Der Tarifvertrag

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Autor: Paul Wölbling
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Titel: Der Tarifvertrag
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aus: Handbuch der Politik Dritter Band: Die Aufgaben der Politik, Dreizehntes Hauptstück: Selbsthilfe und Sozialschutz, 67. Abschnitt, S. 22−28
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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67. Abschnitt.


Der Tarifvertrag.
Von
Magistratsrat Paul Wölbling,
Berlin.


Literatur:[Bearbeiten]

Lotmar, Der Arbeitsvertrag, Bd. I. u. II. Leipzig 1902. 1908.
Lotmar-Sulzer, Entwurf eines Gesetzes über den Tarifvertrag. Soziale Praxis XI. 349 flg.
Rundstein, die Tarifverträge und die moderne Rechtswissenschaft. Leipzig 1906.
Ders., Streik, Aussperrung, Tarifvertrag. Archiv f. Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, IV, 130 f., 311 f.
Schmelzer, Tarifgemeinschaften, ihre wirtschaftliche, sozialpolitische und juristische Bedeutung. Leipzig 1906.
Oertmann, Zur Lehre vom Tarifvertrage. Zeitschrift für Sozialwissenschaft. X. 1 f.
Von Schulz, Das Reichsgericht wider die Tarifverträge. Archiv für soziale Gesetzgebung und Sozialpolitik. Bd. XX.
Kaiserl. Statistisches Amt. Beiträge für Arbeiterstatistik Nr. 3 bis 5 u. No. 8. Berlin 1906, 1908.
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Sinzheimer, Der kollektive Arbeitsnormenvertrag. Leipzig 1907/08 u. Schrift d. Ges. f. Soz. Ref. 44.
Wölbling, Der Akkordvertrag und der Tarifvertrag. Berlin 1908.
Ders., Entwurf eines Gesetzes über Tarifverträge, Soziale Praxis XVIII, 166 f.
Ders., Die gesetzliche Regelung der Tarifverträge. Archiv f. sozialwissenschaftl. Sozialpolitik, Bd. XXIX, S. 481–512, 869–894, vergl. Schrift, d. Ges. f. Soz. Reform. Heft 42 ff.
Ders., Brauchen wir ein Reichseinigungsamt? Berlin, Franz Vahlen 1911.
Ders. Recht und Wirtschaft, Mai, Juni und Juli 1912, Januar 1914.
Ders., Bauwelt. II, Nr. 116, III, Nr. 25, 26 u. 31, 50, 51, IV, Nr. 8–20.
Köppe, Der Arbeitstarifvertrag als Gesetzgebungsproblem 1908.
Braun, Zur Frage der Tarifverträge 1908.
Verhandlungen des 29. Deutschen Juristentages, Berlin 1908/09 (von Schulz, Zimmermann, Ettinger, Kobatsch, Jungk, Koppe, Sinzheimer, Kulemann. Wölbling u. a.).
Das Gewerbe- u. Kaufmannsgericht, Verbandsschrift des Verbandes Deutscher Gewerbe- u. Kaufmannsgerichte. Die gesetzliche Regelung, der Kollektivverträge, XV., S. 374–460, XVI, Sp. 120–135. (Enthält Beiträge von Autoren aus verschiedenen Ländern, Claes-Belgien, Choenzweig-Österreich, Pap-Budapest, Xanten-Niederlande, Capitant-Frankreich, Messina-Italien, Sjöstrand-Norwegen, Sinzheimer-Österreich, Schweiz, Deutschland, Zimmermann, Wölbling, Mielenz, Doeblin, Brogsitter-Deutschland), ferner XVIII, 463–482.
Löwenthal, Die rechtliche Bedeutung der Tarifverträge im allgemeinen und der Verbandstarife im besonderen Berlin 1910.
Frhr. von Berlepsch, Reichseinigungsamt. Soziale Praxis XX, 738 ff., 770 ff., 802 ff.
Kessler, Die deutschen Arbeitgeberverbände. Leipzig 1907.

Die Auflösung der alten gewerblichen Verbände und die gesetzliche Freiheit des Arbeitsvertrages (Deutsche Gewerbeordnung § 105) hat nicht zu einer tatsächlich freien Stellung des Individuums im wirtschaftlichen, besonders im gewerblichen Leben geführt. An die Stelle öffentlich-rechtlicher Regelung der Arbeitsverhältnisse und öffentlicher Abhängigkeitsverhältnisse, die unzweifelhaft veraltet und innerlich morsch geworden waren, haben sich selbständig, ohne engere Anlehnung an das bestehende Recht, neuartige Vereinigungen und Verbände gebildet, in denen die zerstreuten Kräfte wieder gesammelt werden, in denen der einzelne Schutz gegen Mächtigere sucht und zu deren Gunsten er einen erheblichen Teil der ihm gesetzlich zustehenden wirtschaftlichen Freiheit aufgibt, um dadurch von anderen Faktoren unabhängiger zu werden, von deren Herrschaft ihn die Gesetzgebung allein nicht zu befreien vermochte. Bei der Bildung der gewerblichen Verbände schieden sich zunächst die beiden grossen Gruppen der Unternehmer und der Arbeiter, deren Gegensatz einen so wichtigen Faktor der modernen Politik bildet. Die Verbände der Arbeiter setzten sich als Ziel die Bekämpfung der Unternehmer zwecks Erlangung höherer Löhne. Um die durch gemeinsame Arbeitsversagung (Streiks und Sperren) erreichten Vorteile dauernd zu erhalten, schlossen [23] die Arbeitervereinigungen (von ihnen selbst meist Organisationen genannt, nach der Terminologie der Gewerbeordnung §§ 152, 153: Vereinigungen zwecks Erlangung besserer Lebens- und Arbeitsbedingungen, Koalitionen), aber auch unorganisierte Gesamtheiten durch in Volksversammlungen gewählte Vertreter sogenannte Tarifverträge ab. Während die sich bildenden Unternehmerorganisationen zunächst andere Aufgaben hatten, wie den Kampf gegen die Arbeiter (ich erinnere an Kartelle, Syndikate, Innungen) bildeten sich nun auch Arbeitgeberverbände, deren Aufgabe es sein sollte, die Arbeitsverträge im Sinne der Unternehmer zu verbessern, nötigenfalls durch Bekämpfung der Arbeiter. Während die Unternehmerverbände aber zunächst die Tarifverträge ablehnten, meist mit der Motivierung, dass die Arbeiterverbände keine genügende Garantie für ihre Innehaltung böten, sind neuerdings gerade von den Unternehmerverbänden Tarifverträge von den Arbeitern gefordert, sogar erzwungen worden, so im Jahre 1910 vom deutschen Arbeitgeberbund für das Baugewerbe.[1]

Es wurden Ende 1908 vom Kaiserlichen Statistischen Amt 5671 Tarifverträge für 120 401 Betriebe mit 1 026 385 Arbeitern, Ende 1911: 10 520 Tarifverträge für 183 232 Betriebe mit + 1 552 827 Arbeitern gezählt, aber diese Statistik ist nicht vollständig.

Die Förderung des Tarifwesens ging ursprünglich von den Arbeitern aus. Die älteste deutsche Tarifgemeinschaft, die der Buchdrucker, führt ihre Anfänge bis auf das Jahr 1848 zurück. Träger der Tarifverträge sind hauptsächlich die Gewerkschaften gewesen. Die sozialdemokratischen freien Gewerkschaften sind den Tarifverträgen gegenüber etwas zurückhaltender geworden, besonders seitdem das Erstarken der Arbeitgeberverbände die Erlangung günstiger Bedingungen für die Arbeiter erschwert hat.[2] Wie schon gesagt, haben nunmehr z. T. Arbeitgeberverbände mehrfach im Gegensatz zu den Gewerkschaften Tarifverträge gefordert. Während diese meist eine rechtliche Bindung und vermögensrechtliche Haftung der Gewerkschaften verlangen, streben die Gewerkschaften, die anfangs eine durchgreifende Rechtswirksamkeit, die autonome Schaffung von neuen Rechtssätzen, insbesondere die sogenannten Unabdingbarkeit forderten, nach einem Ausschluss jedes vermögensrechtlichen Anspruches aus den Tarifvertrag.[3] Offenbar besteht in diesem Punkte augenblicklich eine grosse Unsicherheit. Der deutsche Bauarbeiterverband scheint sein Bedenken gegen die vermögensrechtliche Bindung aufgegeben zu haben, ist aber dafür zu einer unglücklichen Fassung der Schiedsklausel gekommen.[4] Die Stellung der Gewerkschaften wird veranlasst durch die Furcht vor einer Vernichtung durch Inanspruchnahme ihres Vermögens zum Ersatze des Schadens infolge einer Lohnbewegung. Unzweifelhaft liegt die Abwendung eines solchen Schadens heut und vielleicht auch künftig gar nicht in der Macht der Gewerkschaftsvorstände, somit nicht in Abrede gestellt werden kann, dass die Gewerkschaftsleiter in einzelnen Fällen selbst schuld sind an der vertragswidrigen Verursachung von Streikschäden. Trotz der erheblichen Einnahmen der Gewerkschaften reicht deren Vermögen für die Deckung solcher Schadensansprüche, deren Höhe gegebenenfalls ganz unübersehbar ist, nicht aus und dasselbe dürfte, woran die Arbeitgeber meist nicht denken, auch bei den Unternehmerverbänden der Fall sein. Die Erhaltung der beiderseitigen Verbände erscheint aber im Interesse der Herbeiführung geregelter Beziehungen zwischen Unternehmern und Arbeiterschaft aus allgemeinen staatlichen Gründen geboten.

Ablehnend gegenüber den Tarifverträgen hält sich noch die deutsche Grossindustrie. Da aber auch sie schon mit der Arbeitervereinigungen zu verhandeln anfängt, muss sie mit Notwendigkeit auch zum Abschluss von Tarifverträgen kommen.

Von den politischen Parteien hat das Zentrum bereits 1905 und später nochmals 1908 einen Antrag auf gesetzliche Regelung der Tarifverträge gestellt. Am 11. 2. 1908 folgte die nationalliberale Partei mit dem auf dasselbe Ziel gerichteten Antrag Jungk.[5] In dem von der Regierung im [24] Jahre 1907 vorgelegten Entwurf eines Arbeitskammergesetzes, der in dieser Beziehung vom Reichstag in zweiter Lesung angenommen wurde, wurde als Aufgabe der Arbeitskammern die Mitwirkung bei der Vereinbarung von Tarifverträgen bezeichnet. Am 25. 2. 1908 wurde vom Staatssekretär des Reichsjustizamts eine baldige Regelung des Tarifvertragsrechts für dringend erwünscht erklärt, wie auch der 29. deutsche Juristentag in demselben Jahre die Notwendigkeit der gesetzlichen Regelung anerkannt hat.[6] Später ist die Reichsregierung aber offenbar von der Annahme der Dringlichkeit wieder abgekommen. Grade die Rechtsprechung der jüngsten Zeit, die zum Teil wieder an der Rechtswirksamkeit der Tarifverträge irre zu werden anfängt und die heillose Unklarheit einzelner Praktiker der Tarifbewegung erheischt jetzt notwendig ein Eingreifen der Gesetzgeber, da die Tarifbewegung sonst gerade in dem Augenblick auf abschüssige Bahnen zu geraten droht, an ihre Bedeutung allgemein anerkannt zu werden beginnt.

Die wirtschaftliche Bedeutung der Tarifverträge wurde bereits gestreift. Die Frage, ob die Tarifverträge für den Staat, die Unternehmer oder Arbeiter nützlich sind, muss gegenüber der Tatsache ihrer weiten Verbreitung zurücktreten. Sie füllen offenbar eine Lücke unseres bestehenden Rechts aus, indem sie die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern dauernd und der Bedeutung jedes einzelnen Gewerbes entsprechend regeln. Welcher Teil bei dieser auf freier Übereinkunft beruhenden Regelung besser wegkommt, das hängt hauptsächlich von dem jeweiligen Machtverhältnis, aber auch von der Geschicklichkeit der beiderseitigen Parteivertreter ab. Eine lediglich individuelle Regelung der Arbeitsverhältnisse ist heute nicht mehr möglich. Darüber, dass die Festsetzung der Arbeitsbedingungen nicht den Arbeitgebern einseitig überlassen bleiben kann, ist kein Wort zu verlieren, aber auch der Staat ist bei uns nicht in der Lage, wie es auf abgeschlossenen und wenig entwickelten, dünn bevölkerten Wirtschaftsgebieten in Australien mit noch nicht sicher festgestelltem Erfolg geschehen ist, durch obrigkeitliche Festsetzung das im Interesse der Parteien Richtige zu treffen.[7] So ist die Vereinbarung zwischen grösseren Gruppen von Arbeitgebern und Arbeitern, wie sie in eine Reihe von Gewerben mit dauerndem Erfolg durchgeführt worden ist, der gegebene Weg für Regelung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern.

Die Form, in welcher diese Vereinbarungen sich vollziehen oder vollzogen haben, führt uns zu der z. Z. wichtigsten Seite der Frage, der juristischen. Die Rechtswissenschaft ist nach anfänglichem Schwanken darüber einig geworden,[8] dass die Tarifverträge vollgiltige privatrechtliche Verträge sind und auch das Reichsgericht[9] hat sich jetzt zu dieser Auffassung bekannt. Im einzelnen Falle pflegen aber der Vertragsschliessung oft soviel Mängel anzuhaften, dass die Durchführung von Ansprüchen aus dem Tarifvertrag auf grosse Schwierigkeiten stösst. Verhältnismässig klar liegt der Regelfall der Tarifverträge, dass die Vertragsschliessenden der Arbeitgeberseite einzelne bestimmte Arbeitgeber oder ein Arbeitgeberverein, auf Arbeiterseite gleichfalls ein Verein, eine Gewerkschaft sind. Es kommen aber auch Fälle vor, bei denen der Vertragsschluss im Namen unorganisierter Massen erfolgt. Auch diese Verträge haben eine grosse wirtschaftliche Bedeutung, doch stehen in diesem Fall der Auffassung als wirksame privatrechtliche Verträge erhebliche Bedenken entgegen. Gegenstand der Tarifverträge ist die Herbeiführung eines Friedens oder Waffenstillstandes zwischen Arbeitgebern und Arbeitern für eine gewisse Zeit, das heisst die Unterlassung oder Einschränkung der modernen Lohnkämpfe, Streiks, Sperren, Boykotts u. dergl. sowie die Regelung bestehender und künftig zu begründender Arbeitsverhältnisse, wozu gewöhnlich noch einige hier nicht zu erörternde Nebenpunkte kommen. Die sogenannten General- oder Zentraltarifverträge ordnen die Arbeitsverhältnisse in wesentlichen Punkten nur mittelbar, indem sie die unmittelbare Regelung besonderen Tarifverträgen für kleinere Bezirke überlassen. Sie verpflichten die örtlichen oder Bezirksgruppen der vertragschliessenden zentralen, [25] d. h. über das ganze Reich verbreitete Organisationen zum Abschluss von Tarifverträgen, deren Inhalt sie in gewissen Punkten festlegen.

Sowohl für die Generaltarifverträge,[10] wie für die übrigen Tarifverträge erscheint die sogenannte kombinierte Theorie am meisten Anerkennung gefunden zu haben, derzufolge sowohl die vertragschliessenden Vereine, wie deren Mitglieder unmittelbar durch den Tarifvertrag berechtigt und verpflichtet werden, die Vereine aber nicht in der Weise, dass sie ein tariftreues Verhalten ihrer Mitglieder garantieren, sondern nur ein solches in den Grenzen der Möglichkeit herbeizuführen versprechen.[11] Die Arbeitsverträge sollen nach dem Tarifvertrage ohne weiteres den durch diese vereinbarten Inhalt haben; natürlich tritt die Wirkung nur ein insoweit, als die Parteien des Einzelarbeitsvertrages nichts Gegenteiliges verabredet haben. Tarifwidrige Dienstverträge dürfen die einzelnen tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht schliessen und die vertragschliessenden Vereine dürfen solche Verträge nicht dulden. Sie sind gehalten, tarifwidrige Verträge wieder rückgängig zu machen und haften für den durch Zuwiderhandlung entstehenden Schaden. Die sog. automatische Wirkung oder Unabdingbarkeit der Tarifverträge, derzufolge die einzelnen Arbeitsverträge selbst gegen den ausdrücklichen Willen derjenigen, die diese Arbeitsverträge schliessen, einen tarifmässigen Inhalt haben sollen, wird jetzt von der Wissenschaft und Praxis überwiegend abgelehnt und ist – wie die Reichsregierung anerkannt hat – für die Gesetzgebung nicht brauchbar. Der Tarifvertrag hat aber unbestreitbar die Neigung, seine Wirkung auf alle Angehörigen eines bestimmten Gewerbes oder eines abgegrenzten Teiles desselben innerhalb eines räumlichen Gebietes für die Dauer seiner Geltung auszudehnen. Jeder Vertragsteil ist daher für die Regel bereit, jedem Dritten die Vorteile aus dem Tarifvertrage gegen Übernahme der Pflichten aus demselben zuzugestehen. Der Inhalt des Tarifvertrages bildet sonach auch eine Offerte an die genannten Personen, welche die Tarifparteien dieser dritten Personen zugleich mit dem Abschluss des Tarifvertrages machen. Auf demselben Grunde beruht eine weitere – an sich nicht eigenartige – Wirkung, dass der Inhalt längere Zeit dauernder und von der grossen Mehrheit der Angehörigen eines Gewerbes befolgter Tarifverträge als Auslegungsregel für die Verträge der übrigen Angehörigen dieses Gewerbes dienen kann. Die Arbeitsordnung gemäss § 134 B. G. B. bildet eine Klausel der Dienstverträge eines bestimmten Betriebs. Sie kann aber in einigen Punkten nicht durch Vertrag abgeändert werden, also auch nicht durch den Tarifvertrag. Der tarifgebundene Arbeitgeber hat aber die Verpflichtung, so weit dies rechtlich in seiner Macht steht, seine Arbeitsverträge in Übereinstimmung mit dem Tarifvertrag zu bringen. Da nicht immer alle Arbeiter eines Betriebes unter den Tarifvertrag fallen, so kann von einer Einwirkung des Tarifvertrages auf die Arbeitsordnung soweit diese Arbeiter in Betracht kommen, natürlich gar keine Rede sein. Die Arbeitsverträge der übrigen Arbeiter und folglich die auf der Arbeitsordnung beruhenden Klauseln dieser Arbeitsverträge unterliegen derselben Einwirkung durch die Tarifverträge, wie andere Arbeitsverträge, nur mit der einen Einschränkung, dass der nach dem Gesetz unabänderliche Teil der Arbeitsordnung dem Tarifvertrag stets vorgeht.

Durch den Tarifvertrag wird in vielen Fällen eine Tarifgemeinschaft begründet mit dem Zwecke, eine Reihe den Parteien des Tarifvertrags gemeinsamer Ziele durch gemeinschaftliche Betätigung zu befördern, dahin gehört die Durchführung, Fortbildung und Ausdehnung des Tarifvertrags, die Schlichtung und Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten,[12] die Arbeitsvermittlung,[13] [26] Bekämpfung unlauterer Konkurrenz usw. Mit Unrecht wird von einer Reihe von Juristen die Gemeinsamkeit der Ziele wegen des Interessengegensatzes von Arbeitgebern und Arbeitern geleugnet.[14]

Der gesetzlichen Regelung können meines Erachtens die Tarifverträge auf die Dauer nicht entbehren. Es wäre an sich schon eine Anomalie, wenn ein so wichtiges Rechtsgebiet, welches in unserem bestehenden Recht nur eine sehr unvollkommene Stütze findet, vollkommen seiner eigenen Entwicklung überlassen bleiben sollte. Das muss notgedrungen ja wieder zu der Schaffung einer Autonomie wirtschaftlicher Körperschaften führen, zu der der Deutsche so sehr neigt und die wir erst vor nicht allzu langer Zeit glücklich überwunden zu haben glaubten.

Nur durch eine gesetzliche Regelung kann der Zusammenhang der Tarifverträge mit den bestehenden Recht gewahrt und ein gefährliches Zunftwesen vermieden werden.

Abgesehen davon aber, dass die Tarifverträge nun einmal da sind, erfüllen sie somit wichtige Funktionen. Diese Aufgabe wird aber durch den bestehenden Rechtszustand erschwert. Zunächst bedarf es einer den Arbeitern auf den Leib zugeschnittenen Form für die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, die die Hauptträger der Tarifverträge sind. Sodann stehen der Durchführung der Tarifverträge die §§ 152, 153 GO. hindernd im Wege. Sie bedürfen einer Modifikation. Schliesslich muss unser Einigungswesen, besonders durch Schaffung einer obersten Instanz, ausgebaut werden.[15]

Die ausserdem für die gesetzliche Regelung in Betracht kommenden Fragen lassen sich am besten aus dem nachstehend abgedruckten Gesetzentwurf entnehmen, den ich zum Zwecke des Studiums der Frage aufgestellt habe.[16]

Entwurf eines Gesetzes über Tarifverträge.

§ 1. Tarifverträge müssen ihr räumliches und persönliches Geltungsgebiet angeben und gesondert Rechte und Pflichten der einzelnen und der Gesamtheiten aufführen.

§ 2. Derjenige Teil eines Tarifvertrages, welcher ausdrücklich zum Inhalt künftiger Dienstverträge bestimmt ist, gilt, auch trotz entgegenstehender Arbeitsordnung bei allen zwischen den Tarifvertragsparteien geschlossenen Dienstverträgen als vereinbart.

§ 3. Die Parteien dürfen tarifwidrige Dienstverträge nicht abschliessen oder vertragswidrig dulden. – Tarifwidrige Dienstverträge zwischen den Parteien sind jederzeit fristlos kündbar.

§ 4. Neben einem Verein von Berufsgenossen, welcher deren gemeinsame wirtschaftliche Interessen als Arbeitgeber und Arbeiter verfolgt (Berufsverein) gelten seine Mitglieder als Vertragsparteien.

§ 5. Innungen stehen in Ansehung der Tarifverträge den Berufsvereinen gleich.

§ 6. Aus einem Tarifvertrage kann jeder Berufsverein, und zwar auch als Vertreter seiner Mitglieder, klagen.

§ 7. Für tarifwidrige Handlungen seiner Mitglieder haftet ein Berufsverein nur, wenn er sie veranlasst oder auf Aufforderung des Verletzten nicht verhindert hat.

§ 8. Berufsvereine können von ihren Mitgliedern fordern, dass sie ihre Tarifpflichten erfüllen.

§ 9. Ausscheiden aus einem Berufsverein befreit nicht von den Tarifpflichten.

§ 10. Bei Auflösung eines Berufsvereins haftet sein Vermögen für die Dauer des Tarifvertrages, mindestens aber noch drei Jahre. Die Auflösung gilt als Kündigung des Tarifvertrages.

[27] § 11. Tarifverträge und andere Vereinbarungen mit Gesamtheiten von Arbeitgebern oder Arbeitern über deren allgemeine Beziehungen zueinander bedürfen der Schriftform, wenn sie nicht vor dem Einigungsamte, insbesondere durch Unterwerfung unter einen Schiedsspruch, zustande gekommen sind.

§ 12. Tarifabkommen mit nicht organisierten Gesamtheiten bedürfen der alljährlich zu wiederholenden Genehmigung des Gewerbe- oder Kaufmannsgerichts. – Der Vorsitzende des Gewerbe- oder Kaufmannsgerichts kann die Ordnungsmässigkeit der Wahl der Vertreter durch einen von ihm beauftragten Beamten feststellen lassen. Dieser ist berechtigt an den Wahlversammlungen teilzunehmen.

§ 13. Die Parteien sind berechtigt und auf Erfordern verpflichtet, den Tarifvertrag beim Gewerbe- oder Kaufmannsgericht niederzulegen. Sie können dazu durch Ordnungsstrafen bis 5000 Mark angehalten werden.

§ 14. Tarifverträge von unbestimmter Dauer sind zum Ablauf des ersten, solche von mehr als fünfjähriger Dauer zum Ablauf des fünften Jahres kündbar. Die Kündigungsfrist beträgt sechs Monate. – Die Kündigung erfolgt an das Gewerbe- oder Kaufmannsgericht und ist durch diese der Gegenpartei mitzuteilen. – Für Mitglieder eines Berufsvereins steht nur diesem das Kündigungsrecht zu.

§ 15. Die Organe der Tarifgemeinschaft werden unter Leitung des Gewerbe- oder Kaufmannsgerichts gewählt und, wenn eine Wahl nicht zustande kommt, von diesen ernannt.

§ 16. Die Parteien können allgemein die Entscheidung von Streitigkeiten aus Dienstverträgen an Schiedsgerichte übertragen.

§ 17. Die Entscheidungen der Tarifschiedsgerichte sind rechtskräftig, wenn nicht binnen einer Notfrist von zwei Wochen die gerichtliche Klage erhoben wird.

§ 18. Die Gewerbe- und Kaufmannsgerichte sind für Klagen aus dem Tarifverträge zuständig. Die Berufung geht an das Oberlandesgericht, wenn der Beschwerdegegenstand 2500 Mark übersteigt.[17]

§ 19. Gewerbliche Kampfmittel zwischen den Parteien sind mangels anderer Vereinbarung nur zulässig, um eine im Verzuge befindliche Partei zur Erfüllung anzuhalten.

§ 20. Das Prozessgericht erster Instanz kann nötigenfalls zwecks Vollstreckung einer Forderung aus dem Tarifvertrag nach Anhörung des Schuldners erkennen: 1. dass der Schuldner von der Übernahme von Lieferungen für das Reich, einen Bundesstaat oder Gemeindeverband oder der Arbeit für diese ausgeschlossen wird; 2. dass eine Versammlung bei Vermeidung der Auflösung nicht über ein Kampfmittel gegen den Gläubiger beraten oder beschliessen darf; 3. dass der Schuldner unbeschadet seiner Verpflichtungen aus einem Berufsverein ausgeschlossen wird; 4. dass ein Berufsverein aufgelöst wird, wenn er, ohne dazu ausserstande zu sein, der vollstreckbaren Forderung binnen angemessener Frist nicht genügt.

§ 21. Um die Zwangsvollstreckung zur Vornahme, von Handlungen, Duldungen und Unterlassungen auf Grund eines Tarifvertrages kann das Gericht die Polizeibehörde ersuchen.

§ 22. Bei Entscheidungen auf Grund von § 20 haben die Gewerbe- und Kaufmannsgerichte Beisitzer zuzuziehen.

§ 23. Entscheidungen auf Grund von § 201 sind im Reichsanzeiger zu veröffentlichen.

§ 24. Die Vorstände von Berufsvereinen sind zur Mitwirkung bei der Zwangsvollstreckung gegen Vereinsmitglieder verpflichtet.

§ 25. Die Gewerbe- und Kaufmannsgerichte sind auch für Rechtsstreitigkeiten auf Grund des Tarifvertrages mit Berufsvereinen je nach der Eigenschaft ihrer Mitglieder zuständig. Der Sitz eines Vereins tritt an Stelle des Wohnsitzes.

§ 26. Die Parteien können die örtliche Zuständigkeit vereinbaren.

§ 27. Wenn ordentliche und Sondergerichte oder Gewerbe- und Kaufmannsgerichte zugleich zuständig sind, schliessen die Sondergerichte die ordentlichen, das Gewerbegericht das Kaufmannsgericht aus. – Sind danach mehrere Gerichte zuständig, so bestimmt das gemeinsame Obergericht das zuständige Gericht.

[28] § 28. Für die Leitung der Wahlen, Kündigung, Niederlegung und Genehmigung ist das Gericht des Ortes des Vertragsschlusses und zwar wo ein Gewerbe- oder Kaufmannsgericht besteht, dieses zuständig.[18]

§ 29. Vollmachten von Arbeitern zum Abschluss eines Tarifvertrages sind stempelfrei.

§ 30. Dieses Gesetz gilt mit Ausnahme von § 1 auch für Tarifverträge, welche vor seinem Inkrafttreten abgeschlossen worden sind. – § 2 gilt mit der Massgabe, dass die Bestimmung zum Inhalt künftiger Dienstverträge keine ausdrückliche zu sein braucht. – Die Haftung der Berufsvereine aus vor Inkrafttreten dieses Gesetzes abgeschlossenen Tarifverträgen beschränkt sich auf ein Drittel ihres Vermögens.

§ 31. Auf General-(Haupt)-tarifverträge findet das Gesetz sinngemässe Anwendung.





  1. Die Erneuerung der baugewerblichen Tarifverträge im Jahre 1910, herausgegeben vom deutschen Arbeitgeberverbande für das Baugewerbe (Eingetrag. Verein) Berlin 1911.
  2. cf. Braun a. a. O.
  3. Vergl. Buchdruckertarif, Tarifvertrag im deutschen Baugewerbe; Deutsche Juristen-Zeitung XVI, 852.
  4. Vergl. Gewerbe- und Kaufmannsgericht XVIII, 477 ff.
  5. Von sozialdemokratischer Seite sei der an australische Vorbilder sich anlehnende Vorschlag von Schmidt in den Sozialistischen Monatsheften 1908, S. 499 f. erwähnt. Vergl. Gen.-Vers. der Ges. f. Soziale Reform 1913.
  6. cf. Erklärungen im Reichstag vom 29. Januar 1909, 4. Januar 1910, 14. März 1911; 21. 1. 1914.
  7. Der jetzt (1912) in England gemachte Versuch eines Mindestlohngesetzes stellt nur das Prinzip auf das Mindestlöhne gezahlt werden müssen, ohne deren Höhe festzusetzen.
  8. Verhandlungen des 29. deutschen Juristentages, Berlin J. Guttentag, 1908/09, Bd. I–V; vergl. die Verhandlungen des Verbandstages der deutschen Gewerbe- u. Kaufmannsgerichte im Jahre 1910 in der Verbandsschrift des „Gewerbe- u Kaufmannsgerichts“.
  9. Urteil des VI. Zivilsenats vom 20. 1. 1910.
  10. Beispiele die Tarifverträge im deutschen Baugewerbe von 1010 u. 1913.
  11. Reichsgerichts-Entscheidung abgedruckt im Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften Deutschlands, 1912 Nr. 4 S. 57 f (ohne Datum) i. S. Schütt gegen den Zentralverband christlicher Holzarbeiter.
  12. Dieser kann z. B. in der Verursachung eines Lohnkampfes durch ein derartiges tarifwidriges Verhalten einzelner bestehen. Dann ist die Höhe des zu ersetzenden Schadens unübersehbar. Der Tarifbrüchige ist daher in einem solchen Falle der Gefahr vollständiger wirtschaftlicher Vernichtung ausgesetzt, gewiss ein genügender Schutz der Tarifverträge! cf. Urteil des Gewerbegerichts Berlin vom 7. 7. 1909. Das Gewerbe-Kaufmannsgericht XV. 36. Schriften der Ges. f. Soz, Reform Nr. 42 ff.
  13. S. Wölbling. Soziale Praxis, XXIII. Ders., Gewerbe-Kaufmannsgericht XVIII, 529. Ders., Mitteilungen der Zentralstelle des deutschen Städte-Tages, IV. 11–14. Ders., Voss. Zeitung vom 13. u. 18. 9. 1913.
  14. Sinzheimer, Gewerbe-Kaufmannsgericht XIX, will die Tarifgemeinschaften zu Organen objektiven Arbeiterrechts erheben. Das würde über die öffentlichen Korporationen zugestandene, von staatlicher Genehmigung abhängige Automie gehen und mit der ganz ungleichen Qualität der Tarifgemeinschaften nicht zu vereinbaren sein. Die Entscheidungen der Tarifinstanzen brauchen nicht lediglich auf Schiedsvertrag zu beruhen, denn die Personen, deren Rechtsstreitigkeiten entschieden werden, brauchen nicht identisch mit denjenigen zu sein, die das Schiedsgericht anrufen. Wegen der Natur der Tarifgemeinschaft vergl. R. G. Entsch. des 1. Ziv.-Sen. vom 22. 3. 1911. cf. Dass. Gewerbe- u. Kaufmannsgericht XV; 422–430.
  15. s. meine Vorschläge in meiner Schrift: Brauchen wir ein Reichseinigungsamt. S. 73–86; 145. Bericht der Petitionskommission des Reichstags 12. Leg.-Per. II. Sess. 1 1900/1911 Nr. 1219.
  16. Seine ausführl. Begründung erscheint demnächst im Verlage von Franz Vahlen.
  17. Als oberste Instanz würde hier künftig ein Reichseinigungsamt zu entscheiden haben.
  18. Es hat sich für solche Tarifverträge, meist Generaltarifverträge, welche das ganze Reichsgebiet oder einen grossen Teil desselben umfassen, die Übung herausgebildet. dass das Reichsamt des Innern – wie in England das Board of Trade – die Mitglieder der Tariforgane ernennt, wenn sich die Parteien nicht über die Personen einigen können, so im Baugewerbe 1910, bei den Schneidern 1912.