätt zur Betreibung seines Anliegens empfangene Geld verjubelt habe, sondern auch, daß er ihn, als er von Rom nach Genf reiste, durch seinen Hausgenossen Alfonso Colombino ermorden lassen wollte. Es kam zu Processen vor dem bürgerlichen Gericht in Siena und vor der päpstlichen Rota in Rom. Gumppenberg, einige Zeit zur Haft gesetzt, soll auch vor Gericht gestanden haben, daß er den Colombino beauftragt habe, W. zwar nicht umzubringen, aber ihm Arme und Beine zu brechen. Er ließ bei Gericht eine von Angelus Sealtelus verfaßte, mit den schimpflichsten Verleumdungen und Verdächtigungen angefüllte Streit- und Schmähschrift gegen W. einreichen, die im 14. Bde. (S. 468–500) von Schelhorn’s Amoenitates literariae gedruckt ist. Diese Verleumdungen drangen auch nach Deutschland und scheinen dort in den Kreisen der Protestanten, gegen welche W. entschieden Stellung nahm, Glauben gefunden zu haben. Wenigstens schreibt Melanchthon 1545 (Epistolar. liber 1547, p. 481): „Lucretius ist weder zu fürchten noch zu preisen. Gezwungen, aus Rom zu fliehen, hofft er jetzt, wenn er Beschuldigungen gegen uns erhebt, die Gunst der Kurie wieder zu gewinnen. Ich glaube, daß er damit weniger den Herzogen von Baiern als der Kurie dienen will. Seine schändlichen Geschichten sind mir bekannt“ u. s. w. Die Angriffe auf die Lutheraner, deren Melanchthon erwähnt, dürften sich auf die von W. 1543 veröffentlichten Notae contra Mohammedis dogmata beziehen, die laut einer handschriftlichen Bemerkung Hund’s in dem Exemplar der Münchener Staatsbibliothek vom Nürnberger Rathe (wegen ihrer antilutherischen Färbung) unterdrückt wurden. W. veröffentlichte gegen Gumppenberg und Bonacursio zwei sehr selten gewordene Vertheidigungsschriften [359] (Abschrift der einen in clm. 27081), worin er sich Orator der bairischen Herzoge Wilhelm’s IV. und Ludwig’s X. nennt. Daß er seinen Beinamen Lucretius auf den Vorwurf seiner Gegner, er habe diesen angenommen, weil er wie der römische Dichter die Unsterblichkeit der Seele leugnete, später in seinen Schriften sorgfältig ausgetilgt habe, erweist sich schon dadurch als Fabel, daß ihn noch das Protocollbuch des Regensburger Domcapitels von 1556 als Lucretius bezeichnet und er selbst sogar seiner Gemahlin auf dem Grabstein, den er ihr setzen ließ, den Namen Lucretia gibt. Diese Gemahlin, die er am 15. Jan. 1542 in Landshut heimführte, war Anna von Leonsberg, eine natürliche Tochter Herzog Ludwig’s. Ihre Mutter soll die Gattin seines Tübinger Lehrers Jonas gewesen sein. Der lange Streit Widmanstetter’s mit seinen Gegnern, der sich vor der päpstlichen Rota bis in das Pontificat Julius’ III. hinzog, auch die bairischen Herzoge beschäftigte und Gumppenberg noch auf dem Passauer Tage von 1552 zu neuen Anstrengungen veranlaßte, ist auch von Interesse für die Geschichte des Duells und läßt deutlich ersehen, daß diese romanische Sitte bei den Deutschen damals noch nicht Wurzel geschlagen hatte. Alfonso und Mario Colombino, sagt W. in einer seiner Streitschriften, seien durch Gumppenberg aufgestachelt worden, ihn zum Zweikampfe herauszufordern, Herzog Ludwig aber, den er davon benachrichtigt, habe, „ab hoc judicii genere Langobardorum moribus introducto abhorrens“, Papst Paul III. und dessen zum Concil nach Trient gehende Gesandte brieflich ersucht, ein so schlimmes Exempel zu hintertreiben und den langen Proceß „via regia“ zu erledigen. W. erklärt, er habe den Zweikampf ausgeschlagen im Hinblick auf sein Gelübde als Ritter des portugiesischen St. Jakobsordens und auf seine Würde als Doctor des weltlichen Rechts. Dagegen nennen seine Widersacher den Zweikampf eine bei Italienern, Spaniern und Franzosen in hohem Ansehen stehende Sitte (laudatissimum) und Bonacursio macht in der Klage, die er am 30. Juli 1544 bei den bairischen Herzogen gegen W. erhob, zur Rechtfertigung der Herausforderung geltend, daß ja auch David dem Goliath im Zweikampf entgegengetreten sei und daß Karl V. Franz I. von Frankreich zum Zweikampf herausgefordert habe; es streife daher an Majestätsverbrechen, wenn W. das Duell eine Schlächterei (carnificina) nenne.

Nach Herzog Ludwig’s Tode (1545) siedelte W. nach Salzburg über, wo er das Kanzleramt bei Ludwig’s Bruder, Erzbischof Ernst, übernahm. In Münster’s Kosmographie hat er diesen verschieden beurtheilten Fürsten mit ausnehmendem Lobe gefeiert. 1548 aber erscheint er als Kanzler des Bischofs von Augsburg, Cardinals Otto Truchsessen von Waldburg. Am 2. März dieses Jahres ward er auf dem Augsburger Reichstage sammt seinen zwei Brüdern (durch einen von diesen ward die noch heute als Freiherrn von Beckh-Widmanstetter in Oesterreich blühende Familie fortgepflanzt) vom Kaiser in den Ritterstand erhoben. 1550 begleitete er seinen Bischof zur Papstwahl nach Rom und erhielt dort im Mai 1551 das Ehrenbürgerrecht der Stadt Rom. Ein kaiserliches Diplom vom 5. October 1551 übertrug ihm die Würde eines Hofpfalzgrafen. 1552 durch den Krieg des Kurfürsten Moritz von Sachsen gegen den Kaiser aus seinen Gütern an der oberen Donau vertrieben, floh er in die Alpen und erhielt dort durch Vermittelung Gienger’s und Jakob Jonas’ einen Ruf an den Wiener Hof. Noch im selben Jahre trat er in den Dienst des Königs Ferdinand und ward Kanzler für die österreichischen Länder (Austria oriental. im Gegensatz zu Vorderösterreich). In dieser Eigenschaft führte er vom 20. September bis 7. October 1553 das Protokoll über die Verhandlungen des Heidelberger Bundes zu Heilbronn (v. Druffel-Brandi, Briefe u. Acten IV, Nr. 274). Man rühmte seine Dienste um die Wiederherstellung der alten Kirche in Deutschland [360] (Masius-Briefe ed. Lossen, S. 227), wie er denn auch 1554 mit Durchführung der auf Erneuerung und Befestigung des katholischen Geistes abzielenden Studienreformation der Universität Wien betraut ward. Von nicht gewöhnlicher Begabung und rastlosem Fleiße zeugt es, daß er sich neben seinen staatsmännischen und diplomatischen Geschäften ein so hervorragendes philologisches Wissen anzueignen vermochte, daß Wicelius 1541 meinte, einen besseren Linguisten als ihn werde die deutsche Nation kaum besitzen. Besonders zählt er zu den frühesten Pflegern der orientalischen Studien in Deutschland, das Syrische ward hier geradezu durch ihn begründet. König Ferdinand gewährte die Mittel, daß er 1555 nach einer vom Priester Moses von Meredin in Mesopotamien aus dem Orient gebrachten Handschrift das neue Testament in syrischer Sprache als den ersten orientalischen Wiener Druck herausgeben konnte. Die zwei Bände der Edition (über die Vergerius, Opera advers. Papatum I, 202 f. zu vergleichen ist) sind dem Könige Ferdinand und dessen Sohne, Erzherzog Maximilian gewidmet. Im selben Jahre ließ er die erste syrische Grammatik, „Syriacae linguae prima elementa“ folgen. Ferner sind von Druckwerken Widmanstetter’s außer seinen zwei Streitschriften gegen Gumppenberg und Bonacursio zu nennen: „Sacrarum ceremoniarum sive rituum ecclesiasticorum st. Romanae ecclesiae libri tres“ und: „Mohammedis Theologia dialogo explicata“ nebst „Notae contra Mohammedis dogmata“ und einem Leben Muhammed’s (1543). In der Widmung dieser Schrift an Herzog Ludwig bemerkt er, daß ihn dieser Fürst so lange von seinen Amtspflichten als Rath entbunden habe, bis er der Muße überdrüssig würde. Einen Catalog der Salzburger Erzbischöfe hat W. für die Kosmographie seines Freundes Sebastian Münster (1550, S. 638–641) zusammengestellt. Ungedruckt blieben u. a. seine lateinische Uebersetzung des Korans, eine ausführlichere syrische, sowie eine arabische Grammatik, ein arabisch-syrisches und ein kabbalistisches Wörterbuch. Am 18. Mai 1556 starb zu Regensburg im Alter von dreißig Jahren seine Gemahlin, von der er drei Töchter hatte. Im Domkreuzgang zu Regensburg ließ er ihr ein schönes Grabdenkmal setzen. Er entsagte nun seinen weltlichen Würden, trat in den geistlichen Stand und ließ sich vom Bischofe Wolfgang von Passau dessen Regensburger Domherrenstelle abtreten. Wiewol seiner Aufnahme in dieses Capitel einige Bedenken entgegenstanden, besonders seine Feindschaft mit Ambrosius v. Gumppenberg, der damals ebenfalls eine Regensburger Domherrenstelle inne hatte, wurde ihm am 30. Dec. 1556, nachdem auch der König und Herzog Albrecht V. ihre Erlaubniß ertheilt hatten, die Pfründe verliehen, doch sollte er sich derselben nur mehr kurze Zeit erfreuen. Am 28. März 1557 ward er in Regensburg an der Seite seiner Hausfrau bestattet. Von seinem Grabstein hat sich nur ein Fragment erhalten, das seltsamer Weise lange Zeit als altrömisches Denkmal galt. Widmanstetter’s Büchersammlung, die an Druckwerken gegen 500, an Handschriften über 330 Nummern umfaßt haben soll, kam zuerst zum größten Theil in den Besitz des kaiserlichen Rathes Georg Sigmund Seld, ward aber dann von Herzog Albrecht V. von Baiern erworben und bildet einen der Grundstöcke der Münchener Hof- und Staatsbibliothek. Dazu gehörten besonders viele hebräische und griechische Handschriften, arabische, die in Marokko geschrieben sind, seltene syrische Drucke, wahrscheinlich auch die berühmte Papyrushandschrift des Codex traditionum Ravennatens. Die kostbare Dioscorideshandschrift, ein Vermächtniß des Cardinals von Capua an W., haben die Vormünder der Widmanstetter’schen Kinder 1557 an den Landshuter Apotheker Rebhauer geschenkt. Eine in Italien gefertigte, in Joachim’s Münzcabinet III, 167 abgebildete Medaille zeigt das Brustbild des Gelehrten und auf der Rückseite außer einer allegorischen bildlichen Darstellung in griechischer Sprache den Wahlspruch: Mit Kunst und Gunst. [361] Der Elephant des Bildes ist eine Anspielung auf sein Wappen, das der syrischen Grammatik in Holzschnitt beigefügt ist, und ward von W. als Wappenfigur wol gewählt, weil Helfenstein seinem Geburtsorte nahe lag.

Besonders: Schelhorn, Amoenitates literariae XIII, 223 flgd. – Steigenberger, Hist.-liter. Versuch von Entstehung und Aufnahme der kurfürstl. Bibliothek in München, S. 19 flgd. – Georg Ernst Waldau, Johann Albrecht v. W. (Gotha 1796). – Bayerische Blätter f. Geschichte, Statistik u. s. w. 1832, S. 76. – Joachim’s Münzcabinet a. a. O. – Jos. Meyer in den hist.-pol. Blättern Bd. 82 (1878), S. 513–530 (für die Regensburger Vorgänge und Denkmäler beachtenswerth). – Wurzbach’s Biograph. Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 55: Die Familie Widmanstetter, seit 1668 Beckh-Widmanstetter, und die dort aufgeführte weitere Literatur. Einige Litteraturnachweise verdanke ich Herrn Hauptmann a. D. v. Beckh-Widmanstetter in Graz. Ein Brief des Joachim Camerarius an W. steht in J. Camerarii Epistolarum libri 5 posteriores (1595), p. 54.