Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Dreizehntes Kapitel

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Zwölftes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Vierzehntes Kapitel
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Dreizehntes Kapitel.




Es war ein überirdischer Abend; die untergehende Sonne schwamm in einem Purpurmeere am westlichen Himmel, während der östliche von dem reizendsten Schleier lustiger weißer Wölkchen bedeckt war. Kaum war die Sonne verschwunden, als der Mond im Osten hinter seinem Blüthenvorhange hervortrat und ein so helles Licht verbreitete, daß man dabei hätte lesen können. Die magische Schönheit dieser Scene stimmte uns Beide zum Denken und Empfinden und Miß M. citirte einige Verse, welche die Wohlthätigkeit des Ernte-Mondes rühmten.

In Frankfurt bezogen wir den römischen Kaiser, wo es uns so [90] behagte, daß die Miß einige Tage zu verweilen beschloß. Am nächsten Tage hörten wir über Tische eine bezaubernde Musik im Nebenzimmer, wir vergaßen darüber die duftenden Schüsseln und gingen an die Thüre, um zu lauschen. Wir konnten jeden Ton vernehmen; eine Meisterhand spielte die Harfe, und eine Frauenstimme, weich und rein, sang rührende englische Balladen dazu, ganz mit dem Ausdruck einer Künstlerin. Unsere Neugierde stieg auf’s Höchste, so daß wir nicht umhin konnten, den aufwartenden Kellner nach den Musikern zu fragen. Er antwortete devot: Es ist die englische Schauspielerin B. und der berühmte Harfenspieler B. – Wahrhaft komisch war die Wirkung dieser Worte auf die Miß; ihr Gesicht, welches bis jetzt die angenehmste Spannung ausdrückte, wurde plötzlich lang und drückte ungefähr dieselbe Täuschung aus, als hätte sie statt in einen Apfel in eine Quitte gebissen. „Wenn es weiter nichts ist, sagte sie, als diese ihrem Mann entlaufene Schauspielerin mit ihrem Liebhaber, so war es nicht der Mühe werth, das Essen kalt werden zu lassen.“

Während dieser Worte hatte sie bereits ein Rebhuhn unter dem Messer.

Es war Sonntag; wir hatten früh in der englischen Kirche eine gute Predigt gehört und fuhren Nachmittag um die Stadt, deren Anlagen wir nicht genug bewundern konnten. Im Vorbeifahren sahen wir auch den Sitz Rothschild’s mit seinem paradiesischen Garten, dann ließen wir uns das alte Haus in der Judengasse zeigen, welches seine fast hundertjährige Mutter noch bewohnte, weil sie sich nicht entschließen konnte, den häßlichen Ghetto zu verlassen. Woher kommt nur die Liebe der Juden zu Dunkelheit, Schmutz und Geld? Ein Reisender, mit dem wir uns im Hotel kurze Zeit unterhielten, sagte in dieser Beziehung: „Glauben Sie mir: Jude bleibt Jude, er mag sich stellen wie er will, sogar seinen Dialekt kann er nie ganz ablegen. Bei Herrn v. Rothschild erlebte ich einst ein recht auffallendes Beispiel davon. Eine Gesellschaft besah seinen Garten, darin auch den großen Pavillon, wo eben die Tafel gedeckt war. Man bewunderte den Reichthum an Silber und allerlei kostbarem Geräth, und eine Dame rief begeistert: „Wahrlich, das ist des Welt-Banquiers ganz würdig!“

„Kost’ aber aach viel Geld!“ sagte hinter uns eine freundliche Stimme, wir sahen uns um, und siehe da, der Herr Baron stand [91] selber vor uns, selbst offenbar verlegen über diesen Ausbruch seines inneren Menschen, den er nicht hatte verhindern können.“

Am folgenden Tage ließen wir uns Göthe’s Familienhaus zeigen und waren von dem Umstande betroffen, eine Lyra in Relief über dem Eingange zu sehen; man sagte uns, daß sie das Wappenbild der Familie sei. Mit besonderer Rührung erfüllte der Anblick des Zimmers mein deutsches Herz, worin Göthe geboren wurde, und welches er noch bei seiner letzten Anwesenheit bewohnt hatte. Das Bett und alle übrigen Geräthe waren genau in dem Zustande, in dem er sie verlassen hatte; auf seinem Pulte stand noch seine Gyps-Statuette, die ihm am meisten gleichen soll, und welche, da kürzlich sein Geburtstag gewesen war, mit einem Lorbeerkranze geschmückt war. Das Haus ist ganz einfach und bietet außer den Versen, welche er kurz vor seinem Tode dichtete, keine Merkwürdigkeiten. Dieses Gedicht war und ist so viel mir bekannt, niemals im Druck erschienen. Miß M. war nicht weniger als ich von der Umgebung ergriffen, denn sie war eine glühende Verehrerin des großen Dichters und hatte Vieles von ihm übersetzt. Die Engländer wissen überhaupt Göthe sehr zu schätzen, insonderheit seinen Faust, sagen jedoch, daß er im Ganzen überschätzt worden sei.

Ohne irgend etwas Anderes zu sehen, verließen wir Frankfurt und reisten durch meist anmuthige Gegenden nach Fulda, zunächst dem Thüringer Walde zu. Fulda, früher Fuld genannt, gehört zu den ältesten und merkwürdigsten Städten Deutschlands, denn hier gründete schon der deutsche Apostel Bonifaz zu Anfang des achten Jahrhunderts die Abtei, welche später deutsches Reichsfürstenthum ward, hierher verbannte Karl der Große 788 den Herzog Thassilo von Baiern als Mönch für wiederholten Friedensbruch. Die Schulen zu Fulda gehören zu den ersten und ältesten Pflanzstätten deutscher Cultur. Meine Gebieterin fand nun einmal in echt englischer Beschränktheit an deutschen Alterthümern kein Interesse, und so hielten wir uns denn weder hier noch in Eisenach auf. Destomehr erquickte ich mich an dem herrlichen thüringer Walde, ich konnte seine Schönheit nicht genug bewundern und hatte die Genugthuung, daß auch die Brittin mit einstimmen mußte. Das herzogliche Schloß in Gotha gewährte einige Stunden angenehme Unterhaltung; es enthält eine sehenswerthe Gemälde-Galerie, in den einzelnen Zimmern viele treffliche Portraits, ein bedeutendes chinesisches Cabinet von Waffen, Geräthschaften, Porzellanen und Costümen, [92] ein Naturalien-Cabinet und eine Antiken-Sammlung. Man zeigte uns hier den Stammbaum des fürstlichen Hauses in einem mit Edelsteinen verzierten Buche, welcher den Ursprung der Familie auf den Sachsenherzog Wittekind zurückführt, auch das Buch soll von diesem abstammen. Man sieht darin den Namen Jacobs des Zweiten von England, den er mit eigener Hand, auf einer Reise von Kopenhagen kommend, hineinschrieb; ein Kleid der Königin Maria Antoinette, einen Stiefel des Churfürsten Johann Friedrich von Sachsen, den er in der Schlacht von Mühlberg verlor. Auch der Hut, Handschuhe und Stiefel Napoleons, welche dieser nebst einer goldenen Biene von seinem Krönungsmantel auf seinem Rückzuge nach der Schlacht von Leipzig dem Herzoge auf dessen Bitten schenkte, erregten großes Interesse. Der Garten ist prachtvoll und enthält eine sehr bedeutende Orangerie, wie auch ausländische Gewächse. Die Umgebungen und Promenaden von Gotha sind angenehm.

Weimar war unser nächstes Reiseziel und unser erster Ausgang galt hier den Häusern Herder’s, Schiller’s und Göthe’s. Ersteres wurde vom Oberhofprediger Dr. Röhr bewohnt, dessen Gemahlin und Tochter es sich zur besonderen Ehre zu schätzen schienen, eine Engländerin bei sich zu sehen, und während sie uns die Zimmer zeigten, erzählten sie von ihm und seinem Lebenslaufe. Schiller’s Haus ist sehr einfach. Göthe’s Haus ist weit stattlicher und mit Bildsäulen und Gemälden geschmückt; es war von seinen Nachkommen bewohnt, wie auch sein geschmackvolles Landhaus in der Nähe. – Das großherzogliche Schloß entfaltet Geschmack und Eleganz, aber von unendlichem Interesse sind die Zimmer, worin die Werke Schiller’s, Göthe’s und Wieland’s mit Fresken illustrirt sind; sie machen ihrer Urheberin, der Großherzogin-Großfürstin, viel Ehre. Prächtig ist das Lustschloß Belvedere, welches mit seinen reizenden Anlagen und Umgebungen einem Feenschlosse gleicht. Zu erwähnen ist der Speisesaal, wo die Tafel mittelst einer künstlichen Maschinerie, gedeckt und mit Speisen besetzt, aus der Tiefe emporgehoben wird. Das Schloß Tieffurt mit seinem Park ist unaussprechlich anmuthig, und die Erinnerung an die verewigte Herzogin Amalie, welche, von Göthe, Schiller, Wieland und Herder umgeben, hier lebte, verleiht ihm einen eigenthümlichen Zauber. Im Parke giebt es köstliche Parthieen, die zum Träumen einladen, und die hier und da angebrachten Aeolsharfen, in deren Saiten die Winde spielen, machen [93] den Eindruck von Geisterchören, welche den Manen jener Unsterblichen mystische Hymnen singen. – In Weimar sahen wir auch die großherzogliche Gruft, welche sich in der Kapelle auf dem Begräbnißplatze befindet. Hier stehen die Särge Schiller’s und Göthe’s neben denen des deutschen Augustus und dessen Gemalin, und es ist schwer zu sagen, wer durch diese Vereinigung am meisten geehrt ist.

Von hier reisten wir über L. nach D. Meine Rührung, als ich nach einer Abwesenheit von beinahe zehn Jahren die Thürme D.’s[WS 1] wiedersah, läßt sich schwerlich beschreiben. Ich hatte meiner Familie noch von Weimar aus geschrieben, und sobald ich Fräulein M. bequem im Hotel de France eingerichtet sah, eilte ich sogleich zu meinem ältesten Bruder, der in seiner Stellung als Beamter noch den Beruf eines Schriftstellers und Musikers mit vieler Auszeichnung bekleidete. Bei ihm fand ich meine Eltern[WS 2], die mich mit der innigsten Zärtlichkeit empfingen. Es war eine rührende Scene voll Freudenthränen. Dem Wunsche der Miß gemäß stellte ich ihr die anwesenden Glieder meiner Familie vor, und es war mir sehr angenehm, daß sie sich sogleich mit meiner Schwägerin[WS 3] befreundete, deren Schönheit und feine Sitte sie ungemein ansprach. Diesem Umstande hatte ich den Vortheil zu danken, daß ich auf einige Tage Urlaub erhielt. Meine Eltern und ich fuhren am andern Morgen nach den zwei reizend gelegenen Dörfchen[WS 4], welche jene leider in Trennung bewohnten. Dort wurde ich von den Freunden mit einem Jubel empfangen, der meinem Herzen unendlich wohl that. Meine guten Eltern waren unermüdlich in ihren Freudenbezeigungen und Liebkosungen; sie bewunderten Alles an mir, zeigten mir eine Menge Dinge, die mir früher gehört hatten und die sie wie Reliquien aufbewahrten. Mir that es unendlich wohl, mein Herz einmal ausschütten und den Meinigen alle die traurigen Schicksale erzählen zu können, die ich ihnen aus Schonung seither verschwiegen. Am folgenden Morgen versammelten wir uns schon in aller Frühe beim Morgen-Imbiß, nach welchem wir uns auf den Weg machten, um meiner jüngsten Schwester[WS 5] einen Besuch zu machen. Sie war in der Nähe an einen Lehrer verheirathet und mein Vater sagte mir, daß ihre drei kleinen Töchterchen sich täglich auf die „englische Tante“ freuten, welches meine Zärtlichkeit für sie um Vieles vermehrte. Nach einer zweistündigen Fahrt waren wir am Ziele, aber welches freudige Staunen bemeisterte sich meiner, als wir ausstiegen und meine Schwester als eine [94] der lieblichsten Frauen vor mir stand, die ich jemals gesehen, und mich in ihre Arme schloß! Sie stellte mir hierauf ihren Gatten und ihre Kinder vor, und der Empfang, der mir von Allen auch hier zu Theil ward, machte jenen Tag zu einem der glücklichsten meines Lebens. Ich konnte nicht müde werden, meine Schwester anzusehen, denn in ihrem Wesen lag so viel Grazie, Sanftmuth und Würde, wie sie nur aus einer schönen Seele hervor gehen können. Trotzdem ich aus einem durch seine Frauen berühmten Lande kam, fand ich doch in ihr eines der schönsten Wesen, die ich jemals gesehen. In ihrer Häuslichkeit herrschte die größte Ordnung, Nettigkeit und Behaglichkeit, und ihre Kinder gehörten zu den wohlgezogensten, die mir vorgekommen waren. Welche Freude war es also für mich, zu finden, daß meine Schwester eine ebenso treffliche Gattin, Mutter und Hausfrau, wie angenehme Gesellschafterin war. Wir verlebten einen unvergeßlichen Tag und trennten uns am nächsten Morgen mit der Verabredung, daß die Meinigen mich in D. zu besuchen versprachen, wo mich Miß M. mit Ungeduld erwartete, obwohl meine Schwägerin ihr viel Zeit gewidmet hatte. Es verging nun kein Tag, wo wir nicht eine Vergnügungsparthie unternahmen, wobei Bruder und Schwägerin uns fast stets begleiteten. Wir besuchten natürlich auch alle die berühmten D.’ner Sehenswürdigkeiten, welche auch der vielgereisten Britin unendlich imponirten; allein mehr als diese architectonischen, künstlerischen, pretiosen und industriösen Schätze entzückten sie die einzig schönen Umgebungen D.’s, ihre Seele schien in einem Meere von Wonne zu plätschern, wenn wir den pl.’schen Grund, Th., P., die S., die Weinberge bei L., die s.’sche Sch. und die unzähligen Wunderpunkte dieser herrlichen Landschaft besuchten. So war mein Aufenthalt in D. in jeder Beziehung ein sehr glücklicher, umsomehr, als Miß M. mir bei jeder Gelegenheit ihre Zufriedenheit bewies, mir Geschenke machte und überdies mir die in London vorausgezahlten zehn Pfund nicht anrechnete. Ein Beweis dafür, wie großmüthig diese Dame und wie zufrieden sie mit mir war.

Doch was sind alle Freuden dieser Welt anderes als Träume, welche Oede und Leere im Herzen zurücklassen, die ohne sie niemals empfunden worden wären. Wie wahr und treffend sind die Worte, welche Francesca di Rimini beim Dante sagt: Nessun maggior dolore che ricordar si dei tempi felici nelle miserie! – kein größerer [95] Schmerz, als sich im Unglück glücklicher Zeiten zu erinnern! – Der Tag, der zu unserer Abreise bestimmt war, erschien nur zu früh und erfüllte unsere Herzen mit bitterem Kummer, den ich mit Stillschweigen ehren will. Unsere Reise ging über L. nach H., wo wir eine kolossale Ehrenpforte passirten, die der Braut des Kronprinzen von Baiern, geborenen Prinzessin von Preußen, zu Ehren errichtet worden war. Ueberall herrschte Festlichkeit und Freude, selbst unser Postillon ergoß sich in Lobreden und Glückwünschen für das königliche Paar. Wir waren vielleicht die einzigen Mißmuthigen in ganz H., und zwar deswegen, weil der König von Preußen den ganzen Gasthof gemiethet hatte, den wir zu unserem Absteigequartier ersahen, und wir nun mit einer sehr einfachen Bewirthung im zweiten Hotel der guten Stadt vorlieb nehmen mußten. Als wir am folgenden Tage weiter reisten, bemerkten wir einen langen Zug Equipagen und Miethwagen, welcher sich feierlich auf einem Feldwege nach der Chaussee bewegte; wir dachten ihn mit den Feierlichkeiten des fürstlichen Brautpaares im Zusammenhange, aber unser Postillon fragte mit charakteristisch deutscher Neugierde im Vorüberfahren einen Kutscher, von dem er erfuhr, daß man einen geliebten Seelsorger nach seiner neuen Pfründe geleite. Das war das zweite Beispiel deutscher Treue seit gestern, was Miß M. sehr hervorhob und bewunderte. Das eintretende Regenwetter verhinderte uns, die Gegend, welche wir durchreisten, zu übersehen, und so erreichten wir Kassel, ohne etwas Erhebliches zu erblicken als die Bäume an der Landstraße. Wir hatten uns auf Hessen mit aller Resignation gefaßt gemacht, denn wer kannte nicht das märchenhafte Glück dieses Landes; um so überraschter mußten wir uns fühlen, als wir in Kassel nicht mehr als Alles loben mußten, denn wir fanden schöne Zimmer, ausgezeichnete Bewirthung, eine schöne Stadt und liebe Leute. Erstere ist größten Theils neu, regelmäßig und geschmackvoll, der Menschenschlag von edler Gesichtsbildung, gutmüthig und fröhlich.

Zuerst besuchten wir das churfürstliche Sommerschloß Wilhelmshöhe, das von seinem Berge herab einen großartigen Ueberblick der ungemein schönen Umgegend gewährt. Das Gebäude selbst wie seine Einrichtung und Gartenanlagen gehören zu den üppigen und phantastischen Erzeugnissen des siebenzehnten und theilweise achtzehnten Jahrhunderts und enthält eine Mischung von gutem und schlechtem Geschmack, viel Eleganz und Reichthum. Die vielen Statuen, Statuetten, Wasserkünste und [96] künstlich angelegten Gartenparthieen erinnern unwillkührlich an Versailles, aber dieses wird von Wilhelmshöhe durch seine herrliche Lage bei weitem überboten. An diesen Prachtschöpfungen der Fürsten zeigt sich die Allmacht der Natur gegenüber der schwachen Menschenhand recht drastisch, fast tragisch. Eine einzige Fernsicht in die Gebirgswelt, ein hoher Fels auf steilem Bergesrücken, der Blick von einem Hügel über den See, der Wald mit dem schäumenden Sturzbache und dem wilden Geklüft ist mehr werth als alle Schöpfungen sämmtlicher Baumeister und Gartenkünstler. – Das noch höher liegende Schloß Löwenberg ist noch weit weniger geschmackvoll und enthält eine Menge grotesker und phantastischer Gegenstände, die mehr kurios als sinnreich sind. Merkwürdig ist die Bildsäule des Herkules von Bronze, in dessen Keule ein Engländer gefallen und darin fast umgekommen war. Nachdem wir uns einige Tage in Kassel aufgehalten hatten, reisten wir über Düsseldorf und Elberfeld, welche Städte ungeachtet ihrer großen Industrie die charakteristische Freundlichkeit meines schönen Vaterlandes beibehalten, während alle englischen Fabrikstädte ein trauriges, gefängnißartiges Ansehen haben. Wo wir konnten, benutzten wir die entstehenden Eisenbahnen. Da das Wetter meist rauh und naß war, gingen die Schönheiten der Natur und Civilisation uns meist verloren und Miß M. fing an, die englischen Comforts und Luxusartikel zu vermissen und Sehnsucht nach der Heimath zu empfinden.

Zwischen Aachen und Lüttich passirten wir den ersten Viaduct, den wir noch gesehen hatten, und es ergriff uns ein Schwindel, als wir in den Abgrund blickten, über welchen derselbe geworfen war. In Lüttich gedachten wir unseres Abentheuers mit den Mäusen und kehrten in der Hoffnung auf größere Bequemlichkeit im Hotel d’Angleterre ein. Hier stand das ganze Haus zu unserer Verfügung, weil in dieser Jahreszeit schon kein einziger Fremder mehr vorhanden war, und da man aus diesem Grunde schon alle Kellner entlassen hatte, so erschien bald nach unserer Ankunft der Koch in seiner weißen Mütze und Schürze, mit aufgestreiften Hemdärmeln, um uns bei Tische zu bedienen. Es war ein gutmüthiger Wallone, der daran Vergnügen fand, uns zu stopfen, denn er begnügte sich nicht damit, uns zum Essen zu nöthigen, sondern er drang uns seine Speisen mit der komischsten Beharrlichkeit auf. Tenez, faut manger ça, Mesdames, c’est un paté aux grives, que j’avons fait v’la deux jours! rief er, indem er uns wiederholt trotz [97] alles Widerstrebens riesige Stücke einer trefflichen Pastete von Krammetsvögeln vorlegte, und zwar mit der Grazie eines Fleischers, so daß wir unsern ganzen Ernst aufbieten mußten, um nicht zu lachen und unser Leben durch Ersticken zu gefährden. Als wir in Brüssel anlangten, war das Thermometer bereits so gesunken, daß wir Wintertoilette machen mußten. Meine abermaligen Erkundigungen nach Carl T. blieben wie immer fruchtlos. O, zärtlicher Freund meiner Jugend, wo bist Du geblieben!

Die Reise nach Calais geht durch uninteressante Gegenden, die als weise Vorbereitungen auf diese alte schmutzige Stadt dienen. Und wie wichtig steht sie in der Geschichte doch da! Sie leistete Eduard III. so mannlichen Widerstand, und blieb von jener Zeit an bis zur Regierung Mariens im Besitz der Engländer.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Dresdens
  2. Carl Steinmann und Friedericke Steinmann geb. Endler
  3. Auguste Friedericke Steinmann geb. Geißler
  4. Kreischa und Markersbach bei Bad Gottleuba
  5. Caroline verehelichte Thalheim, wohnhaft in Reinholdshain