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BLKÖ:Streicher, Johann Andreas

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Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
korrigiert
Band: 40 (1880), ab Seite: 13. (Quelle)
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Streicher, Johann Andreas (Tonsetzer, geb. zu Stuttgart 13. December 1761, gest. zu Wien 25. Mai 1833). Der Vater, Bau- und Steinmetzmeister in Stuttgart, starb, als der Sohn noch ein Kind war. Die Mutter, welche kein Vermögen hatte, mußte denselben in das Stuttgarter Waisenhaus geben und war auch später, als der talentvolle Knabe gute Fortschritte machte, weder im Stande, ihn höhere Schulen besuchen, noch in der Musik unterrichten zu lassen, zu welcher er besonders gute Anlagen zeigte. Erst im Alter von 17 Jahren begann er unter Anleitung eines alten Schullehrers Clavier zu spielen. Bald überholte der Schüler den Meister, und sein Eifer für die Musik wurde so groß, daß er oft ganze Nächte hindurch spielte, wodurch er seine Kräfte bald erschöpfte und in eine schwere Krankheit verfiel. Von dieser genesen, trieb er seine musikalischen Uebungen mit erneuertem Eifer fort und suchte, um sein Talent auszubilden, den Umgang mit Tonkünstlern. Als er eine ungewöhnliche Fertigkeit in der Musik erlangt hatte, wollte er sich nach Hamburg begeben, um bei dem berühmten Emanuel Koch Composition zu studiren. In jener Stadt lebende Verwandte gaben ihm das Versprechen, in der Ausführung seiner Absichten ihn bestens zu unterstützen. Schiller’s Flucht vereitelte Alles. Dieser lebte als Militärarzt in Stuttgart und war mit Andreas Streicher innig befreundet. Das Verbot seines Fürsten: „Außer seinem Fache etwas zu schreiben“, wurde dem Dichter unerträglich und um demselben sich zu entziehen, beschloß er, heimlich aus Stuttgart zu flüchten. Er vertraute sich seinem Freunde Streicher und bat ihn um Beistand. Letzterer leistete denselben in jeder Hinsicht: nicht genug [14] an dem, daß er Schiller mit dem Gelde, das er selbst besaß, aushalf, gab er ihm zur Sicherheit das Geleite nach Mannheim und dann nach Frankfurt am Main, wo er ihn nicht eher verließ, als bis er ihn geborgen wußte. Nun erst dachte er an seine Reise nach Hamburg, aber das dafür bestimmte Geld war für Schiller’s Flucht aufgegangen, und so kehrte er vorderhand nach Mannheim zurück, wo er Musikunterricht ertheilte und bei der kurfürstlichen Capelle Gelegenheit fand, in seiner Kunst sich weiter auszubilden. Nach längerem Aufenthalte in letzterer Stadt begab er sich nach München, wo er bald ein gesuchter Clavierlehrer wurde und sich mit Compositionen zu beschäftigen begann, welche, in Balleten, Clavier-Sonaten, Cantaten, Variationen, verschiedenen Uebungen u. s. w. bestehend, theilweise im Stiche erschienen und ihm einen Antheil an einer Musikalienhandlung verschafften. Seine Verhältnisse führten ihn öfter nach Augsburg, wo er Nannette Stein [siehe S. 19], die Tochter des berühmten Orgel- und Clavierbauers, kennen lernte. Sie wurde seine Frau, und als sie im Jahre 1794 nach Wien übersiedelte, wo sie das Geschäft ihres Vaters eröffnete, setzte Streicher auch dort den Clavierunterricht mit solchem Erfolge fort, daß er bald als der erste Meister in seinem Fache galt. Da aber mit der allmäligen Erweiterung der Pianoforte-Fabrik deren alleinige Führung seiner Frau zu beschwerlich fiel, gab er den Unterricht auf und widmete sich ganz dem Geschäfte. Obgleich schon 40 Jahre alt und in diesem Gewerbezweige unerfahren, drang er doch bald in das Wesentliche der mechanischen Kunst ein, wobei ihm seine gründlichen musikalischen Kenntnisse besonders zu Statten kamen. So gingen aus seiner Anstalt immer trefflichere Instrumente hervor, und der Ruf derselben nahm mit jedem Jahre zu. Dabei förderte er ernstlich das Musikleben der Residenz. Im Winter fanden in seinen geräumigen Sälen bald größere, bald kleinere Concerte statt, an welchen sich die vorzüglichsten Dilettanten und Künstler betheiligten und denen zahlreiche Zuhörer aus den gebildeten Ständen und selbst dem hohen Adel beiwohnten. Zur Zeit des Congresses befand sich unter den Besuchern derselben auch der Kenner und Beschützer der Tonkunst Erzherzog Rudolph [Bd. VII, S. 145, Nr. 280]. Diese Concerte, in denen Musik edelsten Styls gepflegt wurde – nur Meisterwerke, und zwar in einer Vollendung ausgeführt, wie sie höher nicht denkbar – fanden nicht selten zu wohlthätigen Zwecken statt, und in einem solchen, im Jahre 1812 zum Besten der Abgebrannten Badens bei Wien veranstaltet, kam Händel’s großes Oratorium „Timotheus oder die Gewalt der Musik“ unter Mitwirkung von 579 Künstlern und Dilettanten zum Vortrage. Zu vielen Tausenden wuchsen die Summen an, welche auf diesem Wege den Armen zugute kamen. Aufstrebenden Talenten bot Streicher, ohne davon Aufhebens zu machen, gern die Hand und förderte und unterstützte sie in ihrem Fortkommen; es seien hier nur beispielsweise Karl Czerny [Bd. III, S. 105] und Franz Lachner [Bd. XIII, S. 460] genannt. Indem er so mit den hervorragendsten Persönlichkeiten der Musikwelt in nähere Verbindung trat und auch die Verhältnisse seines Kunstzweiges genau kennen lernte, gerieth er auf den Plan, diese Kräfte zu vereinigen und ward er der eigentliche Urheber eines großen Musikvereins, aus welchem sich die Gesellschaft der Musikfreunde des [15] österreichischen Kaiserstaates in Wien entwickelte. Ein weiteres Verdienst, welches er sich erwarb, besteht in der Verbesserung des Kirchengesanges in den beiden Wiener Kirchengemeinden Augsburger und helvetischer Confession. Julius Ergenzinger, der uns über die evangelischen Schulen in Wien, der Erste, ausführlichen Bericht erstattet, schreibt, daß Streicher bei dem am 1. und 2. November 1817 gefeierten dritten Säcularfeste der Reformation zum ersten Male in bemerkbarer Weise hervortrat, da er die Leitung des musikalischen Theiles des Gottesdienstes übernommen hatte. Im folgenden Jahre beantragte er die Gründung einer Singschule aus den fähigsten Knaben der gemeinschaftlichen Schule und bestritt die ersten Kosten dieser Einrichtung aus eigenen Mitteln. Am 19. Jänner 1818 fand die Eröffnung dieser Singschule statt, und schon nach vier Monaten bedurfte man beim Gottesdienste keines Vorsängers mehr, dabei aber war der Gesang doch richtiger als zuvor. Hohe kirchliche Feste wurden durch Ausführung größerer Chöre von Haendel und anderen classischen Meistern gefeiert. Den Chorälen, welche er von der Geistlosigkeit der die Andacht auf höchst widrige Art störenden Vor- und Zwischenspiele befreite, verlieh er einen gleichmäßigen Rhythmus dadurch, daß er die letzteren meist nur aus vier Vierteln bestehen, in gleichem Tacte mit dem Chorale sich bewegen und dem Geiste der Melodie entsprechen ließ. Seine Ansichten und Wünsche über einen würdevollen, erhebenden Choralgesang entwickelte er in der Vorrede der von ihm herausgegebenen Schrift „Melodienbuch zum Gebrauche bei dem öffentlichen Gottesdienste der evangelischen Gemeinden“ (Wien 1824, Ant. Strauß, 8°.). In der Vorrede zu einem Choralbuche wollte er auch seine Erfahrungen über die Erfordernisse eines edeln zweckmäßigen Orgelspiels niederlegen, aber der Tod vereitelte die Ausführung dieses Vorhabens. Die Erfolge seines Wirkens nach dieser Richtung ließen sich wohl noch weiter nachweisen, doch sei hier nur bemerkt, daß er auch bei Aufführungen weltlicher classischer Werke, so z. B. bei jener des „Orpheus“ von Gluck, seine strengen Grundsätze zur Anwendung brachte und damit Erfolge erzielte, welche dem Wiener Musikleben in jenen Tagen einen Schwung verliehen, der in der Folge leider mehr ab- als zunahm. Nun wollen wir noch einer Arbeit Streicher’s gedenken, welche mit seinem bisher erwähnten Wirken wohl nicht im Zusammenhange steht, aber darum nicht minder werthvoll und schätzenswerth ist. In seinen späteren Jahren beschäftigte er sich nämlich mit biographischen Aufzeichnungen über seinen Freund Schiller, in welchen er manches Neue mittheilen und über die bis dahin in geheimnißvolles Dunkel gehüllte Flucht des Dichters aus Stuttgart interessante Aufschlüsse geben konnte. Er kam auch glücklicher Weise damit zu Ende, und das Buch wurde wenige Jahre nach seinem Tode veröffentlicht. Es erschien unter dem Titel „Schiller’s Flucht aus Stuttgart und Aufenthalt in Mannheim, vom Jahre 1782–1785“ (Stuttgart 1836, Cotta, VI und 216 S., 8°.). Streicher’s Kinder widmeten das Honorar für diese Schrift dem Denkmale Schiller’s. Es ist dieselbe eine köstliche Frucht in unscheinbarer Hülle. In gemüthlichem, sagen wir es gerade heraus, spießbürgerlichem Tone ist das Ganze gehalten, aber es waltet darin eine Treue, es liegt über den einfachen Worten ein so bezaubernder Hauch der Empfindung, daß [16] man, wie ein Fachmann (Palleske) treffend bemerkt, bei der Erzählung Streicher’s einen ähnlichen Eindruck empfängt, wie beim Anhören einer schönen Haydn’schen Sonate. In dieser biographischen Auszeichnung über Schiller erscheint das Jugendbild des Dichters einfach, wahr und echt künstlerisch gezeichnet, und sie ist und bleibt für jene Lebensepoche desselben die einzige, aber auch sicherste und beste Quelle. Als ihm ein Jahr vor seinem eigenen Hingang seine treue Lebensgefährtin, mit welcher er in einer 30jährigen Ehe Leid und Freud’ getheilt, durch den Tod entrissen wurde, zog er sich ganz von dem Geschäfte zurück, dasselbe seinem Sohne Johann Baptist [siehe die nebenstehende Spalte] überlassend, bei dem es in den besten Händen blieb. Dem Herausgeber dieses Lexikons ist es gelungen, in seinem „Schillerbuche“ das Bildniß dieses Freundes Schiller’s der Mit- und Nachwelt zu erhalten. Daß auf vielen Bildern, welche Episoden aus Schiller’s Leben darstellen, Streicher mit dargestellt erscheint, sei nebenbei bemerkt. So hat uns Johannes Scherr in seinem Festbuche „Schiller und seine Zeit“ (Leipzig 1859, Wigand, 4°.) Streicher in zwei Scenen vorgeführt, im Blatt 16: mit Schiller auf der Flucht, in einem schönen Holzschnitte von H. Bürkner, nach einer Zeichnung von Th. von Oer, und im Blatt 17: mit Schiller in der Dorfherberge zu Oggersheim, Holzschnitt von J. G. Flegel, nach einer Zeichnung von E. Hartmann. Im Drama hat ihn unseres Wissens nur Ludwig Eckart in seinem fünfactigen dramatischen Gedichte „Friedrich Schiller“ (Jena 1859) auftreten lassen.

Neues Universal-Lexikon der Tonkunst. Angefangen von Dr. Schladebach, fortges. von Ed. Bernsdorf (Dresden 1857, Rob. Schäfer, gr. 8°.) Bd. III, S. 665. – Allgemeine musikalische Zeitung (Leipzig, Breitkopf und Härtel, 4°.) 12. Februar 1834, Nr. 7: „Joh. Andr. Streicher’s Leben und Wirken“. – Meyer (J.), Das große Conversations-Lexikon für die gebildeten Stände (Hildburghausen, Bibliogr. Institut, gr. 8°.). Zweite Abtheilung, Bd. X, S. 647, Nr. 2. – Gaßner (F. S. Dr.), Universal-Lexikon der Tonkunst. Neue Handausgabe in einem Bande (Stuttgart 1849, Franz Köhler, Lex.-8°.), S. 806. – Ergenzinger (Julius), Bis zur Bürgerschule. Geschichte der vereinigten evangelischen Schulen in Wien von 1794–1870“ (Wien 1872, 8°.) S. 36. – Pietznigg, Mittheilungen aus Wien (Wien, 8°.) 1835, Bd. IV, S. 51: „Das Atelier des Herrn J. B. Streicher zur Verfertigung von Pianofortes“. – Constitutionelle Vorstadt-Zeitung (Wien) 1871, Nr. 92, im Feuilleton: „Alte Zeiten, alte Männer“. – Das Schiller-Buch. Von dem Herausgeber dieses Lexikons. Festgabe zur ersten Säcularfeier von Schiller’s Geburt 1859 (Wien, Staatsdruckerei, gr. 4°.) Marginal 2056, 2057, 2239 und 2831.
Porträt. Unterschrift: „Andreas Streicher“, Christian Mayer geschabt. Druck aus der k. k. Hof- und Staatsdruckerei in Wien 1859 (gr. 4°.). [Nach der Photographie einer Büste, welche sich im Besitze der Familie Streicher in Wien befindet, gestochen.]