Zum Inhalt springen

Das kirchliche Leben Dresdens im Zeitalter des Rationalismus

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Zur Geschichte der Wilsdruffer Vorstadt Das kirchliche Leben Dresdens im Zeitalter des Rationalismus (1902) von Paul Flade
Erschienen in: Dresdner Geschichtsblätter Band 3 (1901 bis 1904)
Zur Geschichte des Jakobshospitals
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
[114]
Das kirchliche Leben Dresdens im Zeitalter des Rationalismus.
Vortrag von Pfarrer Lic. theol. Paul Flade.

Ein Trümmerfeld war Dresden, zumal die Altstadt, nach der schrecklichen Beschießung durch die Preußen vom 13.–23. Juli 1760. Nicht weniger als 263 Häuser in der Festung und 243 in den Vorstädten waren ganz oder theilweise zerstört. Auch in der Neustadt hatten die auf den Scheunenhöfen errichteten Batterien großen Schaden angerichtet. Als Goethe 1780 von der Kuppel der Frauenkirche aus die Stadt überschaute, bot sie ein Bild der Verwüstung und im folgenden Jahre 1781 lagen allein auf der Moritzstraße noch 14 Häuser zerstört da. Wie aber die Stadt im allgemeinen, so hatte auch das kirchliche Wesen Dresdens aufs schwerste gelitten. Drei Kreuzdiakonate, sowie das Lehrerhaus an der Kreuzkirche waren abgebrannt. Zerstört war das Pfarrhaus der Annenkirche und dasjenige des böhmischen Predigers an der Johanneskirche. Vor allem aber war die Stadt des größten Theiles ihrer Kirchen beraubt. „Die Kreuzkirche“, klagt trauernd Superintendent Am Ende, als er nach dem Brande zum ersten Male und zwar in der Dreikönigskirche wieder predigt, „die Kreuzkirche liegt als eine Leiche darnieder und in der Asche; die Garnisonkirche ist hinweg, die Waisenhauskirche vorm Pirnschen Thor ist hinweg, die St. Annenkirche vorm Wilsdruffer Thor ist hinweg, das Gotteshaus der reformirten Gemeinde ist hinweg“. Wahrlich die Schäden, die der unselige Siebenjährige Krieg wie dem gesammten, so auch dem äußeren kirchlichen Leben Dresdens geschlagen hatten, waren außerordentlich große. Als aber dann, und theilweise erst nach langer, langer Zeit diese Schäden geheilt und neue Kirchen gebaut waren, da schaute schon äußerlich aus diesen Gotteshäusern eine ganz neue Zeit, ein neuer von dem alten grundverschiedener Geist heraus.

Welche Nüchternheit trat uns doch in der Waisenhauskirche mit ihren regelrecht angelegten Emporen und der steifen Holzarchitektur der Kanzel entgegen. Schwunglosigkeit ist der Charakter der Annenkirche mit der vom durchaus praktischen Gesichtspunkte diktirten Anordnung der drei übereinander liegenden Emporen und der über dem Altar aufgestellten Kanzel, und wenn das jetzt leider sehr verblichene Deckengemälde, um mit Gurlitt zu reden, noch etwas von der vollen Kraft und Beweglichkeit des Barock athmet, die beiden Reliefs an der Südost- und Nordwestseite mit ihrer Symbolisirung des Glaubens und der christlichen Lehre entbehren doch aller Wärme. Vor allem aber welch ein Gegensatz: die nach den Plänen von 1726 erbaute Frauenkirche und die erst im Jahre 1800 wirklich vollendete Kreuzkirche. Dort ein großer [115] Gedanke einheitlich durchgeführt, hier ein Gedanke den anderen verdrängend; dort der ganze Altar bei manchen Mängeln doch ein groß angelegtes, warm empfundenes Werk, hier Schenaus Altarbild voll viel Schönheitsgefühl, aber doch ohne recht kräftige Empfindung; dort der Geist des Barock durch Bähr, den schlichtgläubigen Leinwebers-Sohn vom kirchlichen Geiste geweiht, hier die letzten Reste des Barock ertötet durch die klassizistische Bauweise eines Krubsacius und seine aller religiösen Empfindung entbehrende steife Formengebung. Und wenn das Geschlecht jener Zeit den bei der Annenkirche zuerst fehlenden Thurm offenbar ebensowenig entbehrte wie bei der Dreikönigskirche, die ja auch bis 1859 thurmlos war, der schließlich 1825 vollendete Annenkirchenthurm mit seinen nackten Flächen und scharfen Linien ist wiederum so recht das Erzeugniß einer Zeit religiöser Schwunglosigkeit und Kühle.

Denselben Geist treffen wir auch auf den damaligen Friedhöfen. Das Objektive des Glaubens: Kreuz und Bibelwort tritt immer mehr zurück. Statt dessen mehren sich Saturne, Urnen, zerbrochene Säulen und Thränenkrüglein. Auf die Denkmäler aber schreibt man ausführlichst Stand und Titel, Orden und Ehren des Verstorbenen neben überaus nüchternen Reimereien. Man höre nur die auf dem alten Annenkirchhofe bis heute erhaltene Inschrift:

Hier ruht ein Ehepaar, die ihren Gott geehrt,
Sich treu und fromm ge(halten) und ehrlich sich genähret,
Der Armen treu gesorget, dem Nächsten nützlich waren,
(Sie mögen, wie’s der) treue Gott den Frommen lohnt, erfahren.

Die damals erbauten Häuser aber zeigen dieselbe Art von Versen und Inschriften, und Hasche, obgleich doch selbst ein Kind seiner Zeit, bemerkt in Bezug auf sie: die Alten hatten einen bessern Geschmack als unsere Armseligkeiten. Gewiß es gab noch auf der Hauptstraße den „Gottessegen“, das Haus, in dem der junge Kügelgen aufwuchs, und auch sonst hier und da einen schlichten christlichen Reim, so am Täubchenhaus auf der Ziegelgasse:

Noä Täublein bracht einen grünen Zweig
so nach der Sündflut den Frieden anzeigt
also nach einer Krieges Feuers Glut
das Täublein mit einem Friedenszweig ruht.

Im allgemeinen aber klagt Hasche mit Recht über die „fromm sein sollenden abscheulichen Verse, die man zur Ehre des guten Geschmacks in einer Residenz gar nicht dulden sollte“. Und wirklich, derartige Spielreime wirr zusammengestellter Worte, die nur mit Hilfe eines Schlüssels zu lesen waren und derartige geist- und geschmacklose Reimereien wie damals hätte man vorher nicht an sein Haus geschrieben. Dutzendweise fand man Inschriften nach dem Schema:

Dies Haus es steht in Gottes Hand
Zum ..... ist es genannt.

Im Uebrigen sei nur die Inschrift am „goldnen Löwen“ am Elbberg angeführt:

Nicht zu niedrig, nicht zu hoch,
frisch gebaut, gehofft auf Gott,
unsre Zeit verschwindt,
nehmt sie an, wie ihr sie findt,
ist sie böß, laßt sie vorüber,
ist sie gut, so freut euch drüber.

Ein Wunder war es ja freilich nicht, daß ganz Dresden damals schon äußerlich die ödeste Nüchternheit athmete. Denn wie im öffentlichen Leben Sachsens nach dem Tode Friedrich Augusts II. auf eine Zeit, die einem rauschenden Feste glich, eine Periode folgte, in der Friedrich August der Gerechte, dem jeder Flug von Genialität fehlte, sich nur bemühte, sparsam und vernünftig zu wirthschaften, so war etwa gleichzeitig in der Kirche auf die Orthodoxie der Rationalismus gefolgt, der das Christenthum wesentlich vom Standpunkte der Vernunft und des Nutzens aus ansah, und der zwar die Bibel als unentbehrliche Religionsurkunde und die Kirche als heilsame Religionsanstalt bestehen ließ, sie aber gleichzeitig von allen der Vernunft irgend widerstrebenden Bestandtheilen zu reinigen suchte.

Einzug in Dresden hatte der Rationalismus etwa um die Mitte des 18. Jahrhunderts gehalten. Denn damals begannen auf den Kanzeln der Residenz Männer zu predigen, die in Leipzig zu den Füßen Ernestis, des Vaters der rationalistischen Schriftauslegung, gesessen oder auf den durchaus vom Aufklärungsgeist beherrschten Universitäten Wittenberg oder Halle studirt hatten. Wählen wir, um ihre Lehrweise kennen zu lernen, einmal nicht Oberhofprediger und Superintendenten, wie Hermann, Rehkopf oder Tittmann, deren Stellung zur Bibel und Orthodoxie ja bekannt ist, sondern Männer aus dem Kreise der übrigen Stadtgeistlichkeit. Als ein Muster seines Standes zeichnen die „Schattenrisse edler Teutscher“ (Halle 1784) auf drei vollen Druckseiten den Diakonus M. Frenkel von der Kreuzkirche († 1779), denn, schreibt der Verfasser „in seinen Predigten ist Nahrung für Denken und Empfinden und weniger Blumensprache. Wahrheit, Aufklärung und Erbauung ist sein Ziel, von der stieren Orthodoxie aber hat er sich dabei lange entfernt.“ Pfarrer Raschig in Friedrichstadt († 1796 als Hofprediger) läßt bei einer Himmelfahrtspredigt über „die gefährliche Mittelstraße derer, die ihr Leben mit Gott und der Welt theilen wollen“ die Thatsache der Himmelfahrt Jesu völlig unbesprochen. Aehnlich behandelt er unter Beiseitestellung des betreffenden Wunders bei einer Predigt über die Auferweckung des Töchterleins des Jairus, die Todesfälle unsrer Freunde als Gelegenheiten, zu Christo zu führen.

[116] Als die Diakonen Cramer und Lohdius 1796 ein Morgen- und Abendsegenbuch herausgeben, betonen sie in der Vorrede, daß darin die Lehren der Religion von ihnen durchaus von ihrer praktischen Seite dargestellt seien, und ebenso übersetzt die Cramer’sche Nachahmung der Nachfolge Christi von Thomas a Kempis diese völlig in das Moralische und behandelt z. B. das heilige Abendmahl einfach als Erweckungsmittel zur Nachahmung der Tugend Christi. Der Stadtprediger Jaspis († 1837) aber schreibt in seinen Unterhaltungen auf dem Krankenlager über das Gebet: Ich glaube nicht, daß es Wunder und übernatürliche Dinge hervorbringe, aber es stärkt mich im Vertrauen auf den Vater. So war es ein entleertes Christenthum, das damals auf den Kanzeln der Residenz gepredigt ward, und so völlig erschien Dresden an der Wende des 19. Jahrhunderts als eine Beute des Rationalismus, daß die Eltern Kügelgens ihre Söhne zur Konfirmation zu dem als lutherisches Original bekannten Pfarrer Roller nach Lausa schickten, weil sich in der Stadt kein Geistlicher fand, dem sie ihre Kinder hätten anvertrauen mögen. Und wie die Kirche, so lehrte die Schule. Zwar als der ebengenannte Roller noch vor dem Pirnaischen Thore seine Privatschule hielt, da war dort durchaus die rechtgläubige Orthodoxie zu Hause. Aber wie stand es später! Daß der alte Kreuzkatechismus noch geltendes Uebungsbuch war, das änderte doch nichts daran, daß die Lehrerschaft – und wie erst, seit Dinter Direktor am Friedrichstädter Seminar war – in den Bahnen des reinsten Rationalismus wandelte. Im Kadettencorps war Karl Förster Religionslehrer, der rein philosophische Beichtreden z. B. über: „die Bedeutung des Lebens“ hielt. Ueber die Verhältnisse in der Neustädter Realschule aber unterrichtet uns Kügelgen, wenn er in seinen Erinnerungen eines alten Mannes über den Religionsunterricht des Rektors Angermann schreibt: „Zwar wurde jedem Vortrag ein Kapitel aus dem Evangelium zu Grunde gelegt, nicht aber als Glaubensbasis, sondern wunderlicher Weise als Gegenstand einer das Verständniß der Klasse weit überbietenden Kritik, welche ermitteln sollte, was in dem verlesenen Abschnitt Wahrheit, was temporärer und lokaler Glaube und was offenbarer Unverstand sei. Als Wahrheit blieb dann eigentlich nur das zurück, was sich für jedermann, der sich nicht geradezu Ohrfeigen zuziehen will, von selbst versteht“. Einmal bewies dabei Angermann den zwölfjährigen Knaben die Unmöglichkeit der Auferstehung, so daß Kügelgen ihn mit der Frage unterbrach, ob denn, was Menschen unmöglich, nicht Gott möglich und ob denn nicht Christus auferstanden sei. Wahrlich bei derartigem Religionsunterrichte darf man sich nicht wundern, wenn gerade die kirchlichsten Kreise ihre Kinder dem Einfluß rationalistischer Belehrung überhaupt entzogen, und sicher aus diesem Grunde haben die Eltern Kügelgens nicht nur im Privatunterrichte, den der Knabe, wie die meisten Kinder damals, eine Zeit lang erhielt, jeden Religionsunterricht ausdrücklich gestrichen, sondern auch ihre Kinder niemals zu den Gottesdiensten in die Kirche mitgenommen.

Was das gottesdienstliche Leben Dresdens in der Zeit des Rationalismus anlangt, so bewegte sich dasselbe zunächst allerdings noch lange in den äußeren Formen des Zeitalters der Orthodoxie. Ja man hielt sogar sehr fest an diesen Formen, und Anselmus Rabiosus schreibt in seinen Wanderungen und Kreuzzügen: „In Anschauung der Religion herrscht hier der auffallendste Bigottismus. Benjamin Schmolkens Geist weht noch unverkennbar hier, und nirgends kommen Aenderungen und Verbesserungen, wenn sie das geringste Titelchen der liturgischen Form betreffen, schwerer zu Stande, als hier“. Wirklich war die Gottesdienstordnung Dresdens noch diejenige Herzog Heinrichs. Auch das Gesangbuch war noch dasjenige der Zeit der Orthodoxie, und ebenso predigte man in so rührender Gleichmäßigkeit morgens über die Evangelien und mittags über die Episteln, daß selbst der Oberhofprediger Reinhardt, nachdem ihm zweimal auf seine Bitte eine Ausnahme gestattet worden war, doch 1812 zu dieser altgewohnten Ordnung zurückkehren mußte. Aber all das waren doch nur mehr kirchliche Antiquitäten. Wie die Geistlichen mit Schläfenrolle und Zopf einherschritten und noch Reinhardts Bild ihn mit wohlgepuderter Perrücke zeigt, so hielt man auch im Kirchlichen wenigstens äußerlich das Alte fest. Erst 1799 verschwinden ja auch aus dem Inventarienverzeichniß der Kreuzkirche die bei dem Abendmahl getragenen bunten Meßgewänder der Geistlichen, und den Klingelbeutel wagte man erstmalig 1792 bei der Weihe der neuen Kreuzkirche durch Becken zu ersetzen.

Im übrigen aber war auch das Jahr 1795, in dem jener Anonymus sein Urtheil über die Rückständigkeit des gottesdienstlichen Wesens der Residenz niederschrieb, so ziemlich der letzte Zeitpunkt, an dem etwas derartiges mit Recht behauptet werden konnte. Schon war ja Superintendent Tittmann, dieser Rationalist vom reinsten Wasser, an der Arbeit, und 1797 erschien sein Gesangbuch, eine Sammlung echt rationalistisch verwässerter alter Kirchenlieder, ergänzt durch die nöthige Zahl von Liedern der Zeitgenossen. Mit 95 Liedern war Gellert, mit 93 der schon obengenannte Cramer vertreten. Von Dresdnern hatte noch Diakonus Schlegel Beiträge geliefert und Tittmanns Sohn einen schönen „Lobgesang der Brüderlichkeit im gesellschaftlichen Leben.“ Im Jahre 1812 wurde dann auch die Tittmann’sche Agende, die Kyrie und Gloria abschaffte, sowie sein Gebetbuch eingeführt, und so ist es also Tittmann, der dem Rationalismus in Dresdens Gottesdiensten zur Herrschaft verhalf.

[117] So herrschte denn nun auch äußerlich der Rationalismus in der Dresdner Kirche, und auch der Geistesfrühling der Aufklärung hat diese Herrschaft zunächst nicht erschüttert. Gewiß, es war die Aufklärungszeit, in welche die große politische Erhebung Deutschlands wider das Joch Napoleons fällt, auch für das geistige und geistliche Leben eine Zeit gewaltigen Umschwungs geworden. Herder und Goethe, zu denen sich als dritter Kant gesellt, waren die Führer in diesem Geisteskampf, während auf religiösem Gebiete Schleiermacher der Begründer einer neuen Theologie ward. Stand aber bei jener politischen Erhebung unser Dresden als Residenz des mit Napoleon verbündeten sächsischen Königs vielfach im Mittelpunkte der Ereignisse, so hätte man meinen können, es müßte sich auch dieses neue geistige Leben vor allem in Sachsen und seiner Hauptstadt alsbald bemerkbar machen. Wie einst Leibnitz ein Sachse war, so war ja auch Fichte, der große Schüler Kants, in unserm Vaterlande geboren, und war auch Dresden kein Weimar. Einkehr haben in Dresden als einem Brennpunkte literarischen Lebens doch Goethe und Schiller ebenso gehalten, wie Herder, Schelling, Hegel und alle die andern geistigen Größen Deutschlands. Aber freilich gerade das Verhalten der Regierung Fichte gegenüber zeigt, daß in Sachsen ein sehr konservativer Geist herrschte. Auch ist es ja eine Thatsache, daß das Neue, was führende Geister heraufführen, von ihren Höhen erst ganz langsam in das Volk hinabsickert, und Jahrzehnte vergehen, ehe es wirklich Allgemeinbesitz wird. Endlich aber war der Erfolg des neuerwachten Geisteslebens ja jene neue bürgerliche Gesellschaft, die wie dem Staate, so auch der Kirche gegenüber Mündigkeit für sich in Anspruch nahm und deren Verhältniß zur Kirche sich so aufs nächste berührte mit dem Wesen des Rationalismus, der durchaus subjektiv gefärbt eine Vernunftreligion gegründet zu haben meinte, in der Jeder nach seiner Façon selig werden konnte. Da verstehen wir es denn, daß wie anderwärts, so auch in Dresden das kirchliche Leben während der Aufklärungszeit sich ruhig in den rationalistischen Bahnen bewegte, ohne durch die neuerwachenden geistigen und geistlichen Strömungen sonderlich erregt und beeinflußt zu werden.

Freilich das Volk und auch die Kirche selbst fühlte, daß seinen Gottesdiensten und Predigten doch etwas fehlte. Und so suchte man diesen Mangel zu ergänzen und zwar durch jene Rühr- und Gefühlsseligkeit, die die Aufklärungszeit überhaupt kennzeichnet. Da lag denn bei der Einweihungsfeier der Kreuzkirche die gesammte Geistlichkeit, wie es damals heißt, „während des ganzen Ambrosianischen Lobgesangs vor dem Allmächtigen und Allgütigen, dem Ewigen-Unendlichen, dem Hocherhabenen und Herrlichen auf den Knieen, und machte diese devote Ceremonie auf die Herzen der Anwesenden einen großen Eindruck“. „Während der Cantate aber herrschte eine tiefe feierliche Stille; sichtbar waren die Wirkungen, welche verschiedene Stellen auf die Herzen der Hörer machten und bei der Stelle: O Rückerinnerung, Rückerinnerung der Vergangenheit, Gott wie so schrecklich, so erschütternd! flossen Ströme von Thränen“. Aehnlich war es bei den Jubelfeiern der Reformation und der Augsburgischen Konfession 1817 und 1830, und noch 1839 bei dem Gedächtnißfest an die Einführung der Reformation in Dresden, der übrigens u. A. ein Nachkomme des Reformators, der preußische Kommissar Dr. Luther, beiwohnte, schwelgt man in Prunk und süßen Gefühlen. Auf dem Altar der Kreuzkirche prangte auf purpurnem Hintergrunde ein 15 Ellen hohes von weißen Rosen gebildetes Kreuz, während seitlich unter rothen Baldachinen Luthers und Melanchthons Bildnisse hingen. Als aber der große Festzug nach dem Gottesdienste auf dem Altmarkte sich versammelte und beim Schweigen der Glocken die Menge das Lutherlied sang, da „war der Himmel ebenso mild und freundlich, als die Rührung allgemein und machte den Anblick und Eindruck bei entblößten Häuptern der ganzen Menge zu einem ergreifenden und unvergeßlichen“. Man wollte eben, da der Verstand bei den Gottesdiensten jener Zeit doch zu einseitig herrschte, auch Herz und Gemüth zu ihrem Rechte kommen lassen, verfiel dabei freilich oft in einen Ueberschwang rührseliger Empfindsamkeit. Wie feierlich war so für jenes Geschlecht die Weihe der Friedrichstädter Schule mit Festzug und unendlich langer Festrede des Diakonus Feilgenhauer, an deren Schluß dieser die im Kreis um ihn versammelten Kinder aufforderte: „Nun liebe Kinder kniet mit mir nieder, es betet sich so schön unter freiem Himmel“, worauf die ganze, in festliches Weiß gekleidete Kinderschaar, im Kreis um ihn niederfiel, ein so rührender Augenblick, daß ihn uns das „Friedrichstädter Schuldenkmal“ im Bilde aufbewahrt hat. Geradezu typisch aber für derartige rührsame Veranstaltungen ist eine Gedächtnißfeier, welche 1812 im Freimaurerinstitut für den um dasselbe hochverdienten Herrn von Broizem abgehalten wurde und der, wie der Chronist berichtet, damit schloß, daß diejenigen Knaben, die den Redner am Altar im Halbkreise umgeben, alle zugleich und in langsam feierlichem Takte folgenden Schwur ablegten: „Wir schwören zu lieben die Menschheit, die Religion und das Vaterland“.

Als eine ähnliche religiös gestimmte Feierlichkeit wurde 1819 zum ersten Male vom Stadtprediger Jaspis im alten Gewandhaus eine öffentliche Christbescheerung abgehalten, und derselben Sehnsucht nach Gottesdiensten, die nicht nur dem Verstande, sondern auch den Sinnen und dem Herzen Rechnung trügen, entsprangen der Sylvestergottesdienst und die Konfirmation, zwei uns heute so lieb gewordene gottesdienstliche Feiern, daß [118] wir uns unser kirchliches Leben gar nicht mehr ohne sie denken können. Die Sylvestergottesdienste in der Kreuzkirche wurden 1826, diejenigen in der Frauenkirche 1838 gestiftet. Ungleich älter ist die Konfirmation, die erstmalig und zwar in Neustadt-Dresden 1767 erwähnt wird. Die Kirchen- und Schulordnung von 1773 schrieb dann, „da der alte, christliche Gebrauch ... sehr rührend und erbaulich ist“, die Einführung der Konfirmation allgemein vor; doch war die Handlung noch lange eine durchaus private und erst 1790 ertheilte der Superintendent die Erlaubniß zur Einführung einer öffentlichen Konfirmation zu Altendresden „und ist dieselbe am Sonntag Palmarum gehalten worden“. In Altstadt unternahmen es 1809 die Garnisongeistlichen, diese, wie es ausdrücklich heißt, „für junge Gemüther rührende und erbauliche Feierlichkeit“ einzuführen, und alsbald wurde dann auch in der Kreuzkirche und zwar noch 1816 zu Michaelis konfirmirt. So ist die Konfirmation äußerlich hervorgegangen aus der gerade in der Zeit des Rationalismus vorhandenen Vorliebe für empfindsame Feiern. Zugleich aber entsprach sie dabei dem tieferen Bedürfniß nach mehr, als bloßer Verstandspflege im Gottesdienst.

Denn moralisirende Predigten und fromme Gefühlsseligkeit befriedigen freilich den Menschen nicht dauernd, noch vermag auch ein derartiges Kirchenthum kräftigen und thätigen kirchlichen Sinn hervorzubringen, und so ist es denn wirklich im Zeitalter des Rationalismus um die Kirchlichkeit in Dresden recht traurig bestellt gewesen. Wenig und immer weniger hielt man auf den Kirchgang. Gewiß Reinhardts Kanzelberedtsamkeit übte auf Taufende – so auch auf den jungen Körner – ihren anziehenden Einfluß aus; Ammon zu hören gehörte nach Karl Försters Worten für jeden Gebildeten zum guten Ton, und Cramer und Jaspis fanden mit ihrer populärpackenden Vortragsweise ebenso ihr Publikum, wie der auch von Förster hochgeschätzte Pfarrer Schmalz in Neustadt und Girardet, der reformirte Geistliche. Aber es ist doch schon bezeichnend, daß man damals, als diese Geistlichen im Amte standen, in Dresden nicht mehr einfach in die Kirche, sondern eben zu einzelnen beliebten Predigern ging. Und wenn diese Art des Kirchengehens zu einzelnen Modepredigern auch erst im Anfang des 19. Jahrhunderts allgemeiner üblich ward, begonnen hatte sie doch schon damals, als Demoiselle Lucius, die Freundin des Gellert, den Kirchgang zwar für eine christliche Sitte hielt, der man an sich Ehrerbietung zollen müsse, dabei aber selbst schon ihre besonders bevorzugten Prediger hatte, während sie im Uebrigen erklärte, daß es „Betschwestern“, dies Wort ohne jeden üblen Nebensinn verstanden, „jetzt“ nicht viel gäbe.

Daß freilich die literarischen Kreise, durch welche die sächsische Residenz im Aufklärungszeitalter die Augen ganz Deutschlands auf sich zog, in ihrer ganzen Geistesrichtung nicht sonderlich zum Kirchenbesuch neigten, ist bekannt. Schon der Kindsche Kreis hatte bei seiner ganzen Geistesrichtung für die Kirche nur recht wenig übrig. Im Hause Tiedges und der Frau von der Recke verkehrten zwar auch Geistliche: Schmalz aus Neustadt, Burkhardt aus Friedrichstadt und der reformirte Prediger Lingke, doch Tiedge selbst will nicht „Gebete plärren und den Körper kasteien“, „Duldung“ predigt er auch für den Atheisten und seine Gottlosigkeit, denn

Dem selten großen Geist
Erlaubt ein Gott zu sein
Und keinen Gott zu glauben,
Zu leugnen, was Gott uns beweist.

Den Kirchgang aber lehnt er ab,

Denn nur tief im stillen Hain,
Angeweht von Gottes Schauern,
Würd ich einen Tempel weihn,
Und darin mit mir allein
Beten oder trauern.

Derselbe Geist aber, der Schönheit und edle allgemeine Religiosität, nicht aber die Kirche liebte, beseelte auch den größten Theil der andern Männer von Geist, die Dresden zum Sammelpunkt des literarischen Lebens Deutschlands machten, und der Philosoph Krause, der 1805 bis 1816 in der sächsischen Residenz weilte, singt vom Kirchgang, wie sie Alle empfanden:

Das Glöcklein ruft die Frommen
Beter zur Kirch heran,
Daß vor den Herrn sie kommen
Und seinen Gruß empfahn.
Ich bleibe drauß und lenke
Seitab durch Busch und Strauch,
Und was ich bei mir denke,
Ist ein Gebet wohl auch.

Daß auch das junge Geschlecht der Gebildeten durchaus vom Rationalismus beherrscht ward, darauf weist der Plan des jugendlichen Körner, ein Taschenbuch für Christen zu schreiben, wenn er dabei als Haupterforderniß „eine Religion ohne Beschränkung“ ansieht. Was für Anschauungen aber die damaligen Zeitungen pflegten, zeigt ein Blick in die „Miszellen zur Belehrung und Unterhaltung“, die fast Nummer für Nummer nichts bieten als unter viel schönen Worten voll hoher Gefühle die Philosophie der nüchternsten und trockensten Aufklärung. Nur ein Satz aus dem Schluß eines Artikels über Unsterblichkeit sei angeführt: „Beunruhige dich nicht, weiter zu erforschen, was die Vernunft und das Bedürfniß des Herzens nicht fordert (!), damit sich der zur Wirksamkeit geschaffene Christ nicht in bloßer Anschauung verliere, sondern sei in deiner Sphäre genügsam, wohlwollend, thätig und weise“ (!). Wahrlich wir verstehen die Klage unsers Ludwig Richter über den Rationalismus, dieses Christenthum des Philisters, wie er es nennt, und über die durch ihn verkümmerte Volkskirche. [119] Hat sich doch auch in Dresden unter der Herrschaft des Aufklärungsgeistes die Bevölkerung thatsächlich zu seinem eignen tiefen Schaden vielfach der Kirche innerlich und äußerlich entfremdet.

Denn was die Vornehmen und Hofleute schon unter August dem Starken und seinem Nachfolger begonnen hatten, was die Gebildeten, dieser geistige Adel, durch sein Vorbild lehrte, das that nun auch das Volk je länger je mehr: es entwöhnte sich des früheren regelmäßigen Kirchenbesuches. Gottesdienste gab es freilich genug; wurden doch wöchentlich in der Stadt nicht weniger als 36 Predigtgottesdienste, 15 Katechismusexamina und 30 Betstunden gehalten; aber die Kirchen wurden immer leerer. Auch heute noch läßt sich ein Schluß auf den Kirchenbesuch aus der Summe der vereinnahmten Beckengelder ziehen. Wieviel mehr in jener Zeit, wo jeder Kirchenbesucher durch den ihm vorgehaltenen Klingelbeutel gemahnt wurde, seinen Obolus für den Almosenkasten zu spenden. Aber wie traurig ist da das Bild, das uns ein Blick in die Rechnungen gewährt. Vermindern sich doch die Beckengelder von 1750 bis 1850 bei den Frühgottesdiensten in der Kreuz- und Johanniskirche von 265 Thlr. auf 70 Thlr., in der Neustädter Kirche von 645 Thlr. auf 63 Thlr. und zwar nicht etwa sprunghaft, sondern ganz allmählich. Ebenso ergeben die Mittagspredigten in der Sophienkirche statt 228 Thlr. 1850 nur 89 Thlr., in der Neustädter 1750: 122 Thlr., 1850 gar nur 20 Thlr. Beckengelder, so daß also in dieser Kirche, zu der doch eine durchaus stetige Bevölkerung gehörte, die Einnahmen sich im Laufe eines Jahrhunderts um 9/10 vermindern. Auch bei den im Jahre 1794 neueingerichteten Mittagspredigten in der Kreuzkirche werden zuerst 277 Thlr., im Jahre 1850 aber nur noch 63 Thlr. vereinnahmt: wohl Beweise genug für den in den verschiedenen Dresdner Gotteshäusern gleichmäßig immer mehr zurückgehenden Kirchenbesuch.

Ebenso tritt uns der Rückgang des kirchlichen Lebens deutlich entgegen, wenn wir hören, daß die Kommunikantenzahl ganz Dresdens 1750 91893, 1850 aber nur noch 47952 beträgt, obgleich die Bevölkerung der Stadt, die sich 1755 auf 63209 belaufen hatte, bis 1849 auf 88181 Köpfe evangelischen Glaubens gestiegen war. Wenn aber in dem gleichen Zeitraum die Zahl der unehelich geborenen Kinder von 221 auf 951 steigt, so übertrifft wiederum diese Steigerung so ungemein jene des Bevölkerungszuwachses, daß sich zumal in Berücksichtigung des gleichzeitigen Rückgangs im Kirchen- und Abendmahlsbesuch ein innerer Zusammenhang zwischen der ganzen Geistesrichtung der Zeit und den sich so auffallend mehrenden Uebertretungen gegen das sechste Gebot nicht in Abrede stellen läßt Ein der Kirche sich entfremdendes Volk achtet naturgemäß auch die Gebote Gottes immer weniger; damals aber gab die Kirche selbst denen, die zu ihr hielten, zwar hohe Worte von Sittlichkeit, aber nur wenig von der göttlichen Lebenskraft, aus der Sittlichkeit allein hervorgeht.

Auch in anderer Beziehung fehlte der Zeit der rechte sittliche Ernst. Erklärt sich doch wesentlich hieraus der immer wiederholte Ansturm gegen die noch herrschende Privatbeichte, der schließlich auch dazu führte, daß 1812 trotz des entschiedenen Widerstrebens fast der gesammten Geistlichkeit die öffentliche Beichte eingeführt wurde. Ebenso spricht es nicht für ein zartes kirchliches Gefühl, daß man für den Neubau der im Siebenjährigen Kriege eingeäscherten Gotteshäuser nach einander nicht weniger als sechs Geldlotterien veranstaltete. Wenn aber die für die im Siebenjährigen Kriege abgebrannten Dresdner Kirchen gesammelte Kollekte 1763 trotz der kaum vergangenen Kriegsnöthe immer noch über 5563 Thlr. betrug, dagegen die 1778 gesammelte nur 640½ Thlr. ergab, so ist das zwar auch dafür ein Zeichen, daß man des sich in ewigen Streitigkeiten hinziehenden Baues herzlich überdrüssig war, aber doch zugleich ein Beweis für die Unlust, gerade für eine Kirche etwas zu opfern. Auch Zahl und Werth der bei der Weihe der Annenkirche gemachten Stiftungen ist geradezu kläglich, und das Kapitel der „Stiftungen“ in den Rechnungen der Dreikönigskirche zeigt in unserm Zeitraum oft Jahrzehnt um Jahrzehnt lang ein einfaches „Vakat“. In einer Bevölkerung, die die Kirche immer weniger besucht, weil sie von ihr immer weniger empfängt, schwindet eben naturgemäß auch die Liebesbethätigung dem Gotteshaus und kirchlichen Einrichtungen gegenüber. Da aber auch die Kirche selbst Liebe nur recht vereinzelt bethätigte, war es erklärlich, daß die ganze Zeit der rechten Barmherzigkeit im Allgemeinen ermangelte. So war das Dresdner Waisenhaus bis 1817 zugleich eine Zuchtanstalt, in der „Zöglinge“ und „Züchtlinge“ zugleich untergebracht waren, „sodaß das Zusammenleben und die gleiche Behandlung mit den sittlich verwahrlosten Altersgenossen auf die wirklichen und würdigen Waisen den verderblichsten Einfluß ausüben mußte“. Die Ursache der schließlichen Aufhebung dieser Zuchtanstalt aber lag nicht etwa in der Erkenntniß dieses Schadens, sondern rein äußerlich darin, daß die Arbeitserträgnisse den erforderlichen Aufwand nicht mehr deckten. Sehen wir hier, wie wenig man die Liebespflicht gegenüber den Waisen verstand, so erzählt uns die Armenordnung von 1773 von dem geringen Ertrag der für die Armen gesammelten Almosen. Und wenn der Rath sich lange gegen jeden Fortschritt der Armenversorgung sträubte, so entsprach dies im Grunde eben nur dem Verhalten der Bürgerschaft, die zu den für die Armen veranstalteten Sammlungen immer kärglicher beitrug. Erst nach den Septemberereignissen 1830 ist es schließlich gelungen, die Dresdner Armenversorgung sachentsprechend zu regeln.

[120] Neben all diesen Schatten aber fehlt es im Zeitalter des Rationalismus glücklicherweise doch auch nicht an Lichtpunkten. Wir gedenken da zunächst der Geistlichen und des Fleißes, in dem z. B. der erwähnte Mag. Frenkel täglich von früh ½3 Uhr an 20 Stunden gearbeitet haben soll, während Diakonus Fleck von der Annenkirche mitten in den Drangsalen des Siebenjährigen Krieges so gern arbeiten wollte, daß er sich vor dem Thore ein eigenes Häuschen kaufte. Er erreichte freilich sein Ziel nicht; denn noch ehe er „seine Glückseligkeit“ darin genießen konnte, hatte man ihm Einquartierung hineingelegt, worüber er sich in einem Schreiben an den Rath aufs betrübteste beklagt. Wir gedenken weiter ebenso der treuen Seelsorge eines Cramer und Jaspis, wie der wissenschaftlichen Tüchtigkeit der Dresdner Geistlichen, von denen Diakonus Vaupel durch seine orientalischen Kenntnisse und Festungsbauprediger Hasche durch seine kirchengeschichtlichen Arbeiten bekannt ward. Die Namen der Oberhofprediger Marperger, Hermann und Reinhardt aber hatten in der wissenschaftlichen Welt ganz Deutschlands einen guten Klang. Fern von aller charakterlosen Schmeichelei waren die Predigten, die Superintendent Am Ende vor Friedrich dem Großen hielt, an Oberhofprediger Reinhardts „sittlich schöner Seele“ aber fand in Karlsbad, wo er ihm näher trat, auch ein Goethe Wohlgefallen. Und wenn Tittmann, dieser unentwegte Vertreter des reinsten Rationalismus, dem wir um seiner kirchlichen Thätigkeit willen besondere Verdienste nicht zusprechen möchten, eigenthümlicher Weise auch der erste Dresdner Superintendent war, der seinen Ruheplatz nicht in der Frauenkirche fand – er wurde auf dem Johanniskirchhof begraben – so ward er doch um seiner öffentlichen Verdienste willen als Erster mit dem neugegründeten Sächsischen Verdienstkreuze ausgezeichnet.

Aber auch die Bevölkerung Dresdens zeigt in der Zeit des Rationalismus ihre Lichtseiten. Können wir die Philistergestalten Ludwig Richters, in denen er uns seine Zeitgenossen mit leisem Spotte so greifbar deutlich vor die Augen gestellt hat, auch nur mit einem Lächeln ansehen, so wissen wir doch, daß jenem Geschlecht der Biedermeierzeit Biederkeit, Schlichtheit der Lebensführung und äußeres Achten auf Wohlanständigkeit ebensowenig abzusprechen ist, wie eine oft bis ans Pedantische grenzende pünktliche Pflichterfüllung. Von Wohlthätigkeits-Stiftungen der Zeit aber, die freilich der Kirche, wie erwähnt, nur recht selten zu Gute kamen, nennen wir vor allem die damals gegründeten Armen- und Industrieschulen. Im Jahre 1772 wurde die erste in Neustadt, 1785 eine solche in Friedrichstadt, 1789 je eine „auf dem Sande“ und im Jakobshospital errichtet, worauf 1804 diejenige vor dem Pirnschen Thor ins Leben trat. Wenn wir da hören von der Vertheilung der Rumfordschen Suppe, von der zunächst 50, im April 1800 schon 216 Personen täglich eine Kanne erhielten, hören dann von der Einrichtung von vier Suppenanstalten nebst damit verbundenen Wärmestuben, die zugleich Arbeitsstuben waren, hören davon, wie bei der Theuerung im Winter 1805/6 dort in fünf Monaten nicht weniger als 182 859 Kannen Suppe vertheilt worden sind, so erkennen wir gern an, daß damals in unsrer Stadt wenigstens diese Ansätze zu dem, was wir heute innere Mission nennen, vorhanden waren. Gegründet wurde übrigens die Antonstädter Schule 1789 wesentlich durch den Neustädter Pfarrer Kell, in dem sich demnach die Liebe eben so kräftig und wirksam erwies, wie sie vorbildlich war in Reinhardt, der trotz großer Einkünfte bei seiner außerordentlichen Freigebigkeit doch völlig vermögenslos starb.

Wundere sich übrigens Niemand, daß im Vorgehenden mehrfach der Katholik Ludwig Richter und auch reformirte Geistliche erwähnt wurden. Der Rationalismus, der sich um Glaubenslehren sehr wenig kümmerte, hatte naturgemäß auch kein Verständniß für Glaubensunterschiede, und so ist es wohl verständlich, daß wie anderwärts, so auch in Dresden in der Aufklärungszeit der Gegensatz zwar nach nicht der Religionen, wohl aber der Konfessionen im Allgemeinen sehr zurücktrat. Die Juden wurden allerdings noch nicht für gleichberechtigt anerkannt, sondern waren auch nach der Judenordnung von 1772 in der Residenz nur geduldet. Im Jahre 1837 wurde ihnen wenigstens gestattet, sich zu einer selbständigen Religionsgesellschaft zu vereinigen, aber erst das Jahr 1867 hat ihnen, eine Frucht des neuen Norddeutschen Bundes, die volle Gleichberechtigung mit ihren christlichen Mitbürgern gebracht. Dagegen fielen schon hundert Jahre früher anscheinend immer mehr die Schranken, welche die Dresdner Lutheraner vorher so scharf von Reformirten und Katholiken geschieden hatten.

Freundschaftlichst verkehrten die lutherischen und reformirten Geistlichen miteinander. Reformirte Geistliche betheiligten sich an der Einweihung der Kreuzkirche, während umgekehrt schon Demoiselle Lucius den Gottesdienst in der reformirten Kirche besuchte. Ebenso war vielfach der Gegensatz zwischen römischer und lutherischer Kirche verwischt. So kann schon 1752 in Dresdens gelehrtem Anzeiger ein Artikel Aufnahme finden über das Lob, das von den Protestanten ihren katholischen Vorfahren gebührt, und wenn ein 1805 hier erschienenes katholisches Erbauungsbuch kein wesentlich anderes Christenthum bietet, als das rationalistische der lutherischen Geistlichen, so dürfen wir uns nicht wundern, daß der katholische Pfarrer Schneider unter seinen Zuhörern, wie berichtet wird, stets auf viele Anhänger Luthers und Calvins rechnen konnte. In der That hat ebenso die Lucius, wie die Familie Kügelgen öfters die katholische Kirche besucht, ja sogar der Philosoph Krause wohnte den Gottesdiensten in ihr öfter bei, freilich wesentlich, [121] wie damals und heute viele Dresdner, um der trefflichen Musikaufführungen willen. Wenn aber die drei Töchter des 1823 verstorbenen Geh. Kabinetsraths Hase, obgleich gut protestantisch, ausdrücklich den Wunsch äußerten, „daß bei ihrem Leichenbegängniß die ihnen gleich befreundeten Geistlichen, der lutherische, der reformirte und der katholische, zugegen sein möchten“, so erkennen wir, auch wenn wir nichts davon wissen, ob man diesem Wunsche seinerzeit Rechnung getragen hat, doch, wie wenig damals die konfessionellen Schranken bedeuteten. Bezeichnend für die Anschauung weiter Kreise ist eine 1830 erschienene Schrift „Dresden, wie es ist“, in der es heißt: „Protestanten und Katholiken leben bei uns in seltenem, beinahe brüderlichem Verein. Die allgemeine Achtung, die die beiden Oberhäupter der katholischen und protestantischen Kirche genießen, trägt nicht wenig dazu bei, diese Einigkeit zu erhalten, die Versöhnlichkeit siegt über jeden Anstoß“.

Immerhin, alle Evangelischen sind es keineswegs gewesen, die die „Versöhnlichkeit“ von Ammons gegenüber Rom also lobten. Bedurfte es doch auch in jener Zeit nur eines Anstoßes und Dresdens Volk bewies, wie treu es im Grund seines Herzens zu seinem lutherischen Glauben stand. Welche Erregung herrschte alsbald in der ganzen Stadt, als am 2. Weihnachtstage 1760 einige in Dresden einquartirte katholische Soldaten auf der Brüdergasse die singenden Kurrendaner mit Steinen beworfen und einen kleinen Kreuzschüler verletzt hatten. Schaarenweis wurden von da ab die drei Singechöre von der Bürgerschaft zu ihrem Schutze begleitet und erst allmählich beruhigte man sich wieder. Und wiederum, kaum war durch den von Napoleon diktirten Posener Frieden die Gleichberechtigung beider Konfessionen eine Thatsache geworden, kaum war Dresden seit 1816 der Sitz eines Bischofs, der die Machtansprüche Roms wieder nachdrücklicher zu vertreten begann, so wich auch die vorherige Gleichgültigkeit der Dresdner gegen konfessionelle Unterschiede. In ausgesprochenem Gegensatz gegen Rom ward in großer Pracht und festlicher Illumination der ganzen Stadt und ihrer Thürme 1817 das große Reformationsjubiläum gefeiert, und wie auch sonst nicht sonderlich kirchliche Kreise von Abneigung gegen den Katholizismus ergriffen waren, zeigt Elise von der Recke, die Förster als eine feurige Protestantin fast mit Uebertreibung bezeichnet, während er Tiedge sogar nachsagt, daß die Annahme antiprotestantischer Umtriebe bei ihm fast zur fixen Idee geworden sei und er oft Katholizismus spüre, wo gar keiner vorhanden wäre. Wenn aber die Bevölkerung dem Bau der Friedrichstädter katholischen Stiftskirche 1823 und demjenigen der 1826 vollendeten Neustädter Pfarrkirche zwar ungern, aber doch stille, zuschaute, die hellen Flammen der Empörung schlugen empor, als der Ablaß Leos XII. mit seinem Gebet um Ausbreitung des katholischen Glaubens und um Vernichtung der Ketzerei öffentlich an die Thüren der katholischen Kirche angeschlagen ward. „Es kam nicht nur zu einer Beschwerde beim Stadtrath, sondern auch beim König, und der Hirtenbrief des Bischofs Mauermann vermehrte in seinem die Protestanten verletzenden Tone die Erbitterung noch. Ein lebhafter Broschürenkrieg entstand, und als der Neustädter Pfarrer Schmalz in seiner Reformationspredigt 1825 warnte, Dresden solle sich nicht wieder unter das knechtische Joch beugen, da war dies so völlig der rechte Ton, daß diese Predigt gedruckt reißenden Absatz fand“. Erst als 1827 die Ausübung der geistlichen Gerichtsbarkeit der Glieder der römischen Kirche gesetzlich geregelt worden war, legte sich die Erregung etwas, um in einem lebhaften Broschürenkriege wieder emporzulodern, als es nach der Julirevolution galt, das sächsische Volk für die Zukunft vor Roms Uebergriffen zu schützen. Auch das Jubelfest der Augsburger Konfession ward so in seinen Veranstaltungen zu einem flammenden Protest gegen Rom, und wenn auch Manchen, wie der Mutter Kügelgens, die Freude an der ganzen Feier so ziemlich dadurch verdorben ward, daß, wie sie schreibt, seit dem dreitägigen Feste „die Gährung zwischen den zwei hier herrschenden Konfessionen nur heftiger geworden sei“, ... ja daß es „sogar an Gewaltthaten von beiden Seiten nicht gefehlt“ habe, die Bevölkerung im Allgemeinen hatte jedenfalls nicht nur einmal von den Kanzeln die Augsburgische Konfession vorlesen hören, sondern auch für sein protestantisches Gefühl neue Anregung empfangen und ward erst wirklich beruhigt, als 1831 der Abschluß des Verfassungswerks ihm auch für die Zukunft die geforderte Sicherheit Rom gegenüber gab. Es war eine Nachwirkung jener Feier, daß alsbald der Rektor der Annenschule eine mit zahlreichen Unterschriften bedeckte Bittschrift an den Rath richtete, in der die Erhebung des Reformationsfestes zum vollen kirchlichen Feiertag erbeten ward, und daß man so am 31. Oktober 1833 in Dresden zum ersten Mal das Gedächtniß der Reformation durch einen ganzen Feiertag feierte. Wenn aber damals der wegen seiner „Versöhnlichkeit“ gegen Rom schon erwähnte Oberhofprediger von Ammon auf die Frage, ob denn das Reformationsfest nun auch als ganzer Feiertag eingeläutet werden solle, wirklich zur Antwort gegeben hat: „Läuten Sie, aber läuten Sie nicht zu sehr“, so gehört das in dasselbe Kapitel protestantischer Charakterschwäche, wie die Thatsache, die 1830 beim kirchlichen Jubelfeste den heftigsten Unwillen der ganzen Bürgerschaft erregt hatte, daß, als ganz Dresden und seine Umgebung bis hinaus zu den Loschwitzer Höhen in festlichem Lichte der Illumination prangte, das Rathhaus finster geblieben war.

Aber nicht nur in Opposition gegen Rom fand sich der alte evangelische Geist der sächsischen Residenz wieder, sondern auch in gläubiger Frömmigkeit. Es lebte eben [122] in Dresdens Volk die Sehnsucht nach positiver Religiosität viel zu tief, als daß der leere Rationalismus mit seiner Nüchternheit und Süßlichkeit wirklich hätte befriedigen können. Kosegarten besucht die katholische Kirche, ist begeistert von dem Sinnenrausch, der ihn dort umfängt, aber vom evangelischen Kirchenthum Dresdens fühlt er sich abgestoßen und ruft: „Die armen Menschen, die geistlichen Philosophen, welche in der That wähnen .. aus Vernunftprinzipien gehe Religion hervor! .. so lange Menschen leben, wird auch warmer und inniger Glaube in den Herzen Vieler wohnen“. Welch ein Zeugniß für das tiefe religiöse Bedürfniß in Dresden, daß das erwähnte Morgen- und Abendsegenbuch von Kramer und Lohdius, – das erste, was überhaupt im Meißner Sachsen gedruckt worden ist, – nicht nur noch vor seinem Erscheinen 3000 Subscribenten fand, sondern auch so viel verkauft wurde, daß alsbald eine Neuauflage nach der andern erscheinen mußte. Und hatte auch Körners Vater so wenig das Christenthum Arndts, daß ihm der symbolische Lehrbegriff unerträglich war, er widersprach doch nicht nur dem Vernichtungsurtheil Schillers, nach dem die Predigt nur für den gemeinen Mann da sei, sondern war auch selbst ein Kirchgänger. Wie herrlich tröstet er Schillers Frau nach dem Tode des Gatten; welch ein Glaubenszeugniß, als er den Tod seines Theodor veröffentlicht mit dem Hinzufügen: „Einen solchen Verlust zu überleben findet der Vater die Kraft in der Religion“, und wie mußte doch ein gut Theil altgläubiger Frömmigkeit in ihm vorhanden sein, dessen Freude es war, wöchentlich einmal im engen Kreise alte geistliche Musik zu treiben, während andrerseits doch die recht unkirchlichen Berühmtheiten ganz Deutschlands in seinem Hause verkehrten. In Dresdens Bürgerschaft aber gab es auch noch Frömmigkeit ganz von altem Schrot und Korn. So erzählt Beger, der spätere erste Rektor der ersten Dresdner Realschule, – entstanden doch die Realschulen, als Bürgerschulen der neuen Gesellschaft gedacht, eben in der geistigen und wirthschaftlichen Entwickelung der rationalistischen Zeit – daß in seinem Elternhause Morgen- und Abendsegen, sowie Tischgebet gehalten wurde und auch Bibel und Gesangbuch in ihm eine Stätte hatten. Ebenso erwähnt Kügelgen eine Töpfersfrau im Nachbarhause des „Gottessegens“, deren regelmäßiges Tischgebet ihm auffiel, und Roller erfreute sich, als er, der Einzige für lange Zeit, in Dresden positiven Religionsunterricht ertheilte, eines außerordentlichen Zulaufs.

Wollen wir aber die innere Geschichte der geistlichen Erneuerung Dresdens belauschen, dann müssen wir in die Kreise derer hineinschauen, die wieder anfingen, die Bibel zu lesen, und köstlich ist da ein Blick in das Lebensbild Marie Helenes von Kügelgen. Sie ist auch äußerlich kirchlich und genießt das heilige Abendmahl. Aber sie schöpft doch ihre Glaubenserkenntniß und ihre Glaubensfestigkeit wesentlich aus der Bibel und stärkt sich in ihrem Glauben in der Gemeinschaft mit den Stillen im Lande. Welch ein tiefgegründetes Christenthum, wie es uns da wirklich Seite für Seite in ihren Briefen entgegentritt bis zu der Fürbitte für den Mörder des Gatten, der an der in ihrem Jammer fast Trostlosen vorübergeführt wird. Aber freilich in Dresden fand diese herrliche Frau zuerst recht wenig Glaubensgenossen, und auch Ludwig Richter ist ja bekanntlich nicht in seiner Heimathstadt, sondern in Rom für das Evangelium gewonnen worden. War aber auch dieses Christenthum herrenhutischen Geistes, wie man es nannte, nicht eigentlich auf Dresdner Boden erwachsen, die Zahl der Frommen mehrte sich doch auch in der Residenz, und sie begannen sich in der Stille zu sammeln. Nach außen aber traten sie vor allem immer mehr hervor, seit der von Böhmen hergerufene Prediger Stephan an der kleinen Johanniskirche wirkte und mit glühender Beredtsamkeit predigend seine Hörer wieder auf dem klaren Schriftgrunde erbaute. Bald sammelten sich Hunderte und Aberhunderte um seine Kanzel und immer offenbarer ward, daß sich in Dresden neues kirchliches Leben zu regen begann.

Schon das war ein Zeugniß dieses neuen Geistes, daß 1809 die Dreißigsche Singakademie gegründet ward. Oder wer hätte denn früher daran denken können, einen Gesangverein mit dem ausschließlichen Zweck der Pflege der altkirchlichen Musik in Dresden ins Leben zu rufen. Wer hätte es ebenso ehedem gewagt, zur Gründung einer Bibelgesellschaft aufzufordern. Jetzt 1814 that es der Graf von Einsiedel, der schon längst der Mittelpunkt der gläubigen Kreise Dresdens war, und siehe da, man kam, und Tittmann, Tittmann selbst hielt eine – allerdings recht weinerliche – Rede über den beklagenswerthen Verfall des Bibellesens und über die Nothwendigkeit, es auf alle Weise zu fördern. Zwar bei ihm war leider diese Betheiligung mehr nur äußerlich. Aber wenn er auch nichts mehr lernte, sondern ein ausgesprochener Rationalist blieb, der berühmte Reinhardt fand den Weg erst vom reinen Supranaturalismus zur Schrift, die große Reformationspredigt 1800 beweist es, und dann von der Schrift zum Glauben; denn das ist doch lutherischer Glaube, wenn er 1810, in demselben Jahre, wo er wieder eine seiner herrlichen Reformationspredigten über die Kirchenverbesserung als ein Werk des Glaubens hielt, in seinen Geständnissen schreibt: „Ich bedarf bei dem Verhältniß, in welchem ich zu Gott stehe, eines Heilands und Mittlers und zwar eines solchen, dergleichen Christus ist“. Bald aber fanden sich auch noch Andere, die auf Dresdens Kanzeln wirklich wieder lutherisch predigten: Hacker und Döring, die Hofprediger, Jakobi, der Garnisonprediger, vor allem Güldmann und Leonhardi, die Kreuzkirchendiakonen, seien genannt. In Leonhardis Wohnung wurde die Bibelgesellschaft, ebenda 1819 der [123] Dresdner Missionsverein gegründet, der es sich freilich zunächst gefallen lassen mußte, sich als gefährlicher Konventikel sogar polizeilich beobachten zu lassen. Gewiß, es blieben die Positiven zunächst in Dresden noch lange in der Minderzahl, und die Gönnerschaft des einflußreichen Grafen von Einsiedel schadete ihnen in den Augen der Menge, die in diesen Frommen nur Streber sah, die durch Einsiedel etwas für sich erreichen wollten. Es folgte auch auf Reinhardt in von Ammon ein Mann, dessen „in allen Farben schillerndes Christenthum fast auf allen Punkten mit dem Bekenntniß der Kirche im Widerspruch stand“. Und es war für jene Lutheraner endlich ein schwerer Schlag, als der von ihnen so hoch gefeierte Stephan sich schließlich als ein Mensch entpuppte, bei dem das Fleisch den Geist, der ihn zuerst sicherlich beseelte, völlig in Fesseln geschlagen hatte. Aber alles das hat doch die immer steigende Ausbreitung ernstgläubiger Kirchlichkeit in Dresden nicht gehindert.

Schon 1818 und 1819 treten ein Schlosser- und Bäckerssohn aus der Kreuzschule aus, um in Basel sich für den Missionsdienst vorzubereiten, gewiß ein Zeugniß für opferfreudiges Christenthum in den Bürgerkreisen, und wenn auf die Gründung der Bibelgesellschaft und des Missionsvereins am 6. Dezember 1832 diejenige eines Gustav Adolf-Zweigvereins und 1844 diejenige der Diakonissenanstalt folgte, so erkennen wir, daß der neu erwachte Glaube auch immer mehr anfing, in der Liebe thätig zu werden. Noch freilich war die offizielle Kirche in ihrer Mehrheit vom Geiste der Aufklärungszeit beherrscht, und bei der Gründung der Diakonissenanstalt erklärte Superintendent Heymann ausdrücklich, daß er nicht amtlich, sondern nur als Privatmann erschienen sei. Doch als 1850 durch Einsiedel Harleß zum Oberhofprediger nach der Residenz berufen ward, da war die Zeit des Rationalismus völlig dahin. Nur die Alten waren es noch, die auf Dresdens Kanzeln sich weiter in leeren rationalistischen Deklamationen ergingen. Das junge Geschlecht athmete wieder Lutherthum, und Rationalismus fand man alsbald nur noch dort, wo sich eine verhältnißmäßige Minderzahl zur Vertheidigung einer doch verlorenen Position im Protestantenverein zusammen fand.

So trägt denn die Zeit der Aufklärung durchaus den Charakter einer Uebergangszeit: erst eine alte rechtgläubige Form, die stückweise zersprengt wird durch den Geist des nüchternen, von Gefühlsseligkeit übertünchten Rationalismus. Und doch, diese Negation kann den Sieg nicht behalten. Nur die Position hat ihr Recht; so blüht auch aus den Trümmern des vom Aufklärungsgeiste zerfressenen Kirchenthums neues Glaubensleben hervor. Freilich, nicht die Kirche war die Führerin zum Neuen, sondern aus den Tiefen der Volksseele rang es sich hervor, nicht an alten schön festgestellten Lehren nährte es sich, sondern an der Bibel selbst. Und doch so durchaus entsprach der neugeborene Glaube dem Geiste des alten, daß schließlich auch die offizielle Kirche, in der ja dem Namen nach das Lutherthum allzeit geherrscht hatte, sich selbst wieder zu ihm bekannte. Anderseits, als dann um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Rationalismus überwunden war, bietet doch das lutherische Leben Dresdens ein ganz anderes Bild, als es das Dresden unter dem altorthodoxen Lutherthum zeigt. Mit der äußeren Herrschaft der Kirche ist es vorüber. Die Aufklärungszeit hat den modernen Menschen geboren, der sich in äußere Formen nicht zwingen läßt. Was zuerst nur in einzelnen geistesmächtigen Persönlichkeiten, was dann in den auch in Dresden uns entgegentretenden literarischen Kreisen sich zeigt, daß ein freies geistiges Leben sich von der Kirche durchaus unabhängig und abseits von ihr entwickelt, das wird schließlich ganz allgemein und selbstverständlich. So aber wies die Aufklärungszeit der Kirche der Zukunft zugleich eine ganz neue vorher nie gekannte Aufgabe. Die Kirche soll nicht mehr eine äußere Schutzmauer wider Unglauben und Irrglauben sein, sondern das Netz, das auf immer neue Weise nach jeder Seele ausgeworfen wird und das so schließlich das ganze Volk für das Evangelium gewinnt. Daß aber die Kirche der Gegenwart das jetzt weiß und darnach zu handeln sich bemüht, das verdankt sie den Lehren der Zeit, aus der sie erwuchs, der Zeit der Aufklärung.