Der Todesgang des armenischen Volkes

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Autor: Johannes Lepsius
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Titel: Der Todesgang des Armenischen Volkes
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Erscheinungsdatum: 1919
Verlag: Tempelverlag
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Der Todesgang des Armenischen Volkes
Bericht über das Schicksal des Armenischen Volkes in der Türkei während des Weltkrieges
von
Dr. Johannes Lepsius
Vorsitzender der Deutsch-Armenischen Gesellschaft
Zweite, vermehrte Auflage. – 22. bis 24. Tausend
1919
Der Tempelverlag in Potsdam
Copyright by Tempelverlag zu Potsdam 1919
Inhalt.
  Seite
V
Erster Teil. – Die Tatsachen. 1
4
11
11
15
20
27
34
54
66
74
76
112
124
124
128
133
Zweiter Teil. – Die Schuldfrage. 153
155
159
165
170
173
199
217
229
235
Dritter Teil. 241
243
252
259
294
298
304
Vorwort.

Anfang Juni 1915 wurde mir im Auswärtigen Amt ein Telegramm des Botschafters Freiherr von Wangenheim aus Konstantinopel vom 31. Mai 1915[1] vorgelegt, das folgenden Inhalt hatte:

Zur Eindämmung der armenischen Spionage und um neuen armenischen Massenerhebungen vorzubeugen, beabsichtigt Enver Pascha unter Benutzung des Kriegs-(Ausnahme-)zustandes eine große Anzahl armenischer Schulen zu schließen, armenische Postkorrespondenz zu untersagen, armenische Zeitungen zu unterdrücken und aus den jetzt insurgierten armenischen Zentren alle nicht ganz einwandfreien Familien in Mesopotamien anzusiedeln.…

     Bitte Dr. Lepsius und deutsche armenische Komitees entsprechend verständigen, daß erwähnte Maßnahmen bei der politischen und militärischen Lage der Türkei leider nicht zu vermeiden.…

          Wangenheim

Nach Kenntnisnahme des Telegramms sagte ich dem Referenten für die Orientangelegenheiten, Geh. Legationsrat von Rosenberg: „Der Botschafter scheint sich über die Tragweite der Entschließung Enver Paschas nicht klar zu sein. Um „Massenerhebungen vorzubeugen“ verschickt man nicht „Familien“, die „nicht ganz einwandfrei“ sind, sondern „Massen“. Massendeportationen sind Massenmassakers. Das weiß jeder, der die inneren Zustände der Türkei und die Bedingungen, unter denen solche Verschickungen stattfinden, kennt. Erwirken Sie mir bitte die Erlaubnis nach Konstantinopel und in das Innere zu reisen, um festzustellen, was dort vor sich geht“. Unterstaatssekretär Zimmermann, dem mein Wunsch vorgelegt wurde, war bereit, ihn zu erfüllen und wies den Botschafter telegraphisch an, bei dem Minister des Innern Talaat Bey die Erlaubnis zu meiner Reise nach Konstantinopel und in das Innere zu erwirken. Der Botschafter erwiderte, daß Talaat Bey auf Befragen abgelehnt habe, mir die gewünschte Erlaubnis zu geben. Mein Vorschlag, durch ein Schreiben an den Botschafter die Gründe, die mich bestimmten, darzulegen und auf erneute Vorstellung bei Talaat Bey zu dringen, fand den Beifall des Unterstaatssekretärs. Mein Schreiben wurde von den Vorständen der Deutsch-Armenischen Gesellschaft und der Deutschen Orientmission, deren Vorsitzender ich war, unterstützt und von dem Unterstaatssekretär befürwortet. Zu gleicher Zeit hatte ich gebeten, dem Armenischen Patriarchen in Konstantinopel meinen Besuch anzukündigen.

Am 24. Juni erhielt ich durch das Auswärtige Amt die telegraphische Antwort des Botschafters:

Armenischer Patriarch wird Reise des Dr. Lepsius hierher mit Freude begrüßen. Auch dürfte sie wohl dazu beitragen, auf die uns mißgestimmten armenischen Kreise günstig hinzuwirken. Der Minister des Innern verspricht sich allerdings keinen Erfolg davon und bedauert, Dr. Lepsius das Reisen im Innern nicht gestatten zu können, erklärt aber im übrigen, daß es ihm freistände, hierher zu kommen. Wangenheim.

Um mit Vertretern der Partei Daschnakzutiun und den Schweizer Armenierfreunden in Verbindung zu treten, beschloß ich, meine Reise so einzurichten, daß ich auf dem Wege nach Konstantinopel zuerst Basel und Genf besuchte, und dann in Bukarest und Sofia Station machte, wo ich durch armenische Freunde Informationen über die Lage im Innern der Türkei zu erhalten hoffte. In Bukarest traf ich Dr. Nasariantz, den wir bereits im Januar vonseiten der Deutsch-Armenischen Gesellschaft nach Konstantinopel geschickt hatten. Das Konstantinopeler Zentralbureau der Daschnakzutiun war inzwischen nach Sofia verlegt worden. Die Nachrichten, die ich in Bukarest und Sofia empfing, die durch Korrespondenzen aus dem Innern und durch zugereiste Armenier einliefen, gaben bereits ein Bild von Vorgängen, die auf eine planvolle Vernichtung der armenischen Bevölkerung des Innern schließen ließ. Die Berichte aus Konstantinopel machten es sehr unwahrscheinlich, daß ich dort von seiten der Daschnakzagan direkte Informationen würde erhalten können, denn die Führer waren bei der Massenverhaftung von Intellektuellen am 24.–26. April bereits deportiert und die Zurückgebliebenen wurden scharf von der Polizei überwacht.

Ich dehnte daher meinen Aufenthalt in Sofia etwas länger aus, als meine ursprüngliche Absicht war, weil ich hier, wie auch später nach meiner Rückkehr, die zuverlässigsten Nachrichten erhalten konnte.

Schon in denselben Tagen, in denen Talaat Bey die Erlaubnis zu meiner Reise nach Konstantinopel gegeben hatte, Ende Juni, war der Befehl zur allgemeinen Deportation der armenischen Bevölkerung in Kraft getreten. Als ich in Sofia eintraf, lagen schon Nachrichten vor, daß in den östlichen Provinzen die systematische Abschlachtung der Deportierten auf den Wanderzügen durch das armenische Hochland begonnen hatte. Es war bereits klar, daß es auf die Vernichtung der armenischen Nation abgesehen war. An eine Rückgängigmachung der Maßregel, die seit Wochen in vollem Gange war, war nicht mehr zu denken. Es bestand nur noch die Hoffnung, daß die unvollständigen Nachrichten übertrieben sein könnten und daß wenigstens die westlichen und zentralen Wilajets von Anatolien noch verschont bleiben würden. In Zilizien war es zwar schon zu Verschickung ganzer Bezirke, aber noch nicht zu Massakres gekommen. Wenn die Maßregel für die bisher verschonten Gebiete noch verhindert, und den Massakres Einhalt geboten werden konnte, war noch viel zu retten. Ich setzte daher meine Reise nach Konstantinopel fort und machte nur noch in Philippopel Station, um meinen Freund Pastor Awetaranian zu besuchen.

Am 24. Juli, dem Tage des Nationalfestes zur Feier der Einführung der Konstitution kam ich nach Anbruch der Dunkelheit in Konstantinopel an. Eine festliche Menge wogte auf den erleuchteten Plätzen und Straßen von Stambul. Die Gärten waren zu Tanz und Spiel mit Lampions geschmückt. Die Brücke, die Stambul und Galata über den Meeresarm des Goldnen Horns verbindet, bot einen bezaubernden Anblick. An den zahllosen Minarets, deren Nadeln hell belichtet in den Nachthimmel ragten, hingen Lichterkränze an den umlaufenden Altanen, von denen die Muezzins den Gebetsruf erschallen lassen. Koranverse in leuchtenden arabischen Schriftzügen, an Netzen zwischen den Moscheetürmen aufgespannt, waren an die dunkle Himmelsdecke gemalt. Das Quinquilieren türkischer Musikbanden erklang aus den Gassen und Gärten. Konstantinopel feierte heute die jungtürkische Revolution, während der Feind an die Pforte der Dardanellen hämmerte. Ich stieg im Hotel Tokatlian an der Grande rue de Péra ab. In der Stille der Nacht wurde ich von Kanonaden aufgeweckt, die den Angriffen von Torpedobooten zugeschrieben wurden, denen es gelungen war, die Dardanellen zu passieren und in den Bosporus einzufahren.

Es war mir klar, daß ich von dem Tage meiner Ankunft an von Polizeiagenten überwacht werden würde. Wollte ich das Leben von Armeniern, mit denen ich in Verbindung trat, nicht gefährden, so mußte ich mich der größten Vorsicht bedienen. Nur meine Besuche auf der Botschaft und beim Armenischen Patriarchen brauchte ich nicht zu verschleiern.

Selbst Deutsche trugen hie und da Bedenken, sich mit mir sehen zu lassen. Es gelang, meine Zusammenkünfte mit Armeniern so einzurichten, daß sie von Spionen unbemerkt blieben.

In der Botschaft fand ich jede gewünschte Unterstützung für meine Absichten. Freiherr von Wangenheim, der erkrankt war, hatte bereits am 20. Juli Konstantinopel verlassen. Fürst Hohenlohe-Langenburg war in außerordentlicher Mission mit seiner Vertretung betraut worden. In den wiederholten Aussprachen, die ich mit ihm hatte, konnte ich mich überzeugen, daß er vom ersten Tage an die Vorgänge im Innern sehr ernst genommen und gegenüber dem Großvezier und den Ministern zum Gegenstande nachdrücklichster Vorstellungen gemacht hatte. Doch jeder Schritt, den er tat, stieß auf wachsenden Widerstand. Das Urteil, das ich mir bereits in Sofia über den Charakter der Deportation gebildet hatte, wurde durch die Herren der Botschaft, die aus ihrem Entsetzen keinen Hehl machten, nur bestätigt. Obwohl man mir keinen Einblick in die Konsularberichte geben konnte, erfuhr ich doch von Herrn Dr. Mordtmann, der mit der Bearbeitung der Eingänge betraut war, genug, um die Nachrichten, die ich selbst empfing, sogleich oder bald darauf bestätigt zu finden. Verschiedene Deutsche, Missionare, Lehrer, Schwestern, waren in denselben Tagen aus dem Innern gekommen, die Grauenhaftes berichteten. Noch während ich in Konstantinopel war, wurde die Maßregel der Deportation auf das Küstenland von Zilizien und die nordsyrischen Distrikte, in der zweiten Augustwoche auch auf das westanatolische Gebiet gegenüber von Konstantinopel und am Marmarameer, mit den Städten Ismid, Baghtscheschik, Brussa, Adabasar usw. ausgedehnt. Die armenische Bevölkerung von Konstantinopel zitterte vor der drohenden Verschickung. Durch den Einspruch der deutschen und der amerikanischen Botschaft konnte die letztere verhindert werden, obwohl unter der Hand Tausende von Armeniern aus den unteren Klassen, vor allem diejenigen, die nicht ortsansässig waren, ins Innere abgeschoben wurden. Für das der Hauptstadt benachbarte Gebiet der westanatolischen Städte konnte trotz der energischen Vorstellungen und Warnungen der Botschaften nur ein Aufschub des Abtransportes von ein oder zwei Wochen erreicht werden, um den Unglücklichen den wohlfeilsten Verkauf ihrer Habe und Zeit zu Reisevorbereitungen zu ermöglichen. Eine unerhörte Nachricht, die ich aus dem Inneren erhielt – von den Mollahs in den Moscheen werde der muhammedanischen Bevölkerung erzählt, daß die grausamen Maßregeln gegen die Armenier auf Befehl Deutschlands erfolgten –, fand erst auf der Botschaft keinen Glauben, bis sie auch ihr bestätigt und strengster Widerruf von der Pforte verlangt wurde.

Ich blieb drei Wochen in Konstantinopel und benützte die Zeit, um von früh bis spät von allen Seiten Erkundigungen einzuziehen. Ich wandte mich an Vertreter aller Nationalitäten, an die fremden Gesandten, an die Ordensgesellschaften, die im Innern Stationen hatten, an das Amerikanische Bible House und an jeden Europäer oder Amerikaner, der aus dem Innern kam. Bei allen fand ich die größte Bereitwilligkeit, mir ihre Nachrichten zur Verfügung zu stellen. Meine Notizen häuften sich, und so unzusammenhängend sie waren, konnte ich doch daraus ein nahezu vollständiges Bild der Vorgänge gewinnen. Von den armenisch-katholischen Mechitharisten, von römisch-katholischen Ordensleuten, vom Armenischen Patriarchat, von zugereisten deutschen und amerikanischen Missionaren wurde ich fortlaufend über die jüngsten Vorgänge unterrichtet. Auch ansässige Konstantinopeler Armenier wagten es, mit mir in Verbindung zu treten. Besonders möchte ich an dieser Stelle Herrn Chatschadurian, dem ausgezeichneten Kenner der deutschen Sprache und Literatur, früher Professor an der Hochschule von Erzerum, jetzt an der Patriachatschule, und Herrn Djavidjan, dem Vorsitzenden des armenischen Nationalrats, für ihre keine Gefahr scheuenden Dienste, meinen Dank aussprechen. Von verschiedenen Seiten erfuhr ich auch manches, was in den jungtürkischen Kreisen hinter den Kulissen vorgegangen war. Ergreifend waren jedesmal meine Besuche bei dem Armenisch-Gregorianischen Patriarchen, Msgr. Zaven, der trotz seines unerschrockenen Eifers, seiner Nation und Kirche zu dienen, sich schon damals von der völligen Nutzlosigkeit aller seiner Vorstellungen bei der Pforte hatte überzeugen lassen.

Durch den griechischen Gesandten erfuhr ich, in welchem Maße auch die griechische Bevölkerung der Bosporus- und Marmaraküste in Mitleidenschaft gezogen worden war. Auch der bulgarische Gesandte nahm den lebhaftesten Anteil an den Vorgängen im Innern.

Wertvolle Aufschlüsse empfing ich von Mr. Henry Morgenthau, dem amerikanischen Botschafter. Auch er machte sich keine Illusionen über die Fruchtlosigkeit aller diplomatischen Schritte bei den jungtürkischen Machthabern und sprach sich wiederholt dahin aus, daß auch Freiherr von Wangenheim und Fürst Hohenlohe mit ihren Vorstellungen nicht mehr erreichen würden als er selbst. Er hielt es für nutzlos, gegenüber Männern wie Talaat Bey und Enver Pascha den Ton sittlicher Entrüstung anzuschlagen, da die Herren dafür gänzlich unempfänglich seien, suchte aber möglichst mehrmals in der Woche Gelegenheit zu persönlicher Aussprache, um ihnen freundschaftlich den Unverstand und die gefährlichen Folgen ihres Vorgehens, das den moralischen Kredit und den wirtschaftlichen Wohlstand der Türkei vernichten müßte, zu Gemüt zu führen. Aber auch dafür fand er nur taube Ohren. Durch die Berichte der amerikanischen Konsuln von Aleppo, Trapezunt, Kharput und anderen Städten des Inneren war er über die Hergänge bei den Deportationen, die meist sofort die Gestalt von Massakers annahmen, in vielen Einzelheiten unterrichtet. Für seine Person hätte er mir gern diese Dokumente zur Verfügung gestellt, glaubte aber nicht ohne weiteres dazu berechtigt zu sein. Er fragte telegraphisch in Washington an und erhielt die Antwort, daß eine Hergabe von Kopien der Konsularberichte der Neutralität der Vereinigten Staaten widerstreite. Er gab mir gleichwohl Einblick in die Berichte, und drückte ein Auge zu, als ich mir Notizen aus den Dokumenten machte. Als ich später in den Besitz der Berichte des amerikanischen Hilfskomitees gelangte, das die amerikanischen Konsularberichte ohne Ort- und Namensangaben enthielt, konnte ich aufgrund meiner Notizen die Lücken ausfüllen und die wichtigsten Konsularberichte aus Aleppo, Trapezunt und Kharput in meinem „Bericht“ vollständig wiedergeben.

So erfolglos der Schritt sein mochte, wollte ich es doch nicht unversucht lassen, auf einen der türkischen Machthaber persönlich einzuwirken. Durch Korvettenkapitän Humann wurde ich bei Enver Pascha eingeführt. Am 10. August vormittags sollte ich ihn im Seraskeriat (Kriegsministerium) in Stambul sehen. Um rechtzeitig zur Stelle zu sein, nahm ich einen Wagen, mußte aber, als ich ans Goldene Horn herunter kam, den Wagen verlassen, da die große Brücke, die Pera-Galata mit Stambul verbindet, aufgezogen war. Ich sprang in ein Kajik, um über das Goldene Horn zu fahren und hoffte, drüben wieder einen Wagen zu finden. Durch die Gemächlichkeit des Bootsführers aufgehalten und genötigt, den Weg zu Fuß fortzusetzen, da ein Fuhrwerk nicht zur Stelle war, verspätete ich mich. Enver Pascha hatte das Seraskeriat bereits verlassen, ließ mir aber sagen, daß ich ihn im Ministerium des Innern auf der Hohen Pforte treffen könne. Im Ministerium wurde ich durch lange Gänge, von denen man in die Amtszimmer blickte, – die Türen sind nur mit Vorhängen verhängt – in einen Empfangsraum im oberen Stockwerk geführt. Ich mußte ein halbes Stündchen warten, aber die Zeit wurde mir nicht lang. Bei einer freundlich gereichten Tasse türkischen Kaffees am Fenster sitzend, hatte ich über zerfallene Kuppeln und Gemäuer hin zwischen Pinien und Cypressen das fesselnde Panorama des von Dampfern und Kajiks belebten Bosporus mit seinen Uferstädten vor mir.

Enver Pascha trat ein, eine schlanke mittelgroße Gestalt mit schmalen abfallenden Schultern. Der osmanische Nationalheld, dessen halbalbanisches Blut in den kritischen Phasen der jüngsten Geschichte das türkische Phlegma oft zu abenteuerlichen Entschlüssen hinriß, hat bei aller selbstbewußten Unbekümmertheit nichts heldisches in seinem Wesen, eher etwas mädchenhaftes, wie es von Robespierre gesagt wird. In seiner schmucken Uniform mit Pelzmütze und Schnüren mehr Zigeunerbaron als Heros. Schon in Berlin wurde erzählt, daß über seinem Schreibtisch zur Rechten Napoleon, zur Linken Friedrich der Große und in der Mitte, als Kreuzung beider, sein eigenes Bildnis hing. In Stambul wollte jemand die gleiche Wanddekoration in seinem Arbeitsraum gesehen haben. Mag beides fabuliert sein, die Selbsteinschätzung Envers, die zwei Jahre zuvor seinem Rivalen, dem Kriegsminister Nazim Pascha, das Leben gekostet hatte, sollte dem türkischen Reich zum Verhängnis werden. Der unbeirrte Glaube an seinen Stern scheint ihn auch jetzt noch nicht verlassen zu haben. Man sagt, daß er nach seiner Flucht aus Konstantinopel im Kaukasus auf neue Abenteuer ausgeht.

Ich hatte einen Gruß an ihn aus Deutschland auszurichten und wir kamen sogleich in ein ungezwungenes Gespräch, das nahezu eine Stunde währte.

„Ich weiß nicht“, begann ich, um zur Sache zu kommen, „ob das was im Innern vor sich geht, mit Ihrem Wissen und Willen geschieht.“ Er wußte, was ich meinte und erwiderte: „Ich übernehme die Verantwortung für alles.“ Ich berührte einiges von dem, was ich in den letzten Tagen über Massendeportationen und Abschlachtungen von Frauen und Kindern erfahren hatte, und sagte ihm offen, daß der moralische Kredit, den sich die junge Türkei durch den Sturz Abdul Hamids und die Einführung der Konstitution erworben hätte, durch derartige Vorgänge vernichtet werden würde. Er hörte mich ruhig an, von allem, was ich sagte, unberührt, und erging sich dann in langen Reden über militärische Notwendigkeiten, die in der Kriegszeit das Vorgehen gegen die revolutionären Elemente des Reiches zur Pflicht gemacht hätten. Als Beweise für eine geplante Erhebung brachte er Fälle von Spionage und Desertionen und die „Aufstände“ von Zeitun und Wan vor, Dinge, die nicht einmal in seinem Vergrößerungsglas nach etwas aussahen. Ich bemerkte, daß man auch zur Zeit Abdul Hamids dergleichen vereinzelte Vorgänge zum Anlaß für blutige Verfolgungen genommen hätte, und, daß gerade von jungtürkischer Seite Abdul Hamid deswegen verurteilt und seine Gewaltherrschaft gestürzt worden sei. Mir schiene, daß man die Politik Abdul Hamids jetzt weiterführe, ja überbiete. Ich selbst glaube nicht an die armenische Verschwörung und hätte aus meiner persönlichen Kenntnis armenischer Führer Grund dazu. Sodann kam ich auf die Massenverhaftung der armenischen Intellektuellen von Konstantinopel zu sprechen und fragte, ob die Untersuchung irgend welche Beweise für die Vorbereitung eines Aufstandes zutage gefördert habe. Ich wisse, daß dies nicht der Fall sei. Er lächelte zu allem gleichmütig und sagte: „Der Beweise darf es nicht, wir kommen selbst von der Revolution her und wissen, wie so etwas gemacht wird.“ Auch die wirtschaftlichen Folgen brachte ich zur Sprache und sagte: „Wahrscheinlich kenne ich das Innere durch ausgedehnte Reisen, humanitäre und wirtschaftliche Unternehmungen besser als Sie. Ihr Komitee, das in Saloniki seinen Ursprung hat, beurteilt die asiatischen Fragen nach Gesichtspunkten, die dem Innern fremd sind. Ob sie für Mazedonien, das ich nicht kenne, anwendbar sind, weiß ich nicht. Für Anatolien bedeuten sie den Ruin. In den Küstenländern haben die Griechen, im ganzen Innern von Anatolien die Armenier den Groß- und Kleinhandel fast ausschließlich in der Hand. Sie sind in den östlichen Provinzen die besten Ackerbauer und stellen in ganz Anatolien nahezu allein den Stand der Handwerker. Die Armenier sind der Magen des Reichs. Sie nehmen den Magen jetzt heraus und glauben, daß die andern Glieder, Turkmenen, Kurden, Lasen und Tscherkessen, seine Funktionen übernehmen werden. Das ist ein Irrtum.“ Er lächelte: „Mag sein, wir werden ein paar Jahre nach dem Kriege einen schwachen Magen haben. Wir werden uns erholen. Bedenken Sie,“ fuhr er fort, „das Volk der Türken zählt 40 Millionen. Wenn sie erst in einem Reich zusammengefaßt sind, so werden wir in Asien dieselbe Bedeutung haben, wie Deutschland in Europa.“

Die bevölkerungsstatistische Phantasie des Kriegsministers sprang auf die Heeresstärke der türkischen Armee über. Auch hierbei sparte er nicht mit Millionen.

Ich hatte einen Mann vor mir, der, da er keine Größe besaß, aller Voraussicht nach an seiner knabenhaften Phantasie und seinem maßlosen Selbstbewußtsein Schiffbruch leiden mußte. Das rein türkische Volkselement in Anatolien beträgt wahrscheinlich nicht mehr als fünf, höchstens sechs Millionen, von denen, wie man annimmt, etwa eine Million durch Kriegs- und Seuchenverluste abzubuchen sein wird. Man muß schon weit über Nordpersien, Trans- und Ciskaukasien, Turkestan nach Kaschgar greifen, um auch nur 20 Millionen bestenfalls halbzivilisierter Türkvölker zusammen zu bringen. Die dachte Enver eines Tages zu beherrschen, und mit ihnen der ganzen Welt die Stirn zu bieten.

Ich lenkte auf die Dinge, die mir näher lagen, zurück. Ich machte geltend, daß die Massen der Deportierten zum größten Teil aus Frauen und Kindern bestünden, die dem Untergange preisgegeben sein würden, wenn nicht eine Organisation geschaffen würde, um ihre Ernährung, Unterbringung und vorläufige Ansiedelung an den Verschickungszielen zu ermöglichen. „Nach den Erfahrungen,“ sagte ich, „die man mit Tscherkessenansiedlungen gemacht hat, sind die Behörden im Innern wenig befähigt zu solchen Aufgaben; es fehlt ihnen an Organisationsgabe, an brauchbaren Organen und jetzt während des Krieges, selbst wenn sie den Willen dazu hätten, an Zeit und Geld, um eine so schwierige Aufgabe durchzuführen. Der Untergang von vielen Tausenden von Frauen und Kindern kann ja nicht Ihre Absicht sein.“ Enver ging leicht über diese Bedenken hin, sagte, es würde für alles gesorgt werden, aber wenn ich ihm Vorschläge zu machen hätte, sollte ich sie ihm schreiben, er würde sie gern erwägen. Ich erwiderte: „Ich will Ihnen gleich einen Vorschlag machen. Schicken Sie mich ins Innere und geben Sie mir den Auftrag, die Versorgung der Deportierten zu organisieren. Ich werde für die nötigen Hilfskräfte und auch für die notwendigen Geldmittel sorgen. Ich habe Erfahrung in diesen Dingen. Ich habe schon einmal nach den Abdul Hamid’schen Massakers ein Hilfswerk ins Leben gerufen, kenne die wirtschaftlichen Möglichkeiten, und die Bedürfnisse der Leute und meine zwanzigjährige Erfahrung wird mir von Nutzen sein. Durch deutsche Hilfsvereine sind damals viele Tausende von Waisenkindern unterhalten und auferzogen worden, Hospitäler gegründet, wirtschaftliche Betriebe eingerichtet worden. Ein Hilfswerk für die Deportierten würde sich auch jetzt, trotz des Krieges, in weit größerem Maßstabe ermöglichen lassen, wenn ich dazu von Ihnen ermächtigt würde.“

Enver Pascha hörte mich aufmerksam an. Dann sagte er mit einem Unterton höhnischer Grausamkeit, die sich ihre Überlegenheit über jede Menschlichkeit bewußt war: „Ich schätze Ihre gute Absicht, aber ich kann Ihren Vorschlag nicht annehmen. Wenn ich zulassen würde, daß Fremde den Armeniern Hilfe bringen würden, so würden sie nicht aufhören, ihre Hoffnung auf fremde Einmischung zu setzen, um ihre Träume zu verwirklichen. Wir können mit unsern inneren Feinden fertig werden. Sie in Deutschland können das nicht. Darin sind wir stärker als Sie. Darum kann ich keinem Fremden gestatten, den Armeniern Wohltaten zu erweisen. Die Armenier sollen in uns allein ihre Wohltäter sehen. Doch ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Geben Sie die Mittel, die Sie sammeln, mir. Ich werde sie ganz nach Ihrer Bestimmung verwenden, und Personen, denen Sie Vertrauen schenken, mit der Kontrolle beauftragen, doch keine Deutschen.“

Ich konnte nicht wohl antworten, daß auf diesem Wege unser Geld teils in den Taschen türkischer Beamten verschwinden, teils für andere Zwecke verwendet werden würde. Darum erwiderte ich, daß unsere deutschen Geberkreise Wert darauf legten, daß sie durch ihre eigenen Beauftragten über die Verwendung ihrer Mittel unterrichtet würden, was Enver Bey ablehnte. Die Gelassenheit, mit der er seine deutschen Verbündeten auf gleiche Stufe mit jedem Fremden stellte, sagte mir, daß hier jedes weitere Wort verloren war. Ich war daher auch später nicht erstaunt, als im April 1916 ein schriftliches Gesuch von drei deutschen Gesellschaften, das mit der Befürwortung der Deutschen Botschaft an die Pforte gerichtet wurde, eine Hilfsexpedition in die Notstandsgebiete senden zu dürfen, aus denselben Gründen, die mir Enver Pascha vortrug, von der Pforte abgelehnt wurde, mit dem Wortlaut „daß die türkische Regierung keinerlei fremde Hilfe für die Armenier zulassen könne, da hierdurch die Armenier in ihren Hoffnungen auf das Ausland bestärkt würden“. Dieselbe Antwort hatte der deutsche Konsul Loytved in Damaskus einen Monat zuvor von dem Oberkommandierenden der 4. Armee, Djemal Pascha, erhalten, als er anfragte, welche Aussichten eine vom American Bible House geplante Hilfsunternehmung für die notleidenden Armenier in Damaskus haben würde. Die Antwort des Paschas lautete, „daß er persönlich das Los der Armenier nach Möglichkeit erleichtern möchte, aber strenge Weisungen von Konstantinopel habe, jede deutsche und amerikanische Beteiligung an einer Hilfsunternehmung für Armenier zu verhindern, da der innere Widerstand der Armenier gegen die türkische Regierung nur gebrochen werden könne, wenn ihnen beigebracht werden könne, daß sie keinerlei Unterstützung von einer fremden Regierung zu erwarten hätten. Der Deutsche war in Fragen der Menschlichkeit so gut ein „Fremder“ für den Türken als das neutrale Amerika. Man kann gewiß sein, daß im Falle eines Sieges die jungtürkische Regierung jede ausländische Missions-Waisen- und Schularbeit im ganzen osmanischen Reich verboten haben würde.

Da die Hauptabsicht meines Gesprächs gescheitert war, wollte ich wenigstens noch versuchen, durch den allvermögenden Einfluß von Enver Pascha, einen Freund, zu retten. Dr. Heiranian, einer der Mitbegründer unserer Deutsch-Armenischen Gesellschaft, Arzt und Philosoph, von friedfertigem und nachdenklichem Wesen, von großer Güte und zartestem Gemüt, war kurz vor dem Kriege in seine Heimat Divrigi im Wilajet Siwas zurückgekehrt und hatte Frau und Kind in Berlin zurückgelassen, um seine hochbetagten Eltern noch einmal wieder zu sehen. Der Ausbruch des Krieges hatte ihn veranlaßt, sich als Militärarzt zum Lazarettdienst zu stellen. In Siwas richtete er besondere Kurse für Ausbildung von Pflegern ein, hatte viele Verwundete und an Seuchen erkrankte Türken gepflegt und war selbst dabei am Typhus schwer erkrankt, aber wieder genesen. Die Armenierverfolgung setzte ein und der Wali von Siwas warf ihn mit allen armenischen Hilfsärzten ins Gefängnis, während das armenische Pflegepersonal deportiert wurde.

Ich bat Enver Pascha, ehe ich mich verabschiedete, mir noch einen persönlichen Dienst zu leisten, und trug ihm den Fall von Dr. Heiranian vor, mit der Bitte, seine Freilassung und Rückbeförderung nach Deutschland zu erwirken. Ich verbürgte mich persönlich für meinen Freund, daß ihm jede unbesonnene Handlung fern liege und daß er seine Freilassung auf keine Weise mißbrauchen würde. Enver Pascha versicherte mir, daß es ihm eine Freude sein würde, meinen Wunsch zu erfüllen, daß er aber zuvor beim Wali von Siwas anfragen müsse, was gegen Dr. Heiranian vorläge. Ich sagte, daß nichts anderes gegen ihn vorläge, als gegen alle armenischen Ärzte, die verhaftet worden seien, nämlich, daß er Armenier sei. Enver Pascha versicherte mir noch einmal, daß wenn die Antwort irgend es erlaubte, er für die Heimkehr meines Freundes sorgen würde.

Die Liebenswürdigkeit, mit der mich Enver Pascha verabschiedete, hatte wenigstens die eine Hoffnung in mir genährt, daß ich meinen Freund würde retten können. Nach Deutschland zurückgekehrt, erhielt ich durch Korvettenkapitän Humann die Antwort, daß der Bericht aus Siwas über Dr. Heiranian ungünstig ausgefallen wäre, und daß Enver Pascha bedaure, meinen Wunsch nicht zu erfüllen zu können. Dr. Heiranian ist, wie man annimmt, im Gefängnis ermordet worden. Man hat nichts mehr von ihm gehört.

Nach der Unterredung mit Enver Pascha mußte ich den Gedanken aufgeben, auf eine Änderung des Schicksals der Armenier irgend einen direkten Einfluß gewinnen zu können. Was im Bereich der Möglichkeiten lag, um ihr Los zu mildern, geschah durch die deutsche und amerikanische Botschaft. Andere Instanzen, auf die die Pforte hätte Rücksicht nehmen müssen, gab es nicht. Auch die Stimme des Papstes verhallte ungehört. Was mir zu tun übrig blieb, war, meine Informationen noch möglichst zu vervollständigen, um die öffentliche Meinung in Deutschland, wo die Presse nur die verlogenen türkischen Communiqués wiedergab, wenigstens in den Grenzen, die unter der Zensur möglich waren, aufzuklären. Nachdem ich alle mir zugänglichen Quellen in Konstantinopel erschöpft hatte, war kein Grund vorhanden, meinen Aufenthalt länger auszudehnen. Schon in den ersten Tagen des August war mir auf der Botschaft mitgeteilt worden, daß Herr Chatschadurian wegen des Verkehrs mit mir von der türkischen Polizei verhaftet worden sei. Das schien mir unglaubhaft, da ich bei meinem allerdings häufigen Zusammentreffen mit ihm immer die größte Vorsicht beobachtet hatte. Nach zwei Stunden konnte ich der Botschaft mitteilen, daß ich eben mit dem angeblich Verhafteten gesprochen hatte und daß er von niemand behelligt worden war.

Es waren keine angenehmen Wochen, die ich am Goldenen Horn verlebte. Die Stimmung unter der türkischen Bevölkerung war keineswegs deutschfreundlich. Der jungtürkische Chauvinismus machte keinen Hehl daraus, daß man eines Tages mit allen „Fremden“, zu denen man nicht in letzter Linie auch die Deutschen rechnete, reinen Tisch machen würde. Eine Polizeiverordnung hatte die Absicht schon zum symbolischen Ausdruck gebracht, als alle nichttürkischen Firmenbezeichnungen und Reklameschilder in ganz Konstantinopel, nicht nur in Stambul, sondern auch in den Europäervierteln von Galata und Pera verboten und entfernt wurden. Kein Ausländer konnte sich in der großen Geschäftsstraße, der Grande rue de Péra, mehr zurechtfinden, wenn er eine Firma oder einen Laden suchte. Europa hatte türkisch zu lernen, wenn es mit Türken verkehren sollte. Auch den deutschen Professoren, die man aus Courtoisie gegen den Bundesgenossen berufen hatte, wurde zugemutet, innerhalb eines Jahres türkisch zu lernen und dann ihre türkischen Hefte abzulesen oder ablesen zu lassen. Wenn die Deutschen in der Türkei verstanden werden wollten, konnte ja in den deutschen Schulen, so gut wie englisch und französisch, auch türkisch gelernt werden. Alle Geschäftskorrespondenz sollte nur noch türkisch geführt werden. Man ist im Irrtum, wenn man glaubt, daß die Lobhudeleien einiger deutscher Türkenfreunde in Konstantinopel Eindruck gemacht hätten. Da die Begeisterung für unsern Bundesgenossen in der Regel mit großer Unkenntnis türkischen Wesens und islamischer Kultur verbunden war, spotteten die Jungtürken über ihre Wortführer und sahen hinter ihren Freundschaftsbeteuerungen nur materielle Absichten, während die ansässigen Deutschen, die den Schaden zu tragen hatten, und die türkische Mißwirtschaft und Ausbeutung aus der Nähe sahen, ingrimmig darüber wetterten. Deutsche Kaufleute, die seit Jahren ansässig waren, versicherten mir, daß ihnen nichts anderes übrig bliebe, als nach dem Kriege den Staub von den Füßen zu schütteln und die Türkei zu verlassen. Die Aufhebung der Kapitulationen werde jeden Deutschen rechtlos machen. Schon jetzt sei das Betragen türkischer Polizei- und Steuerbeamter unerträglich. Dieselben Steuern würden mehrfach eingezogen, vorgezeigte Quittungen zerrissen und auf nochmaliger Zahlung bestanden. Das Backschischwesen unterscheide sich in der jungen Türkei nur dadurch von dem der alten, daß, was früher in Piastern, jetzt in Pfunden verlangt werde. Alle Versprechungen, die die Pforte Deutschland gemacht hätte, würden, sobald die Türkei unversehrt aus dem Kriege hervorgegangen sei, vergessen sein, und das jungtürkische Komitee, das in der Mehrzahl noch ebenso ententefreundlich sei, wie früher, werde die alte Taktik, alle europäischen Mächte gegen einander auszuspielen, wieder aufnehmen. Im übrigen sei der wirtschaftliche Zusammenbruch der Türkei nicht mehr aufzuhalten, da die Mitglieder des jungtürkischen Komitees nur von dem einen Gedanken beseelt seien, die Kriegszeit in der schamlosesten Weise zu ihrer eignen Bereicherung auszubeuten. Durch die Vernichtung der Armenier sei das Wirtschaftsleben von Anatolien vernichtet und den Griechen würde es zuletzt nicht besser gehen. Das war das Urteil aller Deutschen, die ich sprach. Die Ereignisse haben diesen trüben Prophezeiungen Recht gegeben. Die einzige Rettung, nicht nur der christlichen sondern auch der muhammedanischen Bevölkerung vor der Abenteurerpolitik des jungtürkischen Komitees war der Zusammenbruch der Türkei.

Als ich nach Sofia zurückkehrte, waren im Bureau der Daschnakzagan wieder viele böse Nachrichten eingegangen. Ich ließ mir die ganze Korrespondenz seit dem Beginn der Verfolgungszeit mündlich übersetzen und machte mir Aufzeichnungen, die ich in meinem „Bericht“ verwertet habe.

Als ich nach Deutschland zurückkehrte, überzeugte ich mich, daß man sich im Auswärtigen Amt über den Charakter und die Tragweite der Vernichtungsmaßregeln gegen die Armenier keinen Illusionen hingab. Mein Verlangen, daß Deutschland auf die türkische Regierung einen stärkeren Druck ausüben und die Zügel straffer anziehen müsse, wurde als unmöglich hingestellt, wenn wir das Bündnis nicht aufgeben wollten. Man habe es an Protesten und Vorstellungen nicht fehlen lassen, aber die jungtürkischen Machthaber seien für jede Mahnung und Warnung unzugänglich. Dem Unterstaatssekretär Zimmermann sagte ich: „Wenn Sie nicht den bestimmenden Einfluß auf die innere Politik der Türkei gewinnen, die in ihrem maßlosen Nationalismus für die Folge ihrer Handlungsweise völlig blind ist, die Araber und Juden ebenso vor den Kopf stößt, wie sie Armenier, Griechen und Syrer vernichtet, so wird am Ende des Krieges die ganze arabische Hälfte des Reiches in den Händen Englands sein.“ Er tröstete sich damit, daß nach dem Anschluß Bulgariens deutsche Truppen die Dardanellenarmee entlasten und türkische Heereskräfte für Mesopotamien frei werden würden. Von einem Feldzug gegen Ägypten sagte er nichts. Ich erwiderte, daß der wirtschaftliche Ruin der Türkei durch alle militärischen Erfolge nicht aufgehalten würde, und daß, wenn das Schicksal der Armenier an den Tag käme, die Pforte bei den Friedensverhandlungen moralisch unmöglich sein würde. Es müsse die stärkste Pression auf die Pforte ausgeübt werden, um den Verschickungen Einhalt zu gebieten und mindestens für die Erhaltung des Lebens der Deportierten zu sorgen. Der Unterstaatssekretär war bereit, alles zu tun, was in seinen Kräften stehe, und wollte die deutsche Hilfsarbeit auf jede Weise unterstützen, sah aber in der Hauptsache keinen Weg, um das Unheil aufzuhalten: „Was sollen wir tun? Unser Bündnis mit der Türkei steht auf den sechs Augen von Talaat, Enver und Halil. Wenn die drei nicht auf uns hören, bliebe uns nur, das Bündnis aufzulösen. Und das können wir nicht.“

Die Zusage der Unterstützung unserer Hilfsbestrebungen ist eingehalten worden. Als im Frühjahr 1917 die Verordnung erschien, daß alle Sammlungen zu wohltätigen Zwecken der Genehmigung des Ministers des Innern bedürfen und mein Gesuch für armenische Sammlungen abgelehnt wurde, hat mir das Auswärtige Amt die Genehmigung beim Minister erwirkt, die dann auch ohne weiteres von drei zu drei Monaten erneuert wurde. Leider mußte ich meine Sammeltätigkeit bis zur Gewährung der Genehmigung monatelang unterbrechen, ein Übelstand, der dadurch noch verschärft wurde, daß die Deutsche Orientmission meine Propaganda lahmzulegen versuchte und mich durch ihr Verhalten nötigte, aus meiner Mission auszutreten.

Meine zweite Aufgabe bei meiner Heimkehr war, wie zur Zeit der Abdul Hamid’schen Massakres im Jahre 1896, die evangelische Kirche Deutschlands zu einem Einspruch wider die armenische Christenverfolgung und zu einem Hilfswerk für die Deportierten aufzurufen. Ich setzte mich dazu mit Missionsdirektor Schreiber, dem Direktor der Deutschen Evangelischen Missionshilfe, in Verbindung, und wir luden die Vertreter der im Orient arbeitenden Missionsgesellschaften und führende Männer der Kirche zu einer Besprechung ein, die am 15. Oktober in Berlin stattfand. Ich teilte der Versammlung das Ergebnis meiner auf der Reise gesammelten Dokumente mit, und es wurde beschlossen, ein Schreiben an den Reichskanzler zu richten, das von 50 namhaften Vertretern evangelischer Kreise aus verschiedenen Teilen Deutschlands unterzeichnet wurde. Dr. von Bethweg Hollweg bestätigte am 12. November den Empfang und erwiderte:

„Die Kaiserliche Regierung wird, wie bisher, so auch in Zukunft es stets als eine ihrer vornehmsten Pflichten ansehen, Ihren Einfluß dahin geltend zu machen, daß christliche Völker nicht ihres Glaubens wegen verfolgt werden. Die deutschen Christen können darauf vertrauen, daß ich von diesem Grundsatz geleitet, alles, was in meiner Macht steht, tun werde, um den mir von Ihnen vorgetragenen Sorgen und Wünschen Rechnung zu tragen.“

Die Frage, ob die Vernichtung der Armenier als eine Christenverfolgung anzusehen sei, habe ich in der Einleitung zu meiner Aktensammlung[2] auf Grund der Urteile der deutschen Konsuln und Botschafter bejaht.

Auf meine Anregung wandte sich auch der Missionsausschuß des Zentralkomitees für die Generalversammlung der Katholiken Deutschlands mit einer Eingabe vom 29. Oktober an den Reichskanzler und erhielt eine entsprechende Antwort.

Inzwischen hatte ich noch einen kurzen Besuch in der Schweiz gemacht, um den Basler und Genfer Armenierfreunden das Ergebnis meiner Nachforschungen mitzuteilen und übergab ihnen einige der von mir mitgebrachten Dokumente. Für die Basler Nachrichten schrieb ich einen Artikel, der das Wesentliche über die Vorgänge in der Türkei zusammenfaßte, ohne ihn mit meinem Namen zu unterzeichnen. Ein deutscher Pressechef stellte fest, daß „dieser Artikel sich an einzelnen Stellen direkt wie eine Übersetzung aus einem französischen Urtext lese, im übrigen, wie jene berühmten bei Whisky und Water fabrizierten Leitartikel aus London zur Zeit des Boxeraufstandes die reinste Indianerbücherromantik sei“.

Des weiteren lag mir daran, die deutsche Öffentlichkeit vor einer weiteren Irreführung durch die türkischen Communiqués zu schützen. Dazu gab sich Gelegenheit. In der „Pressevereinigung“, die allwöchentlich im Reichstagsgebäude zusammenkam, der auch Vertreter des Auswärtigen- und Marineamtes beiwohnten, hielt ich Anfang Oktober einen Vortrag, in dem ich ein ungeschminktes Bild von den Tatsachen gab und vor den bösen Folgen einer verlogenen und beschönigenden Berichterstattung für den moralischen Ruf Deutschlands im feindlichen und neutralen Ausland warnte. Die Presse hielt seitdem mit ihren Urteilen zurück.

Längere Zeit erforderte die Ausarbeitung meines „Berichtes über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“, den ich hier in neuer Auflage herausgebe. Aus hunderten von Notizen, die ich mir gemacht hatte, mußte, soweit möglich, ein zusammenhängendes Bild der Tatsachen zusammengestellt und eine alle Teile zu Gehör bringende Ermittlung der Schuldfrage versucht werden. Die Einzelnachrichten über Vorgänge in denselben Wilajets mußten verglichen, nach dem Grade ihrer Zuverlässigkeit geprüft, zeitlich geordnet und ihr pragmatischer Zusammenhang untersucht werden. Auch neue Quellen flossen mir beständig aus deutschen und armenischen Kreisen zu. Als ich im vorigen Winter in die Lage kam, das Aktenmaterial der deutschen Konsular- und Botschafterberichte mit meinem damaligen Befund zu vergleichen, war ich angesichts der Zufälligkeit der Nachrichten, auf die ich vor drei Jahren angewiesen war, erstaunt, wie vollständig das Bild war, das ich damals schon geben konnte, und wie zuverlässig (auch ohne Kenntnis der deutschen amtlichen Berichterstattung) die Schuldfrage beantwortet werden konnte. Ich kann meinen Bericht von 1916 heute in unveränderter Gestalt herausgeben und brauche nur einige Kleinigkeiten nachzutragen. Meine „Aktensammlung“ bietet noch reicheres Material, und vor allem schließt sie zum ersten Mal die Quellen für die Haltung der deutschen Politik und die Diplomatie der Pforte auf. Auch beleuchtet sie die damals noch in der Zukunft liegenden Phasen, besonders die Vorgänge im Kaukasus. An meinem früheren Gesamturteil ist nichts dadurch geändert worden. Mein Bericht von 1916 und die deutschen Konsular- und Botschaftsberichte werden auch dem Ausland den Beweis erbringen, daß man in Deutschland nicht mit moralischer Blindheit gegenüber den Schandtaten unseres Bundesgenossen geschlagen war, wie uns jahrelang zum Vorwurf gemacht worden ist.

Unerwartete Schwierigkeiten bereitete zuletzt die Drucklegung meines Berichtes. Der Faktor der Druckerei, die zuerst den Druck übernommen hatte, weigerte sich, den etwa bis zur Hälfte gediehenen Satz weiter zu führen, da er wegen seines gefährlichen Inhaltes fürchtete, es mit der Polizei zu tun zu bekommen. Der Inhaber der Druckerei, der damals abkommandiert war, mußte der Hartnäckigkeit des Faktors, der im Falle des Weiterdrucks mit Abgang drohte, nachgeben, und bat mich, da er den Mann nicht entbehren konnte, den Druck in einer anderen Druckerei zu Ende führen zu lassen. Eine Druckerei in der Provinz übernahm den Auftrag, aber nach etlichen Wochen verweigerte jetzt der Inhaber der Druckerei den Druck, falls ich nicht zuvor den ganzen Satz der Zensur zur Genehmigung vorgelegt hätte. Da es damals noch keine Vorzensur gab, hatte ich gar keine Veranlassung, den Bock zum Gärtner zu machen. Bei verschiedenen Umfragen ergab sich aber, daß verschiedene Druckereien, die ich anging, sich mit einer so heiklen Sache nicht befassen wollten. Über dem Hin- und Herschicken von Satz und Manuskripten waren viele Wochen vergangen. Endlich fand sich die Druckerei des „Reichsboten“ bereit, den Druck zu übernehmen. Der Geschäftsführer stellte sich auf den Standpunkt, daß den Drucker der Inhalt meines Buches nichts anginge. Um eine Versendung in großem Maßstabe zu ermöglichen, sollte eine Auflage von 20 000 Exemplare hergestellt werden. Zur Beschleunigung des Druckes gewann ich noch die Firma Imberg & Lefson, Berlin-Neubabelsberg, die sich mit der Druckerei des Reichsboten in den Druck des fertigen Satzes teilte. Im Frühjahr war ich endlich soweit, an die Verbreitung des Berichtes zu denken. Das Kuratorium der Deutschen Orientmission hatte sich bereit erklärt, die Kosten der Versendung, M. 4000.–, zu übernehmen. Die Kosten für Satz, Druck und Papier hatte ich selbst durch Freunde der guten Sache aufgebracht. Der Zweck der Verbreitung des Berichtes war, meine Missionsgemeinde und die evangelischen Christen Deutschlands zu einem Hilfswerk, das der Größe der Not entsprach, aufzurufen und die dazu nötige Klärung des Urteils über die Tatsachen und die Schuldfrage herbeizuführen. Mein Wunsch war, meine Missionsgesellschaft zur Trägerin des Hilfswerkes zu machen. Inzwischen waren den Mitgliedern des Kuratoriums aus verschiedenen Gründen Bedenken gekommen, die Mitverantwortung für meine Publikation zu übernehmen. In der Junisitzung des Kuratoriums wurde die Bewilligung der Versandkosten zurückgezogen und mein Vorschlag, mir persönlich die Verantwortung sowohl für die Veröffentlichung des Berichtes als auch für das darauf zu gründende Hilfswerk zu überlassen, angenommen.

Der Bericht ist in 20 000 Exemplaren an unsere Missionsfreunde und an die evangelischen Pfarrämter versandt worden. Weitere 500 Exemplare wurden an offizielle Persönlichkeiten, an Mitglieder des Reichstags und des württembergischen Landtags und durch den Verlegerverein an Redaktionen der größeren deutschen Tageszeitungen versandt.

Erst nach Verbreitung des Berichts ließ die Zensur das Buch beschlagnahmen. Der türkische Botschafter beschwerte sich am 9. September beim Auswärtigen Amt, daß „eine der infamsten Broschüren über die armenische Frage“, voll von „lügenhaften Verleumdungen“ gegen die türkische Regierung in einem mit der Türkei alliierten Lande verbreitet und an alle protestantischen Pastoren versandt werden dürfe, und verlangte die Einstellung meiner Agitation zugunsten der Armenier. Ohne auf die Sache weiter einzugehen, teilte der Unterstaatssekretär unter dem 15. September dem türkischen Botschafter mit, daß nach Auskunft des Kriegspresseamtes die fragliche Schrift bereits unter dem 7. August beschlagnahmt worden sei, was mir bis dahin unbekannt war. Erst im September fragte man beim Verlag nach dem Verbleib der Auflage. So traf die Beschlagnahme nur einen winzigen Rest von Remittenden.

Erst kürzlich, am 19. April 1919, erfuhr ich durch Rückgabe von 191 Exemplaren, die auf dem Berliner Polizeipräsidium gelagert hatten, daß von den im August 1916 versandten „Berichten“ 191 für Mitglieder des Reichstags und der württembergischen Ersten und Zweiten Kammer aufgegebene Exemplare, ohne daß ich von der Post benachrichtigt worden war, durch die Zensur beschlagnahmt wurden. Nun erst nach 2¾ Jahren konnten sie den Adressaten zugehen. Alle übrigen Sendungen waren, teils in geschlossenen Kuverts, teils in Paketen an Vertrauensleute expediert worden und von der Beschlagnahme nicht betroffen worden. Daß ausgesucht Reichstags- und Landtagsabgeordnete durch die Militärzensur, unter Geheimhaltung der Nichtablieferung, einer so wichtigen Informationsquelle beraubt werden konnten, damit hatte ich nicht gerechnet.

Wenn ich jetzt meinen damaligen „Bericht“ aufs neue herausgebe, so bewegt mich dazu, nächst dem Wunsch die Wahrheit über die Vorgänge in der Türkei bekannt zu machen, derselbe Grund, der mich bei der ersten Versendung bestimmte: die unsagbare Not der überlebenden Reste des armenischen Volkes, das fast nur noch aus bettelarmen Waisen, Witwen, Greisen und Elenden besteht, lindern zu helfen. Mag auch mit der Zeit darauf zu rechnen sein, daß die neubegründete armenische Republik, die 7 Monate nach dem Waffenstillstand auch heute noch weder ihre Grenzen noch ihre Existenzbedingungen kennt, diese Unglücklichen wieder in ihrer Heimat lebensfähig machen und die zwangsweise Islamisierten wieder zum Christenglauben zurückführen kann, so handelt es sich doch um eine halbe Million ausgeplünderter, heimatloser, überallhin versprengter Frauen, Mädchen, Kinder, deren Familien auseinandergerissen, deren Männer und Väter erschlagen, deren Mütter verhungert sind und denen sobald als möglich geholfen werden muß, wenn wenigstens dieser Rest am Leben bleiben soll. So schlimm es in unserm eigenen Vaterlande aussieht, an diesen Völkermord, den die Jungtürken auf dem Gewissen haben, reicht selbst unser Elend nicht heran. Wohl ist es allgemeine Menschen- und Christenpflicht – und Amerika hat damit den Anfang gemacht – dem armenischen Volke zu seinem Aufbau die Hand zu reichen. Aber wir Deutsche, obwohl wir die Beschuldigung einer Mitverantwortung von uns weisen, wollen umsomehr die Ehrenpflicht auf uns nehmen, für die Opfer der Schandtaten unseres Bundesgenossen einzustehen. Wir wissen, was es heißt, nicht nur dem Schwert, sondern dem Hunger zu unterliegen, auf jeden zweiten Mann ein Weib, ein Kind ins frühe Grab zu legen. Das armenische Volk aber hat alles das, was wir erlitten und mehr als das, unter unsagbaren Qualen und scheußlicher Tortur leiden müssen, vier lange Jahre den Untergang des ganzen Volkes vor Augen. Mag auch die halbe Welt des Rechtes sich begeben haben, zu beten: „Vater, gib uns unser täglich Brot“, – denn das will sagen: „gib nicht nur mir, gib allen Menschen, jedem Volk, Mann, Weib und Kind ihr täglich Brot“ – so wollen doch wir Deutschen, die wir von andern Christenvölkern vier Jahre lang aus ihrem Vaterunser ausgeschlossen waren, das unglücklichste der Völker, das gleich uns den Schwarzen Reiter mit der Wage in der Hand über die Leichen von Frauen und Kindern reiten sah, in unser Vaterunser einschließen und unser schmal gewordenes Brot mit ihnen teilen.

Ich wünsche die Mittel für mehrere tausend Waisenkinder aufzubringen und bitte jeden, der dieses Buch in die Hand bekommt, an seinem Teil dazu mitzuhelfen. Konnten wir das Verhängnis nicht abwenden, der Wiedergutmachung dürfen wir uns nicht entziehen.


Potsdam, den 1. Mai 1919.
Roonstraße 13.


Dr. Johannes Lepsius.


Erster Teil.


Die Tatsachen.


Die Zahlen im Texte verweisen auf die Ergänzungen des Nachtrages.


Die Deportation.


Die Deportation der armenischen Bevölkerung vollzog sich auf drei verschiedenen Gebieten und in drei aufeinanderfolgenden Zeitabschnitten.1) Die drei Gebiete, in denen die Armenier dichter angesiedelt waren und einen bedeutenden Bruchteil der Bevölkerung (10 bis 40 v. H.) bildeten, sind:

I.
Cilicien und Nordsyrien.
II.
Ost-Anatolien.
III.
West-Anatolien.

Das Siedelungsgebiet in Cilicien umfaßt das Wilajet Adana und die höheren, im Taurus und Amanus gelegenen Bezirke des Wilajets Aleppo (Sandschak Marasch). In Nordsyrien und Mesopotamien sind es die Gebiete von Aleppo, Antiochia, Sueidije, Kessab, Alexandrette, Killis, Aintab und Urfa.

Die sieben ostanatolischen Wilajets sind:

1. Trapezunt, 2. Erzerum, 3. Siwas,
4. Kharput(Mamuret-ül-Asis), 5. Diarbekir,
6. Wan, 7. Bitlis

Vom westanatolischen Gebiet kommen in Betracht das Mutessariflik Ismid und die Wilajets Brussa (Khodawendikjar), Kastamuni, Angora und Konia.

Die Deportation der armenischen Bevölkerung von Cilicien beginnt Ende März und wird während der Monate April und Mai systematisch durchgeführt. Die Deportation aus den östlichen Wilajets (mit Ausnahme des Wilajets Wan) setzt Ende Mai ein und wird systematisch vom Ende Juni ab durchgeführt.

Die Deportation aus den westanatolischen Bezirken beginnt Anfang August und zieht sich in den September hinein.

In Nordsyrien und Mesopotamien beschränken sich die Maßregeln anfänglich auf Verhaftung einzelner Notabeln. Die Deportationen beginnen Ende Mai und setzen sich bis in den Oktober fort.


I. Cilicien.


Die Deportation der armenischen Bevölkerung von Cilicien (Wilajet Adana und Sandschak Marasch) begann mit Vorfällen, die sich in der Stadt Zeitun im Taurus abspielten.


1. Zeitun,


50 km nördlich von Marasch, liegt in einem Hochtal des Taurus. Die starke armenische Bevölkerung der Stadt hatte bis in die siebziger Jahre eine gewisse Unabhängigkeit und Selbstverwaltung, ähnlich wie noch heute die kurdischen Aschirets (Stämme) in Kurdistan. Zur Zeit der Massakers unter Abdul Hamid gelang es den Einwohnern von Zeitun, sich gegen die umwohnenden Türken zur Wehr zu setzen und sich gegen türkische Truppen, die herangezogen wurden, mehrere Wochen zu behaupten, bis die Konsuln der Mächte intervenierten und den Bewohnern von Zeitun eine Amnestie verschafften. Dieser Erfolg des Widerstandes der Zeituner Bevölkerung bewirkte, daß sie von dem allgemeinen Massaker von 1895/96 verschont blieben, richtete aber den dauernden Argwohn der Behörden gegen sie. Schon seit Ausbruch des europäischen Krieges scheint der Wunsch bei den Behörden bestanden zu haben, das Bergnest von Zeitun bei guter Gelegenheit auszuheben.

Bei der allgemeinen Mobilmachung im August 1914 wurden auch die wehrfähigen Armenier von Zeitun eingezogen, ohne daß sich irgend ein Widerstand dagegen erhob. Als aber im Oktober der Vorsteher der Gemeinde von Zeitun, Nazaret Tschausch,2) mit einem Geleitsbrief des türkischen Kaimakam (Landrat) nach Marasch kam, um dort amtliche Fragen zu ordnen, wurde er trotz freien Geleits ins Gefängnis geworfen, wo er gefoltert wurde und starb. Gleichwohl verhielten sich die Leute von Zeitun ruhig. Es schien aber, als ob die Behörden Anlaß zum Einschreiten suchten. Saptiehs (türkische Gendarmen), die in der Stadt den Sicherheitsdienst hatten, belästigten die Einwohner, drangen in die Häuser ein, plünderten Magazine, mißhandelten harmlose Leute und entehrten Frauen. Die Einwohner von Zeitun bekamen den Eindruck, daß man etwas gegen sie vorhabe, blieben aber ruhig. Im Dezember 1914 wurde die Auslieferung aller Waffen angeordnet, was ohne Zwischenfall erfolgte. Hätten in irgend einem späteren Zeitpunkt die Armenier von Zeitun noch an Widerstand gedacht, so wären sie nach der Entwaffnung dazu nicht mehr imstande gewesen. Es blieb denn auch den ganzen Winter über ruhig in Zeitun. Da geschah es im Frühjahr, daß türkische Gendarmen armenische Mädchen entehrten, wobei es zu einer Schlägerei kam, an der sich etwa 20 armenische Hitzköpfe beteiligten und auf beiden Seiten einige getötet wurden. Die beteiligten Armenier, unter denen sich einige Deserteure befanden, flohen, um der Bestrafung zu entgehen, in ein Kloster, das dreiviertel Stunden nördlich von der Stadt liegt, wo sie sich verbarrikadierten.

Zum Erstaunen und Schrecken der Bewohner von Zeitun kam bald darauf, es war Anfang März 1915, ein großes militärisches Aufgebot, – man sprach von vier bis sechs Tausend Soldaten – von Aleppo nach Zeitun. Das Aufgebot von Militär gegen Zeitun erregte in ganz Cilicien die größte Besorgnis.

Der armenische Katholikos von Sis schreibt unter dem 3./16. März an das Patriarchat: „Die Regierung hat Maßregeln gegen Flüchtlinge aus Zeitun getroffen. Da diese Maßregeln mit einer außergewöhnlich umfangreichen militärischen Aktion verbunden sind, die in keinem Verhältnis zu dem geringfügigen Anlaß steht, fürchten wir, daß es sich um einen Schlag gegen die loyale Bevölkerung von Zeitun handelt. Wir sind sicher, daß uns ein großes Unglück erwartet. Der aus Offizieren zusammengesetzte Kriegsgerichtshof ist vor zwei Tagen über Marasch nach Zeitun abgereist. Wir kennen die näheren Umstände nicht. Aber wir sehen deutlich, daß der Kaimakam mit dem Kommandanten von Zeitun aus Anlaß einiger Desertationen unerhörte Repressalien gegen die Einwohner von Zeitun vorbereitet. Die Einwohner von Zeitun haben sich an mich gewendet und sagen, daß die benachbarten türkischen Dörfer von der Lage Nutzen ziehen und mit Herausforderungen und Lügen auf den Kommandanten, den Kaimakam und das Militär einzuwirken suchen. Da wir diese Leute und den Mutessarif von Marasch kennen, haben wir gebeten, Seine Exzellenz Djelal Bey, den Wali von Aleppo, mit der Prüfung der Vorkommnisse zu beauftragen. Er kennt alle Verhältnisse, und wir vertrauen ihm unbedingt. Wird er mit der Untersuchung beauftragt, so sind wir sicher, daß er nach Gerechtigkeit verfahren wird.“

Der Wali Djelal Bey wurde nicht mit der Untersuchung beauftragt, sondern abberufen, weil er sich den Anordnungen der Zentralregierung in bezug auf die Behandlung der Armenier nicht fügte.

Zeitun wurde zerniert. Beim Anblick der zahlreichen Truppen wurden in der Stadt weiße Fahnen aufgezogen, zum Zeichen, daß man an keinen Widerstand denke. Die Flüchtlinge im Kloster verteidigten sich einen ganzen Tag und töteten, da sie in guter Deckung waren und gut schossen, eine größere Anzahl von Soldaten, während sie selbst nur einen Verwundeten hatten.3) Die Leute von Zeitun baten ausdrücklich den Kommandanten, die Flüchtlinge nicht entschlüpfen zu lassen, damit sie nicht für deren Missetaten haftbar gemacht würden. Gleichwohl gelang es den Flüchtlingen, da die Bewachung in der Nacht eine ungenügende war, zu entkommen. Am nächsten Morgen gegen 9 Uhr, ehe noch ihr Entkommen in der Stadt bekannt war, ließ der Kommandant 300 Notable der Stadt zu einer Besprechung in das Lager rufen. Da man bis dahin in gutem Einvernehmen mit den Behörden gelebt hatte, erschienen die Zusammengerufenen, ohne einen Verdacht zu hegen. Die meisten kamen in ihrem gewöhnlichen Arbeitsanzug, nur einige hatten etwas Geld bei sich und hatten sich besser gekleidet. Zum Teil kamen sie von ihren Herden in den Bergen herein. Als sie in das türkische Lager kamen, waren sie nicht wenig erstaunt, als sie hörten, daß sie nicht in die Stadt zurückkehren dürften und ohne weiteres verschickt werden würden. Sie durften sich nicht einmal mit dem Notwendigen für die Reise versehen. Einigen wurde noch gestattet, sich Wagen kommen zu lassen, die meisten gingen zu Fuß. Wohin, wußten sie nicht.

Darauf erfolgte stoßweise die Deportation der gesamten armenischen Bevölkerung von Zeitun, etwa 20 000 Seelen.4) Die Stadt hat vier Quartiere. Eins nach dem anderen wurde abgeführt, die Frauen und Kinder meist getrennt von den Männern. Nur 6 Armenier mußten zurückbleiben, von jedem Handwerk einer.

Die Deportation dauerte Wochen. In der zweiten Hälfte des Mai war Zeitun vollständig ausgeleert. Von den Einwohnern von Zeitun wurden 6 bis 8 Tausend in die Sumpfdistrikte von Karabunar und Suleimanie zwischen Konia und Eregli, im Wilajet Konia, 15 bis 16 Tausend nach Deir-es-Sor am Euphrat in die mesopotamische Steppe verschickt. Endlose Karawanen zogen durch Marasch, Adana und Aleppo. Die Ernährung war eine ungenügende. Für ihre Ansiedlung oder auch nur Unterbringung am Ziel ihrer Verschickung geschah nichts.

Ein Augenzeuge, der in Marasch die Deportierten durchkommen sah, beschreibt in einem Brief vom 10. Mai einen solchen Zug:

„Ich sah sie auf dem Wege. Ein endloser Zug, begleitet von Gendarmen, die sie mit Stöcken vorwärts trieben. Halb bekleidet, entkräftet, schleppten sie sich mehr als daß sie gingen. Alte Frauen brachen zusammen und rafften sich wieder auf, wenn der Saptieh mit erhobenem Stock sich nahte. Andere wurden vorwärts gestoßen wie die Esel. Ich sah, wie eine junge Frau hinsank; der Saptieh gab ihr zwei, drei Schläge, und sie stand mühsam wieder auf. Vor ihr ging ihr Mann mit einem zwei- oder dreijährigen Kind auf dem Arm. Ein wenig weiter stolperte eine Alte und fiel in den Schmutz. Der Gendarm stieß sie zwei- oder dreimal mit seinem Knüttel. Sie rührte sich nicht. Dann gab er ihr zwei oder drei Fußtritte, aber sie blieb unbeweglich liegen. Zuletzt gab ihr der Türke noch einen kräftigeren Fußtritt, so daß sie in den Straßengraben rollte. Ich hoffe, sie war tot. Die Leute, die hier in der Stadt ankamen, haben seit zwei Tagen nichts gegessen. Die Türken erlaubten ihnen nicht, irgend etwas außer etwa einer Decke, einem Maultier, einer Ziege mitzunehmen. Alles, was sie noch hatten, verkauften sie für so gut wie nichts, eine Ziege für 6 Piaster (90 Pfg.), ein Maultier für ein halbes Pfund, um sich Brot dafür zu kaufen. Die noch Geld hatten und Brot kaufen konnten, teilten es mit den Armen, bis ihr Geld zu Ende war. Das meiste war ihnen schon unterwegs gestohlen worden. Einer jungen Frau, die erst vor acht Tagen Mutter geworden war, hat man schon in der ersten Nacht der Reise ihren Esel genommen. Man zwang die Deportierten, alle ihre Habe in Zeitun zu lassen, damit die Muhadjirs (Einwanderer), muhammedanische Bosniaken, die man an ihrer Stelle ansiedeln will, sich gleich damit versehen können. Es müssen jetzt etwa 20 000 bis 25 000 Türken in
Zeitun sein. Der Name der Stadt wurde in Sultanieh verändert. Die Stadt und die Dörfer um Zeitun sind vollständig ausgeleert. Von den ungefähr 25 000 Verschickten wurden 15 bis 16 000 nach Aleppo dirigiert, aber sie sollen von dort weiter gehen in die arabische Wüste. Will man sie dort Hungers sterben lassen? Die hier Durchgekommenen gehen ins Wilajet Konia. Auch da gibt es Wüsten. Zwei, drei Wochen blieben sie am Endpunkt der anatolischen Bahn bei Bosanki liegen, weil die Bahn durch Truppentransporte in Anspruch genommen war. Als die Verschickten in Konia ankamen, hatten sie seit drei Tagen nichts gegessen. Die Griechen und Armenier der Stadt taten sich zusammen, um sie mit Geld und Lebensmitteln zu unterstützen, aber der Wali von Konia weigerte sich, den Verschickten etwas zukommen zu lassen: „sie hätten alles, was sie brauchten“. So blieben sie noch weitere drei Tage ohne Nahrung. Dann erst hob der Wali sein Verbot auf, und unter der Überwachung von Saptiehs durften Nahrungsmittel an sie verteilt werden. Mein Berichterstatter erzählte mir, daß auf dem Wege von Konia nach Karabunar eine junge Armenierin ihr neugeborenes Kind, das sie nicht mehr nähren konnte, in einen Brunnen warf. Eine andere hätte ihr Kind durch das Fenster aus dem Zuge geworfen.“

Am 21. Mai schreibt derselbe Augenzeuge:

„Der dritte und letzte Zug von Leuten aus Zeitun ist durch unsre Stadt gekommen, am 13. Mai gegen 7 Uhr, und ich konnte einige von ihnen in dem Chan, wo sie untergebracht waren, sprechen. Sie waren alle zu Fuß und hatten zwei Tage lang, an denen es heftig regnete, nichts gegessen. Ich sah eine arme Kleine, die länger als eine Woche barfuß marschiert und nur mit einer zerfetzten Schürze bekleidet war. Sie zitterte vor Kälte und Hunger, und die Knochen standen ihr buchstäblich aus dem Leibe. Ein Dutzend Kinder mußten auf dem Wege liegen bleiben, da sie nicht weitermarschieren konnten. Ob sie vor Hunger gestorben sind? Wahrscheinlich. Aber man wird niemals etwas davon erfahren. Ich sah auch zwei arme Greisinnen aus Zeitun. Sie gehörten zu einer reichen Familie, aber sie durften außer den Kleidern, die sie am Leibe trugen, nichts mit sich nehmen. Es gelang ihnen noch 5 oder 6 Goldstücke in ihrer Perrücke zu verbergen. Unglücklicherweise spiegelte sich auf dem Marsch die Sonne in dem Metall, und der Glanz zog die Blicke eines Saptiehs an. Er verlor keine Zeit damit, die Goldstücke herauszuholen, und machte kurzen Prozeß, indem er ihnen die Perrücken abriß.

Noch einen anderen charakteristischen Fall sah ich mit meinen Augen. Ein ehemals reicher Bürger von Zeitun führte als Trümmer seiner Habe zwei Ziegen mit sich. Kommt ein Gendarm und greift in die beiden Zügel. Der Armenier bittet ihn, er möge sie ihm lassen, und fügt hinzu, er habe so schon nichts mehr, wovon er leben könne. Statt jeder Antwort schlägt ihn der Türke krumm und lahm, bis er sich im Staube wälzt und der Staub sich in blutigen Schlamm verwandelt. Dann gab er dem Armenier noch einen Fußtritt und zog mit den beiden Ziegen ab. Zwei andere Türken betrachteten sich dies Schauspiel ohne mit der Wimper zu zucken. Keiner von ihnen kam auf den Gedanken, sich einzumischen.“

Über das Schicksal der Verbannten in Karabunar wird unter dem 14. Mai geschrieben:

„Ein Brief, den ich aus Karabunar erhielt, und dessen Wahrheit nicht anzuzweifeln ist, da der Verfasser mir bekannt ist, versichert, daß von den Armeniern, die in der Zahl von 6 bis 8 Tausend von Zeitun nach Karabunar verschickt worden sind, einem der ungesundesten Orte des Wilajets, dort täglich 150 bis 200 Hungers sterben. Die Malaria richtet Verheerungen unter ihnen an, da es vollkommen an Nahrung und Unterkunft fehlt. Welche grausame Ironie, daß die Regierung vorgibt, sie zu verschicken, damit sie dort eine Kolonie gründen; sie besitzen weder Pflug noch Saat, weder Brot noch Unterkunft, denn sie sind mit völlig leeren Händen verschickt worden.“


2. Dört-Jol.5)


Als der Abtransport von Zeitun bereits im Gange war, begann man gegen Dört-Jol (Tschok Merzimen), in der Issus-Ebene am Golf von Alexandrette, vorzugehen. Nachdem fünf Armenier von Dört-Jol öffentlich in Adana gehängt waren, wurde die männliche Bevölkerung des volkreichen Ortes abgeführt, um an den Straßen zu arbeiten. Man hörte bald, daß vielfältig die wehrlosen Arbeiter von ihren bewaffneten muhammedanischen Kameraden erschlagen wurden. Als sich darauf die Männer von Dört-Jol weigerten, mit Muhammedanern zusammenzuarbeiten, sandte die Regierung Militär und schickte sie alle in die Gegend von Hadjin, um dort auf den Straßen zu arbeiten. Nur ein Armenier leistete Widerstand und tötete einen Gendarmen; darauf töteten die Gendarmen 6 Armenier. Von den zum Straßenbau verschickten Männern von Dört-Jol hat man nichts mehr gehört. Man fürchtet, daß sie sämtlich erschlagen wurden. Nachdem die Männer fort waren, wurden die Frauen und Kinder nach Deir-es-Sor deportiert und das Dorf völlig ausgeleert. Dört-Jol war außer Zeitun die einzige Ortschaft, die zur Zeit der Abdul Hamidischen Massakres sich mit Erfolg verteidigt hat. Dem hat sie wohl ihr jetziges Schicksal zu danken.


3. Die Taurus- und Amanus-Dörfer.


Nach der Ausleerung von Dört-Jol wurden im Laufe der Monate April, Mai, Juni und Juli nach und nach alle armenischen Distrikte des Wilajets Adana und des Sandschaks Marasch ausgeleert. Vom Wilajet Adana sind besonders zu nennen: im Sandschak Kozan die Städte Sis, Hadjin, Karsbasar, die Ortschaften Schehr und Rumlu; im Sandschak Djebel-Bereket die Ortschaften Osmanijeh, Hassanbeyli, Dengala, Harni, Drtadli, Tarpus, Ojakli, Enserli, Lapadschli. Im Sandschak Marasch außer Zeitun die Städte Albistan, Geben, Göksun, Furnus und die Ortschaften Taschuluk, Djiwikli, Tundatschak und sämtliche Alabaschdörfer. Bis Ende Juni betrug die Zahl der Deportierten aus diesem Gebiet schon 50 000.

Zum Zwecke der Einschüchterung wurden in Adana, Aleppo, Marasch gegen dreißig Armenier öffentlich gehängt. Unter den Gehängten befanden sich auch zwei Priester.

Die Dörfer erhielten in der Regel am Abend den Befehl, daß sie am nächsten Morgen abzumarschieren hätten. In Geben mußten die Einwohner am Waschtage aufbrechen, waren gezwungen, ihre nassen Kleider im Wasser zu lassen und barfuß und halbbekleidet, wie sie gingen und standen, sich auf den Weg zu machen. Die Männer standen meist im Felde. Wer zum Islam übertrat, durfte bleiben. Leute aus Alabasch erzählten, ihr Ort sei von Soldaten umzingelt und mit Platzpatronen beschossen worden. Die Leute von Schehr berichteten, daß, als sie kaum das Dorf verlassen hätten, der Mollah vom Dach der christlichen Kirche die „Gläubigen“ zum Gebet rief. Die Kirche wurde in eine Moschee verwandelt. Die Regierung sagte den Leuten, wenn sie ihr Hab und Gut zurücklassen mußten, der Wert würde abgeschätzt und ihnen später ausgezahlt werden. Eine Inventarisierung ist aber bei der Plötzlichkeit des Aufbruchs selbstverständlich nicht vorgenommen worden, noch dachte die Regierung daran. Die Habe der Armenier ging an die ortsansässigen Muhammedaner, die Häuser und Äcker an neuangesiedelte „Muhadjirs“ (Einwandrer) über.

„Die Türken sind in einem vollkommenen Delirium“, schreibt ein Berichterstatter. „Es ist unmöglich, die Schrecken zu beschreiben, die die Deportierten zu erdulden haben. Schändung, Raub von Frauen und Mädchen und gewaltsame Bekehrungen sind an der Tagesordnung. Eine große Anzahl von Familien sind zum Islam übergetreten, um dem sicheren Tode zu entgehen.“

Während von den cilicischen Städten und Dörfern keine verschont wurden, sind aus Adana nur 196 Familien deportiert worden, die merkwürdigerweise – man nimmt an auf Veranlassung des Oberkommandierenden in Syrien, Djemal Pascha, der früher Wali von Adana war – zum größten Teil wieder zurückgebracht wurden. Die Verschickung von Tarsus und Mersina verzögerte sich ebenfalls. Mersina wurde am 7. August deportiert. Nach neueren Nachrichten ist zuguterletzt auch die armenische Bevölkerung von Adana, ca. 18 000 Seelen, deportiert worden.

Die Transporte gingen nach Deir-Es-Sor und Konia, nach Rakka am Euphrat, sodann der Bagdadbahn entlang über Urfa und Weranscheher in die mesopotamische Wüste bis in die Nachbarschaft von Bagdad.

Ein anderer Bericht gibt aus dem Text des Regierungsbefehles den folgenden Passus wieder:

„Art. 2. Die Kommandeure der Armee von unabhängigen Armeekorps und von Divisionen dürfen im Fall militärischer Notwendigkeit und für den Fall, daß sie Spionage und Verrat vermuten (!), einzeln oder in Massen die Einwohner von Dörfern oder Städten fortschicken und sie an anderen Orten ansiedeln.“

Der Bericht fährt fort:

„Die Befehle der Kommandeure der Armee mögen noch leidlich human gewesen sein. Die Ausführung ist zum größten Teil sinnlos hart gewesen und in vielen Fällen von grauenhafter Brutalität gegen Frauen und Kinder, Kranke und Alte. Ganzen Dörfern wird die Deportation nur eine Stunde vorher angesagt. Keine Möglichkeit, die Reise vorzubereiten. In einigen Fällen nicht einmal Zeit, die zerstreuten Familienglieder zu sammeln, so daß kleine Kinder zurückblieben. In einigen Fällen konnten sie einen Teil ihrer dürftigen Haushaltungseinrichtung oder landwirtschaftliche Geräte mitnehmen, aber meistenteils durften sie weder etwas mitnehmen noch etwas verkaufen, selbst wenn Zeit dazu war.

In Hadjin mußten wohlhabende Leute, die Nahrung und Bettzeug für den Weg zurechtgemacht hatten, es auf der Straße liegen lassen und hatten nachher bitter unter dem Hunger zu leiden.

In vielen Fällen wurden die Männer – die in militärpflichtigem Alter waren fast alle in der Armee – mit Seilen und Ketten fest aneinander gebunden. Frauen mit kleinen Kindern auf dem Arm oder in den letzten Tagen der Schwangerschaft wurden wie Vieh mit der Peitsche vorwärts getrieben. Drei verschiedene Fälle sind mir bekannt geworden, wo die Frau auf der Landstraße niederkam und an Verblutung starb, weil ihr brutaler Führer sie weiterhetzte. Ich weiß auch von einem Fall, wo der wachhabende Gendarm human war, der armen Frau ein paar Stunden Ruhe gönnte, und dann einen Wagen für sie besorgte, daß sie fahren konnte. Einige Frauen wurden so vollständig erschöpft und hoffnungslos, daß sie ihre kleinen Kinder an der Straße liegen ließen. Viele Frauen und Mädchen sind vergewaltigt worden. In einem Ort hat der Gendarmerieoffizier den Männern, denen er eine ganze Schar Frauen zuwies, gesagt, es stände ihnen frei, mit den Frauen und Mädchen zu machen, was sie wollten.

Was den Lebensunterhalt betrifft, so war der Unterschied an den verschiedenen Orten groß. In einigen hat die Regierung sie verköstigt, in anderen den Einwohnern erlaubt, es zu tun. In manchen hat sie ihnen weder selbst etwas zu essen gegeben noch andern erlaubt, es zu tun. Viel Hunger, Durst und Krankheit gab es und auch wirklichen Hungertod.

Die Leute werden hier in kleine Gruppen verteilt, 3 oder 4 Familien an einem Ort unter einer Bevölkerung anderer Rasse und anderer Religion, die eine andere Sprache spricht. Ich spreche von ihnen als Familien, aber vier Fünftel sind Frauen und Kinder, und was an Männern da ist, ist zum größten Teil alt und krank.

Wenn keine Mittel gefunden werden, ihnen durch die nächsten paar Monate durchzuhelfen, bis sie in ihrer neuen Umgebung eingerichtet sind, werden zwei Drittel oder drei Viertel von ihnen an Hunger und Krankheit sterben.“

Die Zahl der aus Cilicien deportierten Armenier beträgt mehr als 100 000.


4. Wilajet Aleppo.


Im Wilajet Aleppo wurden bis zum Mai Massakers und weitere Deportationen durch den Wal Djelal Bey, der das allgemeine Vertrauen bei Christen und Muhammedanern genoß, verhindert. Ihm ist es zu danken, daß, solange er im Amte war, aus den Städten seines Wilajets keine größeren Verschickungen stattfanden.

Im Verein mit dem Wali hat der deutsche Konsul in Aleppo Herr Rößler sein Äußerstes getan, um das Vorgehen gegen die Armenier aufzuhalten und Maßregeln zur Linderung der Not zu treffen. Von armenischer Seite wird ihm bezeugt (im Gegensatz zu völlig unbegründeten Beschuldigungen der englischen Presse), daß er ein geplantes Massaker durch seinen Besuch in Marasch verhindert und sich in jeder Beziehung den Dank der Gefährdeten und Notleidenden verdient habe.

Der Wali von Aleppo, Djelal Bey, der sich den Anordnungen der Zentralregierung, die die Deportation aller Armenier des Wilajets verlangte, nicht gefügt hatte, wurde nach Konia versetzt. An seine Stelle kam der frühere Wali von Wan, Bekir Sami Bey.

Dieser führte dann die Maßregel der Deportation auch für die noch verschonten Städte und Ortschaften des Wilajets durch.

Die armenische Bevölkerung von Marasch wurde Ende Mai, die von Aintab Ende Juli deportiert. In Urfa scheint ein Teil der Armenier sich der Deportation widersetzt zu haben. Zwischen dem 29. September und 16. Oktober kam es zu militärischem Einschreiten. Nähere Nachrichten liegen noch nicht vor.6)

Über Marasch wird geschrieben:

„Am Donnerstag den 24. Mai wurde den Armeniern mitgeteilt, sich bereit zu halten, am Sonnabend den 26. Mai aufzubrechen. Die Armenier wagen nicht, ihre Häuser zu verlassen. Über 2000 Armenier sind verschickt worden, unter ihnen der Leiter des amerikanischen Kolleges.“ In Aintab wurden Ende Mai dreißig Häuser ohne Erfolg durchsucht, 28 Notabeln verhaftet und wieder freigelassen bis auf ein Mitglied der Daschnakzagan.

Dies war aber nur das Vorspiel.

Dr. Shepherd, der im ganzen Lande bekannte hervorragende amerikanische Chirurg, Chef der ärztlichen Missionsinstitute in Aintab, der seit Jahrzehnten in der Türkei lebt und bei Muhammedanern und Christen gleich angesehen ist, hat über das Schicksal von Aintab die folgenden Nachrichten gegeben, die einem Auszuge seines Berichts entnommen sind.

„In Aintab wurde am 21. Juli der Deportationsbefehl für 60 Familien gegeben. Einige Tage danach kam ein zweiter Befehl für weitere 70 Familien. In der Folge wurden noch 1500 und darauf noch 1000 Personen verschickt, so daß die armenische Bevölkerung
von Aintab vollständig ausgeräumt ist. Alle Bemühungen, die amerikanischen Institute (ihre armenischen Lehrerfamilien und Angestellten, Schüler und Schülerinnen) von dieser Maßregel auszunehmen, sind ohne Erfolg geblieben. Den Deportierten wurde verboten, auch nur die allernötigsten Sachen, außer einem Lasttier, mitzunehmen.

Schwache Versuche eines Widerstandes haben nur bei Marasch stattgefunden infolge der Tötung eines Gendarmen, der nach Fendenjak (einem armenischen Dorf im Amanusgebirge) gesandt wurde, um dort die Austreibung vorzunehmen. Die Regierung schickte sofort 3 Abteilungen Soldaten, die das Dorf in Asche legten.

In Cilicien vollzog sich die Deportation verhältnismäßig noch unter den günstigsten Bedingungen. Zwar steht fest, daß alle Verbannten von Briganten geplündert worden sind, aber der Raub und die Mordtaten nahmen nicht einen so großen Maßstab an wie in den hocharmenischen Provinzen.

Der größte Teil der aus Cilicien Verschickten befindet sich in Deir-es-Sor, wo bereits 15 000 Armenier angekommen sind. Die ausgedehnten und von der Trockenheit verbrannten Wüsten von Deir-es-Sor bis Djerabulus und Ras-ul-Ajin und bis nach Mosul sind mit deportierten Armeniern angefüllt. Einige Überbleibsel sind in türkische und arabische Dörfer zerstreut worden.“

Die Deportierten von Aintab und Killis wurden über Damaskus nach dem Hauran transportiert.

Wir schließen das Kapitel der cilicischen und nordsyrischen Deportationen mit den Berichten von Mr. Jackson, dem amerikanischen Konsul von Aleppo. Der Bericht sagt nichts, was nicht auch durch deutsche Quellen feststeht.

Der amerikanische Konsularbericht.
Aleppo, den 3. August.

„Die Methode der direkten Angriffe und Massakers, die in früheren Zeiten üblich war, ist heute etwas abgeändert worden, insofern man die Männer und Knaben in großer Zahl aus ihrer Heimat deportiert und unterwegs verschwinden läßt, um später die Frauen und Kinder folgen zu lassen. Eine Zeitlang wurden von Reisenden, die aus dem Innern kamen, vorwiegend dahinlautende Berichte gegeben, daß die Männer getötet worden seien, daß eine große Anzahl Leichen längs der Reiseroute liege und im Euphratwasser schwimme, daß die jüngeren Frauen und Mädchen und die Kinder von den begleitenden Gendarmen den Kurden ausgeliefert würden, und daß von denselben Gendarmen und den Kurden unsagbare Verbrechen verübt worden seien. Anfangs schenkte man diesen Berichten wenig Glauben, aber da jetzt viele der Flüchtlinge in Aleppo ankommen, herrscht über die Wahrheit der berichteten Dinge nicht länger Zweifel. Am 2. August kamen etwa 800 Frauen in mittleren Jahren sowie alte Frauen und Kinder unter 10 Jahren zu Fuß von Diarbekir an, in denkbar jammervollstem Zustand, nachdem sie 45 Tage unterwegs gewesen waren. Sie erzählen, daß alle jungen Mädchen und Frauen von den Kurden entführt wurden, daß selbst der letzte Heller Geld und was sie sonst noch mit hatten, geraubt worden ist, erzählen von Hunger, Entbehrung und Elend jeder Art. Ihr jammervoller Zustand bürgt vollkommen für ihre Aussagen.

Ich habe erfahren, daß 4500 Personen von Sogert[3] nach Ras-ul-Ajin geschickt worden sind, über 2000 von Mesereh nach Diarbekir, und daß weit und breit alle Städte, Bitlis, Mardin, Mosul, Sewerek, Malatia, Besne usw. von Armeniern evakuiert worden sind, daß die Männer und Knaben und viele der Frauen getötet und der Rest über das Land zerstreut worden ist. Wenn dies wahr ist, woran man kaum zweifeln kann, müssen die letzteren natürlich auch vor Hunger, Krankheit und Übermüdung zugrunde gehen. Der Gouverneur von Deir-es-Sor am Euphrat, der jetzt in Aleppo ist, sagt, daß gegenwärtig 15 000 armenische Flüchtlinge in Deir-es-Sor seien. Kinder werden häufig verkauft, um sie vor dem Hungertode zu schützen, da die Regierung tatsächlich keinen Unterhalt gewährt.

Die folgende Statistik zeigt die Zahl der Familien und Personen, die in Aleppo ankamen, die Ortschaften, von denen aus sie deportiert wurden, und die Zahl derer, die weiter geschickt wurden[4] bis zum 30. Juli einschließlich:

Deportationsort: Familien: Personen: Weiter-
verschickte:
Tschok–Merzimen (Dört–Jol) 200 2 109 734
Ojakli 115 537 137
Enserli 116 593 173
Hassanbeyli 187 1 118 514
Harni 84 528 34
Karsbasar 351 340
Hadjin 592 3 988 1 025
Rumlu 51 388 296
Schehr 150 1 112 357
Sis 231 1 317
Baghtsche 13 68
Dengala 126 804
Drtadli 12 104
Zeitun 5 8
Tarpus 22 97
Albistan 10 44
Total 2 265 13 155 3 270

2100 weitere Personen waren schon angekommen, bevor die obigen Zahlen zusammengestellt waren.“

Im Ganzen waren also bis zum 30. Juli allein durch Aleppo 15 255 Deportierte durchgekommen.

Aleppo, den 15. August.
„Es sollen jetzt alle Armenier von Aintab, Antiochia, Alexandrette, Kessab und all’ den kleineren Städten in der Provinz Aleppo – schätzungsweise 60 000 Personen – deportiert worden sein. Es ist natürlich anzunehmen, daß sie ein gleich hartes und betrübendes Schicksal erdulden werden, wie diejenigen, die vorangegangen sind.…[5]

Die wichtigen amerikanischen Missionsinstitute in dieser Gegend verlieren ihre Professoren, Lehrer, Gehilfen und Studenten, und selbst aus den Waisenhäusern werden Hunderte von Kindern entfernt und damit die Früchte einer unermüdlichen Anstrengung von 50 Jahren auf diesem Gebiet vernichtet. Die Regierungsbeamten fragen in scherzendem Ton, was die Amerikaner nun mit diesen Instituten anfangen wollen, jetzt, wo man den Armeniern den Garaus mache!

Die Situation wird von Tag zu Tag kritischer, da das Ende nicht abzusehen ist.“


II. Die ostanatolischen Wilajets.


Die Deportation der armenischen Bevölkerung aus den ostanatolischen Provinzen betraf die Wilajets Trapezunt, Erzerum, Siwas, Kharput, Bitlis, Diarbekir. Das Wilajet Wan, dessen Geschick durch die russischen Kriegsoperationen in Mitleidenschaft gezogen wurde, ist das einzige armenische Gebiet, dessen Bevölkerung nicht deportiert wurde. Doch auch diese mußte den heimischen Herd verlassen, als sie beim Rückzug der russischen Truppen gezwungen wurde, in den Kaukasus zu flüchten. Von den Ereignissen im Wilajet Wan wird besonders zu reden sein. Da die Vorgänge im Wilajet Bitlis durch die Vorgänge in Wan mitbestimmt wurden, werden wir das Wilajet Bitlis zuletzt behandeln.

Die Deportation der armenischen Bevölkerung aus den ostanatolischen Wilajets verläuft in zwei Etappen.

Drei Tage vor der Verhaftung der armenischen Intellektuellen von Konstantinopel, die am 24./25. April stattfand, wurde in einer großen Zahl von Städten des Innern mit der Verhaftung der armenischen Notabeln begonnen. Diese Verhaftungen wurden in den vier Wochen vom 21. April bis zum 19. Mai systematisch durchgeführt So wurden schon am 21. April in Ismid 100, Bardesak (Baghtschedjik) 80, Brussa 40, Panderma 40, Valikesri (Karasi) 30, Adabasar 80 Notable verhaftet und abtransportiert. Es folgten Ende April und Anfang Mai Marsowan mit 20, Diarbekir mit ebenfalls 20 Notabeln. In den ersten Wochen des Mai wurden in Erzerum 600, in Siwas 500, in Keri 50, in Schabin-Karahissar 50, in Chinis 25 Notable verhaftet und deportiert. In der zweiten Hälfte des Mai kam an die Reihe Diarbekir mit erst 500, dann 300 Notablen, Kaisarije mit 200. Dasselbe geschah in Baiburt und Josgad. Ebenso wurden einzelne Notable von Marasch und Urfa verhaftet. Von 28 Notabeln, die man in Aintab verhaftete, wurden alle, bis auf einen, wieder frei gegeben. Da die genannten Städte, von denen Nachrichten vorliegen, sich über alle armenischen Gebiete verteilen, ist anzunehmen, daß es sich um eine generelle Maßregel handelte, die den Zweck hatte, das armenische Volk seiner Häupter und Wortführer zu berauben, damit die Deportation sich lautlos und ohne Widerspruch vollziehen könne. Auch sollte verhindert werden, daß Nachrichten aus dem Innern zu früh an die Öffentlichkeit und nach Europa gelangten. Seit Anfang Juni wurden auch alle armenischen Beamten aus dem Staatsdienste entlassen, und die armenischen Ärzte, welche seit Anfang des Krieges pflichttreu in den türkischen Militärlazaretten gearbeitet hatten, wurden ins Gefängnis geworfen.

Alle diese Verhaftungen, die sich auf Tausende von Armeniern von Ansehen und Bildung, Deputierte, Publizisten, Schriftsteller, Dichter, Rechtsanwälte, Notare, Beamte, Ärzte, Großkaufleute, Bankiers und alle besonders wohlhabenden und einflußreichen Elemente erstreckten, wurden vorgenommen, ohne daß ein geordnetes Rechtsverfahren vorherging oder nachfolgte. Nicht einmal die Beschuldigung, daß sie sich an irgendwelchen staatsfeindlichen Handlungen beteiligt oder solche geplant hätten, wurde geltend gemacht. Man wollte den Kopf des armenischen Volkskörpers abschlagen, ehe man die Glieder zerschlug. Über den Ursprung all dieser Maßregeln und die Gründe, welche die leitenden Kreise bestimmten, wird gesondert zu reden sein. Die Befehle an die Behörden kamen aus Konstantinopel, und wurden, trotz des Widerstandes, den einzelne Regierungbeamte, ja hier und da auch die türkische Bevölkerung der Ausführung entgegensetzten, rigoros und unerbittlich durchgeführt.

Die zweite Etappe der Maßregeln, die der Gesamtdeportation vorhergingen, betraf den männlichen Teil der Bevölkerung, der bereits zur Armee ausgehoben war oder noch im Verlauf der Ereignisse ausgehoben wurde. Die zum Heeresdienst eingezogenen Armenier, die sich, nach dem Zeugnis des Kriegsministers tapfer geschlagen hatten, und zwar nicht nur an den Dardanellen, sondern auch in den Kaukasuskämpfen gegen Rußland, wurden zum größten Teil entwaffnet und als Lastträger und Straßenarbeiter im Heeresdienst verwendet. Aus fast allen Provinzen liegen Nachrichten vor, daß nicht nur in einzelnen Fällen die armenischen Arbeiter von ihren muhammedanischen Kameraden erschlagen wurden, sondern daß ganze Abteilungen in Gruppen von 80, 100 oder mehr Mann auf Anordnung von Offizieren und Gendarmen von Militär und Gendarmerie erschossen wurden. In welchem Umfange die Ermordung der zur Armee eingezogenen Armenier vor sich gegangen ist, wird man vielleicht niemals, jedenfalls aber erst nach dem Kriege in Erfahrung bringen können.

Unter dem Vorwande der Aushebung wurden in zahlreichen Städten und Dörfern auch alle übrigen männlichen Bewohner schon vom 16. bis hinauf zum 70. Jahre abgeführt, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie sich bereits in gesetzlicher Weise losgekauft hatten oder dienstuntauglich waren. Die abgeführten Kolonnen wurden in die Berge geführt und füsiliert, natürlich ohne irgend ein vorhergehendes Rechtsverfahren, für das weder Zeit noch Umstände Raum gaben.

Die Maßregeln sind nicht überall in gleichmäßiger Weise ausgeführt worden; sie waren zum Teil dem Belieben der Lokalbehörden überlassen, die dafür Sorge zu tragen hatten, daß die nachfolgende Gesamtdeportation bequem und gefahrlos und ohne daß ein Widerstand gefürchtet zu werden brauchte, vor sich ging. Diesem Zwecke diente auch die fast überall schon geraume Zeit vorher durchgeführte Entwaffnung der armenischen Bevölkerung. Da die allgemeine Unsicherheit im Innern der Türkei es mit sich bringt, daß jedermann zu seinem persönlichen Schutze bewaffnet ist und bei Reisen oder Wegen über Land Waffen mit sich führt, ist in Friedenszeiten der Besitz und das Tragen von Waffen erlaubt. Auf Veranlassung des jungtürkischen Komitees war die konstitutionelle Organisation des armenischen Volkes, die Partei der Daschnakzagan[6], in den Zeiten drohender Reaktion verschiedentlich mit Waffen versehen worden, damit sie im Falle von Umsturzversuchen, wie sie zweimal, 1909 und 1912, den Alttürken und der liberalen türkischen Opposition gelangen, die Sache ihrer jungtürkischen Freunde mit bewaffneter Hand unterstützen könnten. Nur in einzelnen Fällen, von denen noch die Rede sein wird, weigerten sich die Armenier, ihre Waffen abzuliefern, da sie Grund hatten, ein Massaker zu befürchten. So in Wan und Schabin-Karahissar. Die Entwaffnung ging in den Städten – die obengenannten Fälle ausgenommen – ohne Zwischenfall vor sich. In Konstantinopel fand die Entwaffnung vom 29. April bis zum 9. Mai in ordnungsmäßiger Weise statt. Es wurden sogar Empfangsscheine von den Behörden ausgestellt. Auf dem Lande führte die Maßregel der Entwaffnung, wie zahlreiche Nachrichten beweisen, zu brutalen Repressalien. Die Ablieferung wurde nicht behördlich angesagt, noch wartete man das Ergebnis der freiwilligen Ablieferung ab, sondern Gendarmen kamen in die Dörfer und verlangten eine beliebige Anzahl von Gewehren, 200, 300 oder wieviel dem Gendarmen gut schien. Wurden diese nicht sofort zur Stelle geschafft, so wurden der Dorfschulze und die Ältesten verhaftet und unter dem Vorwande, daß sie Waffen versteckt hätten, mißhandelt. Oft wurde die Folter angewendet. Besonders beliebt bei Gendarmen und Gefängnismeistern ist die Bastonnade, die, in unmenschlicher Weise angewendet, oftmals den Tod der Opfer verursacht. Aber auch Haare und Nägel wurden ausgerissen, glühende Eisen eingebrannt und jede Art von Schändlichkeit an Frauen und Kindern verübt. Oft waren die Dorfbewohner gezwungen, von ihren türkischen Nachbarn oder von Kurden und Tscherkessen zu hohen Preisen oder gegen Schafe und Kühe Waffen zu kaufen, um durch ihre Ablieferung die Requisition der Gendarmen zu befriedigen.

Gleichzeitig mit der Entwaffnung der armenischen Bevölkerung erfolgte die Bewaffnung des türkischen Pöbels. Durch die jungtürkischen Klubs, die in allen Städten des Innern das Heft in Händen haben und mehr bedeuten, als die höchsten Regierungsbeamten, waren Banden, sogenannte Tschettehs gebildet, zum Teil aus entlassenen Sträflingen. Berüchtige kurdische Räuber wurden mit ihren Banditen in den Heeresdienst eingestellt. Diesen Banden wurde Freiheit gegeben, die armenischen Dörfer zu überfallen, sie zu plündern, die Männer zu erschlagen, die Frauen und Mädchen wegzuschleppen. Auf Klagen reagierten die Behörden nur scheinbar. Die Verwüstungsarbeit begann in den östlichen Wilajets Wan, Erzerum und Bitlis sofort nach dem Ausbruch des Krieges und wurde während des ganzen Krieges bis in die jüngste Zeit fortgesetzt. Sie lief neben der offiziellen Deportation her und förderte dieselbe durch Überfälle der Karawanen, die durch die einsamen Gebirgstäler von Anatolien zogen. Viele Karawanen von Deportierten wurden von derartigen Banden halb oder ganz aufgerieben. Durch Verschleppung von Mädchen, Frauen und Kindern in türkische Harems und kurdische Dörfer sind Zehntausende von Christen nicht nur der Schande, sondern auch gewaltsamer Konvertierung zum Islam ausgeliefert worden.

Als die allgemeine Deportation, das heißt die vollständige Austreibung der armenischen Bevölkerung aus allen armenischen Städten und Dörfern einsetzte, waren die armenischen Familien zum großen Teil schon des männlichen Schutzes beraubt. Wo es nicht der Fall war, wurden meist die Männer beim Beginn der Deportation von den Frauen getrennt, abgeführt und erschossen. Wo Männer mit Frauen und Kindern zusammen auf den Weg gebracht waren, wurden sie oft noch auf dem Transport abgesondert oder bei organisierten Überfällen in erster Linie abgeschossen. Die Folge dieser Maßregeln war, daß, was von den deportierten Menschenmassen an den Bestimmungsorten ankamen, auf mehr als die Hälfte reduziert war. Die Karawanen, die im Norden aufbrachen, bestanden, wenn sie im Süden anlangten, größtenteils nur aus Kindern unter 10 Jahren und aus älteren Frauen, Kranken und Greisen. Die Männer und Knaben waren getötet, die Mädchen, jungen Frauen und zahllose Kinder geraubt. Der Rest ist ein hilfloses, dem Elend preisgegebenes Bettlervolk, das in den mesopotamischen Wüsten und Sumpfgebieten durch Hunger und Krankheit zu Grunde geht.

Seit dem 21. April, au dem die Verhaftung der Notabeln einsetzte, wurde die Gesamtdeportation vorbereitet. Die Ausführung der Deportation in größerem Stil begann um die Mitte des Mai. Die ersten Deportationen fanden im Wilajet Erzerum, in den Gebieten von Baiburt, Terdjan und Chinis statt. Verschiedene Ursachen scheinen in einzelnen Wilajets noch einen Aufschub herbeigeführt zu haben. Einzelne Walis und Mutessarifs sträubten sich gegen den Befehl. Selbst die türkische Bevölkerung erhob hie und da Einspruch. Da die Zentralregierung entschlossen war, die Maßregel der Deportation durchzuführen, wurden widerstrebende Beamte, selbst Walis, Mutessarifs und Kaimakams abberufen und durch willigere Werkzeuge, meist Mitglieder der jungtürkischen Komitees, ersetzt. Ende Juni und Anfang Juli setzt a tempo die Massendeportation in den Wilajets Siwas, Trapezunt und Kharput ein. Der Wali von Erzerum, der ebenso wie der Wali von Aleppo die Deportationsmaßregel mißbilligte, lehnte es nach anfänglichen Verschickungen, die die Vernichtung der Deportierten zur Folge hatten, ab, weitere Deportationen auszuführen, und verlangte Schutz für die Deportierten. Endlich mußte auch er dem Druck von Konstantinopel weichen. Im Wilajet Bitlis scheint es nur in der ersten Zeit zu Deportationen gekommen zu sein. Später wurde die armenische Bevölkerung, soweit sie nicht in die Berge flüchtete, durch Massakers an Ort und Stelle vernichtet. Auch die in die Berge Geflüchteten wurden verfolgt und, bis auf wenige, die sich auf russisches Gebiet durchschlugen, getötet. Ähnlich scheint es im Wilajet Diarbekir hergegangen zu sein.

Die Berichte aus den einzelnen Wilajets werden ein deutlicheres Bild von den Hergängen geben.


1. Wilajet Trapezunt.


Das Wilajet Trapezunt gehört nicht zu den ursprünglich armenischen Provinzen. Die Gesamtbevölkerung des Wilajets Trapezunt betrug nach Cuinet rund 1 047 700. Davon entfallen ein Viertel auf die christliche Bevölkerung, auf die Griechen allein wenigstens 200 000. Die muhammedanische Bevölkerung besteht aus Türken, Lasen, Tscherkessen und türkischen Nomadenstämmen. In den Küstenstädten überwiegt das griechische Element. Während sich in den übrigen ostanatolischen Wilajets Erzerum, Wan, Bitlis, Kharput, Siwas die armenische Bevölkerung zwischen 165 000 und 215 000 Seelen pro Wilajet bewegte, und auch im Wilajet Diarbekir noch 105 000 erreichte, zählte sie im Wilajet Trapezunt nur 53 500, davon 2500 Katholiken und 1000 Protestanten. Die armenische Bevölkerung verteilt sich folgendermaßen: 10 000 lebten in der Stadt Trapezunt und Umgebung, 12 700 in andern Küstenorten, wie Ordu, Kerasunt und den Dörfern in ihrer Nachbarschaft. Auf das Sandschak Samsun und seine Küstenstädte Samsun, Therme, Unia kamen 30 800.

Der Wali von Trapezunt ebenso wie der Militärkommandant waren den Armeniern freundlich gesinnt. Auch die muhammedanische und griechische Bevölkerung lebte in gutem Frieden mit ihnen. Als unter Leitung des jungtürkischen Klubs in Trapezunt Banden (Tschettehs) gebildet wurden, die sich Ausschreitungen gegen die Armenier zu schulden kommen ließen, wollte der türkische Militärkommandant die Banden wieder auflösen. Auch der Minister des Innern Taalat Bey telegraphierte nach Trapezunt, man solle die Armenier schützen und kein Blut vergießen.

Als die Entwaffnung der Armenier begann und Haussuchungen stattfanden, tat der armenische Aradschnort (Metropolit) Turian Schritte beim Wali, um offiziell festzustellen, daß die Armenier ihre Waffen abgeliefert hätten, und daß sich keine Bomben in ihrem Besitz befanden. Der Prälat Turian ist ein hochgebildeter Mann, der seine Bildung in Deutschland erworben und in Berlin Theologie und Philosophie studiert hat. Am 12. Juni wurde er ohne Grund verhaftet, nach Erzerum transportiert und dort eingekerkert. Unruhen irgendwelcher Art hatten in Trapezunt nicht stattgefunden. Irgendwelche Beschuldigungen sind, soviel man weiß, gegen die Bevölkerung nicht erhoben worden.

Das nun folgende ist der Wortlaut des Konsularberichts des amerikanischen Konsuls von Trapezunt Oskar S. Heizer, vom 28. Juli 1915. Der Inhalt wurde in allen Teilen aus katholischen und griechischen Quellen bestätigt.

Amerikanischer Konsularbericht.
Trapezunt, den 28. Juli 1915.

„Am Sonnabend den 26. Juni wurde der Befehl, die Deportation der Armenier betreffend, in den Straßen angeschlagen. Am Donnerstag den 1. Juli wurden alle Straßen von Gendarmen mit aufgepflanzten Bajonetten bewacht, und das Werk der Austreibung der Armenier aus ihren Häusern begann. Gruppen von Männern, Frauen und Kindern mit Lasten und Bündeln auf dem Rücken wurden in einer kleinen Querstraße in der Nähe des Konsulats gesammelt, und, sobald etwa 100 zusammengekommen waren, wurden sie von Gendarmen mit aufgepflanztem Bajonett am Konsulat vorüber in Hitze und Staub auf der Straße nach Erzerum hingetrieben. Außerhalb der Stadt ließ man sie halten, bis etwa 2000 beisammen waren; dann schickte man sie weiter. Drei solcher Gruppen, zusammen etwa 6000, wurden während der ersten drei Tage von hier verschickt, und kleinere Gruppen aus Trapezunt und der Umgegend, die später deportiert wurden, beliefen sich auf weitere etwa 4000. Das Weinen und Klagen der Frauen und Kinder war herzzerreißend. Einige dieser Armen stammten aus reichen und vornehmen Kreisen. Sie waren Reichtum und Wohlstand gewöhnt. Da waren Geistliche, Kaufleute, Bankiers, Juristen, Mechaniker, Handwerker, Männer aus allen Lebenskreisen. Der Generalgouverneur sagte mir, sie dürften Anordnungen für Fuhrwerke treffen, aber niemand schien irgend etwas vorzubereiten. Doch weiß ich von einem Kaufmann, der 15 türk. Pfd. (270 Mk.) für einen Wagen bezahlte, der ihn und seine Frau nach Erzerum bringen sollte; doch als sie an dem Sammelplatz ankamen, etwa 10 Minuten von der Stadt entfernt, wurde ihnen von den Gendarmen befohlen, den Wagen zu verlassen, der nach der Stadt zurückgeschickt wurde. Die ganze muhammedanische Bevölkerung wußte von Anfang an, daß diese Leute ihnen zur Beute fallen würden, und sie wurden behandelt wie Verbrecher. In Trapezunt wurde, vom 25. Juni, dem Datum der Proklamation, an, keinem Armenier gestattet, etwas zu verkaufen, und bei Strafe wurde jedem verboten, etwas von ihnen zu kaufen. Wie sollten sie da die Mittel für die Reise beschaffen? 6 oder 8 Monate lang war in Trapezunt keinerlei Geschäft betrieben worden, und die Menschen hatten ihr Kapital verzehrt. Warum hat man sie verhindern wollen, Teppiche oder irgend etwas zu verkaufen, um das für die Reise nötige Geld zu beschaffen? Viele Leute, die Besitztümer hatten, die sie hätten verkaufen können, wenn sie die Erlaubnis gehabt hätten, mußten zu Fuß gehen, mittellos und nur mit dem versehen, was sie in ihren Häusern zusammenraffen und auf dem Rücken tragen konnten. Sie wurden, wenn sie in Folge von Erschöpfung zurückbleiben mußten, mit dem Bajonett erstochen und in den Fluß geworfen. Ihre Leichen wurden an Trapezunt vorüber ins Meer getrieben, oder hingen im seichten Flusse an den Felsen, wo sie 10 bis 12 Tage blieben und verwestem, zum Entsetzen der Reisenden, die diesen Weg nehmen mußten. Ich habe mit Augenzeugen gesprochen, die bestätigten, daß man viele nackte Leichen an Baumstümpfen im Fluß gesehen habe, 15 Tage nach dem Geschehnis, und daß der Geruch fürchterlich gewesen sei.

Am 17. Juli, als ich mit dem deutschen Konsul ausgeritten war, trafen wir 3 Türken, die ein Grab im Sande gruben für einen nackten Leichnam, den wir dicht dabei im Flusse sahen. Die Leiche sah aus, als habe sie 10 Tage oder länger im Wasser gelegen. Die Türken sagten, sie hätten soeben weiter oben im Flußlauf andere 4 begraben. Ein anderer Türke sagte uns, daß, kurz bevor wir erschienen, eine Leiche den Fluß hinab ins Meer getrieben sei.

Mit Dienstag dem 6. Juli waren alle armenischen Häuser in Trapezunt, etwa 1000, geleert und ihre Bewohner deportiert worden. Es wurde nicht festgestellt, ob jemand der Teilnahme an irgend einer gegen die Regierung gerichteten Bewegung schuldig war. Wenn jemand Armenier war, so genügte das, um als Verbrecher behandelt und deportiert zu werden. Zu Anfang hieß es, es sollten alle außer den Kranken gehen, welch letztere in das städtische Krankenhaus gebracht wurden, bis sie wohl genug seien. Später wurden die alten Männer und Frauen, schwangere Frauen und Kinder, solche die bei der Regierung beschäftigt waren, und die katholischen Armenier ausgenommen. Schließlich wurde entschieden, daß auch alte Männer und Frauen und auch die Katholiken gehen müßten, und sie alle wurden dem letzten Transport nachgeschickt. Eine Anzahl Leichterschiffe wurde nacheinander mit Leuten beladen und nach Samsun geschickt. Der Glaube ist allgemein, daß sie ertränkt wurden. Während der ersten Tage der allgemeinen Deportation wurde ein großes Kajik-Boot mit Männern[7] beladen, die man für Mitglieder der armenischen Komitees hielt, und nach Samsun gesandt. Zwei Tage später kam ein bekannter russischer Untertan, namens Wartan, der mit jenem Boot abgefahren war, über Land nach Trapezunt zurück, am Kopfe stark verwundet und so verwirrt, daß er sich nicht verständlich zu machen vermochte. Alles was er zu sagen vermochte, war: „Bum, Bum!“ – Er wurde von den Behörden festgenommen und ins Krankenhaus gebracht, wo er am nächsten Tage starb. Ein Türke berichtete, daß jenes Boot nicht weit von Trapezunt einem anderen mit Gendarmen besetzten begegnet wäre, welche daran gegangen wären, alle Männer zu töten und sie über Bord zu werfen. Sie glaubten, alle getötet zu haben, aber dieser Russe, der groß und stark war, war nur verwundet worden und schwamm unbemerkt ans Land. Eine Anzahl solcher Kajik-Boote, mit Männern beladen, verließ Trapezunt. Meist kehrten sie nach einigen Stunden leer zurück.

Toz, ein Dorf, etwa 2 Stunden von Trapezunt, wird von gregorianischen und katholischen Armeniern und Türken bewohnt. Ein reicher und einflußreicher Armenier, Boghos Marimian, wurde, wie ein zuverlässiger Augenzeuge berichtet, mit seinen beiden Söhnen getötet. Sie wurden hintereinander aufgestellt und erschossen. 45 Männer und Frauen wurden eine kurze Strecke vom Dorfe entfernt in ein Tal geführt. Die Frauen wurden zuerst von den Gendarmerieoffizieren vergewaltigt und dann den Gendarmen zur Verfügung überlassen. Diesem Augenzeugen zufolge wurde ein Kind dadurch getötet, daß man ihm an einem Felsen den Schädel einschlug.

Auch der Plan, die Kinder zu retten, mußte aufgegeben werden. Man hatte sie in Trapezunt in Schulen und Waisenhäusern untergebracht, unter Aufsicht eines Komitees, das von dem griechischen Erzbischof organisiert und unterstützt wurde, dessen Präsident der Wali, Vizepräsident der Erzbischof und dessen Mitglieder 3 Christen und 3 Muhammedaner waren. Jetzt werden die Mädchen ausschließlich in muhammedanische Familien gegeben und dadurch auseinandergerissen. Das Ausheben der Waisenhäuser und die Verteilung der Kinder war eine große Enttäuschung für den griechischen Erzbischof, der für diesen Plan so eifrig gearbeitet und sich die Unterstützung des Wali gesichert hatte, aber dem Leiter des „Komitees für Einheit und Fortschritt“[8], der den Plan mißbilligte, gelang es, ihn sehr bald zu durchkreuzen. Viele Knaben scheinen fortgesandt worden zu sein, um unter die Farmer verteilt zu werden. Die hübschesten unter den älteren Mädchen, die in den Waisenhäusern als Pflegerinnen zurückbehalten worden waren, wurden in Häuser aufgenommen, die dem Vergnügen der Mitglieder der Klique dienen, die hier die Dinge zu regieren scheint. Aus guter Quelle habe ich gehört, daß ein Mitglied des „Komitees für Einheit und Fortschritt“ hier 10 der schönsten Mädchen in einem Haus im Zentrum der Stadt hat, für seinen und seiner Freunde Gebrauch. Einige kleinere Mädchen sind in anständigen muhammedanischen Familien untergebracht worden. Einige frühere Schülerinnen der amerikanischen Mission sind jetzt in muhammedanischen Familien in der Nähe der Mission untergebracht worden, aber natürlich hat die Mehrzahl nicht dieses Glück gehabt.

Die 1000 armenischen Häuser werden, eins nach dem andern, von der Polizei geleert. Möbel, Bettzeug und alles Wertvolle wird in großen Gebäuden in der Stadt aufbewahrt. Es wird kein Versuch gemacht, die Sachen zu ordnen, und der Gedanke, das Eigentum in „Ballen“ aufzubewahren, „unter dem Schutze der Regierung, um es den Eigentümern bei ihrer Heimkehr zurückzuerstatten“, ist einfach lächerlich. Die Besitztümer werden aufgeschichtet, ohne jeglichen Versuch, sie zu registrieren oder ein System in die Speicherung zu bringen. Ein Haufen türkischer Frauen und Kinder folgen den Polizeibeamten auf Schritt und Tritt wie eine Schar Geier und ergreifen alles, dessen sie habhaft werden können. Werden die wertvolleren Sachen von der Polizei aus einem Haus getragen, so stürzt die Meute hinein und holt, was noch da ist. Ich sehe diesen Vorgang jeden Tag mit eigenen Augen. Ich glaube, es wird mehrere Wochen in Anspruch nehmen, die Häuser alle zu leeren, und dann werden die armenischen Läden und Kaufhäuser ausgeräumt werden. Die Kommission, die die Sache in der Hand hat, spricht jetzt davon, die große Sammlung von Haushaltungsgegenständen und anderem Eigentum zu verkaufen, „um die Schulden der Armenier zu bezahlen“. Der deutsche Konsul sagte mir, er glaube nicht, daß die Armenier nach Trapezunt zurückkehren dürften, nicht einmal nach Beendigung des Krieges.

Ich sprach eben mit einem jungen Mann, der seiner Militärpflicht im „Inscha’at-Taburi“ (Armierungstruppen) genügt und auf den Straßen nach Gümüschhane arbeitete.

Er erzählte mir, daß vor 14 Tagen alle Armenier, ca. 180, von den übrigen Arbeitern getrennt worden seien. Er hörte den Knall der Büchsen und war nachher einer von denen, die geschickt wurden, um die Leichen zu begraben. Er konstatierte, daß sie alle nackend waren; man hatte sie ihrer Kleider beraubt.

Eine Anzahl von Frauen- und Kinderleichen sind von den Wellen an den sandigen Strand angespült worden, unterhalb der Mauern des italienischen Klosters hier in Trapezunt. Sie wurden von hiesigen griechischen Frauen am Strand begraben, wo man sie gefunden hatte“.

Soweit der amerikanische Konsularbericht[9].


2. Wilajet Erzerum.


Das Wilajet Erzerum zählte unter 645 700 Einwohnern 227 000 Christen, nämlich 215 000 Armenier und 12 000 Griechen und andere Christen. Von der muhammedanischen Bevölkerung sind 240 700 Türken resp. Turkmenen, 120 000 Kurden (45 000 Seßhafte, 30 000 Sasakurden und 45 000 Nomadenkurden); 25 000 Kisilbasch (Schi’iten), 7000 Tscherkessen und 3000 Jesidis (sogenannte Teufelsanbeter). In den Städten Erzerum, Erzingjan, Baiburt, Chinis, Terdjan machten die Armenier ein Drittel bis zur Hälfte der Bevölkerung, in einzelnen Landdistrikten mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus.

Seit Ausbruch des Krieges wurden bei den Armeniern Requisitionen vorgenommen, die das Vielfache von dem betrugen, was die Türken hergeben mußten. Man führte Lasttiere vor die Magazine und lud wahllos alle Waren auf, von denen der größte Teil für Militärzwecke unbrauchbar war. Bei den Türken wurden die Requisitionen vorher angesagt, so daß sie Zeit hatten, die Waren aus ihren Magazinen in ihre Häuser zu holen und dort zu verstecken. Alle Lagervorräte an Manufakturwaren, die im Herbst aus dem Auslande eintrafen, wurden den Kaufleuten weggenommen. Die Beamten benützten die Requisitionen zu Erpressungen. Der Garnisonssekretär von Erzingjan, Hadji Bey, kam in das Magazin von Sarkis Stepanian, ließ einige armenische Kaufleute dort hinkommen und sich von ihnen 300 türk. Pfund auszahlen. Um den Schein zu wahren nahm er auch von türkischen Kaufleuten eine geringfügige Summe. Nach der Plünderung des Bazars kamen die Häuser an die Reihe. Unter dem Vorwande, Waffen zu suchen, durchwühlten die Gendarmen alle Kisten und Kasten und nahmen mit, was ihnen behagte. Niemand durfte gegen derartige Requisitionen ein Wort sagen. Auf den geringsten Verdacht oder irgend eine Denunziation hin wurden harmlose Leute ins Gefängnis geworfen, gefoltert und vor das Kriegsgericht gestellt.

Wie im Wilajet Trapezunt, so waren auch im Wilajet Erzerum von junktürkischen politischen Klubs Banden, sog. Tschettehs, aus den schlechtesten Elementen der Bevölkerung gebildet und bewaffnet worden. Diese Banden sahen ihre Hauptaufgabe darin, armenische Dörfer zu überfallen und zu plündern. Fanden sie keine Männer, so wurden die Frauen vergewaltigt und unter Mißhandlungen gezwungen, alles, was sie noch an Geld oder Geldeswert hatten, herauszugeben. Die Daschnakzagan beklagten sich bei Tahsin Bey, dem Wali von Erzerum, als in den Dörfern Dwig, Badischin und Targuni derartiges vorgekommen war. Er versprach, die Missetäter zu bestrafen, aber nach 10 Tagen geschah genau dasselbe in den Dörfern Hinzk und Zitoth. So sah es schon Anfang Januar auf dem Lande aus.

Dem Wali Tahsin Bey, der den besten Willen hatte, gelang es vorübergehend, die Ausschreitungen der Tschettehs und der Gendarmen zu unterdrücken, so daß es Anfang Februar erheblich besser in der Provinz aussah. Zwar fielen die Requisitionen immer noch mit ihrer ganzen Schwere auf die Armenier, aber im Interesse der nationa­len Verteidigung fand man sich auch in das ungleiche Maß, mit dem Muselmanen und Nichtmuselmanen gemessen wurden. Auch dagegen wurde nichts eingewendet, daß 15 armenische Dörfer in der Umgegend von Erzerum von ihren Einwohnern geräumt werden mußten, um kranke Soldaten aufzunehmen. Im März fing das Banden­unwesen, das von jungtürkischen Kreisen gegen den Willen des Walis unterstützt wurde, von neuem an; ebenso wurden gegen wohlhabende Armenier in den Städten unter Androhung des Todes die schlimmsten Erpressungen aus­geübt. In Terdjan ließ der Polizeimüdir von Erzerum einen angesehenen Armenier mit seiner 10jährigen Tochter zu sich kommen und beide auf der Stelle erschießen.

Im März des Jahres wurden die Armenier von be­freundeten Türken in Erzerum gewarnt und davon benachrichtigt[WS 1], daß die Mitglieder des „Komitees für Einheit und Fortschritt“ ein Massaker planten. Der später an Typhus verstorbene Dr. Taschdjan, ein bei Türken und Armeniern gleich angesehener Mann, teilte dies zwei deutschen Rote-Kreuzschwestern mit, die im Militärlazarett von Erzerum türkische Soldaten pfleg­ten und bat sie, den damaligen Festungskommandanten von Erzerum, den deutschen General Posselt–Pascha, davon zu benachrichtigen, damit er seinen Einfluß geltend mache und dem Unheil vorgebeugt werde. Man erzählte, daß es General Posselt gelungen sei, die Gefahr abzuwenden. Er wurde aber bald darauf genötigt, seinen Abschied zu nehmen und durch einen türkischen Offizier ersetzt. Auch der deutsche Konsul in Er­zerum, Herr von Scheubener-Richter, tat sein Möglichstes, um den bedrängten Armeniern beizustehen und eine Verschlimmerung der Lage zu verhindern. Von armenischer Seite wurde ihm das beste Zeugnis aus­gestellt. Während der Wali Tahsin Bey sich lange Zeit gegen die von Konstantinopel geforderten Maßregeln sträubte, arbeiteten die Häupter der jungtürkischen Partei um so energischer daran, die Muhammedaner gegen die Armenier aufzureizen. Sie erklärten, es sei ein Fehler Abdul Hamids gewesen, daß er die Massakers vor zwanzig Jahren nicht gründ­licher veranstaltet und alle Armenier ausgerottet habe.

Das Verhältnis der armenischen zur türkischen Be­völkerung in Erzerum war ein ausgezeichnetes gewesen. Erst durch jungtürkische Agitatoren wurden die Muham­medaner aufgestachelt und die Regierung verhindert, gegen Gewalttaten einzuschreiten. Die Jungtürken bestanden darauf, den Rest der männlichen Bevölkerung an die Front zu schicken, um dann freie Hand zu haben. Von ihren türkischen Freunden wurden die Armenier gewarnt, ihre Häu­ser zu verlassen.

Zur Zeit der Konstitution waren von den Jungtürken Waffen auch an die armenischen Dörfer verteilt worden, auf deren Hilfe sie im Falle einer Reaktion rechneten. Diese Waffen wurden ihnen jetzt unter sinnlosen Torturen wieder abgenommen.

In dem Hause eines Armeniers namens Humajak in Erzingjan befand sich ein Tonnür, ein in den Boden ge­grabener Backofen. Unter dem Backofen entdeckten die Gendarmen einen Brunnen, der längst außer Gebrauch und verschlossen war. Die Gendarmen vermuteten Waffen in dem Brunnen, fanden aber keine und schlugen deshalb den Humajak so fürchterlich, daß er krank wurde. Der arme Mann hatte das Haus erst seit einem Monat gemietet und hatte keine Ahnung, daß sich unter dem Tonnür eine Zisterne befand. Als der Mann wieder laufen konnte, wurde er verhaftet und im Gefängnis gefoltert. Die Nägel und Bündel von Haaren wurden ihm mit Zangen herausgerissen. Wenn er das Bewußtsein verlor, wurde er mit einem kalten Wasserguß wieder zur Besinnung gebracht und die Folterung fortgesetzt. Man wollte von ihm wissen, was er in der Zisterne verborgen habe. Der Unglückliche konnte nichts angeben, da er von der Zisterne nicht einmal etwas gewußt hatte. Darauf wurde ihm ein Dokument vorgelegt, in dem er zu bezeugen hatte, daß er unter dem Tonnür Bomben und Waffen verborgen habe. Unter Foltern wurde er gezwungen, das Schriftstück zu unterschreiben. Alsdann wurde er nach Erzerum deportiert. Derartige Dokumente hatten den Zweck, einen Vorwand für die Deportation herzugeben. Die Armenier, die von dieser Sache hörten, wußten jetzt, was ihnen drohe. Als die Requisitionen und Haussuchungen in der Stadt be­endet waren und nichts gefunden worden war, wurden die Gendarmen auf die Dörfer geschickt.

Am 14. März kam ein Leutnant der Gendarmerie, Suleiman Efendi, mit 30 Gendarmen in das Dorf Minn im Sandschak Erzingjan. Zuerst ließ er sich 100 türkische Pfund (ca. 1900 M.) auszahlen, ohne zu sagen, wer ihn beauftragt habe und wofür die Summe zu zahlen sei. Dann vergnügten sich die Gendarmen die Nacht hindurch in dem Dorfe. Am Morgen begannen die Haussuchungen. Es gab einige Waffen im Dorf, die zur Zeit der Reaktion von Jungtürken verteilt worden waren. Ein gewisser Oteldji Hafis war damals der Überbringer dieser Waffen, die die Leute gegen einen guten Preis hatten kaufen müssen. Der Priester des Dorfes nannte die Namen derer, die Waffen hatten. Die Leute wurden verhaftet und ihnen die Waffen abgenommen. Der Gendarmerie-Leutnant wollte aber noch Bomben haben und fing an, Männer, Frauen und Kinder zu schlagen. Als sie keine Bomben fanden, ließ er dem Priester fünfmal hintereinander die Bastonnade verabreichen. Als er mit dem Schlagen genug hatte, schloß er den Priester in ein Zimmer ein und notzüchtigte seine Frau. Dann fingen die Gendarmen an, zum Spaß auf die Dorfbewohner zu schießen. Als sie auch damit genug hatten, bewaffneten sie den Priester und einige Bauern bis an die Zähne, so daß sie wie Banditen aussahen, und führten diese künstlich bewaffnete Bande in die muhammedanischen Quartiere der Kreishauptstadt Kemach, um diese gegen die Armenier aufzureizen. Dann wurden sie ins Gefängnis geworfen und endlich nach Erzerum abgeführt.

Die Bewohner des Dorfes Minn, das jetzt in Asche liegt, hatten nicht weniger als 7000 türk. Pfund Steuern gezahlt. Die Bauern wandten sich an den armenischen Aradschnort (Metropoliten), ließen ihn eine Eingabe aufsetzen und gingen mit ihm zum Kaimakam (Landrat).

Der Kaimakam schnauzt sie an: „Wer gibt euch das Recht, solche Rapporte zu machen?“ Die Bauern: „Haben wir nicht durch die Gnade der Regierung das Recht, in Gemeindeangelegenheiten Eingaben zu machen?“ Der Kaimakam: „Das war die alte Regierung. Die neue Regierung hat euch keinerlei derartige Rechte gegeben. Alle solche Rechte sind hinfällig. Ihr habt keine Eingaben zu machen und Beschwerde zu führen. Die Regierung tut von selbst, was nötig ist. Wenn ihr wollt, werde ich euch mit diesem Dokument zum Staatsanwalt schicken, und er wird euch ins Gefängnis werfen.“ Die Bauern: „Wir wollen uns nicht in die Angelegenheit der Regierung mischen; wir wollen nur wissen, mit welchem Recht ein Gendarm fünfmal einen Priester bastonnieren und Frauen und Kinder foltern darf, unter dem Vorwande, Bomben zu finden. Diese Bauern wissen nicht einmal, was eine Bombe ist. Warum hat man diese Leute bewaffnet und unter die Moslems geschickt, da man sie nicht mit den Waffen attrapiert hat?“ Der Kaimakam: „Wir sind völlig frei, jedes Mittel zu gebrauchen, das uns paßt.“ Die Bauern: „Warum läßt man die Gendarmen Erpressungen machen?“ Der Kaimakam: „Das geht euch gar nichts an. Bis jetzt war der Handel in eurer Hand. Von jetzt ab werdet ihr nichts mehr mit dem Handel zu tun haben. Und was hast du hier zu tun?“ Der Aradschnort (Metropolit): „Ich bin der Aradschnort und habe das Recht, für diese Leute zu sprechen.“ Der Kaimakam: „Ich kenne weder Aradschnort noch seine Rechte. In anderen Angelegenheiten als religiösen kenne ich dich nicht.“

In den andern Dörfern verfuhren die Gendarmen ebenso. Zuerst verlangten sie Geld, dann kamen die Haussuchungen an die Reihe. Im Dorfe Merwatsik arbeitete der Polizeileutnant Suleiman mit dem Müdir des Dorfes Adil Efendi zusammen. Als sie keine Waffen fanden, wurden die Bauern gefoltert und gezwungen, von ihren türkischen Nachbarn Waffen zu kaufen. Alsdann wurden sie nach Erzerum ins Gefängnis gebracht. Von da gingen sie in das Dorf Arkan, erpreßten 60 türk. Pfd., plünderten das Dorf, nahmen den Frauen die Ohrringe und Armbänder weg und schlugen alle, die sich weigerten. Ein Gendarm setzte sich auf die Füße, ein anderer auf den Kopf des Opfers, dann ging die Peitscherei los, mit nicht unter 200 Schlägen. Die Frauen wurden unter den Torturen bewußtlos. Als sich keine Waffen fanden, schrie der Unterleutnant Suleiman die Leute an: „Bis jetzt hattet ihr das Recht, Waffen zu haben. Das hört jetzt auf. Ich habe eine Iradé in der Hand und kann mit allen Mitteln, die mir belieben, von euch Waffen fordern.“ Darauf ließen die Gendarmen die Bauern aus dem Nachbardorfe Mollah herführen, schlugen sie, schmierten ihnen Exkremente ins Gesicht und warfen sie in den Fluß. Eine Frau starb unter den Mißhandlungen des Müdir Adil. Dann gingen sie in das Dorf Mollah, unterbrachen die Messe – es war Osterfest – und folterten den Priester in der Kirche. Die Frauen und Mädchen flüchteten sich vor den Gendarmen in die Berge. Im Dorf Mez Akrak erpreßten sie 92 türk. Pfd. und folterten die Bewohner. Im Dorf Machmud Bekri verlangten die Gendarmen erst Geld und, nachdem sie das Verlangte erhalten hatten, verhafteten sie 3 Bauern, und führten sie in ein Haus, wo sich der genannte Suleiman, Oteldji Hafis, Djelal Oglu und Schakir befanden. Diese vier bastonnierten die Bauern bis zur Bewußtlosigkeit. Durch kalte Wassergüsse wurden sie wieder aufgeweckt und weiter geschlagen. Darauf sperrte man sie in die Aborte. Dann werden sie aufs neue vorgeführt und gefoltert. Dem einen reißt man zwei Finger aus. Er soll den Ort angeben, wo Waffen verborgen sind, und die Liste der Daschnakzagan ausliefern. Als sie nichts erreichen, fangen die Gendarmen an, die Frauen zu schänden.

Dem Kaimakam wurde Anzeige erstattet. Als aber der Aradschnort aufs neue Schritte tat wegen einer Frau, die man zu Tode geprügelt hatte, und verlangte, der Kaimakam sollte sich selbst von den Tatsachen überzeugen, schrie er ihn an und wollte nichts mehr hören. Der Aradschnort verlangte, er solle höheren Orts Anzeige erstatten. Der Kaimakam: „Hier bin ich die Regierung.“ Der Aradschnort: „Ihr macht Unterschiede zwischen Christen und Muhammedanern“. Der Kaimakam: „Jetzt sende ich dich gefesselt nach Erzerum“. Der Kaimakam läßt ihn schließlich gehen und verspricht, die Gendarmen zu bestrafen.

In seiner Verzweiflung entschließt sich der Aradschnort, mit einigen Priestern zu den Ulemas und muhammedanischen Begs zu gehen, um sie um ihre Hilfe zu bitten. Diese hatten Mitleid mit den Armeniern, aber sie fürchteten sich vor dem Kaimakam. Ein geistlicher Scheich riet, man möge nur Geduld haben, bis die Dinge anders würden.

Der Kaimakam forderte die Gendarmen vor, die gestanden, daß sie 300 türkische Pfd. erpreßt und nur 180 davon abgeliefert hatten. Sie mußten das Geld herausgeben. Trotzdem blieben sie im Amt und fuhren mit ihren Schändlichkeiten fort. Alle Versprechungen des Kaimakams die Gendarmen zu bestrafen, blieben leere Worte.

Das war im März des Jahres.

Es ist notwendig, solche Dinge mit allen Einzelheiten zu schildern, damit man sich eine Vorstellung davon machen kann, wie es auf den Dörfern herging.

Seit der Erklärung der Konstitution und bis in die jüngste Zeit hinein waren die jungtürkischen Führer mit den Führern der Daschnakzagan ein Herz und eine Seele gewesen. Die Daschnakzagan hatten die Jungtürken bei allen Wahlen durch ihre Organisation unterstützt, und zwischen den beiderseitigen Klubs bestand der freundschaftlichste Verkehr. Seit das Zentralkomitee in Konstantinopel das allgemeine Vorgehen gegen die Armenier beschlossen hatte, benützten die jungtürkischen Führer ihre Kenntnis der ihnen verbündeten armenischen Parteiorganisation dazu, um alle Daschnakzagan verhaften zu lassen. Schon am 12. April saßen die meisten Daschnakzagan hinter Schloß und Riegel. Bald darauf drangen die ersten Gerüchte von den Ereignissen in Wan nach Erzerum. Die armenischen Führer wurden nach unbekannten Gegenden deportiert. Ende April wurden 25 gefesselte Armenier von Erzingjan nach Erzerum gebracht. Bald darauf wurde von der Polizei in Erzerum ein gefälschter Brief publiziert, in dem gesagt war, daß die Partei der Daschnakzagan beschlossen habe, den Wali Tahsin Bey zu ermorden. Der Betrug wurde aufgedeckt, so daß die Polizei in beschämender Weise bloßgestellt wurde.

Als im Mai der türkischen Bevölkerung von Erzerum bekannt wurde, daß von Konstantinopel die allgemeine Deportation der armenischen Bevölkerung angeordnet sei, machte sie eine Eingabe an die Regierung, in der aufs dringendste verlangt wurde, daß im Wilajet Erzerum von der Maßregel abgesehen werden solle, weil sie im Falle der Eroberung des Gebietes durch die Russen für die an den Armeniern begangenen Untaten bestraft werden würden.

Mitte Mai begannen die Deportationen aus den Dörfern in der Ebene von Erzerum und aus der Gegend von Terdjan und Mamachatun. In den ausgeleerten Dörfern wurden muhammedanische Bauern, die aus den von den Russen besetzten Gebieten geflüchtet waren, angesiedelt. Um jeden Widerstand bei der Deportation im voraus unmöglich zu machen, hatte man im Erzerumgebiet noch 15 000 Männer zur Armee ausgehoben. In den Hauptplätzen Baiburt, Erzingjan, Chinis, Keri usw. wurden, ehe die Deportation begann, die Notabeln verhaftet und nach Erzerum transportiert. Die Jungtürken waren in Erzerum zusammengekommen, um die Sache zu organisieren.

Bis zum 15. Mai waren bereits alle Dörfer aus Passin, der Ebene von Erzerum, ausgeleert und mit muhammedanischen Einwohnern besetzt worden. In Erzerum selbst wurden zuerst 600 Notable verhaftet und verschickt. Alle Ittihadisten (Mitglieder des Komitees „für Einheit und Fortschritt“) waren in Erzerum zusammengekommen und leiteten von dort aus die Maßregeln in der Provinz. Der Wali Tahsin Bey, der die Maßregeln nur widerwillig ausführte, sagte zu seiner Rechtfertigung: „Was kann ich tun? Die hohe Pforte hat es befohlen.“

Als Ende Mai Beha-Eddin Schakir, Mitglied des Komitees für Einheit und Fortschritt, nach Erzerum kam, trat die Verfolgung der Armenier in das akute Stadium. Die Tschettehs und Gendarmen schlugen am hellen lichten Tage Frauen und Kinder tot, um die Armenier zu provozieren und den Anlaß zu einem allgemeinen Massaker zu finden. Von den dreihundert Personen, die von Chinis nach Erzerum eskortiert wurden, wurde die Hälfte unterwegs erschlagen. Die letzten armenischen Soldaten und Ärzte wurden von der Front geholt, ein Teil getötet, der Rest deportiert. Jetzt wurde vom Kommandanten der Armee der Befehl zur allgemeinen Deportation gegeben.

Von Mitte Juni an begann die Deportation der gesamten Stadtbevölkerung von Erzerum und zog sich durch den Juli hin. Am 31. Juli telegraphierte der armenische Erzbischof von Erzerum, Kütscherian, an das Patriarchat in Konstantinopel, daß er sowie alle in Erzerum lebenden Armenier ausgewiesen seien. Wohin sie gebracht würden, wüßten sie nicht. Der Bruder des Erzbischofs wurde auf der Reise, die er in Begleitung eines Deutschen unternahm, durch die Behörden von diesem gewaltsam getrennt und ermordet.

Es wird erzählt, daß Tahsin Bey, der Wali von Erzerum, als er gehört hatte, daß der erste Transport der Armenier von Erzerum unterwegs abgeschlachtet worden sei, sich geweigert hätte, weitere Transporte von Erzerum wegzuschicken. Er habe verlangt, daß die Deportierten mit militärischer Bedeckung unter Aufsicht höherer Offiziere an ihr Verschickungsziel gebracht würden, damit ihnen wenigstens das nackte Leben gesichert würde.

Sein Verlangen hatte keinen Erfolg.

In

Erzingjan

wurden über 2000 Armenier, ohne daß irgend eine Beschuldigung gegen sie erhoben worden wäre, arretiert. Bei Nacht wurden sie verhaftet, bei Nacht aus dem Gefängnis geführt und in der Nachbarschaft der Stadt getötet. Sodann wurde den Armeniern der Stadt, etwa 1500 Häusern, angekündigt, daß sie in einigen Tagen die Stadt zu verlassen hätten. Sie könnten ihre Sachen verkaufen, müßten aber vor dem Abzug die Schlüssel ihrer Häuser den Behörden abliefern. Am 7. Juni ging der erste Transport ab. Er bestand hauptsächlich aus Wohlhabenderen, die sich einen Wagen mieten konnten. Später wurde ein Telegramm vorgezeigt, daß sie ihr nächstes Reiseziel Kharput erreicht hätten. Am 8., 9. und 10. Juni verließen neue Scharen die Stadt, im ganzen 20 bis 25 000 Personen. Viele Kinder wurden von muhammedanischen Familien aufgenommen, später hieß es, auch diese müßten fort. Auch die Familien der im Lazarett diensttuenden Armenier mußten fort, sogar, trotz des Protestes des deutschen Arztes Dr. Neukirch, eine typhuskranke Frau. Ein im Lazarett diensttuender Armenier sagte zu der deutschen Krankenschwester, „Nun bin ich 46 Jahre alt, und bin doch, trotzdem jedes Jahr Freilassungsgeld für mich gezahlt worden ist, eingezogen worden. Ich habe nie etwas gegen die Regierung getan, und jetzt nimmt man mir meine ganze Familie, meine 70-jährige kummergebeugte Mutter, meine Frau und 5 Kinder; ich weiß nicht, wohin sie gehen.“ Er jammerte besonders um sein 1½ jähriges Töchterchen. „So ein schönes Kind hast du nie gesehen, es hatte Augen wie Teller so groß. Wenn ich nur könnte, wie eine Schlange wollte ich ihr auf dem Bauche nachkriechen.“ Dabei weinte er wie ein Kind. Am anderen Tage kam derselbe Mann ganz ruhig und sagte: „Jetzt weiß ich es, sie sind alle tot.“ Es war nur zu wahr.

Die Karawanen, die am 8., 9. und 10. Juni Erzingjan in scheinbarer Ordnung verließen (die Kinder vielfach auf Ochsenwagen untergebracht), wurden von Militär begleitet. Trotzdem sollte nur ein Bruchteil das nächste Reiseziel erreichen. Die Straße nach Kharput verläßt die Ebene von Erzingjan östlich der Stadt, um in das Defilé des Euphrat, der hier die Tauruskette durchbricht, einzutreten. In vielen Windungen folgt die Straße, zwischen steilen Bergwänden am Strom entlang laufend, dem Euphrat. Die Strecke bis Kemach, die in der Luftlinie nur 16 Kilometer beträgt, verlängert sich durch die Windungen auf 55 Kilometer. In den Engpässen der Straße wurden die zwischen Militär und herbeigerufenen Kurden eingekeilten wehrlosen Scharen, fast nur Frauen und Kinder, überfallen. Zuerst wurden sie völlig ausgeplündert, dann in der scheußlichsten Weise abgeschlachtet und die Leichen in den Fluß geworfen. Zu Tausenden zählten die Opfer bei diesem Massaker im Kemachtal, nur zwölf Stunden von der Garnisonstadt Erzingjan, dem Sitz eines Mutessarifs (Regierungspräsidenten) und des Kommandos des vierten Armeekorps entfernt. Was hier vom 10. bis 14. Juni geschah, ist mit Wissen und Willen der Behörden geschehen. Die deutschen Krankenschwestern erzählen:

„Die Wahrheit der Gerüchte wurde uns zuerst von unserer türkischen Köchin bestätigt. Die Frau erzählte unter Tränen, daß die Kurden die Frauen mißhandelt und getötet und die Kinder in den Euphrat geworfen hätten. Zwei junge, auf dem amerikanischen Kollege in Kharput ausgebildete Lehrerinnen zogen mit einem Zug von Deportierten durch die Kemachschlucht (Kemach-Boghasi), als sie am 10. Juni unter Kreuzfeuer genommen wurden. Vorn sperrten Kurden den Weg, hinten waren die Miliztruppen eines gewissen Talaat. In ihrem Schrecken warfen sie sich auf den Boden. Als das Schießen aufgehört hatte, gelang es ihnen und dem Bräutigam der einen, der sich als Frau verkleidet hatte, auf Umwegen nach Erzingjan zurückzukommen. Ein türkischer Klassengefährte des jungen Mannes war ihnen behilflich. Kurden, die ihnen begegneten, gaben sie Geld. Als sie die Stadt erreicht hatten, wollte ein Gendarm die eine von ihnen, die Braut war, mit in sein Haus nehmen. Als der Bräutigam dagegen Einspruch erhob, wurde er von den Gendarmen erschossen. Die beiden jungen Mädchen wurden nun durch den türkischen Freund des Bräutigams in vornehme muhammedanische Häuser gebracht, wo man sie freundlich aufnahm, aber auch sofort aufforderte, den Islam anzunehmen. Sie ließen durch den Arzt Kasassian die deutschen Krankenschwestern flehentlich bitten, sie mit nach Kharput zu nehmen. Die eine schrieb, wenn sie nur Gift hätten, würden sie es nehmen.“

Am folgenden Tage, dem 11. Juni, wurden reguläre Truppen von der 86. Kavalleriebrigade unter Führung ihrer Offiziere in die Kemachschlucht geschickt, um, wie es hieß, die Kurden zu bestrafen. Diese türkischen Truppen haben, wie es die deutschen Krankenschwestern aus dem Munde türkischer Soldaten, die selbst dabei waren, gehört haben, alles, was sie noch von den Karawanen am Leben fanden, fast nur Frauen und Kinder, niedergemacht. Die türkischen Soldaten erzählten, wie sich die Frauen auf die Knie gestürzt und um Erbarmen gefleht hätten, und dann, als keine Hilfe mehr war, ihre Kinder selbst in den Fluß geworfen hätten. Ein junger türkischer Soldat sagte: „es war ein Jammer. Ich konnte nicht schießen. Ich tat nur so“. Andere rühmten sich gegenüber dem deutschen Apotheker, Herrn Gehlsen, ihrer Schandtaten. Vier Stunden dauerte die Schlächterei. Man hatte Ochsenwagen mitgebracht, um die Leichen in den Fluß zu schaffen und die Spuren des Geschehenen zu verwischen. Am Abend des 11. Juni kamen die Soldaten mit Raub beladen zurück. Nach der Metzelei wurde mehrere Tage in den Kornfeldern um Erzingjan Menschenjagd gehalten, um die vielen Flüchtlinge abzuschießen die sich darin versteckt hatten.

In den nächsten Tagen kamen die ersten Züge von Deportierten aus Baiburt durch Erzingjan.

Baiburt.

In der Stadt Baiburt und den umliegenden Dörfern lebten 17 000 Armenier. In verschiedenen aufeinanderfolgenden Transporten wurde die Bevölkerung in den ersten beiden Juniwochen aus den Dörfern und der Stadt ausgetrieben. Zuerst kamen die Dörfer an die Reihe, in denen viele Einwohner schon den Gendarmen und den plündernden Bauern zum Opfer gefallen waren. Drei Tage vor dem Aufbruch der Armenier von Baiburt wurde der armenische Bischof Wartabed Hazarabedjan nach achttägiger Gefangenschaft mit noch sieben angesehenen Armeniern gehenkt. Sieben oder acht andere vornehme Armenier, die sich weigerten, die Stadt zu verlassen, wurden in ihren Häusern getötet, 70 oder 80 andere im Gefängnis geschlagen, in die Wälder geschleppt und dort getötet.

Die Stadtbevölkerung wurde in drei großen Haufen verschickt. Den zweiten Haufen fand man als Leichen an der Straße liegen. Sie waren von türkischen Banden überfallen worden, die die Frauen und Mädchen mitnahmen, die größeren Kinder und die älteren Frauen töteten und die kleinen Kinder an die türkischen Dorfbewohner verteilten. Die Witwe eines angesehenen Armeniers, die bei einem letzten Schub von 400 bis 500 Deportierten war, erzählte von ihren Erlebnissen folgendes:

„Mein Mann starb vor acht Jahren und hinterließ mir, meiner achtjährigen Tochter und meiner Mutter einen ausgedehnten Besitz, von dem wir behaglich leben konnten. Seit Beginn der Mobilisation hat der Kommandant mietfrei in meinem Hause gewohnt. Er sagte mir, ich würde nicht zu gehen brauchen, aber ich fand, daß ich verpflichtet sei, das Schicksal meines Volkes zu teilen. Ich nahm drei Pferde mit mir, die ich mit Vorräten belud. Meine Tochter hatte einige Goldmünzen als Schmuck am Halse, und ich hatte etwa zwanzig Pfund und vier Diamanten bei mir. Alles übrige mußten wir zurücklassen. Unser Trupp brach am 14. Juni auf. Er zählte 400 bis 500 Personen, 15 Gendarmen begleiteten uns. Der Mutessarif (Regierungspräsident) wünschte uns eine „glückliche Reise“. Wir waren kaum zwei Stunden von der Stadt entfernt, als Banden von Dorfbewohnern und Banditen in großer Zahl mit Büchsen, Gewehren, Äxten usw. uns auf der Straße umzingelten und alles dessen beraubten, was wir mit uns hatten. Die Gendarmen selbst nahmen meine drei Pferde und verkauften sie an türkische Muhadjirs. Das Geld dafür steckten sie ein. Sie nahmen weiter mein Geld und das, was meine Tochter am Halse trug, dazu alle unsere Nahrungsmittel. Darauf trennten sie die Männer von uns. Im Verlauf von sieben bis acht Tagen töteten sie einen nach dem andern. Keine männliche Person über 15 Jahre blieb übrig. Zwei Kolbenschläge genügten, um einen abzutun. Neben mir wurden zwei Priester getötet, der aus Terdjan stammende Ter-Wahan und der über 90 Jahre alte Ter-Michael. Die Banditen ergriffen alle gutaussehenden Frauen und Mädchen und entführten sie auf ihren Pferden. Sehr viele Frauen und Mädchen wurden so in die Berge geschleppt, unter ihnen meine Schwester, deren ein Jahr altes Kindchen sie fortwarfen. Ein Türke hob es auf und nahm es mit, wohin, weiß ich nicht. Meine Mutter lief, bis sie nicht mehr laufen konnte. Am Wegrand auf einer Höhe brach sie zusammen. Wir fanden auf der Straße viele von denen, die in den früheren Trupps von Baiburt fortgeführt worden waren. Unter den Getöteten lagen einige Frauen bei ihren Männern und Söhnen. Auch alten Leuten und kleinen Kindern begegneten wir, die noch am Leben waren, aber in jammervollem Zustande. Von vielem Weinen hatten sie die Stimme verloren.

Wir durften nachts nicht in den Dörfern schlafen, sondern mußten uns außerhalb derselben auf der bloßen Erde niederlegen. Um ihren Hunger zu stillen, sah ich die Leute Gras essen. Im Schutze der Nacht wurde von den Gendarmen, Banditen und Dorfbewohnern Unsagbares verübt. Viele unserer Genossen starben vor Hunger und durch Schlaganfälle. Andere blieben am Wegrande liegen, zu schwach, um weiter gehen zu können.

Eines Morgens sahen wir 50 bis 60 Wagen mit 30 türkischen Witwen, deren Männer im Kriege gefallen waren, die von Erzerum kamen und nach Konstantinopel fuhren. Eine dieser Frauen gab einem Gendarmen einen Wink und zeigte auf einen Armenier, den er töten solle. Der Gendarm fragte, ob sie ihn nicht selbst töten wolle, worauf sie antwortete: Warum nicht? Sie zog einen Revolver aus der Tasche und erschoß ihn. Jede dieser türkischen Frauen hatte 5 oder 6 armenische Mädchen von 10 Jahren oder darunter bei sich. Knaben wollten die Türken niemals nehmen; sie töteten alle, und zwar jeden Alters. Diese Frauen wollten mir auch meine Tochter nehmen, aber sie wollte sich nicht von mir trennen. Schließlich wurden wir beide in ihren Wagen genommen, als wir versprachen, Muhammedaner zu werden. Sobald wir in die Araba (Wagen) gestiegen waren, fing sie an, uns zu lehren, was man als Moslem zu tun hat, und änderte unsere christlichen Namen in muhammedanische.

Die schlimmsten und unsagbarsten Greuel blieben uns aufgespart, als wir in die Ebene von Erzingjan und an das Ufer des Euphrat kamen. Die verstümmelten Leichen von Frauen, Mädchen und kleinen Kindern machten jedermann schaudern. Auch den Frauen und Mädchen, die mit uns waren, fügten die Banditen Entsetzliches zu. Ihr Schreien stieg zum Himmel empor. Am Euphrat warfen die Gendarmen alle noch übrigen Kinder unter 15 Jahren in den Fluß. Die schwimmen konnten, wurden erschossen, als sie mit den Wellen kämpften. Als wir Enderes auf der Straße nach Siwas erreichten, waren die Abhänge und Felder besät mit angeschwollenen und schwarz gewordenen Leichen, die die Luft mit ihrem Geruch erfüllten und verpesteten.

Nach 7 Tagen erreichten wir Siwas. Dort war nicht ein Armenier mehr am Leben. Die türkischen Frauen nahmen mich und meine Tochter mit ins Bad und zeigten uns viele andere Frauen und Mädchen, die den Islam hatten annehmen müssen. Auf dem Wege nach Josgad trafen wir 6 Frauen, die den Feredjé (Schleier) trugen, mit ihren Kindern auf dem Arm. Als die Gendarmen die Schleier lüfteten, fanden sie, daß es als Frauen verkleidete Männer waren und erschossen sie auf der Stelle. Nach einer Reise von 32 Tagen erreichten wir Konstantinopel.“

Über den Zustand und das Schicksal der Karawanen von Deportierten, die aus der Gegend von Baiburt und Erzerum durch Erzingjan durchkamen, liegt noch ein weiteres Zeugnis der beiden deutschen Krankenschwestern aus Erzingjan vor:

„Am Abend des 18. Juni gingen wir mit unserem Freunde, Herrn Apotheker Gehlsen, vor unserem Hause auf und ab. Da begegnete uns ein Gendarm, der uns erzählte, daß kaum zehn Minuten oberhalb des Hospitals eine Schar Frauen und Kinder aus der Baiburtgegend übernachtete. Er hatte sie selber treiben helfen und erzählte in erschütternder Weise, wie es den Deportierten auf dem ganzen Wege ergangen sei. Kessé, Kessé sürüjorlar! (Schlachtend, schlachtend treibt man sie!) Jeden Tag, erzählte er, habe er zehn bis zwölf Männer getötet und in die Schluchten geworfen. Wenn die Kinder schrien und nicht mitkommen konnten, habe man ihnen die Schädel eingeschlagen. Den Frauen hätte man alles abgenommen und sie bei jedem neuen Dorf aufs neue geschändet. „Ich selber habe drei nackte Frauenleichen begraben lassen“, schloß er seinen Bericht, „Gott möge es mir zurechnen.“ Am folgenden Morgen in aller Frühe hörten wir, wie die Totgeweihten vorüberzogen. Wir und Herr Gehlsen schlossen uns ihnen an und begleiteten sie eine Stunde weit bis zur Stadt. Der Jammer war unbeschreiblich. Es war eine große Schar. Nur zwei bis drei Männer, sonst alles Frauen und Kinder. Von den Frauen waren einige wahnsinnig geworden. Viele schrien: „Rettet uns, wir wollen Moslems werden, oder Deutsche, oder was ihr wollt, nur rettet uns. Jetzt bringen sie uns nach Kemach und schneiden uns die Hälse ab.“ Dabei machten sie eine bezeichnende Geberde. Andere trabten stumpf und teilnahmslos daher, mit ihren paar Habseligkeiten auf dem Rücken und ihren Kindern an der Hand. Andre wieder flehten uns an, ihre Kinder zu retten. Als wir uns der Stadt näherten, kamen viele Türken geritten und holten sich Kinder oder junge Mädchen. Am Eingang der Stadt, wo auch die deutschen Ärzte ihr Haus haben, machte die Schar einen Augenblick halt, ehe sie den Weg nach Kemach einschlug. Hier war es der reine Sklavenmarkt, nur daß nichts gezahlt wurde. Die Mütter schienen die Kinder gutwillig herzugeben, und Widerstand hätte nichts genützt.“

Als die beiden deutschen Rote-Kreuz-Schwestern am 21. Juni Erzingjan verließen, sahen sie unterwegs noch mehr von dem Schicksal der Deportierten.

„Auf dem Wege begegnete uns ein großer Zug von Ausgewiesenen, die erst kürzlich ihre Dörfer verlassen hatten und noch in guter Verfassung waren. Wir mußten lange halten, um sie vorüber zu lassen, und nie werden wir den Anblick vergessen. Einige wenige Männer, sonst nur Frauen und eine Menge Kinder. Viele davon mit hellem Haar und großen blauen Augen, die uns so toternst und mit solch unbewußter Hoheit anblickten, als wären sie schon Engel des Gerichts. In lautloser Stille zogen sie dahin, die Kleinen und die Großen, bis auf die uralte Frau, die man nur mit Mühe auf dem Esel halten konnte, alle, alle, um zusammengebunden vom hohen Felsen in die Fluten des Euphrat gestürzt zu werden, in jenem Tal des Fluches Kemach-Boghasi. Ein griechischer Kutscher erzählte uns, wie man das gemacht habe. Das Herz wurde einem zu Eis. Unser Gendarm berichtete, er habe gerade erst einen solchen Zug von 3000 Frauen und Kindern von Mamachatun (aus dem Terdjan-Gebiet zwischen Erzerum und Erzingjan) nach Kemach gebracht: „Hep gitdi bitdi!“ „Alle weg und hin!“, sagte er. Wir: „Wenn ihr sie töten wollt, warum tut ihr es nicht in ihren Dörfern? Warum sie erst so namenlos elend machen?“ – „Und wo sollten wir mit den Leichen hin, die würden ja stinken!“, war die Antwort.

Die Nacht verbrachten wir in Enderes in einem armenischen Haus. Die Männer waren schon abgeführt, während die Frauen noch unten hausten. Sie sollten am folgenden Tage abgeführt werden, wurde uns gesagt. Sie selbst aber wußten es nicht und konnten sich deshalb noch freuen, als wir den Kindern Süßigkeiten schenkten. An der Wand unseres Zimmers stand auf Türkisch geschrieben:

„Unsere Wohnung ist die Bergeshöhe,
Ein Zimmer brauchen wir nicht mehr.
Wir haben den bitteren Todestrunk getrunken.
Den Richter brauchen wir nicht mehr.“

Es war ein heller Mondscheinabend. Kurz nach dem Zubettgehen hörte ich Gewehrschüsse mit vorangehendem Kommando. Ich verstand, was es bedeutete, und schlief förmlich beruhigt ein, froh, daß diese Opfer wenigstens einen schnellen Tod gefunden hatten und jetzt vor Gott standen. Am Morgen wurde die Zivilbevölkerung aufgerufen, um auf Flüchtlinge Jagd zu machen. In allen Richtungen ritten Bewaffnete. Unter einem schattigen Baum saßen zwei Männer und teilten die Beute, der eine hielt gerade eine blaue Tuchhose in die Höhe. Die Leichen waren alle nackt ausgezogen, eine sahen wir ohne Kopf.

In dem nächsten griechischen Dorfe trafen wir einen wildaussehenden bewaffneten Mann, der uns erzählte, daß er dort postiert sei, um die Reisenden zu überwachen (d. h. die Armenier zu töten). Er haben deren schon viele getötet. Im Spaß fügte er hinzu, „einen von ihnen habe er zu ihrem Könige gemacht“. Unser Kutscher erklärte uns, es seien die 250 armenischen Wegearbeiter (Inscha’at-Taburi, Armierungssoldaten) gewesen, deren Richtplatz wir unterwegs gesehen hatten. Es lag noch viel geronnenes Blut da, aber die Leichen waren entfernt.

Am Nachmittag kamen wir in ein Tal, wo drei Haufen Wegearbeiter saßen, Moslem, Griechen und Armenier. Vor den Letzteren standen einige Offiziere. Wir fahren weiter einen Hügel hinan. Da zeigt der Kutscher in das Tal hinunter, wo etwa hundert Männer von der Landstraße abmarschierten und neben einer Senkung in einer Reihe aufgestellt wurden. Wir wußten nun, was geschehen würde. An einem anderen Ort wiederholte sich dasselbe Schauspiel. Im Missionshospital in Siwas sahen wir einen Mann, der einem solchen Massaker entronnen war. Er war mit 95 anderen armenischen Wegearbeitern (die zum Militärdienst ausgehoben waren) in eine Reihe gestellt worden. Daraufhin hätten die zehn beigegebenen Gendarmen, soviel sie konnten, erschossen. Die übrigen wurden von andern Moslems mit Messern und Steinen getötet. Zehn waren geflohen. Der Mann selber hatte eine furchtbare Wunde im Nacken. Er war ohnmächtig geworden. Nach dem Erwachen gelang es ihm, den zwei Tage weiten Weg nach Siwas zu machen. Möge er ein Bild seines Volkes sein, daß es die ihm jetzt geschlagene tödliche Wunde verwinden könne!

Eine Nacht verbrachten wir im Regierungsgebäude zu Zara. Dort saß ein Gendarm vor der Tür und sang unausgesetzt: „Ermenileri hep kesdiler“ (Die Armenier sind alle abgeschlachtet). Am Telephon im Nebenraum unterhielt man sich über die noch Einzufangenden. Einmal übernachteten wir in einem Hause, wo die Frauen gerade die Nachricht vom Tode ihrer Männer erhalten hatten und die Nacht hindurch wehklagten. Der Gendarm sagte: „Dies Geschrei belästigt euch! Ich will hingehen und es ihnen verbieten.“ Glücklicherweise konnten wir ihn daran verhindern. Wir versuchten es, mit den Ärmsten zu reden, aber sie waren ganz außer sich: „Was ist das für ein König, der so etwas zuläßt? Euer Kaiser muß doch helfen können. Warum tut er es nicht?“ usw. Andere waren von Todesangst gequält. „Alles, alles mögen sie uns nehmen bis aufs Hemd, nur das nackte Leben lassen.“ Das mußten wir immer wieder mit anhören und konnten nichts tun, als auf den hinweisen, der den Tod überwunden hat.“


3. Wilajet Siwas.


Das Wilajet Siwas zählte unter 1 086 500 Bewohnern 271 500 Christen, nämlich 170 500 Armenier, 76 000 Griechen und 25 000 Syrer. Die muhammedanische Bevölkerung besteht zu ⅔ aus sunnitischen Türken, Turkmenen und Tscherkessen, zu ⅓ aus schiitischen Kisilbasch.

Vor der allgemeinen Deportation waren im Wilajet Siwas die Zustände die gleichen, wie in den Wilajets Trapezunt und Erzerum. Organisierte Banden plünderten die Dörfer. Die Gendarmen drangen unter dem Vorwande, Waffen zu suchen, in die Häuser ein, plünderten, vergewaltigten die Frauen und folterten die Bauern, um Geld zu erpressen. Jeder, der sich beklagte, wurde verhaftet. Alle Militärdienstfähigen, auch die, welche sich durch „Bedel“, die gesetzliche Militärbefreiungssteuer (44 türk. Pfd., ca. 800 Mark für die Person) losgekauft hatten, wurden ausgehoben und als Träger und Straßenarbeiter hinausgeschickt. Als man hörte, daß die Träger unterwegs aus Nahrungsmangel an Entkräftung umkamen, und daß die Wegearbeiter von ihren muhammedanischen Kameraden erschossen wurden, flohen viele, die noch nicht eingezogen waren, in die Berge, worauf die Regierung ihre Häuser verbrannte. In diesem, wie auch in allen andern Wilajets, wurde die Entwaffnung systematisch durchgeführt, ehe die Massakers und Deportationen begannen. Die Entwaffnung in den Dörfern ging in der Weise vor sich, daß ohne vorherige Ansage oder öffentlichen Anschlag die Dörfer von Gendarmen umzingelt und nach Belieben zwei- oder dreihundert Feuerwaffen von der Bevölkerung gefordert wurden. Konnten der Dorfschulze und die Ältesten etwa nur 50 aufbringen, so wurden die Notabeln eingekerkert und mit der Bastonnade traktiert. In der Stadt Siwas wurde für die Auslieferung der Waffen fünf Stunden Frist gegeben. Fand sich nachher in den Häusern noch irgend etwas, das einer Waffe ähnlich sah, so wurden die Häuser angezündet und die Bewohner getötet.

Dann begann man mit den Verhaftungen der Notabeln und Daschnakzagan in den Städten. In Siwas wurden 1200, in Schabin-Karahissar 50 verhaftet und ohne Verhör abgeführt. Bei den Haussuchungen fahndete die Behörde auf Schriftstücke oder Briefe, aus denen man Beweise für regierungsfeindliche Gesinnung oder Anschläge irgendwelcher Art herleiten konnte. Obwohl nirgends etwas gefunden wurde, verbreiteten die Behörden das lügenhafte Gerücht, daß Hunderte von Bomben und Tausende von Gewehren bei den Armeniern entdeckt worden seien, und daß die Daschnakzagan das Pulvermagazin hätten in die Luft sprengen wollen. Beweise brauchte die Regierung der leichtgläubigen muhammedanischen Bevölkerung nicht zu erbringen, erreichte aber damit die beabsichtigte Aufreizung der Muhammedaner gegen die Christen.

Nachdem alle Intellektuellen verhaftet waren, erging der Befehl der allgemeinen Deportation. Die den Armeniern drohende Gefahr wurde von den Beamten unter dem Vorgehen, daß sie es in der Hand hätten, die Deportation zu verhindern, zu großen Erpressungen ausgebeutet. Die Armenier von Tokat gaben ihrem Mutessarif 1600 türkische Pfund (ca. 30 000 Mark), um von der Deportation verschont zu bleiben.

Mersiwan.

In Mersiwan waren bereits, wie überall seit dem Beginn des Krieges, die Militärpflichtigen einberufen. Bis auf eine Anzahl von wohlhabenden Armeniern, die die gesetzliche Militärbefreiungssteuer bezahlt hatten, wurde alles, was diensttauglich war, von der Regierung herangezogen. Für die Frauen und Kinder, die ohne Mittel für den Lebensunterhalt zurückblieben, war es eine schwierige Lage. In vielen Fällen wurde das letzte Geld ausgegeben, um den ausziehenden Soldaten auszustatten. Da die Bevölkerung der Stadt zur Hälfte armenisch war, blieb eine beträchtliche Anzahl von nichtmilitärpflichtigen Armeniern in der Stadt zurück. Die Bevölkerung zählte vor der Deportation etwa 22 000, von denen gegen 12 000 Armenier waren. Der Bericht eines amerikanischen Missionars vom Kollege in Mersiwan lautet:

„Die Maßregeln der Regierung gegen die armenische Bevölkerung, für die kein Anlaß vorlag, begannen Anfang Mai damit, daß mitten in der Nacht etwa 20 von den Führern der konstitutionellen armenischen Partei aufgegriffen und verschickt wurden. Im Juni fing die Regierung an, nach Waffen zu suchen. Einige Armenier wurden ergriffen und ihnen auf der Folter das Geständnis ausgepreßt, daß eine große Masse Waffen in den Händen der Armenier sei. Eine zweite Inquisition begann. Von der Bastonnade wurde häufig Gebrauch gemacht, ebenso von Torturen mit Feuer. In einigen Fällen sollen die Augen ausgestochen worden sein. Viele Gewehre wurden abgeliefert, aber nicht alle. Die Leute fürchteten, sie würden, wenn sie alle Waffen abgeben, massakriert werden wie im Jahre 1895. Waffen waren nach der Erklärung der Konstitution mit Erlaubnis der Regierung eingeführt worden und dienten nur zur Selbstverteidigung. Die Folter wurde mehr und mehr angewendet, und unter ihrem Einfluß entstanden die angeblichen Tatsachen, die dann kolportiert wurden. Die körperlichen Leiden und die Nervenanspannung preßten den Betroffenen Aussagen ab, die sich nicht auf Tatsachen gründeten. Diejenigen, die die Torturen ausübten, pflegten den Opfern vorzusprechen, welche Bekenntnis sie von ihnen erwarteten, und schlugen sie so lange, bis sie das Gewünschte bekannten. Der Mechaniker des amerikanischen Kollege hatte eine eiserne Kugel für Turnspiele angefertigt. Er wurde entsetzlich geschlagen, in der Absicht, durch seine Aussage dem Kollege das Anfertigen von Bomben anzuhängen. Auf einem armenischen Friedhof wurden einige Bomben entdeckt, was die Wut der Türken auf das Äußerste reizte. Es hätte aber gesagt werden sollen, daß diese Bomben in der Zeit Abdul Hamids dort vergraben worden sind.

Am Sonnabend den 26. Juni gegen 1 Uhr mittags gingen Gendarmen durch die Stadt und trieben alle armenischen Männer zusammen, die sie finden konnten, Alte und Junge, Arme und Reiche, Kranke und Gesunde. In einigen Fällen brach man in die Häuser ein und riß kranke Männer aus den Betten. In den Kasernen wurden sie eingesperrt und während der nächsten Tage in Gruppen von 30 bis 150 verschickt. Sie mußten zu Fuß gehen. Viele wurden ihrer Schuhe und anderer Kleidungsstücke beraubt. Einige waren gefesselt. Die erste Gruppe erreichte Amasia und sandte aus verschiedenen Orten Nachricht. (Man sagt, es sei dies eine Maßnahme der Regierung gewesen, um die Nachfolgenden zu täuschen.) Von keinem der nach ihnen Ausziehenden hat man wieder etwas gehört. Von verschiedenen Berichten, die im Umlauf waren, lautete der einzige, der allgemein als wahr angenommen wurde, sie seien getötet worden. Ein griechischer Treiber berichtete, er habe den Hügel gesehen, unter dem sie begraben wurden. Ein anderer Mann, der zur Regierung in Beziehung stand, gab auf eine direkte Frage zu, daß die Männer getötet worden seien.

Durch Verwendung eines Türken gelang es dem Kollege, diejenigen unter den Lehrern, die schon weggeholt worden waren, wieder frei zu bekommen und für alle seine Lehrer und Angestellten einen Aufschub des Vorgehens zu erlangen. Hierfür wurde der Betrag von 275 türkischen Pfund gezahlt (5000 Mark). Später erklärte derselbe Beamte, er glaube, eine dauernde Befreiung der ganzen Kollegeangestellten erwirken zu können durch Zahlung weiterer 300 Pfund. Das Geld wurde versprochen, aber nach einigen Verhandlungen, die bewiesen, daß eine endgültige Zusicherung nicht zustande kommen würde, ließ man die Sache fallen.

Der[WS 2] Leiter des amerikanischen Kollege hatte sich inzwischen mit dem amerikanischen Botschafter in Verbindung gesetzt. Dieser versuchte, bei dem Minister des Innern, Talaat Bey, zu erwirken, daß wenigstens die armenischen Lehrerfamilien des Kollege und gegen 100 Schülerinnen, die man im Kollege zurückbehalten hatte, um sie vor der Deportation und den damit verbundenen Schändlichkeiten zu bewahren, unter dem Schutze der türkischen Behörden in Mersiwan zurückbleiben könnten. Talaat Bey sicherte die Erfüllung dieser Bitte zu und erklärte dem Botschafter, er habe nach Mersiwan telegraphiert, daß alle, die unter dem Schutz der Amerikaner seien, verschont bleiben sollten. Trotzdem wurden zuletzt auch die armenischen Lehrerfamilien und die hundert zurückgebliebenen Schülerinnen der Amerikaner mit verschickt.

Nachdem schon einige Gruppen von Armeniern deportiert worden waren, gingen Ausrufer durch die Straßen der Stadt und verkündeten, daß alle männlichen Armenier zwischen 15 und 70 Jahren sich in den Kasernen zu melden hätten. Die Ankündigung besagte weiter, daß Gehorsamsverweigerung den Tod und das Niederbrennen der Häuser zur Folge haben würde. Die armenischen Priester gingen von Haus zu Haus und rieten den Leuten, der Anordnung zu folgen. Diejenigen, die sich meldeten, wurden in Gruppen verschickt, und der Erfolg war der, daß innerhalb weniger Tage tatsächlich alle armenischen Männer aus der Stadt entfernt waren.

Am 3. oder 4. Juli wurde ein Befehl ausgegeben, daß die Frauen und Kinder sich bereit halten sollten, am folgenden Mittwoch (den 7. Juli) aufzubrechen. Den Leuten wurde mitgeteilt, daß die Regierung jedem Haus einen Ochsenkarren zur Verfügung stellen würde, und daß sie Nahrung für einen Tag, einige Piaster (1 Piaster gleich 15 Pfg.) und ein kleines Bündel Kleider mitnehmen dürften. Die Leute bereiteten sich vor, diese Befehle auszuführen, indem sie alle nur möglichen Haushaltungsgegenstände auf den Straßen verkauften. Die Sachen wurden für weniger als 10 % des gewöhnlichen Wertes verkauft, und Türken aus den benachbarten Dörfern füllten, erpicht auf ein gutes Geschäft, die Straßen. An einigen Stellen nahmen die Türken gewaltsam Gegenstände an sich, aber die Regierung bestrafte solche Fälle, wenn sie entdeckt wurden.

Am 5. Juli, ehe der Befehl, die Frauen auszutreiben, ausgeführt war, ging einer der Missionare zur Regierung, um im Namen der Humanität gegen die Ausführung des Befehls Einspruch zu erheben. Es wurde ihm mitgeteilt, daß der Befehl nicht von den Ortsbehörden ausginge, sondern daß von oben Befehl gekommen sei, nicht einen einzigen Armenier in der Stadt zu lassen. Der Kommandant versprach indessen, das Kollege bis zuletzt lassen zu wollen, und erlaubte allen, die mit den amerikanischen Instituten in Verbindung standen, sich in den Bereich des Kolleges zu begeben. Das taten sie, und so wohnten 300 Armenier zusammen auf dem Grundstück des Kollege.

Die Bevölkerung sollte bereit sein, am Mittwoch aufzubrechen, aber am Dienstag gegen ½4 Uhr morgens erschienen die Ochsenkarren vor den Türen des ersten Bezirkes, und den Leuten wurde befohlen, sofort aufzubrechen. Einige wurden sogar ohne genügende Bekleidung aus den Betten geholt. Den ganzen Morgen zogen die Ochsenkarren knarrend zur Stadt hinaus, beladen mit Frauen und Kindern und ab und zu einem Mann, der der ersten Deportation entgangen war. Die Frauen und Mädchen trugen den türkischen Schleier, damit ihre Gesichter nicht dem Blick der Treiber und Gendarmen ausgesetzt waren, rohen Gesellen, die aus anderen Gegenden nach Mersiwan gebracht worden waren. In vielen Fällen sind Männer und Brüder dieser selben Frauen in der Armee und kämpfen für die türkische Regierung.

Die Panik in der Stadt war schrecklich. Die Leute fühlten, daß die Regierung entschlossen war, die armenische Rasse auszurotten, und sie hatten keinerlei Macht, sich zu widersetzen. Sie waren sicher, daß die Männer getötet und die Frauen entführt werden würden. Aus den Gefängnissen waren viele Sträflinge entlassen, und die Berge um Mersiwan waren voll von Banden von Verbrechern. Man fürchtete, die Kinder und Frauen würden in einige Entfernung von der Stadt gebracht und der Gnade dieser Banditen überlassen werden. Wie dem auch sei, jedenfalls gibt es erweisbare Fälle, daß anziehende junge armenische Mädchen von den türkischen Beamten von Mersiwan entführt worden sind. Ein Muhammedaner berichtete, daß ein Gendarm ihm angeboten habe, ihm zwei Mädchen für einen Medjidijeh (3,60 Mk.) zu verkaufen. Die Frauen glaubten, daß sie Schlimmerem als dem Tod entgegengingen, und viele trugen Gift in der Tasche, um es im Notfalle zu gebrauchen. Einige nahmen Hacken und Schaufeln mit, um die zu begraben, die, wie zu erwarten, auf dem Wege sterben würden.

Während dieser Schreckensherrschaft wurde bekannt gemacht, daß es leicht möglich sei, der Deportation zu entgehen, und daß jeder, der den Islam annehme, friedlich zu Hause bleiben dürfe. Die Bureaus der Beamten, die die Gesuche protokollierten, waren dicht gefüllt mit Leuten, die zum Islam übertreten wollten. Viele taten es ihrer Frauen und Kinder wegen, in der Empfindung, daß es nur eine Frage der Zeit sei, bis ihnen der Rücktritt ermöglicht werden würde.

Die Deportation dauerte mit Unterbrechungen etwa zwei Wochen. Schätzungsweise sind von 12 000 Armeniern in Mersiwan nur ein paar Hundert übrig geblieben. Auch solche, die sich erboten, den Islam anzunehmen, wurden dann doch fortgeschickt. Bis zum Augenblick, wo ich dieses schreibe, ist noch keine sichere Nachricht von irgend einem der Transporte gekommen. Ein griechischer Treiber berichtete, daß in einem kleinen Dorf, einige Stunden von Mersiwan, die wenigen Männer von den Frauen getrennt, geschlagen, angekettet und als ein besonderer Transport weiter geschickt wurden. Ein türkischer Treiber erzählt, er habe die Karawane unterwegs gesehen. Die Leute waren so mit Staub und Schmutz bedeckt, daß man die Gesichtszüge kaum erkennen konnte.

Selbst wenn das Leben dieser Vertriebenen geschützt werden sollte, fragt man sich, wieviel wohl fähig sein werden, die Beschwerden einer solchen Reise zu ertragen, einer Reise über die heißen Hügel, voll Staub, ohne Schutz gegen die Sonne, mit kärglicher Nahrung und wenig Wasser, in der beständigen Furcht vor dem Tode oder einem schlimmeren Schicksal.

Die meisten Armenier im Distrikt von Mersiwan waren vollkommen hoffnungslos; manche sagten, es sei schlimmer als ein Massaker; niemand wußte, was kommen würde, aber alle spürten, daß es das Ende sei. Selbst die Priester und Führer konnten kein Wort der Ermutigung und Hoffnung finden. Viele zweifelten an der Existenz Gottes. Unter der scharfen Nervenanspannung verloren viele den Verstand, einige für immer. Es gab auch Beispiele von größtem Heroismus und Glauben, und einige traten ruhig und mutig die Reise an mit den Abschiedsworten: „Betet für uns; in dieser Welt sehen wir uns nicht wieder, aber einmal werden wir uns wiedersehen.“

Soweit der Bericht des amerikanischen Missionars.

Von Familien, die zum Islam konvertiert in Mersiwan zurückbleiben durften, werden genannt die Familien Danieljan, Kambesian, Keschischian, Vardaserian, Salian, Wahan Bogossian, Kelkelian, Jeremian, Mikaëlian, Hadjik Gendschian. Die letztere heißt jetzt Kendji-Zade-Kemal.

In Amasia sind nach der Deportation das armenische Viertel, der Bazar, die armenische und die griechische Kirche von den Tücken angezündet worden.

Aus Gemerek (zwischen Kaisarieh und Siwas) wurden alle Armenier deportiert, aber sie erreichten Siwas nicht. Die Männer und Knaben wurden getötet, Frauen und Kinder wurden an türkische Offiziere und Beamte verteilt.

Eine Episode der Deportation von Gemerek, die von den deutschen Rote-Kreuz-Schwestern berichtet wurde, verdient noch Erwähnung:

„Als die Männer alle fort waren, bekamen die älteren Frauen die Erlaubnis, zu gehen, wohin sie wollten, aber 30 der hübschesten jungen Frauen und Mädchen wurden zusammengeholt, und man sagte ihnen: „Entweder ihr werdet Moslem oder ihr sterbt!“ – „Dann sterben wir“, lautete die kühne Antwort. Daraufhin wurde an den Wali in Siwas telegraphiert, der die Weisung gab, diese tapferen jungen Bekennerinnen, deren viele in amerikanischen Schulen erzogen worden sind, an Moslems zu verteilen.“

Der Bericht der deutschen Schwestern schließt hierauf mit den Worten: „Von der russischen Grenze bis westlich von Siwas ist das Land jetzt ziemlich vollständig von Armeniern gesäubert. Es ist nur ein trauriger Trost, daß die Türkei durch das Hinmorden ihrer besten Leute sich selbst ruiniert hat. Die Türken selbst freuen sich auf den Tag, wo eine fremde Macht die Zügel in die Hand nehmen und Gerechtigkeit schaffen wird. Die vollbrachten Untaten wurden keineswegs allgemein vom türkischen Volke als solchem gebilligt, wohl aber von den sogenannten gebildeten Türken.“

Der einzige Ort, in dem es im Wilajet Siwas zu einem Widerstand der armenischen Bevölkerung kam, war Schabin-Karahissar. Schabin-Karahissar liegt nördlich von der Straße Erzingjan-Siwas, in den Abhängen der pontischen Gebirgskette, die das Wilajet Trapezunt von den Wilajets Erzerum und Siwas scheidet. Die Bewohner von Schabin-Karahissar galten als tapfer. Alle Dörfer in der Umgegend von Schabin-Karahissar waren Mitte April entwaffnet worden. Das Dorf Purk, südwestlich von Karahissar war bereits zerstört und die Bevölkerung massakriert worden. In der ersten Hälfte des Juni fing die Regierung auch in Schabin-Karahissar mit Verhaftungen an. Die Nachrichten von den Schlächtereien im Kemach-Tal und dem Schicksal der Deponierten, die durch Erzingjan getrieben wurden, waren nach Schabin-Karahissar gedrungen. Als nun die Regierung die verhafteten Daschnakzagan hängen wollte und die Deportation verfügt war, machte die armenische Bevölkerung von Schabin-Karahissar eine Demonstration, um gegen das ihr drohende Schicksal zu protestieren. Darauf wurde die Stadt von türkischem Militär aus Erzingjan zerniert. Einige Hundert Armenier flüchteten sich auf den steilen Burgfelsen, auf dem sich ein altes Schloß aus der byzantinischen Zeit befindet und verbarrikadierten sich dort, bis am 3. Juli das Schloß von türkischen Kanonen zusammengeschossen wurde. Die Verteidiger wurden getötet. Einige flüchteten sich in die Berge. Darauf wurden alle Männer der Stadt im Alter von 18 bis 55 Jahren unter dem Vorgeben, sie zum Militär auszuheben abgeführt, und die übrige Bevölkerung von Frauen und Kindern in derselben Weise wie im ganzen Wilajet deportiert. Auch in der Umgegend wurden von türkischem Militär alle christlichen Dörfer, darunter auch 10 griechische, eingeäschert und die Bevölkerung teils massakriert, teils deportiert.


Zileh.


Aus Zileh (südlich von Amasia) wird folgender Vorfall berichtet:

Ein armenischer Soldat, der verwundet war und von der Front in seine Heimat Zileh zurückkehrte, erzählte, daß er Zeuge gewesen sei, wie man den Bischof von Siwas, ehe man ihn in die Verbannung schickte, wie ein Pferd mit Hufeisen beschlug. Der Wali hatte diese Tortur scherzhaft damit begründet, daß man einen Bischof unmöglich barfuß gehen lassen könne.[10]

Als der armenische Soldat in seine Heimat nach Zileh kam. waren die Behörden damit beschäftigt, die Armenier der Stadt zu deportieren. Die Männer wurden in Gruppen zusammengebunden in die Berge vor die Stadt geführt und dort getötet, die Frauen und Kinder ließ man auf freiem Felde mehrere Tage ohne Nahrung lagern, bis man glaubte, daß sie mürbe geworden wären, um den Islam anzunehmen. Da sie alle sich weigerten, erstach man die Mütter vor den Augen ihrer Kinder mit dem Bajonett. Darauf wurden die Kinder verkauft. (Die Stadt hatte etwa 5000 armenische Einwohner.) Dem Soldaten und seinem Bruder gelang es, indem sie sich als Muhammedaner einschreiben ließen, wieder zur Armee geschickt zu werden.


Stadt Siwas.


In Siwas wurden nach der Verhaftung aller einflußreichen Armenier 8 oder 10 gehängt. Sodann wurden die Verhafteten nach Josgad transportiert. Die allgemeine Deportation ging schubweise vor sich. Als der amerikanische Missionar Partridge Siwas verließ, waren bereits zwei Drittel der Bevölkerung deportiert und 500 Häuser von den Behörden versiegelt. Jede Familie erhielt einen Ochsenkärren.

Die armenischen Ärzte, die seit Anfang des Krieges im Militärlazarett sieben Monate lang Typhuskranke gepflegt hatten, wurden ins Gefängnis geworfen. Ein besonderer Fall wird noch von amerikanischer Seite erzählt: Eine den Missionaren bekannte Armenierin, deren Mann viele Monate lang im amerikanischen Hospital als Pfleger verwundeter Soldaten gedient hatte, bekam Typhus und wurde in das Hospital gebracht. Ihre alte Mutter, die zwischen 60 und 70 Jahre alt war, stand vom Krankenbett auf, um für die 7 Kinder der typhuskranken Frau zu sorgen, von denen das älteste etwa 12 Jahre alt war. Einige Tage vor der Deportation wurde der Mann der Kranken gefangen gesetzt und, ohne daß er sich etwas hätte zu schulden kommen lassen, in die Verbannung verschickt. Als das Stadtviertel, in dem sie wohnten, fortziehen mußte, verließ die typhuskranke Frau das Hospital, und ließ sich auf einen Ochsenkarren setzen, um mit ihren Kindern abzuziehen.

Als die beiden deutschen Rote-Kreuz-Schwestern am 28. Juni nach Siwas kamen, war die ganze armenische Bevölkerung bereits weggeführt, und sie hörten, daß alle getötet worden seien.


4. Wilajet Kharput (Mamuret ül Aziz).


Das Wilajet Kharput zählte unter 575 300 Einwohnern 174 000 Christen, nämlich 168 000 Armenier, 5000 Syrer und 1000 Griechen. Die muhammedanische Bevölkerung setzt sich zusammen aus 180 000 schiitischen Kisilbasch, 95 000 Kurden (75 000 seßhaften und 20 000 Nomaden), 126 300 Türken.

Ende Juni und Anfang Juli, um dieselbe Zeit, zu der in den Wilajets Trapezunt, Erzerum und Siwas die allgemeine Deportation stattfand, wurde auch die Deportation der armenischen Bevölkerung der Provinz Kharput durchgeführt. In den offiziellen türkischen Communiqués wird wiederholt erklärt, daß nur aus den strategisch bedrohten Grenzgebieten Armenier deportiert worden seien. Das Wilaiet Kharput liegt völlig abseits von jedem Kriegsschauplatz mitten im Lande, in die gewaltigen Hochgebirgsketten eingebettet, die das Innere von Kleinasien fast unzugänglich machen, kein Russe oder Engländer hatte je Aussicht, hierherzukommen.

Über den Hergang bei der Deportation der armenischen Bevölkerung von Kharput berichtet der amerikanische Konsul von Kharput, Leslie A. Davis, das Folgende.

Der Inhalt des Berichtes stimmt mit Nachrichten aus deutscher Quelle überein.

Amerikanischer Konsularberlcht.

Kharput, den 11. Juli 1915.

„Der erste Transport erfolgte in der Nacht des 23. Juni. Darunter waren einige Professoren des amerikanischen Kollege und andere angesehene Armenier, sowie der Prälat der armenisch-gregorianischen Kirche. Es liefen Gerüchte um, daß sie alle getötet seien, und es ist leider kaum zu bezweifeln, daß es der Fall ist. Alle armenischen Soldaten sind ebenfalls auf die gleiche Weise fortgeschickt worden. Nachdem sie verhaftet waren, wurden sie in einem Gebäude am Ende der Stadt eingesperrt. Es wurde kein Unterschied gemacht zwischen denen, die ihre gesetzliche Abgabe für die Militärbefreiung gezahlt hatten, und denen, die es nicht getan hatten. Das Geld wurde angenommen, und dann wurden sie arretiert wie die andern und mit diesen weggeschickt. Es hieß, sie sollten irgendwohin gebracht werden, um auf den Straßen zu arbeiten, aber niemand hat wieder von ihnen gehört, und zweifellos ist ihre Arbeit nur ein Vorwand gewesen.

Wie zuverlässige Berichte über einen gleichen Vorfall erkennen lassen, der sich am Mittwoch den 7. Juli abspielte, ist ihr Schicksal so gut wie entschieden. Am Montag den 5. Juli wurden viele Männer arretiert und sowohl in Kharput als auch in Mesereh[11] ins Gefängnis geworfen. Am Dienstag bei Tagesanbruch wurden sie herausgeholt und mußten in der Richtung auf einen fast unbewohnten Berg zu marschieren. Es waren zusammen, etwa 800 Leute, in Gruppen von jedesmal 14 aneinandergebunden. An jenem Nachmittag kamen sie in einem kleinen kurdischen Dorf an, wo sie in der Moschee und anderen Gebäuden übernachteten. Während dieser ganzen Zeit hatten sie weder Essen noch Wasser. All ihr Geld und viele ihrer Kleidungsstücke waren ihnen abgenommen worden. Am Mittwoch früh wurden sie in ein Tal gebracht, welches einige Minuten entfernt war. Dort hieß man sie alle sich hinsetzen. Dann fingen die Gendarmen an, auf sie zu schießen, bis sie fast alle getötet waren. Einige von ihnen, die von den Kugeln nicht dahingerafft waren, wurden mit Messern und Bajonetten beseitigt. Einzelnen war es gelungen, das Seil, mit dem sie an ihre Leidensgefährten gebunden waren, zu zerreißen und zu flüchten. Aber die meisten von ihnen wurden bei der Verfolgung getötet. Die Zahl derer, die dennoch davon gekommen sind, ist sicher nicht mehr als zwei oder drei.

Unter den Getöteten war der Schatzmeister des amerikanischen Kolleges. Ferner gehörten viele andere angesehene Männer dazu. Eine Anklage irgend welcher Art ist niemals gegen diese Leute erhoben worden. Arretiert und getötet wurden sie mur, weil der allgemeine Plan besteht, die armenische Rasse zu beseitigen.

Gestern abend sind mehrere Hundert weiterer Männer, sowohl solche, die von der Zivilbehörde verhaftet waren, als auch solche, die als Soldaten ausgehoben waren, in einer anderen Richtung abgeführt und in ähnlicher Weise ermordet worden. Es soll an einem Ort geschehen sein, der keine zwei Stunden von hier entfernt ist. Wenn es ein wenig ruhiger geworden ist, werde ich hinausreiten und versuchen, selbst festzustellen, was daran ist.

Dieselbe Sache ist systematisch in unseren Dörfern durchgeführt worden. Vor ein paar Wochen wurden 300 Männer aus Itschmeh und Habusi, zwei Dörfern, vier und fünf Stunden von hier entfernt, zusammengebracht und dann in die Berge geführt und massakriert. Das scheint vollkommen sicher zu sein. Viele Frauen aus jenen Dörfern sind seitdem hier gewesen und haben es berichtet. Gerüchte von ähnlichen Ereignissen an anderen Orten gehen um. Es scheint ein definitiver Plan vorzuliegen, alle armenischen Männer zu beseitigen. Doch wurde nach der Abreise der Familien während der ersten paar Tage, an denen der Zwangsbefehl vollstreckt wurde, bekannt gegeben, daß Frauen und Kinder, die keine Männer in der Familie hätten, vorläufig dableiben könnten. Da hofften viele, das Schlimmste sei vorüber. Die amerikanischen Missionare fingen an, Pläne zu machen, um den Frauen und Kindern, die ohne Mittel für ihren Unterhalt zurückgeblieben waren, zu helfen. Man dachte daran, vielleicht ein Waisenhaus zu errichten, um für einige der Kinder zu sorgen, besonders für diejenigen, die in Amerika geboren und dann von ihren Eltern hierher gebracht worden waren, und auch für diejenigen, deren Eltern in irgend einer Weise mit der amerikanischen Mission verbunden gewesen waren. Es wäre reichliche Gelegenheit gewesen, wenn auch nicht ausreichende Mittel vorhanden waren, auch für Kinder zu sorgen, die mit den Deportierten aus anderen Wilajets hier durchkamen, und deren Eltern unterwegs gestorben sind.

Ich ging gestern zum Wali, um mit ihm darüber zu sprechen, und erhielt eine glatte Absage. Er sagte: „Wir könnten diese Leute unterstützen, wenn wir wollten, aber Waisenhäuser für die Kinder einzurichten, sei Sache der Regierung, und wir könnten keine derartige Arbeit in die Hand nehmen.“

Eine Stunde, nachdem ich den Wali verlassen hatte, wurde bekannt gegeben, daß alle hier noch zurückgebliebenen Armenier einschließlich der Frauen und Kinder am 13. Juli fortmüßten.“

Der Konsul schließt seinen Bericht mit der Bemerkung, daß „ein Hilfswerk voraussichtlich unnötig sein wird, da alle überlebenden Männer getötet werden und die noch verbleibenden Frauen und Kinder gezwungen sein werden, den Islam anzunehmen.“

Geld, das von Erzerum und Erzingjan für die Deportierten an die Adresse der Amerikaner von Kharput gesandt wurde, wurde vom Postamt nicht ausgezahlt.

Ein amerikanischer Missionar aus Kharput schreibt:

„Obwohl ich den Verlust von Hunderten von Freunden beklage, will ich doch versuchen, für einige Augenblicke meinen tiefen Schmerz zurückzudrängen, um mit wenigen Worten die große Not zu beschreiben, die ich zu meinem tiefen Leidwesen weder verhindem noch lindern konnte. Vielleicht kann ich durch mein Schreiben dazu mitwirken, daß Mittel und Wege gefunden werden, um den kleinen Überrest zu erhalten.

Das amerikanische Kollege in Kharput hat die folgenden Verluste zu verzeichnen:

Von unseren Gebäuden befinden sich sieben in den Händen der Regierung; eines von diesen wird von Gendarmen bewohnt, die andern stehen leer. Die Verluste an Habe, Gut und Menschenleben kann ich nicht genau angeben. Manches ist geraubt, anderes zerstört und verschüttet, so daß wir kaum hoffen können, das Verlorene je wieder in unseren Besitz zu bringen.

Vom Euphrat-Kollege (dies ist der Name des amerikanischen Kollege in Kharput) sind die Mehrzahl unserer Schüler und Schülerinnen, etwa zwei Drittel der Mädchen und sieben Achtel der Knaben, deportiert worden. Sie sind teils getötet, teils verschickt, teils in türkische Harems gebracht worden. Von den Professoren des Kollege sind vier getötet worden und drei am Leben geblieben.

Professor M. Tenekedjian, der 35 Jahre am Kollege tätig war, wurde am 1. Mai verhaftet und ins Gefängnis geworfen, wo ihm Haare und Bart ausgerissen wurden, um durch diese Foltern Geständnisse zu erzwingen. Nachdem er tagelang kein Essen bekommen hatte, hängte man ihn an den Händen auf und ließ ihn Tag und Nacht so hängen. Am 20. Juni wurde er mit einem Transport nach Diarbekir verschickt und unterwegs getötet.

Professor Kh. Nahigian, der 25 Jahre am Kollege Physik lehrte, wurde am 5. Juni verhaftet, in die Verbannung geschickt und getötet.

Professor H. Budjiganian war 16 Jahre am Kollege tätig. Er hatte in Edinburg studiert und lehrte Philosophie und Psychologie. Er wurde ebenfalls verhaftet, erlitt dieselben Torturen wie Professor Tenekedjian, außerdem wurden ihm drei Fingernägel ausgerissen; auch er wurde getötet.

Professor Worberian war 20 Jahre am Kollege tätig. Im Juli wurde er verhaftet. Als im Gefängnis andere Armenier vor seinen Augen zu Tode geprügelt wurden, erkrankte er an Geistesstörung; später wurde er mit seiner Familie nach Malatia verschickt und dort getötet.

Die drei Professoren, die am Leben blieben, konnten demselben Schicksal nur dadurch entgehen, daß sie einen hohen Preis zahlten.

Professor Sogigian stand 25 Jahre im Dienste des Kolleges. Er wurde am 1. Mai verhaftet. Da er im Gefängnis erkrankte, entging er den Folterungen und kam ins Hospital. Er zahlte eine hohe Summe und blieb seitdem verschont.

Professor Chatschadurian war 15 Jahre als Musiklehrer am Kollege tätig. Er wurde begnadigt, da er dem Statthalter viele Dienste erwiesen hatte.

Professor Lüledjian stand 15 Jahre im Dienst des Kolleges. Er hatte in Cornell [WS 3] und Yale studiert und lehrte Biologie. Er wurde am 5. Juni verhaftet und im Gefängnis geschlagen. Der Wali selbst beteiligte sich an der Prügelung. Als er dabei ermüdete, sagte er zu den anderen, wer seine Religion und sein Volk lieb habe, möge weiter schlagen. Der Geprügelte verlor das Bewußtsein, wurde in ein dunkles Verließ geworfen und dann, schwer verwundet, in ein Hospital gebracht.

Von der Knabenabteilung wurden 4 Lehrer getötet; von drei anderen fehlt jede Nachricht, wahrscheinlich sind sie getötet. Zwei weitere liegen krank im Hospital, einer ist verschwunden, und einer kam frei, weil er sein Haus an den Wali vermietet hat. Ein anderer Armenier kam frei, weil er der Tischler des Wali war.

Eine Zusammenstellung unserer Verluste ergibt, däß wir sieben Achtel der Gebäude, drei Viertel der Kinder und die Hälfte unserer Lehrer eingebüßt haben. Drei Viertel der ganzen Bevölkerung Kharputs, unter ihnen Kaufleute, Lehrer, Prediger, Priester, Regierungsbeamte, sind verschickt worden. Die übrigen haben keine Gewähr, daß sie werden bleiben können, da der Wali darauf besteht, daß alle verschickt werden. Einzelne haben hohe Summen für ihre Befreiung gezahlt. Man sollte etwas tun, um den Rest zu schützen. Der deutsche Botschafter in Konstantinopel hat für das armenische Personal des deutschen Waisenhauses in Mesereh, Waisenkinder, Lehrerfamilien und Dienstpersonal, zusammen einige 100 Personen, die Erlaubnis, dort zu bleiben, erwirkt. Falls keine Schritte getan werden, müssen wir damit rechnen, daß man die Schülerinnen unseres Kolleges vor unseren Augen in die türkischen Harems schleppt.“

Die Zahl der in den Wilajets Trapezunt, Erzerum, Siwas und Kharput teils massakrierten teils deportierten armenischen Bevölkerung wird in dem Bericht eines amerikanischen Missionars auf 600000 geschätzt.

Malatia.

In Malatia gab es etwa 10 bis 12 000 Armenier. Ein Deutscher, der unmittelbar vor der Deportation Malatia verließ, berichtet über die Dinge, die der Ausführung der Maßregel vorhergingen, das Folgende:

„Der Mutessarif Nabi Bey, ein äußerst freundlicher und wohlgesinnter alter Herr, wurde etwa im Mai abgesetzt, nach unserer Vermutung, weil er die Maßregeln gegen die Armenier nicht mit der gewünschten Härte unternommen haben würde.

Sein Stellvertreter, der Kaimakam von Arrha, war der Mann dazu. Seine Armenierfeindschaft und gesetzlose Handlungsweise waren kaum zu bezweifeln. Er ist wohl neben einer Klique reicher Beys für eine willkürliche Verhaftung vieler Armenier, eine unmenschliche Anwendung der Bastonnade und auch heimliche Tötung von armenischen Männern verantwortlich zu machen. Der rechtmäßige Nachfolger, Reschid Pascha, der Ende Juni aus Konstantinopel kam, ein gewissenhafter Kurde von geradezu erstaunlicher Herzensgüte, tat vom ersten Tage seiner Amtsführung an alles, was in seinen Kräften stand, um das Los der zahlreichen armenischen Männer im Gefängnis zu mildern, Übergriffe der irregulären Soldaten und Saptiehs gegen die armenische Bevölkerung zu verhindern und eine gesetzmäßige und humane Erledigung der äußerst schwierigen Angelegenheit zu ermöglichen, teilweise nicht ohne sich selbst in Gefahr und in die übelste Lage zu bringen. Trotz seiner Strenge genoß er auch bei dem größten Teile des armenischen Volkes den Ruf eines gerechten, unbestechlichen und warmherzigen Mannes. Leider war das, was in seinen Kräften stand, nur gar zu wenig. Die Bewegung war bei seiner Ankunft schon zu sehr erstarkt, die Gegenpartei zu mächtig, die ausführenden Organe seiner Gewalt zu wenig zahlreich und zu unzuverlässig, als daß er in durchgreifender Weise den Standpunkt des Rechts hätte vertreten können. Er erlag der Gewalt seiner Gegner, brach binnen weniger Tage gesundheitlich und seelisch zusammen. Noch während seiner schweren Krankheit tat er unter Aufbietung aller Kräfte alles, um den sicheren Transport der Verbannten und ihre Verpflegung zu gewährleisten.

Den Aufbruch der Armenier von Malatia hatte er von Woche zu Woche verschoben, teils in der stillschweigenden Hoffnung, es könne ihm noch gelingen, eine Gegenordre zu erwirken, woran er sehr gearbeitet hat, teils, um alle Vorbereitungen für eine humane Durchführung der Deportation treffen zu können. Schließlich hat er den strengen Weisungen der Zentralregierung und dem Druck der Gegenpartei in der Stadt nachgeben müssen.

Vor der Deportation, die Mitte August erfolgte, fand Anfang Juli ein Massenmord unter der männlichen Bevölkerung statt.“


5. Wilajet Diarbekir.


Das Wilajet Diarbekir liegt völlig abseits vom Kriegsschauplatz, ungefähr in der Mitte zwischen dem Busen von Alexandrette und der türkisch-persischen Grenze, in den Bergen des Taurus. Seine Südgrenze reicht bis an die mesopotamische Ebene. Es wird vom Tigris durchflossen, an dem die Hauptstadt Diarbekir liegt. Von seiner Gesamtbevölkerung von 471 500 Bewohnern waren 166 000 Christen, und zwar 105 000 Armenier und 60 000 Syrer (Nestorianer und Chaldäer) und 1000 Griechen. Die übrige Bevölkerung setzt sich zusammen aus 63 000 Türken, 200 000 Kurden, 27 000 Kisilbasch (Schi'iten) und 10 000 Tscherkessen. Dazu kommen noch 4000 Jesidis (sogenannte Teufelsanbeter) und 1500 Juden. Die christliche Bevölkerung betrug also reichlich 1/3, die muhammedanische 2/3 der Gesamteinwohnerschaft des Wilajets.

In Diarbekir wurde im Frühjahr 1915 auf Veranlassung des Walis eine Kommission „zum Studium der armenischen Frage“ eingesetzt.[12] Präsident dieser Kommission war der Mektubdschi Bedri Bey. Außer ihm gehörten der Kommission an der Ex-Sekretär von Hoff Bey, der Deputierte Pirendschi-Zade-Faizzi Bey, Major Rüdschi Bey, der Binbaschi (Hauptmann) der Miliz Schefki Bey und der Sohn des Müfti (Richter) Scherif Bey (Vetter des Deputierten Pirendschi). Sie begannen ihre Tätigkeit mit der Verfolgung der Anhänger der Daschnakzagan. Ihre ersten Opfer waren der Vorsitzende der Daschnakzagan und 26 armenische Notable, darunter auch der Priester Alpiar. Man nahm sie gefangen, mißhandelte sie im Gefängnis und ließ sie dann durch Osman Bey und den Müdir der Polizei Hussein-Bey ermorden. Die junge Frau des Priesters wurde von 10 Saptiehs vergewaltigt und fast zu Tode gemartert. Etwa 30 Tage lang ließ man täglich eine größere Anzahl Armenier verhaften, die dann in der Nacht im Gefängnis umgebracht wurden. Zwei armenische Ärzte wurden gezwungen zu bescheinigen, daß die Todesursache bei allen Umgebrachten Typhus gewesen sei.

Dr. Wahan wurde mit 10 andern Notabeln mit der Angabe, daß sie nach Malatia verbannt werden sollten, verhaftet. Auf dem Wege dahin wurden sie alle umgebracht. Um bei dem geplanten Massaker mitzuwirken, wurde ein berüchtigter kurdischer Räuber Omar Bey aus Djezire, der Sohn der Kurdenfrau Peri-Chanum, von dem Deputierten Faizi-Bey unter Zusage der Straflosigkeit nach Diarbekir geholt.

Zwischen dem 10. und 30. Mai wurden weitere 1200 der Angesehensten unter den Armeniern und Syrern aus dem Wilajet verhaftet. Am 30. Mai wurden 674 von ihnen auf 13 Keleks (Flöße, die von aufgeblasenen Schläuchen getragen werden) verladen, unter dem Vorwande, daß man sie nach Mosul bringen wolle. Den Transport führte der Adjutant des Walis mit etwa 50 Gendarmen. Die Hälfte derselben verteilte sich auf die Boote, während die andere Hälfte am Ufer entlang ritt. Bald nach der Abfahrt nahm man den Leuten alles Geld, ca. 6000 türkische Pfund (110 000 Mark) und die Kleider ab. Dann warf man sie sämtlich in den Fluß. Die Gendarmen am Ufer hatten die Aufgabe, alle, die sich etwa durch Schwimmen retten wollten, zu töten. Die Kleider der Ermordeten wurden in Diarbekir auf dem Markte verkauft. Bei der Ermordung half auch der obengenannte Omar Bey.

In der gleichen Zeit etwa wurden gegen 700 armenische junge Männer im Alter von 16 bis 20 Jahren angeblich zum Militär eingezogen und angestellt, um auf der Straße Karabaktsche-Habaschi, zwischen Diarbekir und Urfa, zu arbeiten. Bei dieser Arbeit wurden diese Arbeitssoldaten von den sie bewachenden Saptiehs niedergeschossen. Der befehligende Onbaschi (Unteroffizier) rühmte sich nachträglich der Heldentat, daß er es fertig gebracht habe, die 700 auf die Strecke verteilten wehrlosen Armenier mit nur 5 Saptiehs abzuschießen. In Diarbekir ließ man eines Tages 5 Priester, die man nackt ausgezogen und mit Teer bestrichen hatte, durch die Straßen führen.

Der Kaimakam von Lidscheh hatte die durch einen Boten des Walis mündlich überbrachte Ordre, die Armenier niederzumachen, zurückgewiesen, mit dem Bemerken, er wünsche den Auftrag schriftlich zu haben. Er wurde abgesetzt, nach Diarbekir gerufen und auf dem Wege dahin von seinen Begleitmannschaften umgebracht.

Auch in Mardin wurde der Mutessarif abgesetzt, da er nicht nach dem Willen des Walis mit den Armeniern verfahren wollte. Nach seiner Absetzung wurden zuerst 500, dann 300 armenische und syrische Notable nach Diarbekir auf den Weg gebracht. Die ersten 500 sind nicht nach Diarbekir gekommen; auch von den andern 300 hat man nichts mehr gehört.


6. Wilajet Wan.


Das Wilajet Wan zählte unter 542 000 Einwohnern 290 200 Christen, nämlich 192 200 Armenier und 98 000 Syrer. Dazu kommen 5000 Juden. Die Minderheit von 247 000 Muhammedanern setzt sich zusammen aus 210 000 Kurden, 30 500 Türken und 500 Tscherkessen. Die Jesidies (sogen. Teufelsanbeter) zählen 5400, die Zigeuner 600.

Im Wilajet Wan sahen die Dinge bis zum April des Jahres nicht anders aus, als in den übrigen Wilajets, nur daß die Plünderungen und Massakers hier bald einen größeren Maßstab annahmen. Seit der Mobilisierung der türkischen Armee zu Beginn des europäischen Krieges waren die nach Einführung der Konstitution aufgelösten Hamidieh-Truppen (irreguläre kurdische Reiterei, die Sultan Abdul Hamid aus den räuberischen Nomaden-Kurden gebildet hatte) aufs neue bewaffnet worden. Berüchtigte kurdische Räuber wurden mit ihren Banden in die Armee aufgenommen. Da es reguläre türkische Truppen nur in geringer Zahl gab, benützten die Hamidieh-Kurden und die Tschettehs (Banden) die gute Gelegenheit, um wehrlose armenische Dörfer zu überfallen und auszuplündern.


Artwin und Ardanusch.


Beim Vormarsch der Türken gegen Batum und Olti wurden von solchen Banden die armenischen Dörfer des von den Türken besetzten russischen Gebietes massakriert. So wurden im Gebiet von Ardanusch und Olti die Dörfer Berdus und Joruk geplündert, 1276 Armenier erschlagen und 250 Frauen und Mädchen geraubt. 24 Frauen vergifteten sich, um nicht vergewaltigt zu werden. Der Rest von etwa 500 Frauen und Kindern wurde von den russischen Truppen befreit. Im Gebiet des unteren Tschoroch, der bei Batum ins Schwarze Meer mündet gingen die Adjaren (muhammedanische Grusinier) zu den Türken über und beteiligten sich an den Massakers, die die türkischen Banden in den armenischen Dörfern um Artwin und Ardanusch im Tschorochtal verübten. Die Zahl der in diesem Gebiet von Türken und Adjaren massakrierten Kaukasus-Armenier wird auf 7000 geschätzt. Im Dorfe Okrobakert, in der Nähe von Batum, zwangen die Adjaren die Armenier, ihnen ihre Töchter für ihre Harems zu geben, andernfalls sie massakriert werden würden.

Das Wilajet Erzerum erstreckt sich südlich der russischen Grenze unter der Aghri-Dagh-Kette bis zum Ararat hin. Dieser Zipfel des Erzerum-Wilajets schiebt sich zwischen die Nordgrenze des Wilajets Wan und die Südgrenze des Kaukasusgebietes. Hier liegt das herzförmige Quellgebiet des östlichen Euphrat. Dieses Gebiet heißt Alaschkert.


Alaschkert, Diadin und Abagha.


Das Gebiet von Alaschkert und Diadin bis nach Bajasid hin ist mit zahlreichen armenischen Dörfern besetzt; in 52 Ortschaften lebten 2964 armenische Familien mit rund 40 000 Seelen.

Im Frühjahr wurde dies ganze Gebiet von türkischen und kurdischen irregulären Milizen vollständig verwüstet. Außer zwei kleinen Dörfern mit zusammen nur 35 bis 40 Familien sind die sämtlichen Alaschkert-Dörfer vollständig ausgeplündert worden. Auch in Bajesid, Karakilisse und achtzehn Dörfern fanden Massakers statt. In dem Städtchen Alaschkert konnten sich von den 300 armenischen Familien mit rund 4000 Personen nur 30 Familien retten. Von den übrigen 270 Familien sind alle männlichen Glieder massakriert worden; die Mädchen wurden entführt. Das gleiche Schicksal ereilte das Dorf Mollah Suleiman, wo von 150 Familien die Männer getötet, die Frauen und Kinder weggeschleppt wurden. Ebenso im Dorf Setkan, wo von 70 Familien die Männer getötet, die Frauen geraubt wurden. Die gleiche Zahl verlor das Dorf Amert. Im Dorf Chotschan wurden 35, im Dorf Schudgan 25 Familien von dem gleichen Schicksal betroffen. Allein aus den Dörfern Mollah-Suleiman und Setkan wurden 500 Frauen und Mädchen von den Hamidieh-Kurden geraubt. Alle geraubten Frauen und Mädchen wurden gezwungen, zum Islam überzutreten. An das Diadin-Gebiet schließt sich, durch die Owadjik-Kette getrennt, die Abagha-Ebene an, die sich zwischen der persischen Grenze und dem Nordostzipfel des Wansees südwärts auf Wan zu erstreckt. Auch hier wurden in den armenischen Dörfern Akbak, Khatschan, Tschibukli, Gahimak, Khan, Akhorik, Hassan-Tamra, Arsarik und Raschwa von den irregulären Milizen armenische und zum Teil auch syrische Christen bei der Plünderung in großer Zahl erschlagen. Man rechnet 2060 Armenier und 300 Syrer, die getötet wurden.

In der Ebene von Alaschkert waren es die drei Hamidieh-Kurden-Scheichs Musabeg, Abdul-Medschid und Chalid-Bey, die samt der örtlichen muhammedanischen Bevölkerung die Plünderungen und Massakers veranstalteten. Die Abaghadörfer wurden auf Befehl des Kaimakams von Seraj verwüstet. Die Gendarmen aus Temran plünderten die Dörfer Alur, Cholenz, Achmek. Die Gendarmen aus Paghes und das Bataillon des Tscherkess-Agha verwüsteten Gardjdan, Pegahu, Nanegans, Entsak und Eschekiß. Der Gendarm Omer-Agha überfiel das Dorf Mechkert in der Nähe von Wan und tötete 20 Frauen und Mädchen. Die Dörfer von Melaskert, nördlich des Wansees, wurden von der Bande des Ptschare-Ptschato, einem Haufen von 600 Banditen, überfallen und verwüstet.

Die Folge dieser systematischen Plünderungen und Massakers in den christlichen Dörfern war eine Massenflucht der Christen über die russische Grenze. Schon in dieser Zeit sammelten sich im Araxestal über 60 000 Flüchtlinge, meist Frauen und Kinder, an. Über Igdir, nordwestlich des Ararat, kamen 30 000, durch Kars gegen 5000, über Ardahan-Ardanusch kamen 7000 und über Djulfa (an der persischen Grenze) 20 000 Flüchtlinge in das Araxesgebiet.

Ähnliches ereignete sich in den persischen Grenzgebieten des Wilajets Wan, worauf wir noch zurückkommen werden.

Als die Russen im April die Offensive wieder aufnahmen, kehrte etwa ein Viertel der Flüchtlinge aus dem Kaukasus wieder in ihre Dörfer zurück. Beim Vordringen der Russen fürchteten die Muhammedaner wegen ihrer Untaten an der christlichen Bevölkerung bestraft zu werden. Sie verließen daher mit ihren Familien die Alaschkert-Dörfer und wurden von der türkischen Regierung in Zahl von etwa 2000 Familien in der Gegend von Malaskert und Bulanek in armenischen Dörfern untergebracht. Damals gab es keinen regulären Soldaten im Grenzgebiet. Kurden und Tschettehs waren die einzigen Truppen, über die die Regierung verfügte. Die 3000 Gendarmen der Wilajets waren mit dem Plündern der Dörfer beschäftigt. Der Wali von Wan hatte allen Kaimakams seiner Provinz den Befehl gegeben, beim geringsten Anlaß gegen die Armenier vorzugehen. Der Kaimakam von Gawascht provozierte denn auch einen Zusammenstoß, der zu einem Massaker führte. Die Daschnakzagan verlangten vom Wali, daß der Kaimakam vor ein Kriegsgericht gestellt werden solle. Der Wali versprach, eine Untersuchung einzuleiten.

Die wehrlosen armenischen Dörfer mußten sich das alles gefallen lassen. Die Führer der Daschnakzagan bemühten sich, durch die Vermittlung der Behörden dem Unheil zu steuern und die armenische Bevölkerung zu beruhigen. Der Deputierte von Wan, Wramjan, hatte schon im Januar in einem Memorandum (vom 3./16. Januar 1915), das an den Wali von Wan Djevded-Bey und an Tahsin-Bey, den Wali von Erzerum, gerichtet war, die Behörden auf die Mißstände aufmerksam gemacht.

Chalil Bey in Nordpersien.

Inzwischen war die Armee von Chalil Bey in Nordpersien in das Gebiet von Urmia und Dilman eingerückt. Den 20 000 Regulären hatten sich noch 10 000 Kurden aus dem oberen Zabgebiet angeschlossen. Auch Djevded Bey, der Wali von Wan, beteiligte sich an diesen Operationen. Djevded Bey ist ein Schwager des türkischen Kriegsministers Enver Pascha; Chalil Bey, der Kommandeur des Korps, das in Persten einfiel, ein Onkel von Enver Pascha. Die türkischen und kurdischen Truppen verwüsteten auf persischem Gebiete alle christlichen Dörfer. Die syrische Bevölkerung des Urmiagebietes und die armenische Bevölkerung der Salmas-Ebene (um Dilman) wurde, soweit sie nicht auf russisches Gebiet flüchten konnte oder in dem Anwesen der amerikanischen Mission Schutz fand, von den Kurden erbarmungslos niedergemacht.

Djevded Bey in Wan.

Als Djevded Bey, der Wali von Wan, Mitte Februar aus Salmas zurückkehrte, begrüßte er freundlich die armenischen Führer, versprach den Plünderungen der Dörfer Einhalt zu tun und die Geplünderten zu entschädigen. Nur bat er, noch einige Wochen zu warten, bis die persische Expedition vorüber sei. Zugleich hörte man, daß er in einer Versammlung von türkischen Notabeln gesagt habe: „Wir haben mit den Armeniern und Syrern von Aserbeidschan (Nordostpersien) reinen Tisch gemacht; wir müssen mit den Armeniern von Wan das gleiche tun“.

An der Spitze des Daschnakzagan-Komitees standen damals drei bekannte Armenier, Wramjan, Deputierter von Wan, Ischchan und Aram.

Der Wali stellte sich in den nächsten Wochen freundlich mit ihnen und bat sie, wie bisher, mit ihm zusammenzuarbeiten, um die Ordnung im Wilajet aufrechtzuerhalten. Es wurden Kommissionen gebildet, die in die Dörfer geschickt wurden, um den Plünderungen der Kurden und den Gewalttaten der Gendarmen Einhalt zu tun und Streitigkeiten zu schlichten. Inzwischen hatte der Wali um Verstärkungen von Erzerum gebeten und rechnete wohl auch auf die Unterstützung durch die Truppen, die in Persien eingefallen waren, falls sein geplantes Vorgehen gegen die Armenier, die sich noch nichts Schlimmes von ihm versahen, auf Widerstand stoßen würde. Plötzlich demaskierte er sich und zeigte sein wahres Gesicht.

In Schatak, einem überwiegend von gregorianischen und katholischen Armeniern, zum geringeren Teile auch von Kurden bewohnten Landstädtchen von über 2000 Einwohnern, an den Quellen des östlichen Tigris (50 Kilometer südlich von Wan), wurde am 14. April der Armenier Howsep, ein Daschnakzagan, von Gendarmen verhaftet. Seine Freunde wollten ihn befreien, es gab einen blutigen Zusammenstoß. Als der Wali davon hörte, ließ er die drei Führer der Daschnakzagan, Wramjan, Ischchan und Aram zu sich kommen und bat sie, zusammen mit dem Müdir der Polizei von Wan nach Schatak zu gehen, um den Streit zu schlichten. Das Komitee bestimmte, daß Ischchan mit drei anderen Armeniern namens Wahan, Kotot und Miran nach Schatak gehen sollte. Der Müdir der Polizei nahm einige tscherkessische Saptiehs mit sich. Halbwegs nach Schatak in der Flußniederung von Hayoz-Dzor übernachteten sie in dem Dorfe Hirtsch. Als die vier Armenier eingeschlafen waren, ließ der Müdir der Polizei sie im Schlaf durch die Tscherkessen ermorden. In der Frühe des nächsten Tages, ehe noch die Armenier von Wan etwas von dem Meuchelmorde wußten, ließ der Wali Djevded-Bey die beiden andern armenischen Führer Wramjan und Aram zu sich bitten. Aram war zufällig abwesend. Wramjan geht arglos zum Wali und wird, sobald er den Konak betreten hat, verhaftet. Der Wali schickt ihn sofort gefesselt nach Bitlis. Von Bitlis wurde Wramjan, der als Deputierter von Wan in besonderem Ansehen stand, nach Diarbekir transportiert und unterwegs ermordet.

Noch am gleichen Morgen bereitete der Wali Djevded Bey den Angriff auf die beiden armenischen Viertel vor und ließ Kanonen gegen sie in Stellung bringen. Es gab damals in Wan 10–15 Kanonen älterer Konstruktion und zwei neue Maschinengewehre, die kürzlich mit einer Abteilung Soldaten von Erzerum gekommen waren. Zur selben Zeit, als der Wali sich der Führer zu bemächtigen suchte, hatten die Massakers in Ardjesch und den Dörfern der Hayoz-Dzor schon ihren Anfang genommen. Die Armenier der Stadt konnten nichts anderes erwarten, als daß ein Massaker über sie verhängt werden sollte, auch hatten sie gehört, daß der Wali 6–7000 Mann Kavallerie aus Erzerum angefordert und beiläufig gesagt hatte, jetzt würde es gefährlich für die Armenier.

Wir lassen nun den Bericht des amerikanischen Missionars folgen, der die weiteren Ereignisse miterlebt hat:[13]

Die Belagerung von Wan.

„Wan ist eine Stadt von Gärten und Weinbergen, die inmitten einer von hohen prächtigen Bergen umgebenen Ebene am Wansee liegt. Die von Mauern umgebene Stadt enthält den Bazar und den größten Teil der öffentlichen Gebäude. Sie wird beherrscht von dem Kastell-Felsen, einem gewaltigen Felsblock, der sich steil aus der Ebene erhebt, von alten Mauern und Festungswerken gekrönt ist und nach der Seeseite zu berühmte Keilinschriften trägt. Die Vorstadt Aigestan, die „Gärten“ genannt (weil jedes Haus seinen Garten oder Weinberg besitzt), erstreckt sich 4 (engl.) Meilen ostwärts der umwallten Stadt und ist 2 (engl.) Meilen breit.

Das Grundstück der amerikanischen Mission liegt am südöstlichen Rand des mittelsten Drittels der Gärten auf einer kleinen Anhöhe, wodurch die Gebäude ihre Umgebung beträchtlich überragen. Diese Gebäude bestehen aus einer Kirche, zwei großen, neuen Schulgebäuden, zwei kleineren, einer Spitzenschule, einem Hospital, Klinik und vier Missionsgebäuden. Nach Südosten dehnt sich, ganz in der Nähe, die große Ebene aus. Hier lag die größte Kaserne der großen türkischen Garnison, unmittelbar an dem Bereich der amerikanischen Mission. Nordwärts durch einige Straßen getrennt lag eine andere Kaserne, und noch weiter nördlich in Schußweite der Burgfelsen (Topkala) mit einer kleinen Kaserne darauf, die die Armenier „Pfefferdose“ getauft hatten. 5 Minuten östlich von den amerikanischen Instituten liegt das deutsche Waisenhaus, dem Herr Spörri nebst Frau und Tochter, Schweizer von Herkunft, und drei unverheiratete Damen vorstanden. Die amerikanische Mission bestand zur Zeit aus der alten Mrs. Raynolds (Dr. Raynolds war in Amerika), Dr. Usher, dem Chefarzt des Hospitals, Mrs. Usher, der Leiterin der Spitzenindustrie, Mr. und Mrs. Yarrow, den Leitern der Knabenschule, Miß Rogers, Vorsteherin der Mädchenschule, Miß Silliman, Leiterin der Vorschule, Miß Usher, Lehrerin für Musik, Miß Bond, der Oberin des Hospitals, und der Missionarin Mc. Claren. Auch Miß Knapp aus Bitlis war zu Besuch da.

Die Stadt Wan hatte 50 000 Einwohner, von denen drei Fünftel Armenier und zwei Fünftel Türken waren. Ich sage „waren“, denn inzwischen haben sich die Verhältnisse vollständig geändert. Die Führer der Armenier waren Wramjan, Ischchan und Aram, Leiter der Partei der Daschnakzagan.

In der Zeit seit der Mobilisation, im letzten Herbst und Winter, waren die Armenier unter dem Vorwand von Requisitionen in der härtesten Weise ausgeplündert worden. Reiche Leute wurden ruiniert und arme Leute völlig entblößt. Die armenischen Soldaten in der türkischen Armee wurden vernachlässigt, äußerst mangelhaft ernährt, gezwungen, nur niedrige Arbeiten zu tun, und, was das Schlimmste war, jeder Waffe beraubt, so daß sie der Gnade ihrer fanatischen muhammedanischen Kameraden ausgeliefert waren. Kein Wunder, daß, so viele es vermochten, sich von ihrer Militärpflicht loskauften, andere auch desertierten. Wir ahnten im voraus, daß es zu einem Zusammenstoß kommen würde. Aber die Daschnakzagan benahmen sich mit erstaunlicher Zurückhaltung und Klugheit, beherrschten die heißblütige Jugend, patrouillierten in den Straßen, um Unruhen zuvorzukommen, und befahlen den Dorfbewohnern, lieber schweigend zu dulden, daß das eine oder andere Dorf niedergebrannt werde, als durch Gegenwehr den Anlaß für ein Massaker zu geben.

Trotzdem Dr. Usher seit Beginn des russischen Krieges manche verwundete türkische Soldaten aufgenommen und behandelt hatte, versuchte die Regierung gleichwohl, die Arzneien der amerikanischen Apotheke zu requirieren und das Hospital zu schließen. Außerdem hatten Miß Mc Claren und Schwester Martha vom deutschen Waisenhaus im Dezember angefangen, die Verwundeten in dem anderthalb (engl.) Meilen von unserem Grundstück entfernten türkischen Militärlazarett zu pflegen, wo keine Pflegeschwestern und die Zustände unbeschreiblich waren.

Als Djevded Bey, der Generalgouverneur des Wilajets, in den ersten Frühlingswochen von den Grenzkämpfen zurückkehrte, ahnte jedermann, daß bald etwas geschehen würde. Und so war es. Er verlangte von den Armeniern 3000 Soldaten. Sie waren aufs äußerste besorgt, Frieden zu halten, so daß sie seinem Verlangen nachzukommen versprachen. Aber gerade da brach in der Gegend von Schatak der Streit zwischen Türken und Armeniern aus, und Djevded Bey verlangte von Ischchan, daß er mit drei anderen angesehenen Daschnakzagan dorthin gehen sollte, um Frieden zu stiften. Auf dem Wege wurden alle vier heimtückischerweise ermordet. Das war Freitag den 16. April. Dann befahl Djevded Wramjan zu sich unter dem Vorwand, daß er sich mit ihm beraten wolle, ließ ihn verhaften und verschickte ihn. Die Daschnakzagan wußten nun, daß sie Djevded Bey nicht trauen konnten und daß es daher unmöglich wäre, ihm die geforderten 3000 Mann zu geben. Sie sagten, sie würden 400 geben und nach und nach die Militärbefreiungssteuer für die übrigen zahlen. Der Wali erklärte aber, er brauche Leute und nicht Geld, sonst würde er die Stadt angreifen. Einige Armenier baten Dr. Usher und Mr. Yarrow, zu Djevded Bey zu gehen und zu versuchen, ihn zu begütigen. Unterwegs begegnete ihnen ein Offizier, der ausgeschickt war, um sie zu rufen. Der Wali war hartnäckig. Man habe zu gehorchen. Er werde diesen Widerstand unter allen Umständen brechen, es koste, was es wolle. Erst werde er Schatak bestrafen und dann die Sache mit Wan vornehmen. Wenn aber die Armenier nur einen Schuß abfeuerten, würde das für ihn das Zeichen zum Angriff sein. Für das amerikanische Grundstück wollte er eine Wache von 50 Soldaten stellen.[14] Diese Wache müsse entweder angenommen werden, oder man müsse ihm schriftlich das Zeugnis ausstellen, daß die Wache verweigert worden wäre und er dadurch von aller Verantwortung, für unsere Sicherheit frei sei. Er verlangte sofortige Antwort, war aber schließlich bereit, bis Sonntag zu warten. Ferner verlangte er, daß Miß Mc Claren und Schwester Martha ihre Arbeit im türkischen Lazarett fortsetzen sollten. Sie gingen und waren darauf gefaßt, vielleicht für längere Zeit nicht mit uns korrespondieren zu können.

Als Dr. Usher am Montag den Wali wiedersah, fragte der Wali, ob er die Wache senden solle. Dr. Usher überließ ihm die Entscheidung. Wir haben keine Wache erhalten.

Dienstag, den 20. April, um 6 Uhr nachmittags versuchten einige türkische Soldaten aus einem Trupp Frauen, die nach der Stadt kamen, sich eine herauszugreifen.[15] Sie floh. Armenische Soldaten kamen hinzu und fragten die Türken, was sie wollten. Der türkische Soldat schoß auf sie und tötete sie. Herr Spörri war Augenzeuge von diesem Ereignis, mit dem die Feindseligkeiten begannen. Es gab den ganzen Abend ein mehr oder weniger anhaltendes Gewehrfeuer, und vom Burgfelsen her wurde beständiger Kanonendonner auf die befestigte Stadt vernommen, die nun von aller Verbindung mit den Gärten abgeschnitten war. Nachts sah man nach jeder Richtung hin Häuser in Flammen stehen. Die Zahl der in den Gärten wohnenden Armenier betrug gegen 30 000, während die armenische Bevölkerung in der inneren befestigten Stadt nur gering war. Die Bewohner der Gartenstadt wurden nun in einem Bezirk von etwa einer (engl.) Quadratmeile zusammengebracht, und dieser Raum wurde durch „Dirks“ (Barrikaden) sowie durch Mauern und Verhaue geschützt. Von den Verteidigern konnten 1500 mit Gewehren bewaffnet werden, ebensoviele etwa noch mit Pistolen. Ihr Vorrat an Munition war gering, darum waren sie sehr sparsam damit und wandten allerlei Listen an, um die Angreifer zum Feuern und zum Verbrauch ihrer Munition zu verführen. Sie machten sich daran, Kugeln zu gießen und Patronen anzufertigen. 3000 wurden täglich fertig. Ebenso machten sie sich Schießpulver, und nach einiger Zeit machten sie sich auch drei Mörser. Der Materialverbrauch für alle diese Dinge war gering, Methoden und Einrichtung roh und primitiv. Aber sie waren sehr froh und hoffnungsvoll und freuten sich ihrer Geschicklichkeit, den Angreifern Stand zu halten. Einige der Regeln, die sie für ihre Leute aufgestellt hatten, waren: Haltet euch sauber, trinkt nicht, sagt immer die Wahrheit, sagt nichts gegen die Religion des Feindes.

An die Türken der Stadt schickten sie ein Manifest, um ihnen kundzutun, daß sie nur mit einem einzigen Manne (dem Wali) Streit hätten und nicht mit ihren türkischen Nachbarn. Walis würden gehen und kommen, aber die beiden Rassen müßten fortfahren, miteinander zu leben, und sie hofften, daß, wenn Djevded gegangen wäre, ihre Beziehungen zueinander wieder friedlich und freundlich sein würden. Die Türken antworteten in demselben Sinne und sagten, sie wären gezwungen, zu kämpfen. Tatsächlich wurde auch von mehreren vornehmen Türken ein Protest gegen diesen Kampf unterzeichnet, aber Djevded ließ ihn vollständig unbeachtet.

Die Kaserne nördlich von unserem Grundstück wurde von den Armeniern erobert und niedergebrannt. Die Insassen ließen sie entkommen. Eine weitere Offensive versuchten sie in keiner Weise, da ihre Zahl zu gering war. Sie kämpften nur für ihre Heimstätten und für ihr Leben.

Kein bewaffneter Mann durfte unser Grundstück betreten. Aram, der Führer der Armenier, verbot sogar, daß die verwundeten Armenier in unser Hospital gebracht würden, damit unsere Neutralität nicht verletzt würde. Dafür behandelte sie Dr. Usher in ihrem eigenen provisorischen Lazarett.

Am 23. April schrieb Djevded Bey an Dr. Usher, daß man bewaffnete Leute unser Grundstück habe betreten sehen, und daß die Rebellen Verschanzungen in unserer Nähe aufgeworfen hätten. Wenn bei einem Angriff ein Schuß von diesen Schanzen abgefeuert würde, würde er zu seinem Bedauern gezwungen sein, seine Kanonen auf unser Grundstück zu richten und es vollständig zu zerstören; wir möchten das als sicher annehmen7) Dr. Usher antwortete, daß wir unsere Neutralität mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln aufrecht erhielten. Kein Gesetz könnte uns verantwortlich machen für Handlungen von Personen oder Organisationen, die sich außerhalb unseres Anwesens befänden.

Unsere Verhandlungen mit dem Wali wurden durch unseren amtlichen Vertreter, Signore Sbordone, den italienischen Konsularagenten, geführt, und unser Briefträger war eine alte Frau, die sich durch eine weiße Fahne schützte. Bei ihrem zweiten Ausgang fiel sie in einen Graben, und als sie darauf ohne ihre Fahne wieder aufstand, wurde sie sofort von den türkischen Soldaten erschossen. Es fand sich eine andere, aber sie wurde verwundet, als sie vor der Tür ihrer Hütte, in der Nähe unseres Grundstückes, saß.

Da erklärte Aram, er würde keine weitere Korrespondenz mehr erlauben, bis nicht der Wali auf einen Brief des Konsularagenten Sbordone geantwortet hätte, in welchem gesagt war, Djevded könne von den Armeniern nicht erwarten, daß sie sich jetzt übergeben, da sein Vorgehen gegen die Armenier den Charakter eines Massakers habe.

Während der Zeit der Belagerung hausten die türkischen Soldaten und ihre Gesellen, die wilden Kurden, fürchterlich in der ganzen Umgegend. Sie massakrierten Männer, Frauen und Kinder und brannten ihre Heimstätten nieder. Kleine Kinder wurden in den Armen ihrer Mütter erschossen, andere schrecklich verstümmelt, Frauen ihrer Kleider beraubt und geschlagen. Die Dörfer waren auf einen Angriff nicht vorbereitet, andre widersetzten sich, bis ihre Munition verschossen war. Sonntag den 25. kam der erste Trupp Flüchtlinge mit ihren Verwundeten in die Stadt. Unser Hospital, das in normaler Zeit 50 Betten hat, mußte für 142 Patienten Raum schaffen. Bettzeug wurde geliehen und überall auf den Fußböden Lagerstätten geschaffen. Leichtverwundete wurden täglich verbunden.

4000 Menschen waren mit all’ ihrer Habe aus „den Gärten“ ausgezogen und füllten unsere Kirche, Schulgebäude sowie alle nur irgendwie entbehrlichen Räume unserer Missionshäuser. Eine Frau sagte zu Mrs. Silliman: „Was sollten wir tun, wenn die Missionare nicht wären? Das ist nun das dritte Massaker, während dessen ich hier Zuflucht gefunden habe.“ Ein großer Teil dieser Leute mußte ernährt werden, denn sie waren so arm, daß sie ihr Brot täglich vom Bäcker gekauft hatten, und nun gab es das nicht mehr. (Die Armenier backen ihr Brot meistens selbst und sorgen dafür, daß sie fürs ganze Jahr die nötigen Weizenvorräte haben.) Diese vielen Menschen unterzubringen, für ihre Gesundheit, Nahrung und Disziplin zu sorgen, waren Probleme, die uns zu schaffen machten. Mr. Narrow organisierte Komitees für diese Arbeit. Jedem irgendwie fähigen Mann wurde darin eine Rolle zugewiesen, und es zeigte sich ein wundervoller Geist der Selbstlosigkeit und Aufopferungsfähigkeit. Ein Mann gab allen Weizen, den er besaß, mit Ausnahme von einem Monatsvorrat, den er für seine Familie behielt. Ein öffentlicher Backofen wurde erworben, Weizen und Mehl gekauft und verteilt, Brotmarken ausgegeben und später eine Suppenküche eröffnet. Miß Rogers und Miß Silliman sicherten sich einen täglichen Milchvorrat und ließen die Milch von ihren Schulmädchen kochen und an die kleinen Kinder verteilen. Hundertneunzig wurden auf diese Weise ernährt. Die Schuljungen betätigten sich als Schutzleute, schützten die Gebäude gegen Feuersgefahr, hielten unser Grundstück sauber, sahen nach den Kranken und verteilten Milch und Eier an Kinder und Kranke außerhalb unseres Grundstückes. Ein regelrechtes Stadtregiment wurde von den Armeniern mit Bürgermeister, Richtern und Polizisten organisiert; die Stadt war niemals so gut regiert worden. Nach Ablauf von zwei Wochen ließen uns die in der befestigten Stadt in ihrem Viertel belagerten Armenier sagen, daß sie einige von den Regierungsgebäuden erobert hätten, obgleich sie nur eine Handvoll waren und Tag und Nacht bombardiert wurden. Ungefähr 16 000 Kanonenkugeln oder Schrapnells wurden auf sie gefeuert. Die altmodischen Kugeln trafen die drei Fuß dicken Lehmmauern, ohne viel Schaden anzurichten. Mit der Zeit fielen die Mauern natürlich ein, aber es waren die oberen Mauern, und die Leute flüchteten hinter die unteren, so daß nur drei Personen ihr Leben ließen. Einige von den „Dirks“ in „den Gärten“ wurden auch bombardiert, aber ohne viel Schaden. Es schien, als wolle der Feind sein schweres Geschütz und seine Schrapnells bis zuletzt aufbewahren. Drei Kanonenkugeln fielen in der ersten Woche auf unser Grundstück, eine davon gegen ein Tor von Dr. Ushers Haus; 13 Personen wurden von Kugeln auf unserm Grundstück verwundet, eine tödlich. Unser Grundstück liegt so im Mittelpunkt, daß die Kugeln der Türken hindurch pfiffen, in mehrere Zimmer eindrangen, die Ziegel der Dächer zerbrachen und die Mauern draußen mit Löcherspuren verzierten.

Dr. Usher tat und tut noch die Arbeit von drei Menschen. Als einziger Arzt in der belagerten Stadt mußte er natürlich für die Patienten im Hospital, die verwundeten Flüchtlinge und die verwundeten armenischen Soldaten tätig sein, aber auch seine Poliklinik und seine Außenpatienten vermehrten sich in erschreckender Weise. Bei den Flüchtlingen hatten Not und Mangel unzählige Fälle von Lungenentzündung und Dysenterie im Gefolge; dazu wütete unter den Kindern eine Masernepidemie. Miß Silliman übernahm die Masernkranken, Miß Rogers und Miß Usher halfen im Hospital, wo Miß Bond und ihre armenischen Krankenschwestern bis an die Grenzen ihrer Kraft angestrengt wurden. Nach einer Weile eröffnete Miß Usher mit Hilfe von Miß Rogers ein weiteres Hospital in einem armenischen Schulhaus, in dem vorher Flüchtlinge Unterkunft gefunden hatten. Dabei war die Schwierigkeit, Bettzeug, Utensilien, Helfer, ja selbst Nahrung für die Patienten zu bekommen. Die ärztliche und wundärztliche Tätigkeit wurde durch Mangel an Medikamenten gehemmt, denn die jährlichen Lieferungen für Dr. Ushers Apotheke lagerten im Hafen von Alexandrette.

Zwei Wochen nach dem Beginn der Belagerung kam ein aus Ardjesch geflüchteter Mann, um von dem Schicksal dieser Stadt, der zweitgrößten im Wilajet, nach Wan zu berichten. (Ardjesch liegt in der fruchtbaren Ebene, die das Nordufer des nordöstlichen Ausläufers des Wansees, der See von Ardjesch genannt wird, bildet. Die alte Stadt, eine Residenz der armenischen Könige und des Seldschukken Toghrul Beg, ist vor 70 Jahren vom See überschwemmt worden, und der Name ist auf die neue Stadt (Agantz) übergegangen. Die Ebene von Ardjesch ist durch ihre Fruchtbarkeit und Melonenkultur berühmt.) Der Kaimakam von Ardjesch hatte die Männer von allen Handwerksgilden zusammengerufen. Da er immer freundlich gegen sie gewesen war, vertrauten sie ihm. Als sie alle beisammen waren, ließ er sie von den Soldaten niedermähen. Soweit wir in Erfahrung bringen konnten, entkam nur ein Mann und zwar dadurch, daß er sich die ganze Nacht unter einem Haufen von Leichen versteckt hielt.

Viele von den Flüchtlingen hatten nahe bei der Stadt in dem kleinen Dorf Schuschanty auf einem Berge, wo man einen Blick auf die Stadt hat, haltgemacht. Hier befahl ihnen Aram zu bleiben. Am 8. Mai stand das Dorf in Flammen, und ebenso verbrannte das danebenliegende Kloster Warak nebst seinen unersetzlichen alten Manuskripten. Jetzt kamen die Flüchtlinge in die Stadt. Der Wali Djevded schien seine Taktik geändert zu haben. Er ließ Frauen und Kinder zu Hunderten hereintreiben, damit sie die Hungersnot in der Stadt vermehren hülfen. Dank der Mobilisation im vorigen Herbst waren die Weizenvorräte in „den Gärten“ schon im Anfang sehr zusammengeschmolzen und nun, da zehntausend Flüchtlingen eine tägliche Ration gegeben wurde – wenngleich eine Ration, die kaum zur Erhaltung des Lebens genügte –, neigten sich die Vorräte schleunigst ihrem Ende zu. Auch die Munition wurde knapp. Die Aussichten schienen sehr trübe. Djevded konnte viele Leute und Munition von anderen Städten heranschaffen. Wenn nicht von anderer Seite Hilfe kam, war es nicht möglich, die Stadt noch länger zu halten, und die Hoffnung auf solche Hilfe schien sehr schwach zu sein. Wir hatten keine Verbindung mit der Außenwelt. Ein Telegramm, das wir an unsere Botschaft schicken wollten, kam nie aus unserer Stadt heraus. Die Daschnakzagan schickten Hilferufe an die russisch-armenischen Freiwilligen an der Grenze, aber keiner von den Boten kehrte zurück, und wir haben seitdem erfahren, daß keiner seinen Bestimmungsort erreichte. Wir wußten, daß in der letzten Bedrängnis unser Grundstück die letzte Hoffnung für die Leute in den belagerten „Gärten“ sein würde. Von Djevded, der über die lange Belagerung wütend war, konnte man kaum hoffen, daß er das Leben von irgend einem dieser Männer, Frauen und Kinder schonen würde. Er würde vielleicht den Amerikanern persönliche Sicherheit versprechen, wenn sie das Grundstück verließen, aber das wollten wir natürlich nicht tun. Wir wollten das Schicksal unserer Leute teilen. Und es war auch durchaus nicht unwahrscheinlich, daß der Wali uns nicht einmal Sicherheit bieten würde, da er zu glauben schien, daß wir die „Rebellen“ unterstützten.

Sonnabend und Sonntag, den 15. und 16. Mai, sah man mehrere Schiffe Avantz, den Hafen von Wan, verlassen. Sie enthielten die Familien von Türken und Kurden; den Männem war verboten worden, sich zu entfernen. Wir begaben uns nun alle auf die Dächer, sahen durch Ferngläser und wunderten uns. Bei den Türken herrschte augenscheinlich eine Panik. Schon einmal am Anfang des Jahres war unter ihnen eine Panik ausgebrochen, als die Russen bis Sarai vorgerückt waren; aber es war weiter nichts erfolgt. Hatte diese Flucht eine ähnliche Bedeutung?

Wie dem auch sein mochte, jedenfalls hatten die Türken die Absicht, noch so viel Unheil als möglich anzurichten. Am Sonnabend begannen die Kanonen der großen Kasernen auf uns zu schießen. Zuerst konnten wir nicht glauben, daß die Schüsse auf unser Sternenbanner zielten, aber schließlich blieb kein Zweifel darüber.[16] Sieben Bomben fielen auf unser Grundstück, eine auf das Dach von Miß Rogers und Miß Sillimans Haus, wobei sie ein großes Loch machte. Zwei andere bewirkten dasselbe auf den Dächern der Knaben- und Mädchenschule. Am Sonntag morgen begann das Bombardement von neuem. 26 Bomben fielen schon am Vormittag auf unser Grundstück, am Nachmittag weitere 10, die entweder niederfielen, oder in der Luft explodierten. Das Pfeifen der Schrapnells war ein Laut, den man nie wieder vergißt. Eine Granate explodierte in einem Zimmer von Mrs. Raynolds Haus und tötete ein kleines Kind. Eine andere Granate schlug durch die äußere Mauer von Miß Knapps Zimmer in Dr. Ushers Haus, explodierte, und dabei drangen die Hülsen und die Kugeln, die sie enthielt, durch die Mauer in das angrenzende Zimmer und zerbrachen die Tür der entgegengesetzten Mauer.

Nach Sonnenuntergang war alles still. Es kam ein Brief von den Bewohnern des einzigen armenischen Hauses innerhalb der türkischen Linien, das verschont geblieben war, weil Djevded als Knabe darin gelebt hatte.[17] Darin wurde mitgeteilt, daß die Türken die Stadt verlassen hätten. Die Kasernen auf dem Burgfelsen und am Fuß desselben enthielten eine so kleine Wache, daß sie leicht überwältigt wurden. Dann wurden die Kasernen niedergebrannt. Dasselbe geschah mit sämtlichen türkischen „Dirks“ (Verschanzungen), die danach aufgesucht wurden. Die große Kaserne spie ihre Garnison aus, einen Trupp von zahlreichen Reitern, die über die Hügel davon ritten. Nach Mitternacht wurde dann die Kaserne niedergebrannt. Man fand große Vorräte von Weizen und Munition. Das alles erinnerte an 2. Könige 7 (Belagerung von Samaria).

Die ganze Stadt war wach, man sang und freute sich die ganze Nacht. Der Weg zur befestigten Stadt war nun offen, ebenso auch zum türkischen Hospital. Nun aber kam der erste Dämpfer auf unsere Freude. Miß Mc Claren und Schwester Martha waren nicht da. Sie waren vor vier Tagen mit den verwundeten Soldaten nach Bitlis geschickt worden. [Ein Brief von Djevded Bey an Herrn Spörri besagte, „das Kriegsglück habe sich gewendet und die Schwestern seien mit ihrem Willen nach Bitlis gegangen“. Nach einer Mitteilung von Herrn Spörri.] Aus anderer Quelle erfuhr ich, daß Djevded ihnen nicht gestattet hätte, uns zu besuchen, weil (so sagte er) die Armenier vernichtet worden seien und es nicht sicher für sie wäre, zu uns zu gehen. Wir waren ihretwegen sehr besorgt.[18] 25 türkische Soldaten, die zum Reisen zu krank waren, hatte man ohne Nahrung und Wasser im Hospital zurückgelassen. Sie wurden zu uns gebracht. Man fand viele Leichen, einige von russischen Kriegsgefangenen, die die Türken bei ihrer Flucht getötet hatten.

Am Dienstag, den 18. Mai, kam die Vorhut der russisch-armenischen Freiwilligen. Sie hatten keine Botschaft von Wan erhalten und wußten nicht, daß die Stadt schon in den Händen der Armenier war. Am Mittwoch, den 19. Mai, kamen die Freiwilligen mit Soldaten der russischen Armee herein. Sie hatten das ganze Land östlich des Wansees von türkischen Truppen gesäubert und fuhren damit fort. Auch heute wurde heftig gekämpft. Russische Truppen hatten schon den Weg nach Bitlis eingeschlagen, wo bis dahin noch kein Massaker stattgefunden hatte, wie uns der russische General erzählte. Das Feldlazarett war bei dem schnellen Vormarsch mehrere Tage hinter der Armee zurückgeblieben; ebenso war es mit den Proviantkolonnen. Es war für die Stadt eine schwere Aufgabe, jetzt auch noch die Armee zu ernähren und ihr alles zu überlassen. Es gab Weizen, aber kein Mehl, denn die Mühlen hatten nicht mehr gearbeitet. Fleisch war kaum zu bekommen, obwohl die Kosaken große Schafherden in den kurdischen Bergen requiriert hatten.

Auf unserm Grundstück sind tausend türkische Frauen und Kinder, die die armenischen Soldaten uns gebracht haben, weil das der sicherste Zufluchtsort für sie wäre.[19] Die Armenier haben überhaupt den türkischen Gefangenen gegenüber eine bewunderungswürdige Selbstbeherrschung gezeigt, wenn man bedenkt, wie die Türken sich ihnen gegenüber benahmen. Ein verwundeter Soldat, der vom türkischen Hospital zu uns gebracht wurde, rühmte sich, daß er 20 Armenier getötet habe. Sie setzten ihn bei uns ab und taten ihm weiter nichts. Die Ernährung der Flüchtlinge in dieser Notzeit und die Frage, was mit ihnen werden solle, sind schwierige Probleme für unsere Mission und werden schwieriger von Tag zu Tag. Es würde ihr Tod sein, sie jetzt wegzuschicken, sie müssen unbedingt durchgebracht werden, und niemand außer uns kann es tun. Der General hat uns eine Wache für sie versprochen.

Inzwischen ordnen sich allmählich die Verhältnisse. Aram ist zum Gouverneur ernannt worden. Die Dorfleute kehren zu ihren Heimstätten zurück. Unsere 4000 Gäste haben uns verlassen. Wir haben die Schutzvorrichtungen von unseren Fenstern entfernt. Die Freiwilligen haben unser zweites Hospital übernommen; so wird die Arbeit in unserem eigentlichen Hospital wieder leichter.“

Soweit der amerikanische Bericht.

Ein anderer Bericht enthält noch folgende Einzelheiten:

„12 000 Granaten wurden gegen die Stadt gefeuert. Die Kanonenschüsse haben fast keine Verluste gebracht. Sie zerschossen am Tage die Häuser, aber in der Nacht wurden sie wieder instand gesetzt, so daß die Armenier kein Terrain verloren, dagegen wurden 20 türkische Häuser von ihnen neu besetzt. Den Hauptvorteil gewannen sie, als es ihnen am vierten Tage gelang, die Hamid-Agha-Kaserne in die Luft zu sprengen und niederzubrennen. Sie legten eine Bombe an die Grundmauer der Kaserne, die explodierte. Obwohl die Kaserne nicht zusammenstürzte, geriet sie in der Nacht plötzlich in Brand. Einige Soldaten verbrannten, die übrigen flohen im Schutz der Nacht. Durch Besetzung des Terrains dieser Kaserne waren die Armenier Herren von Aigestan. Die Stärke der Regierungstruppen überstieg nicht 6000 Mann, nur die Hälfte waren reguläre Truppen. Die Regierung versuchte alle Mittel, die Armenier zur Übergabe zu bewegen. Bis zur letzten Stunde wußten sie nichts von einem Entsatz.

Die Belagerung hatte genau 30 Tage gedauert. Auf armenischer Seite sind im ganzen nicht mehr als 18 gefallen, aber viele verwundet; die Verluste der Türken sollen beträchtlicher gewesen sein. Von den armenischen Stadtteilen verbrannten Glortach und Surb Hagop, ebenso mehre türkische Quartiere. Die türkischen Bewohner flohen nach Bitlis. Zehn Tage nach dem Einmarsch der russischen Vortruppen in Wan kam der General Nikolajeff mit dem Gros in die Stadt. Aram begrüßte ihn und sagte in seiner Ansprache: „Als wir vor einem Monat zu den Waffen griffen, rechneten wir nicht damit, daß die Russen kommen würden. Unsere Lage war damals verzweifelt. Wir hatten nur die Wahl, uns zu ergeben und uns wie die Schafe abschlachten zu lassen, oder mit klingendem Spiel im Kampfe zu sterben. Wir zogen das Letztere vor. Unerwartet wurden wir von Ihnen entsetzt, und jetzt sind wir Ihnen, nächst der tapferen Verteidigung der Unsrigen, unsere Errettung schuldig.“

Es ist wichtig, festzustellen, daß, wie die amerikanischen Missionare und der Bericht über den Empfang der Russen übereinstimmend bezeugen, die Armenier von Wan in keiner Verbindung mit den Russen und den russisch-armenischen Freikorps standen, auch während der Belagerung nicht in der Lage waren, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen. Der sogenannte „Aufstand von Wan“ war ein Akt der Selbstverteidigung und eine Episode in der Geschichte der Massakers, nicht Landesverrat.[20] Der Entsatz von Wan war eine Etappe in den Operationen der russischen Truppen gegen Nordpersien und das Wangebiet, nicht eine Aktion zugunsten der Armenier von Wan. Die beiden Ereignisse, die Selbstverteidigung der Wan-Armenier gegen das ihnen drohende Massaker und der Vormarsch der Russen stehen in keinem kausalen Zusammenhange zueinander. Hätten die Türken genügende Truppen und fähige Führer gehabt, um den russischen Vormarsch aufzuhalten, der ihnen ihre nordpersischen Eroberungen und die nordöstliche Hälfte des Wilajets Wan kostete, so hätte die Episode keinerlei Bedeutung für die Kriegslage an der kaukasisch-persischen Grenze gehabt. Durch ihre Selbstverteidigung bezweckten die Wan-Armenier nichts anderes, als das Leben der Ihrigen zu retten. Sie hätten sonst dasselbe Schicksal wie die Armenier der übrigen Wilajets erlitten.

In Berliner Kreisen wurde schon im Juni erzählt, der Wali von Wan Djevded Bey, der Schwager des Kriegsministers Enver Pascha, sei in seinem Konak durch eine armenische Bombe lebensgefährlich verwundet worden und zur Vergeltung dafür sei das Strafgericht über die Armenier verhängt worden. Im Oktober brachten deutsche Reisende aus Konstantinopel die Nachricht mit, Djevded Bey sei in Wan von den Armeniern auf den Straßen tot geschleift worden. Beide Nachrichten sind frei erfunden. Djevded Bey hat drei Tage vor dem Einmarsch der Russen in voller Gesundheit Wan verlassen und hat sich mit seinen Truppen nach Bitlis zurückgezogen. Er ist dann bei dem Rückzug der Russen noch einmal drei Tage in Wan gewesen. Da die Stadt von den Türken angezündet worden war, hatte er in dem einzigen Hause, das von der Deutschen Mission noch stand, Quartier genommen und ist dann nach Bitlis zurückgekehrt.

Die Operationen der Russen.

Die Operationen der Russen auf dem türkisch-persischen Grenzgebiet ergeben folgendes Bild:

Am 2. und 3. Mai wurde die türkische Armee unter Chalil Bey, die das Salmas- und Urmiagebiet besetzt und die armenischen und syrischen Dörfer des ganzen Bezirks verwüstet hatte, von den Russen bei Dilman geschlagen und mußte sich nach Urmia zurückziehen. Bei Urmia verstärkten sich die türkischen Truppen, die von ihren 20 000 Mann einige Tausend verloren hatten, durch 10 000 Kurden, die um Urmia konzentriert wurden, und versuchten, wieder in die Salmas-Ebene vorzudringen. Am 15. Mai wurden sie von den Russen aus der Salmas-Ebene vertrieben und mußten sich ins obere Zab-Tal in der Richtung auf Mosul zurückziehen. Inzwischen waren russische Truppen in das Quellgebiet des östlichen Euphrat, in die Ebene von Alaschkert, und aus dem Wilajet Erzerum in das Wangebiet nördlich des Wansees eingerückt. Sie hatten am 9. Mai Tutak, am 11. Mai Padnotz, am 17. Mai Melaskert besetzt. Sie drangen dann noch weiter bis Gob und Achlat (in der Nordostecke des Wansees) vor, wo sie sich bis Anfang August behaupteten. Gleichzeitig drangen andere Abteilungen der Kaukasusarmee südlich des Ararat in die Ebene von Bajasid vor, besetzten am 8. Mai Teperes, überschritten die Kette des Owadschik Dagh, drangen in die Abagha-Ebene vor, besetzten am 11. Mai Berkeri, am 13. Mai Ardjesch und rückten am 19. Mai mit ihrer Vorhut in Wan ein. Gleichzeitig überschritt die Armee, die die Türken aus der Salmas-Ebene verdrängt hatte, die türkisch-persische Grenzkette und stieg in das Quellgebiet des oberen Zab hinunter, wo sie am 16. Mai Baschkaleh besetzte und durch das Hayoz Dzor auf Wostan (an der Südostecke des Wansees) vorrückte, um auf Bitlis weiter zu marschieren.

Die ganze Operation der russischen Armee bestand, nachdem Nordpersien von türkischen Truppen gesäubert war, aus einem konzentrischen Vorgehen längs der ganzen türkischen Ostgrenze in der Richtung auf den Wansee. Der Erfolg der Operationen war die Besetzung des Gebietes nördlich, östlich und südöstlich vom Wansee.

Am 26. Mai hatten die vorrückenden russischen Truppen Wostan, an der Südostecke des Wansees, besetzt und dadurch die Verbindung der in Nordpersien operierenden Armee von Chalil Bey mit Bitlis und Erzerum gesperrt. Die Armee von Chalil Bey mußte daher versuchen, durch die kurdischen Gebiete südlich des Wansees oder über Mosul den Anschluß an die türkische Hauptarmee, die bei Erzerum stand, zu erreichen. Im Urmiagebiet konnte sie sich unter dem Druck der russischen Truppen nicht länger behaupten. Drei Wochen nach der Niederlage von Diliman, am 25. Mai, hatte Chalil Bey Urmia geräumt. Die Russen rückten in Urmia ein und ermöglichten den zwangsweise islamisierten Christen, die noch zurückgeblieben waren, wieder zurückzutreten. Chalil Bey blieb nur der Weg in das obere Zabtal, denn die Russen hatten bereits Diza, im Distrikt von Geber und Baschkaleh, erobert. Aber auch das schwer passierbare obere Zabtal, durch das der Weg nach Mosul herunterführt, war von den nestorianischen Bergsyrern bei Djulamerk gesperrt worden. Diese hatten von den Massakers unter ihren Volksgenossen im Urmiagebiet gehört und waren entschlossen, sich gegen ein gleiches Schicksal zu verteidigen. Als ein halbunabhängiger Stamm, der, den Kurden gleich, in den wilden Bergen des Hakkari-Gebietes lebt, sind sie auch in Friedenszeiten bis an die Zähne bewaffnet, um sich gegen ihre kurdischen Nachbarn zu verteidigen. Chalil Bey blieb daher nichts anderes übrig, als sich mit seiner Armee zwischen den Russen und den Bergsyrern durchzuschlagen, um auf halsbrecherischen Wegen über die kurdischen Berge Bitlis zu erreichen. Auf diesem Marsch wurde er von den russischen Truppen aus der Richtung von Baschkaleh angegriffen. Sich langsam zurückziehend, hielt er hartnäckig stand und besetzte zuletzt eine fast unzugängliche Gebirgskette, 40 bis 50 Kilometer südlich von Baschkaleh. In diesen Felswüsten, deren Gipfel noch mit Schnee bedeckt waren, begann ein verzweifelter Kampf. Am 4. Juni wurden durch einen Angriff der Russen die Truppen von Chalil Bey zersprengt und in das Tal von Liwa herabgeworfen. Reste seiner Armee schlugen sich auf Bergpfaden nach Sört durch. Chalil Bey selbst gelangte auf Umwegen nach Bitlis und sammelte dort, was sich von seiner persischen Okkupationsarmee allmählich wieder zusammenfand. Die Kurden, die sich in Urmia an die Armee von Chalil Bey angeschlossen hatten, waren in die kurdischen Distrikte von Schemdinan, südöstlich von Urmia, entwichen.

Inzwischen hatte der Nordflügel der türkischen Kaukasusarmee aufs neue die Offensive gegen Olti ergriffen. Da sie hier auf den hartnäckigen Widerstand der Russen stießen und nicht vorwärts kamen, verstärkten sie wieder ihren rechten Flügel, der gegen das Wangebiet operierte. In breiter Front drangen sie von Keslar Dagh bis zum Scharian Dagh vor, und suchten durch den Delibaba-Paß wieder in die von den Russen besetzte Alaschkert-Ebene vorzudringen. Ebenso rückten sie von Westen her gegen die russische Front vor und besetzten eine Linie, die vom Nimrud-Dagh, am Westende des Wansees über Karmuch und Pirrhus, zum Nassik-See und über den Bulama-See nach Gob führte. Die Russen waren zuvor schon westlich des Nimrud-Dagh auf Bitlis vorgestoßen und bereits in die Ebene von Musch heruntergestiegen, wo sie Wardenis besetzten, hatten aber diese vorgeschobene Stellung wieder geräumt und sich auf die Linie Achlat-Melaskert zurückgezogen, als Truppen, die aus Mosul kamen, sich mit den Resten der Armee von Chalil Bey in Bitlis vereinigt hatten. Die Türken warfen nun ein Armeekorps von Erzerum gegen die russische Front. Am 8. August eroberten sie den Paß von Mergemer, der ihnen die Alaschkert-Ebene aufschloß. Die Russen aber warfen sie wieder zurück und hielten nach verschiedenen Kämpfen die Linie Gob-Achlat.

Während der Offensive der türkischen Armee räumten die Russen vom 31. Juli bis zum 2. August Wan. Die Türken hatten von Bitlis aus einen Vorstoß gegen Wan gemacht, dem die Russen auswichen, um nicht den Operationen nördlich des Wansees Truppen zu entziehen. So konnte Djevded Bey vier Tage nach dem Abzüge der Russen mit 400 Mann Wan besetzen. Er fand aber Wan leer, da die Russen die gesamte armenische Bevölkerung samt den amerikanischen und deutschen Missionaren mitgenommen hatten. Die Räumung der Stadt hatte Hals über Kopf stattgefunden. Die Amerikaner verließen Wan am 2. Juli, der Leiter des deutschen Waisenhauses mit seiner Frau und Tochter und den deutschen Missionarinnen am 3. August. Schwester Käthe schiffte sich mit 50 Kindern des deutschen Waisenhauses ein, um über den See zu fahren. Da das Boot von Kurden beschossen wurde, mußte sie mit den Kindern am 8. August in die brennende Stadt Wan zurückkehren. Am 9. August kam Djevded Bey nach Wan und stieg in der deutschen Mission ab, wo Schwester Käthe ihn aufnahm, da sonst alles verbrannt war. Noch mancherlei war in der Stadt zurückgelassen worden. Die Kurden und Türken fingen sofort an, zu plündern. Die etwa 400 Armenier, die von den 30 000 armenischen Bewohnern der Stadt noch zurückgeblieben waren, Greise, Frauen, Kinder und Kranke konnten sich zum größeren Teil in das Anwesen der deutschen Mission flüchten, wo wenigstens ihr Leben geschützt war. Was die Kurden von Armeniern noch vorfanden, schlugen sie tot, die Frauen nahmen sie mit. Schon nach vier Tagen verließen die türkischen Truppen wieder Wan. Am 14. Juli kehrten die russischen Truppen wieder zurück und mit ihnen viele armenische Familien. Später wiederholte sich, wie es scheint, dieser Wechsel der Besatzung noch einmal. Wan wurde von den Türken wieder besetzt und wieder geräumt. Die Russen kehrten zurück und haben seitdem Wan in Händen.

Schon die erste Räumung von Wan durch die Russen war ziemlich zwecklos. Vielleicht hatte die Heeresleitung nur die Absicht, die Armenier aus Wan herauszuholen. Denn der alte Grundsatz von Lobanoff-Rostowski: „Armenien ohne die Armenier“ hat niemals aufgehört das leitende Prinzip der russischen Armenierpolitik zu sein.

Verwüstungen im Gebiet von Wan, Urmia und Salmas.

Zu der Zeit, als Wan durch türkische Truppen belagert wurde, sind die wehrlosen armenischen Dörfer des Wilajets systematisch verwüstet und die Einwohner, soweit sie sich nicht flüchten konnten, massakriert worden. Die Flucht, die Anfang April einsetzte, als die Alaschkertdörfer und die Abagha-Ebene geplündert wurden, nahm von Woche zu Woche größere Maßstäbe an. Nach einer Statistik über die Massakers sind in der Zeit von Ende Oktober 1914 bis Mitte Juni 1915 im Wilajet Wan und in den benachbarten Distrikten des Wilajets Erzerum 258 Dörfer geplündert und zerstört und gegen 26 000 Armenier massakriert worden. Die übrige Bevölkerung entzog sich dem sicheren Untergang durch die Flucht. Das Wilajet Wan, das vor dem Kriege 185 000 Armenier zählte, scheint gegenwärtig von Armeniern ausgeleert zu sein. Desgleichen die südöstlichen Gebiete des Wilajets Erzerum mit ca. 75 000 Armeniern. Was noch zurückgeblieben war oder bei dem Vormarsch der Russen seit Mitte Mai zurückkehrte, ist von russischer Seite evakuiert worden, als die russischen Truppen zeitweise Wan räumten (Mitte August). Alles, was sich an armenischer Bevölkerung aus den türkischen Grenzgebieten vor dem Schwert hat retten können, befindet sich gegenwärtig auf russischem Boden, im Araxestal. Die Zahl der Flüchtlinge, die sich größtenteils um Etschmiadzin, den Sitz des armenischen Katholikos, gesammelt haben, soll 200 bis 250 000 betragen. Etwa 200 000 befinden sich auf russischem und 25 bis 50 000 (mit Einschluß der Nestorianer) auf persischem Gebiet. Außer denen, die sich in Urmia zu den amerikanischen Missionaren flüchten konnten, ist dies alles, was von der armenischen und syrischen Bevölkerung in den östlichen Wilajets und in Nordpersien übrig geblieben ist. Über die Verwüstungen, die die türkische Armee von Chalil Bey und die mit ihr vereinigten kurdischen Truppen im Urmia- und Salmasgebiet angerichtet haben, liegen einige Berichte aus Urmia vor:

Der deutsch-amerikanische Pfarrer Pfander aus Urmia schreibt unter dem 22. Juli 1915:

„Kaum waren die Russen fort, da begannen die Mohammedaner zu rauben und zu plündern. Fenster, Türen, Treppen, Holzwerk, alles wurde fortgeschleppt. Manche Syrer hatten ihren ganzen Hausrat und ihre Wintervorräte in Stich gelassen und waren geflohen. Alles fiel den Feinden in die Hände. Die Flucht war das Beste; denn die Zurückgebliebenen hatten ein trauriges Los. 15 000 Syrer fanden Schutz innerhalb der Missionsmauern, wo die Missionare sie mit Brot versorgten: Ein Lawasch (dünnes Matzenbrot) für eine Person
am Tag. Krankheiten brachen aus, die Sterberate stieg bis auf 50 am Tag. In den Dörfern töteten die Kurden fast jeden Mann, dessen sie habhaft werden konnten. Sechs Wochen lang hatten wir einen osmanischen Soldaten als Wache. Daß ich in Deutschland geboren bin, half viel, und niemand hat uns ein Haar gekrümmt. Soll ich berichten, wie die Türken an der Hauptstraße vor dem Stadttor einen Galgen errichtet hatten und viele unschuldige Syrer erhängt und andere erschossen wurden, die sie vorher lange Zeit im Gefängnis gehalten hatten? Ich will von all’ dem Greulichen schweigen. Nebst vielen anderen armenischen Soldaten haben sie einen hier vor dem Tore erschlagen und dicht hinter Frl. Friedemanns Mauer verscharrt, aber so nachlässig, daß ihn die Hunde zum Teil wieder herausscharrten. Eine Hand lag ganz offen. Ich nahm einige Schaufeln und wir warfen einen Hügel über ihn. Frl. Friedemanns Garten, das Eigentum der Deutschen Orient-Mission, wurde von den Mohammedanern zerstört, die Häuser zum Teil in Brand gesetzt. Mit Freuden haben wir die ersten Kosaken begrüßt, die nach 5 Monaten wieder erschienen. Man ist wieder seines Lebens sicher und braucht den Tag über die Tore nicht verschlossen zu halten.“

Die frühere Leiterin des deutschen Waisenhauses in Urmia, Frl. Anna Friedemann, die zu Anfang des Krieges gezwungen wurde, ihr Waisenhaus zu räumen und russischen Offizieren zu überlassen, erhielt den folgenden Brief:

„Die neuesten Nachrichten sagen, daß bei den (amerikanischen) Missionaren (in Urmia) 4000 Syrer und 100 Armenier nur an Krankheiten gestorben sind. Alle Dörfer der Umgegend sind geplündert und eingeäschert worden, besonders Göktepe, Gülpartschin, Tscheraguscha. 2000 Christen sind in Urmia und Umgegend niedergemetzelt worden; viele Kirchen sind zerstört und verbrannt worden, ebenso viele Häuser der Stadt.“

Ein anderer Brief sagt:

„Sautschbulak wurde von den Türken dem Erdboden gleichgemacht. Für die Missionare war ein Galgen errichtet, doch eingetretene Hilfe verhinderte das Schlimmste. Eine Missionarin und ein Doktor sind gestorben.“

Ein dritter Brief berichtet:

„In Haftewan und Salmas sind aus den Pumpbrunnen und Zisternen allein 850 Leichname herausgezogen worden, und zwar ohne Kopf. Warum? Der Oberstkommandierende der türkischen Truppen hatte für jeden Christenkopf eine Summe Geldes ausgesetzt. Die Brunnen sind mit Christenblut getränkt. Aus Haftewan allein sind über 500 Frauen und Mädchen den Kurden nach Sautschbulak ausgeliefert worden. In Dilman wurden Scharen von Christen eingesperrt und mit Gewalt gezwungen, den Islam anzunehmen. Die männlichen wurden beschnitten. Gülpartschin, das reichste Dorf im Urmiagebiet, ist ganz dem Erdboden gleich gemacht worden; die Männer sind getötet, die hübschen Mädchen und Frauen weggeführt, ebenso in Babaru. Zu Hunderten flohen die Frauen in den tiefen Fluß, als sie sahen, wie viele ihrer Mitschwestern von den Banden am hellen Mittag auf den Straßen vergewaltigt wurden; ebenso in Mianduab im Suldusdistrikt. Die Truppen, die von Sautschbulak durchzogen, trugen das Haupt des russischen Konsuls aufgespießt nach Maragha. Im katholischen Missionshof in Fath-Ali-Chan-Göl sind 40 Syrer an den dort errichteten Galgen aufgehängt worden; die Klosterfrauen waren auf die Straße hinausgelaufen und hatten um Erbarmen gefleht, aber umsonst. In Salmas, in Khossrowa ist ihre ganze Station zerstört, die Klosterfrauen sind geflohen. Maragha ist zerstört. In Täbris ist es nicht so schlimm. In Salmas wurden 1175, im Urmiagebiet 2000
Christen niedergemacht. An Typhus starben bei den Missionaren 4100. Alle Flüchtlinge zusammen, auch aus Tergawar, Wan, Adzerbeidschan, werden auf 300 000 geschätzt. In Etschmiadzin hat sich ein Komitee gebildet, um für die Armen zu sorgen. Über 500 Kinder wurden unterwegs auf den Straßen gefunden, wo die Flüchtlinge herkamen, darunter solche im Alter von neun Tagen. Im ganzen sind über 3000 Waisen in Etschmiadzin gesammelt worden.“

Über die Verwüstungen der armenischen Dörfer im Wilajet Wan, die von verschiedenen Seiten bestätigt sind, liegt auch noch ein deutscher Bericht von Herrn Spörri, Leiter des deutschen Waisenhauses in Wan, vor, der von einer Reise berichtet, die er im Juni, also nach dem Einmarsch der Russen in das Wangebiet, in der Umgegend von Wan unternahm:

„Da liegt Artamid im Schmuck seiner reizenden Gärten vor uns. Aber wie sieht der Ort aus? Zum großen Teil ist er nur noch ein Trümmerhaufen. Wir sprachen dort drei unserer früheren Waisenknaben, die in der Zeit Furchtbares durchgemacht hatten. Wir reiten weiter über den Berg von Artamid. Unsere Blicke schweifen über das prächtige Tal Hayoz Dzor. Dort liegt vor uns Artananz, jetzt auch ganz zerstört. Weiterhin in dem kräftigen Grün liegt Wostan. Beim ersten Anblick könnte man es ein Paradies nennen, aber in den letzten Tagen ist es zur Hölle geworden. Wieviel Blut mag dort geflossen sein? Es war ein Hauptstützpunkt der bewaffneten Kurden. Am Fuß des Berges kommen wir nach Angegh. Auch dort wieder viele Häuser zerstört. 130 Personen sollen hingemordet sein. Wir lagerten uns hier angesichts der schwarzen Trümmer. Da lag vor uns ein „Amrodz“, wie man sie hier so häufig sieht, ein aus Mistkuchen gebauter Turm. Man sagte uns, in diesem haben die Kurden die getöteten Armenier verbrannt. Schrecklich! Doch ist das immerhin noch bester, als wenn die Leichen der Erschlagenen, wie es an anderen Orten geschehen, lange unbegraben liegen bleiben, von Hunden aufgefressen werden und die Luft verpesten. Als wir dann nach Genn weiterreiten, kommen uns schon Bekannte aus dem Dorfe entgegen, die uns von dem Geschehenen berichten. Auch dort liegen die Stätten unserer früheren Wirksamkeit, Schule und Kirche, in Trümmern, und außerdem noch viele Häuser. Der Mann, bei dem wir sonst einzukehren pflegten, ist auch unter den Erschlagenen. Seine Witwe kann sich noch immer nicht fassen. Hier sollen es ungefähr 150 Ermordete sein. Es seien so viele Waisen in dem Orte, sagte man uns. Ob wir jetzt wieder welche aufnehmen wollten. Wir konnten keine bestimmte Antwort darauf geben… Wir hatten einen wundervollen Blick von der Bergeshöhe, aber in den Dörfern sieht man überall geschwärzte und zerstörte Häuser.“

Von dem Massaker von Ardjesch, das während der Belagerung von Wan stattfand, haben wir schon im amerikanischen Bericht gelesen. Um dieselbe Zeit wurden Achlat und Tadwan überfallen. Die Verwüstungen wurden später vervollständigt, als die Russen im August zeitweise die von ihnen nördlich des Wansees besetzten Gebiete räumten. Der ganze Norden und Nordosten des Wilajets Wan und die angrenzenden Distrikte des Wilajets Erzerum bis zur türkischen Grenze sind so gut wie ausgeleert. Die türkische Bevölkerung, nach türkischer Quelle in Zahl von etwa 30 000, ist vor den Russen her in das Wilajet Bitlis geflüchtet, die armenische Bevölkerung in den Kaukasus.

Die Berichte ergeben, daß bei den Massakers im Wangebiet und in den persischen Distrikten von Salmas, Urmia und Sautschbulak zwischen armenischer und syrischer Bevölkerung kein Unterschied gemacht wurde. Auch die Bergsyrer sollen jetzt von türkischen Truppen zerniert sein. Am 30. September kamen in Salmas viele nestorianische Flüchtlinge aus Djulamerk im oberen Zabtal an. Diese Syrer erzählten, daß weitere 30 000 Nestorianer, unter ihnen auch der nestorianische Patriarch Marschimum, auf der Flucht seien und ihnen folgen würden. Sie seien von türkischen Truppen angegriffen und vertrieben worden. Weiter erzählten sie, daß 25 000 Bergsyrer von Kurden und türkischen Truppen umzingelt seien und sich schwerlich vor Vernichtung würden retten können. Ein

Bericht des nestorianischen Patriarchen,

Marschimum Benjamin, der im Oktober nach Chossrowa in Persien kam, teilt näheres über die Verfolgung seiner Kirche in der Türkei mit. Der Marschimum hat seinen Sitz in Kotschannes bei Djulamerk im oberen Zabtal. Er ist ein Mann von 25 Jahren. Das Patriarchat ist erblich in seiner Familie. Der Sitz des Patriarchates wurde im Jahre 1500 von Bagdad nach Kotschannes verlegt. Da die syrisch-nestorianischen Christen der Türkei teils aufgerieben, teils über die persische Grenze und nach Rußland geflohen sind, hat der Patriarch vorläufig seinen Sitz nach Chossrowa in der Salmasebene verlegt. Dort machte er einem Besucher gegenüber die folgenden Mitteilungen:

„Mein Volk besteht aus 80 000 Seelen, die als freie Aschirets (Stämme) in der Türkei lebten. Sie hatten, wie die kurdischen Aschirets, weder Steuern zu zahlen noch Soldaten zu stellen. Kein türkischer Beamter kam in unser Gebiet. Unsere Stämme sind von alter Zeit her bewaffnet, schon die zehnjährigen Knaben werden im Waffendienst geübt, so daß wir uns mit unseren 20 000 Bewaffneten gegen die Raubüberfälle der um uns wohnenden Kurden schützen konnten. Als die Konstitution in der Türkei eingeführt wurde, schenkten wir den Versprechungen der Regierung Glauben, die uns Sicherheit verbürgte, und verkauften einen großen Teil unserer Waffen, da man uns glauben machte, daß auch die Kurden entwaffnet worden seien. Dadurch wurde unser Volk wehrlos. Nach der Erklärung des Dschihad beschlossen die Türken, uns ebenso wie die Armenier auszurotten und ließen uns durch ihre Truppen und durch die Kurden, in deren Mitte wir wohnen, überfallen. Unsere Lage verschlimmerte sich noch mehr, als Chalil Bey nach seinen Niederlagen in Salmas und im Urmiagebiet sich im April des Jahres mit seiner geschlagenen Armee durch unsere Täler zurückzog. Ende Mai brachen türkische Truppen aus Mosul, in unser Gebiet ein. Mit dieser Zeit begannen die offiziellen Massakers und Verwüstungen in unseren Dörfern. Unser Volk verließ die Weideplätze und zog sich in das Hochgebirge von Betaschin zurück, wo es jetzt eingeschlossen ist. Die Lebensmittel drohen ihnen auszugehen, und es herrschen Epidemien. Es bleibt ihnen nur noch die Hoffnung, durchzubrechen, und über die persische Grenze zu fliehen.“

Wie die „Frankfurter Zeitung“ unter dem 4. 2. 1916 berichtet, ist der Patriarch nach Tiflis gekommen, und hat dort den Exarchen von Georgien, der dem russischen Synod unterstellt ist, gebeten, für ihn eine Erlaubnis zur Reise nach St. Petersburg auszuwirken. Die Reise soll bezwecken, eine Vereinigung der syrisch-nestorianischen Kirche mit der russisch-orthodoxen herbeizuführen. Nach der Behandlung, die den christlichen Kirchen in der Türkei seit der Erklärung des Dschihad zuteil geworden ist, hat dieser Entschluß nichts Verwunderliches. Die türkische Regierung treibt mit Gewalt Armenier und Syrer in die Arme Rußlands.

Ein Bild von dem Schicksal der Flüchtlinge gibt der folgende

Brief eines Flüchtlings aus Wan, der im Juli 1915 beim Rückzug der Russen Wan verließ.

(Schreiber dieses Briefes ist der Lehrer Parunag Ter Harutunian aus Wan, Adressatin Frl. Kohareg Bedrosian.)

Wagharschabad, den 27. August 1915.

Liebes Fräulein!

Du wirst wohl aus den Zeitungen von der völligen Zerstörung von Wan gehört haben. Mitte April äscherten die Türken mein Haus und unsere ganze Straße ein, in unserem Haus waren 250 Frauen und Kinder aus den Dörfern in der Umgegend von Wan und 50 aus der Stadt, die alle mit verbrannt sind. Es herrschte in Wan eine fürchterliche Pockenkrankheit, die täglich 60 bis 70 Kinder dahinraffte.

Im Juli mußten sich die Russen zurückziehen; infolgedessen mußten auch die überlebenden Armenier Wan verlassen. Meine Schwägerin mit meiner Frau, jede ein Kind in den Armen, und ich mit meinen zwei kleinen Buben, die 8 und 11 Jahre alt sind, mußten ohne jeden Proviant und Reisegepäck die Stadt verlassen. Von Wan bis Igdir – ach dieser Weg des Elendes und des Jammers, gleich der Hölle! – waren wir dreizehn Tage unterwegs, weil wir zu Fuß gehen mußten. Überall auf der Straße fanden wir Leichen. Auf den Feldern lagen die gefallenen Soldaten. In den Dörfern, die völlig verödet waren, war niemand mehr am Leben, außer den Hunden, die die Leichen fraßen. Unsere Karawane bestand, als wir Wan verließen, aus 872 Personen. Nur 93 davon sind in Igdir angekommen. Auch mein eignes Kind, der hoffnungsvolle Zolag, starb unterwegs, und ich konnte ihn nicht einmal begraben. Hingeworfen, weitergezogen oder vielmehr weitergeschoben.

Wir hatten 8 Tage lang unsere Kuh mit, die geduldig abwechselnd unsere Kinder trug. Sie mußte aber am 9. Tage unseres Elendes geschlachtet werden, um die Flüchtlinge am Leben zu erhalten.

Seit vier Wochen hüte ich das Bett und bin froh, daß ich noch am Leben bin. In Wan ist kein Mensch mehr, weder Türke noch Armenier. Hier sind wir mit noch 17 anderen in einem Zimmer einquartiert. Viele sterben durch Schmutz und Hunger. Sorge für Geld und Hilfe um Gottes willen, sonst können wir nicht am Leben bleiben.

In tiefer Trauer grüßt Dich Dein Lehrer
Parunag.


7. Wilajet Bitlis.


Das Wilajet Bitlis zählte unter 398 000 Bewohnern 195 000 Christen, nämlich 180 000 Armenier und 15 000 Syrer. Von den übrigen 200 000 sind 40 000 Türken. Der Rest setzt sich zusammen aus 45 000 seßhaften Kurden, 48 000 Nomadenkurden, 47 000 Sasakurden, 10 000 Tscherkessen, 8 000 Kisilbasch und 5 000 Jesidis. Die Armenier verteilen sich über alle Gebiete des Wilajets, sind aber besonders stark vertreten in der Umgegend von Bitlis und in der Euphrat-Ebene von Musch mit 200 bis 300 Dörfern. Die Ebene von Musch wird im Süden durch die Tauruskette begrenzt. In den Hochtälern des Taurus, südlich dieser Kette, liegt das Gebiet von Sassun, das in den neunziger Jahren der Schauplatz der ersten armenischen Massakers unter Abdul Hamid war.

Die Vorgänge im Wilajet Bitlis hängen mit den Ereignissen im Wilajet Wan zusammen. Die endgültige Katastrophe vollzog sich erst, nachdem die Russen Wan wieder geräumt hatten. Aber bereits seit dem Februar, noch ehe die Armenier von Wan irgend daran dachten, daß sie sich gegen ein drohendes Massaker zu verteidigen hätten, sah es bunt genug im Wilajet Bitlis aus.

Seit dem Ausbruch des Krieges waren die Städte und die armenischen Dörfer von türkischen und kurdischen Banden angefüllt, die als Milizen in die Armee eingestellt waren. Die Gendarmen beschäftigten sich unter dem Vorwande von Requisitionen mit Räubereien und Plünderungen. Den Armeniern wurden alle für den Winter aufgesparten Vorräte an Lebensmitteln weggenommen, und man befürchtete für das Frühjahr eine Hungersnot. Außer den Armeniern, die zur Armee ausgehoben waren, wurden weiter Armenier jeden Alters in beliebiger Zahl zum Wegebau und zum Lasttragen requiriert. Die Lastträger hatten den Winter über durch die verschneiten Gebirge schwere Lasten bis zu 70 Pfund an die Kaukasusfront zu tragen. Schlecht genährt und ohne Schutz gegen Kurdenüberfälle, kam die Hälfte auf dem Wege um, oft kehrte auch nur ein Viertel zurück. Als nach den Kämpfen von Sarikamisch und Ardahan die Kaukasusarmee in Schnee und Eis einquartiert war, desertierten viele Soldaten. Aber auf fünf türkische Deserteure kam höchstens ein armenischer.

Einzelne Deserteure kehrten in ihre Dörfer zurück. Die Gendarmen gingen mit Listen von Deserteuren von Dorf zu Dorf, um die Auslieferung derselben zu verlangen. Zugleich nahmen sie Haussuchungen nach Waffen vor. Falls sich die Deserteure nicht fanden, wurden ihre Häuser niedergebrannt und ihre Äcker eingezogen. Diese Razzias, die die Gendarmen veranstalteten, führten gelegentlich zu Zusammenstößen. Anfang März kam so der Kommissar Razim Bey und der Mülasim Djevded Bey mit 40 Zaptiehs in das armenische Dorf Zronk. Bei einem Kugelwechsel mit einem Flüchtling wird einem Gendarmen das Pferd unter dem Leibe weggeschossen. Er kehrt in das Dorf zurück, nimmt ein gutes Pferd von den Bauern, läßt sich 40 türkische Pfund als Ersatz für das tote Pferd zahlen, 25 Häuser anzünden, die Männer des Dorfes über die Klinge springen und konfisziert die Äcker. In Armedan werden türkische Freiwillige in armenischen Häusern einquartiert. Zum Dank für die Verpflegung vergewaltigt der Anführer die Schwiegertochter seines Quartierwirtes. Ähnliche Dinge wiederholten sich in anderen Dörfern.

Die Kurden in den Bergen hatten keine Lust, in den Krieg zu ziehen. Sie zogen es vor, armenische Dörfer zu plündern. Das war weniger beschwerlich und gewinnbringender. Der Mutessarif von Musch schien die Kurden erst bestrafen zu wollen, erklärte aber dann, er könne nichts machen. Der Kurdenstamm Abdul Medschid von Melasgert besetzte die Berge von Tschur, plünderte die armenischen Dörfer und massakrierte die Einwohner. Ein anderer Kurde, der Bruder des Kurdenscheichs Musa Beg, wollte sich in seinem Gebiet die Plünderungen durch andere Kurden nicht gefallen lassen. Auch andere Kurdenscheichs widersetzten sich der Regierung. Als ihnen aber die Unabhängigkeit ihrer Aschirets (Stämme) zugesichert wurde, gingen sie mit der Regierung und hielten sich an den Armeniern schadlos.

Trotz aller Drangsalierungen verhielten sich die Armenier ruhig, ertrugen die Übergriffe und ließen sich zu keinem Widerstand verleiten. Sie beschwerten sich bei der Regierung, und zeitweise schien die Regierung sie auch schützen zu wollen. In Musch hielt sich zu der Zeit ein bekannter armenischer Führer, Wahan Papasian, Abgeordneter des Parlaments für Musch, auf. Er vertrat die Interessen der Armenier beim Mutessarif von Musch und beim Wali von Bitlis. Ähnlich wie in Wan, versuchte man, durch Verständigung mit der Regierung dahin zu wirken, daß Streitigkeiten geschlichtet würden und die Ordnung, so gut es unter den anarchischen Zuständen möglich war, aufrecht erhalten würde.

Ende April änderte der Wali, wohl auf Veranlassung der Vorgänge in Wan, sein bis dahin noch scheinbar wohlwollendes Verhältnis zu den Armeniern. Am 1. Mai wurden 3 Armenier in Musch gehängt und das armenische Viertel ohne Veranlassung von Militär eingeschlossen. Der Wali drohte öffentlich mit einem Massaker. Zu gleicher Zeit wurden alle noch irgendwie tauglichen armenischen Männer zu den Wegebau- und Lastträgerkolonnen (Hamalar-Taburi) und ohne Rücksicht darauf, ob die Familien ohne Ernährer blieben, ausgehoben. So erhielt z. B. der Vorsteher des Dorfes Goms in der Musch-Ebene Befehl, 50 Ochsen und 50 Mann für Transportzwecke zu stellen. Trotzdem das Dorf nur 70 Männer, die Greise eingerechnet, hatte, brachte er 50 Ochsen und 45 Mann zusammen und bot für die 5 fehlenden Mann die Militärbefreiungssteuer an. Der Müdir von Agdschemak, der nach Goms gekommen war, wollte damit zufrieden sein, aber sein Begleiter, der Kurde Mehmed Amin, ein Feind des Dorfvorstehers, nahm das Fehlen der 5 Mann zum Anlaß, den Dorfvorsteher auszupeitschen und 7 Armenier zu erschießen. Es kam zu einem Zusammenstoß, bei dem 7 Gendarmen und weitere 20 Armenier getötet wurden. Etliche Tage nach diesem Vorfall kam es zu einem Zwischenfall in dem Kloster Arakeloz. Dorthin hatten sich 80 Armenier geflüchtet. Truppen aus Musch, die das Kloster durchsuchten, brachen einen Streit vom Zaun, der blutig endete. Der Mutessarif von Musch schickte Truppen, forderte die Auslieferung der Flüchtlinge, ließ sie aber nach weiteren Verhandlungen abziehen. Trotzdem ließ der Mutessarif die Leichen der Türken, die bei dem ersten Zusammenstoß umgekommen waren, nach Musch bringen und sagte in der Leichenrede öffentlich: „Für jedes Haar Eures Hauptes will ich Tausend Armenier hinschlachten lassen.“

Zu derselben Zeit hörte man, daß armenische Wegearbeiter von ihren bewaffneten muhammedanischen Kameraden erschlagen wurden. Als dies systematisch fortgesetzt wurde, sagten sich die Armenier, daß diese Untaten nicht in dem Fanatismus ihrer muhammedanischen Kameraden, sondern in den Anordnungen der Regierung ihren Grund hatten, die die Armenier planmäßig auszurotten beschlossen hatte. Die Beschwerden des Bischofs wurden von der Regierung spöttisch abgewiesen.

Die Armenier waren verzweifelt. Was sollten sie tun? Kampffähige Männer waren kaum noch da. Die Frauen und Kinder waren den türkischen Truppen, den kurdischen Hamidiehs und der fanatisierten Menge preisgegeben.

Zu ihrer Überraschung fingen eines Tages plötzlich Türken und Kurden an, Freundschaft zu heucheln und sich mit ihnen wieder auf guten Fuß zu stellen. Die Erklärung dieser Wandlung war bald gegeben. Die Russen waren bis Gob und Achlat nördlich des Wansees vorgegangen und südlich des Sees marschierten sie auf Bitlis. Aber es kam nicht zur Besetzung von Bitlis. Auch der Vorstoß in die Muschebene wurde wieder zurückgenommen. Die Russen kamen nicht, und damit versank die letzte Hoffnung auf Rettung.

Einmal hatte der deutsche Konsul aus Mosul wegen der Plünderungen und Massakers im Wilajet Bitlis bei den türkischen Behörden interveniert. Eine Zeitlang schien das Eindruck zu machen, es dauerte aber nicht lange, so war alles wieder beim alten.

Stadt Bitlis.

Gouverneur von Bitlis war Mustafa Chalil, Schwager des Ministers des Innern Talaat Bey. In der Stadt und Umgegend hatte er bereits alle männlichen Armenier zwischen dem 20. und 45. Jahre zum Heeresdienste (d. h. zum Straßenbau und Lasttragen) ausheben lassen. Kirchen und Häuser der Armenier mußten für Einquartierung geräumt werden. Nach der Erklärung des Dschihad begannen die Mollahs, die Scheichs und die Banden, die von bekannten Räubern geführt wurden, ihre aufreizende Tätigkeit. Die Muhammedaner wurden bewaffnet, und in den Moscheen wurde der Christenhaß gepredigt. Schon in den Monaten Dezember und Januar kam es zu mancherlei Untaten. Türken aus Bitlis hatten eine kurdische Bande gebildet und belagerten das Dorf Urdap. Sie nahmen den Bauern Pallabech Karapet und einige andere gefangen, führten sie gefesselt in die Stadt und folterten sie, indem sie ihnen die Bärte ausrissen. Eine andere Bande von 300 Mann unter Führung des Chumadji Farso (eines Nachkommen des berüchtigten Kurdenscheichs Djelaleddin) und des Emirs Mehmed griff zehn armenische Dörfer im Gebiet von Gargar an, plünderte und verbrannte sie. Was nicht getötet wurde, floh nach Wan.

Im Juni fand ein Massaker in Bitlis statt. Die Armenier von Bitlis und aus den Dörfern um Bitlis wurden in der Richtung auf Diarbekir abtransportiert. Die Männer wurden erschlagen, 900 Frauen und Kinder unterwegs, als man an den Tigris kam, ertränkt. Bei dieser Deportation muß auch der Deputierte Wramjan von Bitlis seinen Tod gesunden haben. Die türkische Version lautet: Armenier hätten ihn befreien wollen, weshalb die Gendarmen genötigt gewesen seien, ihn zu töten.

Die Ebene von Musch.

Am Morgen des 3. Juli begann die Metzelei in Musch. Die Kanonen wurden gegen den oberen Stadtteil gerichtet, sodaß dort die Häuser einstürzten und eine Feuersbrunst ausbrach. Die Armenier verließen die Häuser und flüchteten sich in einen anderen Stadtteil, wobei sie zum Teil auf der Straße niedergemetzelt wurden. Der obere Stadtteil wurde gänzlich vernichtet. Nun richtete sich der Angriff gegen den Stadtteil „Brut“. Die Armenier waren dort zusammengedrängt und sahen, wie ihre weiblichen Angehörigen geschändet, ihre Brüder getötet wurden. Nach der Zerstörung auch dieses Stadtteiles wandten sich die Angriffe gegen den „Smareni“-Stadtteil. Dort wurden unbeschreibliche Greuel begangen. Da keine Rettung mehr war, suchten die Armenier sich selbst zu töten. So sammelte Tigran Sinojan in Musch alle Mitglieder seiner Familie, 70 Personen, und reichte allen Gift. Nachdem sie dem Gift erlegen waren, legte er Feuer an das Haus und erschoß sich.

Andere Familien verbrannten ihre Häuser, um in den Flammen umzukommen, viele erschossen ihre Frauen und Kinder, um sie vor Schändung und Islamisierung zu bewahren.

Hadji Hagop fiel während eines Sturmes, aber seine Gefährten setzten die Verteidigung fort. Inzwischen waren alle Stadtteile außer „Zor“ vernichtet und der übrig gebliebene Teil der armenischen Bevölkerung wurde in diesem am äußersten Ende der Stadt gelegenen Teil zusammengedrängt, etwa 10 bis 12 000 Personen.

Es kam der 4. Juli. Das Bombardement und die Angriffe der Kurdenhorden steigerten sich zu größter Heftigkeit. Aber auch die wenigen armenischen Verteidiger verdoppelten ihren Widerstand und erschossen Hunderte von Kurden. Was wollte das aber bedeuten? Die Häuser von Zor wurden allmählich in Trümmer geschossen und alle Armenier, welche noch am Leben geblieben waren, beschlossen, in der folgenden Nacht den an Zor grenzenden Fluß zu überschreiten und in die Berge von Goghu Gluch zu fliehen, in der Hoffnung, Sassun zu erreichen. In der elften Abendstunde setzte sich die Masse in der Richtung auf den Fluß in Bewegung. Aber die brennenden Häuser beleuchteten die Gegend auf 8–10 Kilometer Entfernung hin. Sie wurden von ihren Verfolgern bemerkt und beschossen. Viele fielen den Kugeln, andere dem Gedränge, und wieder andere den Wellen zum Opfer, und nur 5–6000 erreichten das andre Ufer und flohen in die Berge.

Die Kurden sammelten dann alle Verwundeten und etwa in der Stadt noch versteckten Armenier und verbrannten sie auf einem ungeheuren Scheiterhaufen.

Was sich aus der Ebene von Musch noch flüchten konnte, floh in die Berge von Sassun.

Sassun.

Sassun war nicht leicht zu bezwingen, das wußten die Türken aus der Zeit der Massakers von 1894/6. Bei Ausbruch des Krieges hatten die Kurden sie umschmeichelt und ihnen versprochen, ihre freundnachbarlichen Beziehungen aufrecht zu erhalten. Die Armenier ihrerseits versicherten die Kurden ihrer Freundschaft. So waren denn auch eine Zeitlang die Beziehungen ungetrübt. – Anfang 1915 begann die Regierung die Gegenden mit weniger dichter armenischer Bevölkerung (so die Dörfer Silivan, Bescherik, Miafarkin usw.) zu entwaffnen, die Armenier zu mißhandein, zu töten und zu vertreiben. Sie bewerkstelligten das so geschickt, daß die Kunde ihrer Untaten nicht bis zu den armenischen Zentren drang. Erst Anfang März begann die Regierung auch gegen die letzteren vorzugehen. Sie schickten Leute in den Bezirk von Zowasar, die in dem Dorfe Aghri die sofortige Auslieferung der Waffen forderten. Die Bauern bestritten, Waffen zu besitzen, und 50 von ihnen wurden getötet. In gleicher Weise ging dann die Regierung in den Bezirken Chiank und Kulp[21] vor. Die türkischen Beamten begaben sich mit vielen Kurden und Gendarmen dorthin und verlangten die Waffen. Die Bauern dieser Bezirke wandten ein, sie wären keine Rebellen, sondern der Regierung treu ergeben und besäßen keine Waffen. Als die Türken sie niederzumachen drohten, floh die armenische Jugend und versammelte sich in den Dörfern von Chiank: Ischchenzor, Ardchonk und Sewit. Darauf stürzten sich die Gendarmen und die Kurden auf die Dörfer und forderten außer den Waffen die Auslieferung der Flüchtlinge. Schließlich wurden die Frauen vergewaltigt und 3000 Männer als Hamalar Taburi (Armierungssoldaten) weggeführt. Diese wurden nach der Stadt Lidscheh gebracht, von dort weiter transportiert und zwischen Charput und Palu getötet. Nur 3 Personen konnten der Metzelei entgehen und in Dalvorik ihre Erlebnisse erzählen. Auf diese Kunde hin, verließen alle Armenier Chiank und Kulp und flüchteten nach Sassun.

Ähnlich ging es in dem Bezirk von Psank zu. Die Kurden von Scheko, Beder, Bosek, Modkan, Djallal und Gendjo griffen in Begleitung des Kaimakams die Armenier von Psank an.

Mitte Mai erklärte die Regierung die Armenier von Psank als Rebellen und verlangte Auslieferung der Waffen. Darauf wurden aus einigen Dörfern Frauen geraubt. Ein großer Teil der Armenier, ca. 4000 Personen, wurde von Stepan Wartabed nach dem Kloster Mardin-Arakeloz (auf dem Berge Marat) gebracht, wo sie sich verschanzten und von den Kurden umzingelt wurden. Am 20. Mai kam es zu einem blutigen Kampf zwischen Belagerern und Belagerten. Anderthalb Monate konnten diese, trotz ihrer lächerlich geringen Kampfmittel, sich behaupten, bis ihnen das Wasser abgeschnitten wurde. Sie schickten nach Sassun um Hilfe, aber die Hilfe blieb aus, und so versuchten sie durchzubrechen. Dabei kamen 2000 um; der Rest, mit dem Wartabed an der Spitze schlug sich durch.

Bisher war das eigentliche Sassun noch immer von Angriffen verschont geblieben. Die Sassuner zeigten sich streng loyal, und auch die Regierung trug Bedenken, gegen sie vorzugehen. Sie hatten viele der von der russischen Front geflohenen Kurdenfamilien freundlich bei sich aufgenommen, ihnen Kleidung und Nahrung gegeben und sie nach kurdischen Ortschaften weiterbefördert. Die Sassuner dachten nicht an Aufstand, sie hatten keine Waffen und auch nicht hinreichend Lebensmittel. Die Regierung aber fürchtete sie und ging sehr vorsichtig zu Werke. Erst als sie die Armenier in den Dörfern Zronk, Goms, Awsud, Muscheghaschen u. a. und in den Bezirken Chiank, Kulp, Psank und Zowasar z. T. vernichtet und z. T. vertrieben hatte, begann sie gegen Sassun vorzugehen. Der kurdische Agha von Chiank, der Müdir Kör-Slo schickte Gendarmen nach Dalworik, um die Auslieferung der Waffen zu fordern. Die Einwohner erklärten, daß sie der Zusicherung der Regierung, daß sie nach Ablieferung der Waffen das Volk in Ruhe lassen würde, keinen Glauben schenkten, nachdem alle Dörfer, die ihre Waffen übergeben hatten, vernichtet worden seien. So kehrten die Gendarmen unverrichteter Dinge zu dem Müdir zurück. Kör-Slo versuchte es noch zweimal, die Armenier zu überlisten. Als auch das nicht half, nahm sich der Mutessarif von Musch der Sache an. Er schickte den Wartabed Wartan, den Priester Chatschadur, die Efendis Gasem, Mussa, Mustafa und 10 andere Muhammedaner, um die Sassuner zu überreden, nach dem Dorfe Dapek zu kommen, wo der Kaimakam seinen Sitz hat. Der Kaimakam schickte nach Sassun, um die Ortsvorsteher zu sich zu bitten. Sie kamen und wurden sehr liebenswürdig aufgenommen. Die Efendis priesen ihre Loyalität und Treue. Als man aber auf die Frage der Waffenauslieferung kam, erklärten die Armenier, von dem Volke keine Vollmacht zu besitzen. Man einigte sich, die Angelegenheit in einer Versammlung in Schenik zu verhandeln, wohin denn auch die übrigen Notabeln von Sassun kamen. Dort erklärten die Regierungsvertreter, daß Sassun keine Soldaten mehr stellen dürfe, weil die Sassuner Verrat geübt hätten. Die Armenier bestritten das und beschuldigten die Regierung, daß sie die Armenier, statt sie an die Front zu schicken, als Hamals (Last-Träger) verwende, und in entlegene Gegenden sende, um sie dort zu vernichten. Die Türken suchten das abzuleugnen und versicherten, daß die Regierung den Armeniern wohlwolle; in Anbetracht der ärmlichen Lage der Sassuner brauchten diese fortan keine Soldaten mehr zu stellen, man verlange von ihnen nur Lebensmittel und Kleidung für die Truppen. Die Sassuner versprachen das Gewünschte und noch mehr zu liefern, das Gleiche versprachen auch die Notabeln von Schenik, Senal, Geliagusan und Daluwor.

Darauf traten die Regierungsvertreter mit der Behauptung hervor, es sei der Regierung bekannt, daß die Sassuner in ihren Bergen Kosaken versteckt hätten. Sie müßten ausgeliefert werden, ebenso alle Waffen. Die Armenier bestritten, jemals Kosaken gesehen zu haben. Betreffs der Waffen erklärten sie, daß sie nie daran gedacht hätten, gegen die Regierung zu rebellieren. Warum denn die Kurden nicht entwaffnet würden? Sie hätten nur einige wenige Feuersteinflinten, die sie zum Schutze gegen die Raubtiere brauchten. So kehrten die Efendis, ohne etwas erreicht zu haben, nach Musch zurück.

Als die Regierung sah, daß die Entwaffnung der Leute von Sassun durch List nicht zu erreichen war, rief sie die benachbarten Kurdenstämme zusammen. Ende Juni wurde Sassun von ihnen umzingelt, von Osten her durch die Kurden von Scheko, Beder, Bosek und Djalall, von Westen her durch die Kurden von Kulp und ihren Scheichs Hussein und Hassan und die Kurden von Genasch und Lidsche, von Süden her durch die Kurden von Chian, Badkan und Bazran unter Chaldi Bey von Meafarkin und Hadschi Muschi Aga, von Norden her durch Kurdenbanden, die auf der Höhe von Kosduk zusammengezogen wurden; außerdem wurden türkische Truppen aus Diarbekir und Charput aufgeboten. Die Bevölkerung von Sassun zählt 20 000 Seelen. Außerdem waren in das Sassungebiet etwa 30 000 Frauen, Kinder und Greise aus den benachbarten Gebieten geflüchtet. Da Sassun selbst wenig Korn erzeugt, war die Ernährung dieser Flüchtlinge sehr schwierig. Schon im Winter war fühlbarer Mangel gewesen, aber die Regierung hatte den Leuten von Sassun nicht erlaubt, Vorräte in Musch einzukaufen. Seit dem Mai wurden die Lebensmittel immer knapper.

Die Kurden griffen zuerst das Dorf Aghbi (im Kreise Zowasar) an und trieben die Schafherden weg. Dann überfielen die Kurden von Osten her die Dörfer Kop und German, töteten die sich widersetzenden Dorfbewohner und führten ihre Herden mit sich weg. Die Armenier zogen sich nun auf einen engeren Umkreis in die Antokberge zurück. Von da schickten sie eine Beschwerde an die Regierung, in der sie sich über die ungesetzliche Behandlung beklagten. Ihre Führer Ruben und Wahan Papasian hielten gute Ordnung und waren bemüht, alles zu vermeiden, was der Regierung einen Anlaß zum Einschreiten geben konnte.

Als Antwort auf die Beschwerde griffen am 18. Juli türkische Truppen die Armenier an, die sich zu ihrer Verteidigung auf Stellungen, die besser zu verteidigen waren, zurückzogen. Da die Armenier nur eine geringe Zahl von Bewaffneten und wenig Munition hatten, mußten sie sich zuletzt auf den Geben-Berg zurückziehen. Am 20. Juli war ihre Munition erschöpft, während die türkischen Truppen Artillerie gegen sie in Stellung brachten. Am Nachmittag des 21. Juli erging der Befehl, daß sich alle Armenier mit ihren Frauen und Kindern in der Ebene von Andoka sammeln sollten, wo sich schon der größte Teil der Bevölkerung und der Flüchtlinge befand. Es waren gegen 50 000, die dort zusammenkamen. Dort beschloß man, sich zu teilen und nach verschiedenen Richtungen auf unwegsamen Bergpfaden durch die belagernden Kurden durchzubrechen. Ein Teil floh in die Berge von Dalworik, ein Teil nach Zowasar. Ein Teil schlug sich über Krnkan-Giöl nach Kan durch, wo sie auf die von Musch geflüchteten Armenier stießen. Die Leute von Schenek und Semal gingen über Korduk in das Tal von Amre und Zizern hinab, wo sie von den Kurden bis auf 87 Personen, die sich durchschlugen, vernichtet wurden. Die Leute von Aghdo kamen mit geringen Verlusten nach Zowasar und versteckten sich dort in den Felshöhlen. Die Leute von Geljegutzan und Ischchanzor wurden zur Hälfte aufgerieben. So wurde die Bevölkerung von Sassun zum Teil vernichtet, zum Teil in die Berge versprengt. Kurden und Türken streiften die Gegend ab, um die Versprengten abzuschießen. Von den Führern fielen Korion, Tigran und Hadschi. Am Leben blieben Ruben und Wahan Papasian, die sich mit kleinen Abteilungen in das Wan-Gebiet durchschlugen. Ende September trafen Ruben und Wahan Papasian in Eriwan ein. Sie schätzten die Zahl der damals vielleicht noch Lebenden, die sich nach verschiedenen Seiten zerstreut hatten, auf etwa 30 000. Da aber auch diese nur noch für kurze Zelt Lebensmittel hatten, muß man annehmen, daß sie inzwischen von den Kurden vernichtet oder Hungers gestorben sind.

III. Die westanatolischen Wilajets.


In den westanatolischen Wilajets ist das armenische Element nicht so zahlreich vertreten, wie in den ostanatolischen.

In dem Mutessariflik Ismid zählten sie 71 000, im Wilajet Brussa 90 000, im Wilajet Angora 67 500, im Wilajet Aidin (Smyrna) 27 000, im Wilajet Konia 25 000, im Wilajet Kastamuni 14 000, zusammen rund 300 000. Im Mutessariflik Ismid und im Wilajet Brussa, die gegenüber von Konstantinopel und südlich des Marmarameeres liegen, fanden die Vorbereitungen zur Deportation Ende Juli statt.


1. Ismid, Brussa.


Ein gewisser Ibrahim Bey, der sich in den Balkankämpfen als türkischer Komitatschi hervorgetan hatte und in Konstantinopel Aufseher am Gefängnis war, wurde in die Hauptplätze der Wilajets geschickt, nach Ismid, Adabazar, Bagtschetschik und anderen Orten, um dort Verhaftungen vorzunehmen und nach Waffen zu suchen. Vor drei Jahren hatte derselbe Ibrahim Bey in der Zeit der Reaktion im Auftrage des jungtürkischen Komitees in demselben Distrikt Waffen an die Armenier verteilt, damit sie, wenn nötig, die Herrschaft des Komitees gegen die Reaktion verteidigen sollten. Soweit Waffen vorhanden waren, waren sie schon freiwillig abgegeben worden. Als sich weitere Waffen nicht fanden, wurden die angesehenen Armenier ins Gefängnis gelegt und dort gefoltert. In Bagtschetschik ließ Ibrahim Bey 42 gregorianische Armenier, darunter einen Priester, verhaften und bis aufs Blut schlagen. Auch drohte er, den Ort niederzubrennen und mit den Einwohnern so zu verfahren, wie er es (im Jahre 1909) in Adana gemacht habe. Auch in Adabazar, Kürd-Bejleng und anderen Orten wurden die angesehenen Armenier in die Fallacha (den Stock) gesteckt und von ihm eigenhändig mit der Bastonnade bearbeitet. Der Lehrer der gregorianischen Schule in Adabazar wurde zu Tode geprügelt, ein anderer geschlagen, bis er wahnsinnig wurde. Auch Frauen erhielten die Bastonnade.

Ibrahim Bey rühmte sich, er habe von der Regierung Vollmacht, mit den Armeniern zu machen, was er wolle. In der Kirche von Bagtschetschik ließ er Grabungen nach Waffen veranstalten, fand aber nichts.

Um die Muhammedaner aufzureizen, wurden die lächerlichsten Lügen verbreitet. Ein türkischer Offizier erzählte, die armenischen Frauen hätten 10 000 Rasiermesser bei sich versteckt, um damit den Türken die Hälse abzuschneiden.

Am 30. Juli wurden die Ortschaften Bagtschetschik (Bardezak), Owatschik und Döngell mit ca. 20 000 Armeniern deportiert. Bagtschetschik wurde von 60 Zaptiehs umzingelt, an Widerstand dachte niemand.

Nach und nach wurden alle armenischen Ortschaften ausgeleert. Der amerikanische Botschafter konnte nur erreichen, daß den Deportierten etwas mehr Zeit gelassen und die Deportation gegen 14 Tage aufgeschoben wurde.

In Brussa sollte ein gregorianischer Armenier aus guter Familie, namens Sedrak, Waffen ausliefern, hatte aber keine. Er wurde von der Polizei derart mißhandelt, daß er Rippenbrüche erlitt. Dann wurde er mit den Worten: „er könne jetzt armenischer Minister werden,“ auf die Straße geworfen.

Dr. Taschjan und Dr. Melikset, Chefarzt des städtischen Krankenhauses in Brussa, wurden in Ketten nach Panderma gebracht und dort zu zehn Jahren Haft verurteilt. Dr. Melikset wurde in Ketten nach Brussa zurückgebracht und verschwand eines Tages. Als Beweis seiner revolutionären Gesinnung wurde eine Visitenkarte, die er vor sechs Jahren an seine Frau geschickt hatte, vorgezeigt, auf der die Worte standen: „Ich habe die betreffenden Leute aufgesucht.“

In Adabazar wurden auch Frauen und Mädchen der gutsituierten Kreise in die armenische Kirche getrieben und einem Verhör wegen verborgener Waffen unterzogen. Als sie nichts auszusagen vermochten, verging man sich an ihnen aufs schändlichste.

Auch in diesem Gebiet wurde die Deportation von den Beamten zu Gelderpressungen an vermögenden Armeniern benutzt. So wurden in Biledjik dem Penck Mordjikian 100 türk. Pfd., dem Agop Mordjikian 150 türk. Pfd., den Gebrüdern Diragossian 100 türk. Pfd. abgenommen. In Trilia wurden von der Bevölkerung 1000 türk. Pfd. verlangt und ihr das Versprechen gegeben, sie nicht auszuweisen. Kaum war das Geld in den Händen der Beamten, so erfolgte die Deportation.

In Marmaradjik wurden 60 Personen getötet und die Mädchen bis zu 11 Jahren herab vergewaltigt.

Die Armenier dieser Distrikte wurden zum Teil mit der Bahn verfrachtet, in Viehwagen gestopft, einige Stationen weiter geschickt und auf freiem Felde ausgeladen. Ein deutscher Sanitätsbeamter sah an der Strecke zwischen Ismid und Eskischeher im August auf freiem Felde ungeheure Haufen von Menschen lagern, die er auf 40- bis 50 000 schätzte. An den Abfahrtsstationen spielten sich, wie viele Augenzeugen berichteten, herzzerreißende Szenen ab. Die Männer und Frauen wurden voneinander getrennt und gesondert an verschiedene Orte verschickt. Arme Frauen verkauften vielfältig ihre Kinder, um sie am Leben zu erhalten, für einige Medschidies (Taler) an muhammedanische Familien.

Über die Art, wie bei den Verhören durch Polizeibeamte und Gendarmen in der Gegend von Ismid die Armenier behandelt wurden, liegt ein besonderer Bericht von einem Augenzeugen vor.

„Am 1. August begann man in der Kirche die Verhafteten mit Stöcken zu schlagen. Man wollte dadurch die Leute zwingen, Waffen, die sie etwa noch hätten, herauszugeben. Die meisten nahmen ihr Schicksal schweigend auf sich, da sie keine Waffen hatten. Eine Mutter warf sich zwischen den Polizisten und ihren schwindsüchtigen Sohn und empfing selbst die Streiche. Eine deutsche Frau versuchte ihren armenischen Mann zu retten. „Geh aus dem Wege oder ich schlage dich!“ schrie der Beamte. Als sie sagte, daß sie eine Deutsche sei, erwiderte er: „Ich kümmere mich nicht um deinen Kaiser, meine Befehle kommen von Talaat Bey!“

Einige vornehme Damen kamen, um bei dem Beamten Fürsprache einzulegen, und für ein oder zwei Tage ließen die Mißhandlungen etwas nach. Dann kam der Tag des Schreckens, der furchtbare Sonnabend. Frauen stürzten zu uns ins Haus und sagten: „Sie schlagen die Armenier tot, sie werden bald auch die Frauen erschlagen!“ Ich lief zu dem Hause eines Nachbars und fand dort Männer und Frauen weinend. Die Männer waren aus der Kirche entkommen und erzählten unter Tränen, was sie dort erlebt hatten. „Sie schlugen uns fürchterlich“, riefen sie, „und sagten, sie würden uns in den Fluß werfen. Sie wollen uns in die Verbannung schicken. Sie wollen Muhammedaner aus uns machen. Auch die Frauen wollen sie schlagen. Gleich werden sie ins Haus kommen.“

Ein türkischer Soldat stand außerhalb der Kirche in Tränen aufgelöst. Er sagte, er habe wegen der furchtbaren Behandlung der Armenier drei Tage und Nächte geweint. Einige Leute waren zehn Tage lang in der Kirche eingeschlossen.

Nach 3 Tagen hörte das Schlagen auf und wir schöpften wieder Mut. Am Sonnabend wurden einige armenische Läden wieder geöffnet. Aber am nächsten Morgen in der Frühe, es war Sonntag, kam die Nachricht
daß alle Armenier, etwa 25 000 an Zahl, deportiert werden sollten. Sie sollten mit dem Güterzug nach Konia fahren, wenn sie die Fahrt bezahlen konnten, und dann mit dem Wagen nach Mosul, die anderen sollten zu Fuß gehen, eine Reise, die Wochen und Monate dauert. Uns erreichten noch furchtbare Berichte von solchen, die sich zu Fuß aufgemacht hatten, und auch von solchen, die ihren letzten Besitz verkauft hätten, um die Fahrt bezahlen zu können. Geld mitzunehmen fürchteten sie sich. Die Armen hatten ja auch keins. Die Reichen mußten all ihr Eigentum zurücklassen. Nahmen sie Geld mit sich, so hatten sie nur Mißhandlungen zu befürchten. Als der Mittwoch gekommen war, gab es keine Güterzüge mehr, um die, die fahren wollten, fortzuschaffen. Jetzt wurden alle noch Zurückgebliebenen auf die Straße gesetzt; dort sollten sie warten, bis sie an die Reihe kämen.“


2. Smyrna, Angora, Konia, Kastamuni.


Im westlichen Anatolien gab es niemals etwas, das einer „armenischen Frage“ ähnlich gesehen hätte. Die Verhandlungen, die zwischen den Mächten und der Türkei über „Reformen in den von Armeniern bewohnten Provinzen“ geführt worden sind, hatten sich immer nur auf die ostanatolischen Provinzen und höchstens noch auf Cilicien bezogen. Wollte man auch im westlichen Anatolien eine „armenische Frage“ haben, so mußte sie erst künstlich von der Regierung geschaffen werden. Die Art des Vorgehens aber erübrigte es, für die westanatolischen Armenier erst irgend einen Anlaß für die Deportation zu suchen. Man hatte vor zwei Jahren schon die griechischen Dörfer an der westanatolischen Küste und in der Umgegend von Smyrna ohne irgend welchen Grund ausgeräumt und die Einwohner aus dem Lande verwiesen. Jetzt wünschte man sich auch der armenischen Bevölkerung zu entledigen. Auch hier hat verschiedentlich die türkische Bevölkerung dagegen Einspruch erhoben, daß die Armenier deportiert werden sollten. Seit Jahrhunderten haben hier unter dem moralischen Druck, den schon die größere Nähe von Europa auf die Bevölkerung der Levantestädte ausübte, Türken, Armenier, Griechen und Juden in Frieden miteinander gelebt. In einzelnen Städten, wie Smyrna, war das christliche Element so überwiegend, daß nur ein Viertel der Bevölkerung auf die Türken entfiel. Smyrna hat unter 210 000 Bewohnern nur 52 000 Türken, dagegen 108 000 Griechen, 15 000 Armenier, 23 000 Juden, 6500 Italiener, 2500 Franzosen, 2200 Österreichern und 800 Engländern (meist Malteser). Die herrschende Sprache ist nicht die türkische, sondern die griechische. Die Armenier haben einen sehr bedeutenden Anteil am Handel. Der Import ins Innere liegt zum größten Teil in ihren Händen. Eine Deportation der Armenier von Smyrna war sinnlos, und kein Vorwand hätte dafür gefunden werden können. Gleichwohl erging der Befehl der Deportation an den Wali. Der Wali Rachmi Bey weigerte sich, den Befehl auszuführen; deshalb mußte er nach Konstantinopel kommen, um sich zu rechtfertigen. Bis jetzt hat er die Deportation verhindern können. Sowohl in der Stadt als auch auf dem Lande ist die armenische Bevölkerung (ca. 30 000 von einer Gesamtbevölkerung von 1 400 000) verschont geblieben. Dies ist allein der Einsicht des Walis zu danken.8)

Das Wilajet Angora zählt nach türkischer Statistik unter 892 000 Einwohnern 95 000 Armenier. Die Stadt Angora ist ein Hauptsitz der katholischen Armenier, die hier und in der Umgegend 15 000 Seelen zählen. Über die Vorgänge im Wilajet, die sich erst im Laufe des Monats August abgespielt haben, liegen folgende Nachrichten vor. Ende Juli wurden alle männlichen gregorianischen Armenier zwischen 15 und 70 Jahren mit Ausnahme einiger Greise aus Angora deportiert. Sie wurden 6 bis 7 Stunden hinter der Stadt bei dem Orte Beiham Boghasi von türkischen Banden, die dorthin bestellt waren, umzingelt und mit Schippen, Hämmern, Beilen und Sicheln umgebracht, nachdem vielen die Nasen und Ohren abgeschnitten und die Augen ausgestochen worden waren. Die Zahl der Opfer beträgt 500. Die Leichen blieben liegen und verpesteten das ganze Tal.

Nach weiteren zwei Wochen begann man die männlichen katholischen Armenier zu verhaften, die in zwei Abteilungen nacheinander die Stadt verlassen mußten. Der erste Trupp war 800 Personen stark, unter ihnen die Geistlichen, der zweite Trupp zählte 700 Personen. Sie mußten in der Richtung auf Kaisarije täglich 10 bis 12 Stunden marschieren und hatten weder Brot noch Geld. Wo sie geblieben sind, weiß man nicht.

Die dritte Karawane bestand aus den Frauen und Kindern der Stadt, denen der Münadi (d. i. Ausrufer) verkündete, daß sie binnen zwei Stunden auf dem Bahnhof sein müßten. In der Eile konnten sie nur Weniges an Kleidung usw. mitnehmen. Am Bahnhof wurden sie vier bis fünf Tage in ein Kornmagazin eingesperrt, unter Hunger und Kälte leidend, und den Lüsten der Gendarmen ausgesetzt. Als man glaubte, daß sie mürbe geworden waren, wurde bekannt gemacht, daß alle, die den Islam annehmen würden, zurückbleiben könnten. Die sich dazu bereit erklärten, durften in die Stadt zurückkehren. Es waren etwa 100 Familien. Sie mußten ein Schriftstück unterschreiben, daß sie freiwillig zum Islam übergetreten seien, und wurden an muhammedanische Familien verteilt. Die Übrigen wurden mit der Bahn nach Eskischeher und von dort nach Konia abtransportiert. Auch die an der Eisenbahnlinie arbeitenden armenischen Soldaten wurden aufgefordert, den Islam anzunehmen. Viele taten es; die sich Weigernden wurden getötet. Im Ganzen sollen 6000 Armenier im Wilajet Angora ermordet worden sein.

In Kaisarije wurden am 13. Juni, demselben Tage, an dem die 21 Hintschakisten in Konstantinopel gehängt wurden, zwölf Armenier, die Mitglieder politischer Parteien waren, zum Tode verurteilt. Schon im Laufe des Mai hatte man 200 Notabeln und Daschnakzagan verhaftet. Auch der Aradschnort (Metropolit) von Kaisarije wurde verhaftet und zum Tode verurteilt. Priester wurden geschlagen, bis sie nicht mehr aufstehen konnten.

Jede Denunziation genügte, um eine Verhaftung zu bewirken. Die Dörfer um Kaisarije: Indjesu, Tomardze, Fenesse und andere wurden binnen weniger Stunden ausgeleert.

Das Sandschak Josgat hat unter 243 000 Muhammedanern 29 000 gregorianische, 1500 katholische und 500 protestantische Armenier. In Josgat wurde der Befehl gegeben, binnen zwei Stunden die Stadt zu verlassen. Unterwegs wurden die Männer abgesondert. Die Soldaten banden mit Weidenruten je fünf zusammen, legten ihre Köpfe auf gefällte Baumstämme und schlugen sie mit Knütteln tot.

In Dewank, eine halbe Stunde von Talas bei Kaisarije, hatten sich drei Deserteure versteckt, der eine bei seiner Frau, und waren nicht ausgeliefert worden. Zur Strafe wurde die ganze Bevölkerung deportiert und ihre ganze Habe verkauft. Alle Sachen wurden in der Kirche aufgestapelt, sogar die Schuhe der Kinder, und wurden dort feilgeboten. Was 100 Piaster wert war, erzielte etwa einen Preis von 5 Piastern.

In Ewerek, 40 km südlich von Kaisarije, hatte sich am 11. Februar des Jahres, also drei Monate, bevor die allgemeine Deportation beschlossen wurde, ein Zwischenfall ereignet, der nur lokale Bedeutung hatte. In einem Hause des Ortes fand eine Explosion statt. Es stellte sich heraus, daß ein junger Armenier namens Kework, der kurz vor Kriegsausbruch von Amerika heimgekehrt war, versucht hatte, eine Bombe zu füllen, und dabei selbst verunglückt war. Der junge Mann erlag nach sechs Stunden seinen Verletzungen. Eine Deutsche, die damals in Ewerek lebte, berichtet, daß der Kaimakam und seine Beamten sich in verständiger Weise benommen hätten. Der Kaimakam, der ein vernünftiger und wohlwollender Mann war, ließ zwar einige Leute verhaften, machte aber die armenische Bevölkerung des Ortes nicht für den Vorfall verantwortlich, weil er wußte, daß dieselbe mit dem zugereisten jungen Armenier nichts zu tun hatte. Dies mißfiel dem Mutessarif von Kaisarije, der den Kaimakam absetzte und einen Tscherkessen Seki Beg, einen wahren Unmenschen, an seine Stelle setzte. Dieser kam in die Stadt, ging mit der Peitsche in der Hand und mit einem Gefolge von Gendarmen in alle Häuser, nahm massenhafte Verhaftungen wor, so daß die Gefängnisse vollgestopft waren, und ließ die Gefangenen foltern. Nicht nur daß ihnen die Bastonnade verabreicht wurde, sondern die Füße der Gefangenen wurden mit Schwefelsäure übergossen und angesteckt, die Brust mit glühenden Eisen gebrannt. Der Kaimakam ließ die Gefangenen, da sie nichts wußten und nichts aussagen konnten, nach Pausen von etlichen Tagen immer wieder aufs neue foltern und mit der Bastonnade bearbeiten, bis ihre Füße von tiefen Wunden zerrissen waren. Viele Personen starben infolge der Folterungen. Einen Transport von 14 Personen, den der Kaimakam selbst begleitete, ließ er unterwegs erschießen.

Fräulein Frieda Wolff-Hunecke, die diese Dinge berichtet, fühlte sich nicht mehr sicher am Ort und wünschte nach Deutschland zurückzukehren. Der Mutessarif von Kaisarije wollte ihr aber keine Ausreiseerlaubnis geben, da „sie das Land mit schlechten Eindrücken verlassen würde“. Durch Vermittlung der Botschaft kam sie dann heraus. Damals waren in Kaisarije 640 Armenier im Gefängnis. 30 von ihnen waren die Füße im Stock dermaßen zerschlagen worden, daß die ebenfalls gefangenen Ärzte nicht wußten, was sie damit tun sollten. Das Fleisch war vom Knochen gelöst und teilweise der schwarze Brand ausgebrochen. Verschiedenen mußten die Füße abgenommen werden. „Nach Aussage eines glaubwürdigen Mannes,“ schreibt Frl. Wolff-Hunecke, „der selbst im Gefängnis war, sind die Füße der Gefangenen in den Stock gelegt worden; dann haben zwei Gendarmen zur Rechten, zwei zur Linken und zwei am Fußende stehend, abwechselnd die Füße mit dicken Stöcken bearbeitet, und wenn der Gefangene bewußtlos wurde, hat man ihm einen Eimer kalten Wassers über den Kopf gegossen.“ Einen bekannten frommen Priester hat man in diesem Zustande drei Tage liegen lassen, während neben ihm ein junger Mann nach 5 Minuten an den Verletzungen gestorben war.

Der Fall von Ewerek, der sich im Februar des Jahres ereignete, ist nach allen vorliegenden Zeugnissen der einzige Fall, in welchem ein Armenier mit einer Bombe betroffen wurde. Der junge Mann, der eine alte Bombe zu füllen versuchte und den Versuch mit seinem Leben bezahlte, war ein zugereister Armenier, der weder mit der Ortsbevölkerung, noch mit einer der politischen Organisationen in Verbindung stand. Man versuchte diesen jungen Mann später mit den Hintschakisten in Verbindung zu bringen, hat aber Beweise dafür nicht erbringen können.


Das Schicksal der Deportierten.


Wir haben bisher die Tatsachen festgestellt, die sich in den verschiedenen Provinzen an Ort und Stelle abspielten. Die Maßregel der Deportation schlug meist sofort in ein System der Vernichtung um. Zunächst war es auf die Beseitigung der männlichen Glieder der armenischen Nation abgesehen. Hierfür war bereits eine beträchtliche Vorarbeit geschehen, ehe der Befehl zur Gesamtdeportation erfolgte. Alle politischen und intellektuellen Führer des Volkes waren interniert und wurden ins Innere verschickt oder getötet. Die Militärpflichtigen waren zum Waffendienst eingezogen, alle noch arbeitsfähigen Männer, auch die vom Militärdienst losgekauften, vom 16. bis zum 50. (jeweils auch bis zum 70.) Lebensjahre waren zu Lastträgerdiensten oder zum Wegebau von ihren Heimatsorten entfernt, auf die Bergstraßen und in die Steinwüsten des Innern geschickt worden. Beim Inkrafttreten des Deportationsbefehls wurden in der Regel die noch übrigen männlichen Bewohner der Städte und Ortschaften von den Frauen abgesondert, und, sei es unmittelbar vor der Stadt oder während des Transportes, getötet. Über das Schicksal der zum Heeresdienst oder zum Straßenbau und Lastträgerdienst eingezogenen männlichen Bevölkerung kann man nur aus Berichten von Augenzeugen, die zufällig die Straßen des Innern bereist haben und die methodische Vernichtung ganzer Kolonnen festgestellt haben, Schlüsse ziehen.

Das Ergebnis der vorbereitenden Maßregeln war die Versetzung des armenischen Volkes in einen Zustand der Wehrlosigkeit, der für die Ausführung der Deportation keinerlei Gefahr mit sich brachte und nur einen geringen Aufwand an eskortierenden Mannschaften erforderte.

Nachdem der Hergang bei der Ausreise der Deportierten in den verschiedenen Wilajets beschrieben worden ist, ist es noch notwendig, das Schicksal der Unglücklichen, soweit dies möglich ist, auf der Reise zu ihren Verbannungsorten zu schildern.

Die Routen für den Abtransport, die von den verschiedensten Heimatsgebieten eingeschlagen wurden, ergeben sich aus dem Lauf der wenigen Straßen, die aus dem Innern nach den Bestimmungsorten der Deportation führen.

Eine planmäßige Umsiedelung einer Bevölkerung würde eine geordnete Verwaltung vor die schwierigsten Probleme stellen. Man müßte natürlich im voraus Vorkehrungen für die Etappen der Wanderung treffen, für Transportmittel und Verpflegung auf dem Wege sorgen und in den neuen Siedelungsgebieten alles vorbereiten, um so große Bevölkerungsmassen auch nur vorläufig unterzubringen und zu verpflegen. Eine Umsiedelung einer Bevölkerung, die in Haufen von Zehntausenden in bestimmten Distrikten seßhaft gemacht werden soll, stößt naturgemäß auf Rechte und Besitzverhältnisse der bereits ansässigen Bevölkerung, die nicht ohne weiteres willig ist, ihren Besitz mit neuen Nutznießern zu teilen. Nur ein vorzügliches Verwaltungssystem vermöchte solche Probleme zu lösen und einem Zusammenstoß der alten und neuen Elemente vorzubeugen.

Bei der Deportation des armenischen Volkes in die Grenzdistrikte der arabischen Wüste hat man sich über diese Frage kein Kopfzerbrechen gemacht. Die Art der Behandlung, die die Deportierten auf dem Wege erlitten haben, läßt darauf schließen, daß den Urhebern der Maßregeln und den ausführenden Organen nicht viel daran lag, ob die deportierte Bevölkerung auf irgend eine Weise die Mittel zu ihrem Unterhalt erhielt, ja, daß es nicht unwillkommen zu sein schien, wenn sie schon unterwegs zur Hälfte umkam und am Ziel ihrer Wanderung an Krankheit und Hunger zugrunde ging.

Das Deportationsziel war nicht etwa, wie es hieß, das von der Bagdadbahn erschlossene mesopotamische Gelände, sondern die südlich davon sich ins Ungemessene ausdehnenden arabischen Wüsten. Die mesopotamischen Städte sind ja selbst ausgeräumt worden. Als Deportationsziel war das Gebiet zwischen Deir-es-Sor am Euphrat (300 Kilometer südöstlich von Aleppo) und Mosul am Tigris bestimmt. Dies Gebiet ist nur unmittelbar am Euphrat und am Tigris mit spärlichen Ortschaften besetzt. Im übrigen dient es als Weidegebiet für die streifenden Nomadenhorden der Araber. Die Zugänge zu diesem Gebiet führen über Aleppo in der Richtung auf Deir-es-Sor am Euphrat, über Urfa, Weranscheher und Nisibin an den Nordrand der arabischen Wüste und über Djesireh in der Richtung auf Mosul. Spätere Transporte wurden auch über Damaskus nach dem Hauran dirigiert.

Der Halbbogen der Tauruskette, der das vordere und nördliche Anatolien gegen die mesopotamische Ebene abschließt, wird nur an wenigen Stellen auf einigermaßen gangbaren Straßen durchbrochen. Von Kleinasien her öffnet sich die Cilicische Pforte nach Cilicien. Durch die Amanuspässe führt der Weg nach Aleppo. Eine belebtere Verkehrsstraße führt aus den hocharmenischen Quellgebieten des Euphrat über Kharput, Diarbekir und Mardin in die mesopotamische Ebene. Von dieser Straße zweigt noch ein westlicherer Weg auf recht beschwerlichen Gebirgspfaden über Malatia und Adiaman ab, der bei Samsat den Euphrat überschreitet und in Urfa die Straße, die von Aleppo nach Diarbekir führt, erreicht.

Alles, was aus den Wilajets Erzerum und Trapezunt nach dem Süden transportiert wurde, mußte durch die Kemachschlucht am Durchbruch des westlichen Euphrat den Weg über Egin und Arabkir nach Kharput oder Malatia einschlagen. Die Transporte aus dem Wilajet Siwas gingen wohl ebenfalls meist über Malatia oder Kharput. Die Taurusdörfer und das cilicische Gebiet auszuräumen, hatte am wenigsten Schwierigkeit, da hier die Straße über Marasch und Aintab nach Urfa oder Aleppo und der Weg der Bagdadbahn nördlich des Amanus-Gebirges offen stehen. Um die Bevölkerung aus den mittel- und westanatolischen Provinzen in die arabischen Wüsten zu transportieren, stand, sei es die Bagdadbahn, sei es die alte Straße längs der Bagdadbahn zur Verfügung. Die Bahn durfte nur von denjenigen benutzt werden, die sich von dem Rest ihrer Habe ein Billet lösen konnten, um sich dafür einen Viehwagenplatz zu sichern. Aber auch die Züge wurden meist wieder entleert, da sie für Militärtransporte dringender nötig waren. Einen Teil der cilicischen Bevölkerung hat man in die Sumpfgebiete des Wilajets Konia abgeführt. Teilweise wurde für Familien aus dem Ismid- und Brussagebiet das System der Zerstreuung angewendet. Einzelne Familien und Personen, meist Männer, Frauen und Kinder getrennt, wurden in kleinen Trupps von 10 bis 20 Personen auf muhammedanische Dörfer verteilt, um dort islamisiert zu werden.

Aus den östlichen Wilajets führte nur die Straße über Bitlis und Sört an den Tigris nach Djefireh und Mosul hinunter. Diese Transporte sind zum Teil unterwegs vernichtet oder in den Fluten des Tigris ertränkt worden.

Eine Zufluchtsstätte jenseits der türkischen Grenze konnten nur die Bewohner der Grenzdistrikte des Wilajets Erzerum und die Umwohner des Wansees erreichen. Aus Dörfern bei Sueidije am Ausfluß des Orontes konnte sich ein Haufe von 4058, darunter 3004 Frauen und Kinder, auf den Dschebel-Musah flüchten. Er wurde an der Küste von einem französischen Kreuzer aufgenommen und nach Alexandrien geborgen.9)

Über den Zustand der Karawanen, die Kharput und die Straßen Marasch-Aintab-Aleppo und Aintab-Urfa-Rasul-Ajin passierten, liegen Berichte von Augenzeugen vor.

Amerikanischer Konsularbericht.

Aus Kharput schreibt der amerikanische Konsul Leslie A. Davis:

Kharput, den 11. Juli 1915.

„Wenn es sich einfach darum handelte, von hier fort nach einem andern Ort zu ziehen, so wäre das erträglich; aber jedermann weiß, daß es sich bei den jetzigen Ereignissen darum handelt, in den Tod zu gehen. Wenn darüber noch ein Zweifel herrschte, ist er beseitigt worden durch die Ankunft einer Reihe von Transporten, die aus Erzerum und Erzingjan kommend, sich auf mehrere Tausend Personen beliefen. Verschiedene Male habe ich ihr Lager besucht und mit einigen der Leute gesprochen. Einen jammervolleren Anblick kann man sich schlechthin nicht denken. Fast ausnahmslos sind sie zerlumpt, hungrig, schmutzig, krank; das ist kein Wunder angesichts der Tatsache, daß sie beinahe zwei Monare unterwegs sind, nie die Kleider gewechselt haben, keine Gelegenheit zum Waschen, keine Unterkunft und nur wenig zu essen hatten. Die Regierung hat ihnen ein paar dürftige Rationen verabreicht. Ich beobachtete sie eines Tages, als ihnen das Essen gebracht wurde. Wilde Tiere hätten nicht gieriger sein können. Sie stürzten sich auf die Wachen, die das Essen brachten, und die Wachen schlugen sie mit Knütteln zurück. Mancher hatte daran für immer genug und blieb tot liegen. Wenn man sie sah, konnte man kaum glauben, daß das menschliche Wesen seien.

Geht man durch das Lager, so bieten einem die Mütter ihre Kinder an und flehen, daß man sie nehmen solle. Was schön war, haben sich die Türken unter Kindern und Mädchen schon ausgewählt. Sie werden als Sklaven zu gelten haben, wenn sie nicht noch zu Schlimmerem benutzt werden. Sie haben zu diese Zweck auch ihre Ärzte da gehabt, um die Mädchen, die ihnen gefielen, zu untersuchen und sich die Besten zu nehmen.

Männer sind nur noch wenig unter ihnen, die meisten sind unterwegs getötet worden. Alle erzählen dieselbe Geschichte, daß sie von Kurden angegriffen und ausgeraubt worden sind. Die meisten waren immer aufs neue angegriffen worden und viele, besonders die Männer, waren dabei getötet worden. Auch Frauen und Kinder wurden mitgetötet. Naturgemäß starben viele unterwegs an Krankheit und Erschöpfung. An jedem Tag, den sie hier zubrachten, gab es Todesfälle. Mehrere ganz verschiedene Transporte sind hier angekommen und nach ein oder zwei Tagen anscheinend ohne bestimmtes Ziel weitergeschoben worden. Die hier Angekommenen bilden alle miteinander nur einen kleinen Teil von denen, die aus ihrer Heimat aufbrachen. Wenn man fortfährt, sie so zu behandeln, wird es möglich sein, sich ihrer in verhältnismäßig kurzer Zeit zu entledigen.

Unter denen, mit welchen ich zu sprechen Gelegenheit hatte, waren drei Schwestern. Sie waren in einem amerikanischen Kollege erzogen worden und sprachen ausgezeichnet englisch. Sie sagten, ihre Familie sei die reichste in Erzerum gewesen und habe bei der Abreise 25 Köpfe gezählt. Jetzt waren noch 14 Überlebende vorhanden. Die 11 anderen, darunter der Mann der einen Schwester, waren, wie sie erzählten, vor ihren Augen von den Kurden hingeschlachtet worden. Der älteste männliche Überlebende war 8 Jahre alt. Als sie von Erzerum aufbrachen, besaßen sie Geldmittel, Pferde, persönliches Eigentum. Aber alles hatte man ihnen geraubt, selbst ihre Kleidung. Einige von ihnen sind nach den Worten der Schwestern vollständig nackend gelassen worden, andern ließ man nur ein Kleidungsstück. Als sie ein Dorf erreichten, bekamen die Gendarmen von einigen der eingeborenen Frauen Kleider für sie.

Ein anderes Mädchen, mit dem ich sprach, war die Tochter des protestantischen Pfarrers in Erzerum. Sie sagte, jedes einzelne Familienglied, das mit ihr ausgezogen war, sei getötet worden. Sie sei ganz allein übrig geblieben. Diese und einige andere sind die wenigen Überlebenden von der oberen Schicht der Deportierten. Sie sind in einem alten Schulhause gleich außerhalb der Stadt untergebracht, das niemand betreten darf. Sie sagten, sie seien eigentlich gefangen; nur einen Brunnen in der Nähe des Gebäudes durften sie benutzen. Da sah ich sie zufällig. Alle andern lagern auf einem großen freien Feld und haben keinerlei Schutz gegen die Sonne.

Der Zustand dieser Menschen weist deutlich auf das Schicksal derer, die schon von hier fortgezogen sind und noch fortgehen werden. Bis jetzt hat man nichts mehr von ihnes gehört, und ich bin der Meinung, man wird überhaupt nichts mehr von ihnen hören. Das System, das man befolgt, scheint folgendes zu sein: Man läßt Kurdenbanden sie unterwegs abfangen, um besonders die Männer und beiläufig auch Frauen und Kinder zu töten. Die ganze Maßregel scheint mir das best organisierte und erfolgreichste Massaker zu sein, das dies Land jemals gesehen hat.

Dem

Bericht eines deutschen Beamten von der Bagdadbahn

entnehmen wir folgendes:

„Als die Bewohner der cilicischen Dörfer auszogen, hatten viele noch Esel als Reit- oder Packtiere mit sich. Die die Transporte begleitenden Soldaten ließen aber die Katerdschis (Eseltreiber) auf ihnen reiten, weil Befehl gegeben sei, kein Deportierter, sei es Mann oder Frau, dürfe reiten. Bei dem Transport aus Hadjin brachten die Katerdschis diejenigen Lasttiere, in deren Gepäck sie Geld oder wertvollere Sachen vermuteten, gleich direkt auf ihre Dörfer. Sonstiges Vieh, das die Leute mitgenommen hatten, wurde ihnen unterwegs mit Gewalt genommen oder für einen so lächerlichen Preis abgekauft, daß sie es ebenso umsonst hätten hergeben können. Eine Frau, deren Familie ich kenne, verkaufte 90 Stück Schafe für 100 Piaster, die zu anderer Zeit 60–70 türkische Pfund (etwa 1300 Mk.) gebracht hätten, d. h. sie erhielt für 90 Stück den Preis von einem Stück. Den Dorfbewohnern von Schehr war erlaubt worden, ihre Ochsen, Wagen und Lasttiere mitzunehmen. Bei Gökpunar wurden sie gezwungen, den Fahrweg zu verlassen und den kürzeren Fußweg durchs Gebirge einzuschlagen. Ohne irgendwelche Wegzehrung oder sonstige Habe mußten sie weiter wandern. Die sie begleitenden Soldaten erklärten rundweg, sie hätten sochen Befehl.

Am Anfang erhielten die Deportierten von der Regierung pro Kopf und Monat (nicht pro Tag!) ein Kilogramm Brot. Sie lebten von dem, was sie noch mitgenommen hatten. Sodann wurden ihnen kleine Geldbeträge gezahlt. Ich hörte von 30 Personen, die früher wohlhabend waren, in dem Tscherkessendorf Bumbudch (Membidsch, auf den Ruinen des alten Bambyke), 1½ Tagereisen von Aleppo, daß sie in 30 Tagen 20 Piaster erhalten hatten, nicht etwa pro Kopf, sondern die 30 Personen zusammen. Also für jede Person 10 Pfennig pro Monat. Durch Marasch kamen in den ersten Tagen etwa 400 barfüßige Frauen, auf dem Arm ein Kind, auf dem Rücken ein Kind (oft genug ein totes), ein anderes an der Hand. Von den Armeniern von Marasch, die später selbst deportiert wurden, wurden für 50 Pfd. (ca. 900 Mark) Schuhe gekauft, um die Durchziehenden damit zu versehen. Zwischen Marasch und Aintab wollte die muhammedanische Bevölkerung in einem türkischen Dorfe einem Transport von etwa 100 Familien Wasser und Brot verabreichen. Die Soldaten ließen es nicht zu. Die amerikanische Mission und die Armenier von Aintab, die später auch deportiert wurden, machten es möglich, während der Nacht den Transporten, die an Aintab vorüber kamen – sie zählten insgesamt etwa 20 000, meist Frauen und Kinder – Brot und Geld zu bringen. Es waren dies die Dörfer aus dem Sandschak Marasch. Die Transporte durften nicht nach Aintab hereinkommen, sondern lagerten auf freiem Felde. Bis nach Nisib (9 Stunden südöstlich von Aintab auf dem Wege zum Euphrat) konnten die amerikanischen Missionare solche nächtlichen Verproviantierungen vornehmen.

Während des Transportes wurden die Deportierten zuerst ihrer Barschaft, dann aller Habseligkeiten beraubt. Ein deportierter protestantischer Pfarrer sah, wie einer Familie 43 Pfund, einer anderen 28 Pfund abgenommen wurden. Der Pfarrer selbst ist jung verheiratet und mußte seine junge Frau, die ihr erstes Kind erwartete, in Hadjin zurücklassen. Übrigens sind vier Fünftel der Deportierten Frauen und Kinder. Drei Fünftel davon gehen barfuß. Ein Mann aus Hadjin, den ich persönlich kenne, der ein Vermögen von mindestens 15 000 Pfund (ca. 270 000 Mark) hatte, war gleich den anderen unterwegs seiner Kleidung beraubt worden, so daß hier für ihn Kleider erbettelt werden mußten. Ein besonderer Kummer der Deportierten ist es, daß sie ihre Toten nicht beerdigen können. Sie bleiben irgendwo am Wege liegen. Frauen schleppen ihre toten Kinder oft noch tagelang auf dem Rücken mit. In Bab, 10 Stunden östlich von Aleppo, wurden die Durchkommenden für einige Wochen provisorisch untergebracht, aber man erlaubte ihnen nicht, zurückzugehen und die auf dem Wege Gestorbenen zu begraben.

Am schwersten ist das Los der Frauen, die unterwegs niederkommen. Man läßt ihnen kaum Zeit, ihr Kind zur Welt zu bringen. Eine Frau gab in einer Nacht einem Zwillingspaar das Leben. Am Morgen mußte sie mit zwei Kindern auf dem Rücken zu Fuß weiter ziehen. Nach zweistündigem Marsch brach sie zusammen. Sie mußte die beiden Kinder unter einem Busch niederlegen und wurde von den Soldaten gezwungen, mit den andern Reisegefährten weiterzuziehen. Eine andere Frau kam während des Marsches nieder, mußte sofort weitergehen und brach tot zusammen. Eine weitere Frau wurde in der Nähe von Aintab von amerikanischen Missionarinnen umringt, als sie niederkam. Man konnte nur erreichen, daß sie ein Tier besteigen durfte und mit ihrem in Lumpen gehüllten Kind im Schoß weiterzog. Diese Beispiele wurden allein auf der Strecke von Marasch bis Aintab beobachtet. Hier fand man beim Aufräumen des eine Stunde zuvor von einem Transport verlassenen Khans ein neugeborenes Kind. In Marasch fand man im Tasch-Khan 3 neugeborene Kinder in Mist eingebettet.

Unzählige Kinderleichen findet man unbeerdigt am Wege liegen. Ein türkischer Major, der vor 3 Tagen mit mir zurückkam, sagte, daß viele Kinder von ihren Müttern unterwegs zurückgelassen würden, weil sie sie nicht mehr nähren könnten. Größere Kinder werden den Müttern von den Türken weggenommen. Der Major hatte ebenso wie seine Brüder je ein Kind, bei sich; sie wollten dieselben als Muhammedaner aufziehen. Eins der Kinder spricht deutsch. Es muß ein Waisenkind aus einem deutschen Waisenhaus sein. Die unterwegs niedergekommenen Frauen der Transporte, die hier durchkamen, schätzt man auf 300.

Hier verkaufte eine Familie in bitterster Armut und Verzweiflung ihr 18 jähriges Mädchen für 6 Lira (ca. 110 Mark) an einen Türken. Die Männer der meisten Frauen waren zum Heeresdienst eingezogen worden. Wer die Stellungsorder nicht befolgt hat, wird erhängt oder erschossen, so kürzlich sieben in Marasch. Die Militärpflichtigen werden aber meist nur zum Straßenbau herangezogen und dürfen keine Waffen tragen. Die Heimkehrenden finden ihr Haus leer. Vor zwei Tagen traf ich in Djerabulus einen armenischen Soldaten, der von Jerusalem kam, um auf Heimaturlaub in sein Dorf Geben (zwischen Zeitun und Sis) zu gehen. Ich kenne den Mann seit Jahren. Hier erfuhr er, daß seine Mutter, seine Frau und seine 3 Kinder in die Wüste deportiert seien. Alle Erkundigungen nach seinen Angehörigen waren fruchtlos.

Seit 28 Tagen beobachtet man täglich Leichen im Euphrat, die stromabwärts treiben, zu zweien mit dem Rücken zusammengebunden, zu drei bis acht an den Armen zusammengebunden. Ein türkischer Oberst, der in Djerabulus stationiert ist, wurde gefragt, warum er die Leichen nicht beerdigen lasse, worauf er erwiderte, er habe keinen Auftrag, und zudem könne man nicht feststellen, ob es Muhammedaner oder Christen seien, da ihnen die Geschlechtsteile abgeschnitten seien. (Muhammedaner würden sie beerdigen, Christen nicht.) Leichen, die ans Ufer angeschwemmt waren, fraßen die Hunde. Auf andere, die an den Sandbänken hängen blieben, ließen sich die Geier nieder. Ein Deutscher sah bei einem einzigen Ritt sechs Paar Leichen den Strom hinabtreiben. Ein deutscher Rittmeister erzählte, er habe auf seinem Ritt von Diarbekir nach Urfa zu beiden Seiten des Weges zahllose Leichen unbeerdigt liegen sehen, lauter junge Männer mit durchschnittenen Hälsen. (Es waren die zum Militärdienst eingezogenen Straßenarbeiter. Vergl. Seite 76.) Ein türkischer Pascha äußerte sich gegen einen angesehenen Armenier: „Seid froh, wenn ihr wenigstens in der Wüste ein Grab findet, das haben viele von euch nicht.“

Nicht die Hälfte der Deportierten bleibt am Leben. Vorgestern starb am Bahnhof hier eine Frau, gestern 14 und heute vormittag weitere 10. Ein protestantischer Pfarrer von Hadjin sagte zu einem Türken in Osmanieh: „Von diesen Deportierten bleibt nicht die Hälfte am Leben.“ Der Türke antwortete: „Das bezwecken wir ja nur.“

Es soll nicht vergessen sein, daß es auch Muhammedaner gibt, die die Greuel, die man an den Armeniern verübt, mißbilligen. Ein muhammedanischer Scheich, eine angesehene Persönlichkeit in Aleppo, äußerte in meiner Gegenwart: „Wenn man über die Behandlung der Armenier spricht, so schäme ich mich, daß ich ein Türke bin.“

Wer am Leben bleiben will, ist gezwungen, den Islam anzunehmen. Um dies zu befördern, werden hie und da einzelne Familien auf rein muhammedanische Dörfer geschickt. Die Zahl der Deportierten, die hier und in Aintab durchgekommen sind, beträgt bis jetzt etwa 50 000. Von diesen erhielten neun Zehntel am Abend vor der Abreise den Befehl, daß sie am Morgen aufzubrechen hätten. Der größere Teil der Transporte geht über Urfa, der kleinere über Aleppo. Jene in der Richtung auf Mosul, diese in der Richtung nach Deir-es-Sor. Die Behörden sagen, sie sollen dort angesiedelt werden, aber, was dem Messer entgeht, wird zweifellos verhungern. In Deir-es-Sor am Euphrat sind von den Transporten etwa 10 000 angelangt. Von den übrigen hat man bisher keine Nachricht. Von denen, die in der Richtung auf Mosul geschickt werden, sagt man, sie sollen 25 Kilometer von der Bahnstrecke entfernt angesiedelt werden; das soll wohl heißen, man will sie in die Wüste treiben, wo ihre Ausrottung ohne Zeugen vor sich gehen kann.

Was ich schreibe, ist nur ein geringer Bruchteil all der Grausamkeiten, die seit zwei Monaten hier geschehen, und die mit jedem Tage an Umfang zunehmen. Es ist nur ein Bruchteil von dem, was ich selbst gesehen und von Bekannten und Freunden, die Augenzeugen waren, erfahren habe. Für das, was ich berichte, kann ich jederzeit die Daten und die Personen, welche Zeuge waren, angeben.“

Auszug aus dem Bericht der Armenierin Mariza Kejejjan.
aus Husseinik (eine halbe Stunde von Kharput), welche bis nach Aleppo transportiert wurde und dort, da sie in Amerika naturalisiert war, einen Paß für Alexandrien erhielt.

2 November 1915.

„Nach Ostern fanden in Kharput, Mesereh und den Dörfern der Umgegend viele Verhaftungen statt. Die Verhafteten wurden in den Gefängnissen gefoltert. Man schlug sie, riß ihnen Haare und Nägel aus und bearbeitete sie mit glühenden Eisen, nachdem man sie mit Stricken festgebunden hatte. Ein Soldat setzte sich auf den Leib einer schwangeren Frau, die anderen schlugen sie, um sie zu zwingen, anzugeben, wo ihr Mann verborgen sei.

Wir wurden am 4. Juli deportiert und zunächst nach Diarbekir auf den Weg gebracht. Wir waren ungefähr 100 Familien und hatten Lasttiere mit uns. Am zweiten Tage kamen wir an vielen Leichnamen von Männern vorüber, vermutlich waren es die Zweihundert, welche mit Bsag Wartabed 10 Tage vor uns verschickt worden waren. Einen Tag und eine Nacht lang tranken wir nur Wasser, das mit Blut vermischt war. Auch am dritten Tage kamen wir auf dem Wege nach Arghana an Leichenhaufen vorüber. Hier waren die Männer und die Frauen gesondert getötet worden.

Am sechsten Tage kamen wir in ein Kurdendorf. Hier verlangten uns die Gendarmen unser Geld und allen Schmuck, den wir noch hatten, unter Bedrohung unserer Ehre ab. Am neunten Tage nahmen sie uns auch alle Wäsche fort. Als wir nach Diarbekir kamen, wurden alle unsere Lasttiere abgeführt und eine Frau und zwei junge Mädchen von dem Gendarmen weggeschleppt. 24 Stunden lang saßen wir im Sonnenbrand vor den Mauern von Diarbekir. Aus der Stadt kamen Türken und nahmen uns unsere Kinder weg. Gegen Abend hatten wir uns zum Aufbruch bereit gemacht, als wir von Türken, die aus der Stadt kamen, angegriffen wurden. Da ließen wir alles, was wir noch an Gepäck hatten, im Stich und stoben auseinander, um unser Leben und unsere Ehre zu retten. In der Nacht wurden wir noch dreimal von Türken angegriffen und die Mädchen und jungen Frauen weggeschleppt.

Am folgenden Tage wurden wir viele Stunden nach Süden weiter getrieben, ohne Wasser zu finden. Mehrere von uns brachen vor Hunger und Durst zusammen. Jeden Tag wurden wir angegriffen und mißhandelt. Einige von uns wurden weggeführt. Eine Frau, die Widerstand leistete, als man ihre Töchter wegnehmen wollte, wurde von einer Brücke herabgestürzt, so daß sie einen Arm brach. Dann wurde sie mit einer ihrer Töchter von einem Felsen herabgestürzt. Als die andere Tochter dies sah, stürzte sie sich ihnen nach, um mit ihrer Mutter und Schwester zusammen zu sterben.

Als wir in die Nähe von Mardin kamen, ließ man uns 8 Tage lang im Sonnenbrand auf freiem Felde liegen. In der Nähe war ein Wasserbassin. Während der Nacht ließen die Türken das Bassin auslaufen und über das Feld fließen, auf dem wir lagerten. Dann schossen sie auf uns und raubten Frauen und Kinder. Eines Abends gab man Befehl zum Aufbruch. Alle Tage geschahen dieselben Schändlichkeiten und Schändungen und unsere Karawane schmolz immermehr zusammen. Nur ein Gendarm aus Mardin hat uns anständig behandelt. (Vermutlich ein Araber.)

Wir kamen nach Weranschehir und dann nach Ras-ul-Ajin. Bevor wir nach Ras-ul-Ajin kamen, trafen wir drei Zisternen an, die ganz mit Leichen angefüllt waren.

In Ras-ul-Ajin fanden wir andere Frauen, die von Erzerum, Egin, Keghi und anderen Orten verschickt waren und ebenfalls auf dem Wege nach Deir-es-Sor waren. Oftmals hat man uns vorgeschlagen oder zwingen wollen, den Islam anzunehmen. Wir haben geantwortet, daß wir uns lieber in das Wasser stürzen oder sterben als den Islam annehmen würden. Die geistlichen Scheichs waren über diese Antwort sehr erstaunt und sagten: "Wir haben niemals Leute gesehen, die, einer wie der andere, ihr Ehre und ihre Religion mit solchem Eifer verteidigen."

In Ras-ul-Ajin trafen wir Arakel Agha, der von Aleppo gekommen war, um zu sehen, ob er jemand retten könnte. Es gelang ihm, einige von uns nach Aleppo mitzunehmen. Die Armenier von Aleppo gaben uns zu essen. Wir hatten 24 Stunden lang nichts bekommen. In Aleppo waren Deportierte aus verschiedenen Gegenden von Armenien, die 4 Monate unterwegs gewesen waren. Sie waren so erschöpft, daß täglich etwa 40 starben. Die Männer waren im Tal von Scheitan Deresi mit Äxten und Säbeln erschlagen worden. Man hatte sie zuvor ihre Gräber graben lassen und dann massakriert. Ein armenischer Soldat erzählte mir, wie die Türken die Armenier in den Euphrat geworfen hätten[WS 4]. Er selbst ist mit 5 Kameraden entkommen, indem er den Fluß durchschwamm. Sie waren 3 Tage unterwegs und sahen überall am Wege Leichen liegen.

Während unserer ganzen Reise haben wir von den türkischen Behörden nichts zu essen bekommen. Nur in Diarbekir hat man jedem ein Brot gereicht und ebenso in Mardin während der 8 Tage, die wir dort lagerten, täglich ein steinhartes Brot. Unsere Kleider waren verfault, und wir alle durch die Leiden fast irrsinnig geworden. Viele wußten, als man ihnen neue Kleider reichte, nicht mehr, wie sie dieselben anziehen sollten. Als sie das erste Mal wieder badeten und sich von allem Schmutz reinigten, bemerkten viele, daß sie die Haare verloren hatten.“

Aus dem Berichte eines Missionars über das Schicksal der Deportierten aus Mersiwan.

„Böse Taten werden im Finstern vollbracht. Kurz nach Mitternacht holten die Gendarmen etwa 300 Gefangene heraus, banden ihre Hände, verboten ihnen irgendwelche Vorräte oder Kleider oder Betten mitzunehmen. Angeblich sollten sie nach Amasia gehen, aber ¾ Stunden weit, auf dem Wege nach Zileh (Zela), – dem berühmten Orte, von dem Julius Cäsar seine Botschaft: „veni, vidi, vici“ nach Rom sandte – wurden sie alle mit Äxten erschlagen. Tag für Tag wurden sie in dieser Weise „verschickt“. Den Aussagen der Beamten nach wurden in dieser Weise 1215 Männer getötet. Nach dem Zeugnis von türkischen Augenzeugen war an dem Hinrichtungsort ein großes Zelt aufgerichtet worden, wo die Opfer aufs genaueste ausgefragt und durchsucht wurden. Die Fragen, die man stellte, waren hauptsächlich[WS 5] nach Waffen, angeblichen revolutionären Plänen und Namen von Personen. Dann wurden ihnen alle wertvollen Dinge, die sie besaßen, weggenommen.

In einiger Entfernung vom Zelt war eine große Grube gegraben. Die Gefangenen wurden jeweils etwa fünf herangeführt, nur in ihrer Unterkleidung, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, dann knieten sie hin und wurden durch Axtschläge auf den Kopf oder durch Dolchstiche ins Jenseits befördert. Das ist von Augenzeugen konstatiert worden, auch von Gendarmen, die an der blutigen Arbeit selbst teilgenommen haben.

Nachdem man sich der Männer auf diese Weise entledigt hatte, ließ man die Greise und die Knaben unter 18 Jahren mit den Worten los: „Seine Majestät der Sultan hat euch Verzeihung gewährt, geht und betet für ihn.“

Es ist unmöglich, zu beschreiben, wie diese Freigelassenen sich gebärdeten, wenn sie ihr Heim wieder erreichten. Sie hüpften vor Freude, glaubten sie doch, alles sei vorüber, und es würden für die Überlebenden nun bessere Tage folgen. Ach, diese Freude dauerte nur einen einzigen Tag. Am nächsten Tag schon machte der städtische Ausrufer in den Straßen der Stadt bekannt, daß alle Armenier, Frauen, Kinder und alte Leute, nach Mosul aufzubrechen verpflichtet wären. Da erst ging den Armen die volle krasse Wahrheit auf. Bis dahin hatten sie sich immer noch Illusionen gemacht, daß durch irgend eine Wendung der Weg der Befreiung sich auftun würde und müßte. Die Hoffnung, daß das Schlimmste nicht eintreten würde, hatte sie bisher nie verlassen.

Nachdem ich mit vielen Türken, Beamten und anderen, gesprochen habe, bin ich der Überzeugung, daß alle Männer, die weggeführt werden, auch getötet werden.“

Am Ziel der Verschickung.

„In Deir-es-Sor“, so berichtet eine deutsche Missionarin, Fräulein L. Möhring, unter dem 12. Juli 1915, „einer großen Stadt[22] in der Wüste, etwa sechs Tagereisen von Aleppo entfernt, fanden wir den großen Khan ganz überfüllt. Alle zur Verfügung stehenden Räume, Dächer und Veranden waren von Armeniern eingenommen, in der Hauptsache Frauen und Kinder, doch auch eine Anzahl Männer hockten auf ihren Decken, wo irgend sie etwas Schatten finden konnten. Sobald ich hörte, daß es Armenier seien, ging ich hin, um mit ihnen zu reden. Es waren die Leute von Furnus, aus der Gegend von Zeitun und Marasch, die da auf engem Raum zusammengepfercht, einen überaus traurigen Anblick boten. Auf meine Frage nach Kindern aus unsern Waisenhäusern brachte man einen Zögling von Schwester Beatrice Rohner, Martha Karahaschian. Sie erzählte mir folgendes: Türkische Polizisten waren eines Tages nach Furnus gekommen und hatten eine große Zahl Männer festgenommen und weggeführt, die Soldaten werden sollten. Wohin man sie brachte, war weder ihnen noch ihren Familien bekannt. Den Zurückgebliebenen wurde gesagt, daß sie in Zeit von vier Stunden ihre Häuser zu verlassen hätten. Soviel sie tragen konnten, war ihnen erlaubt mitzunehmen, ebenso Reittiere. Nach Ablauf der gesetzten Frist mußten die armen Leute unter Führung von Saptiehs aus ihrem Dorf hinausziehen, nicht wissend wohin, oder ob sie es je wiedersehen würden. Anfangs, solange sie noch in ihren Bergen waren und Lebensmittel hatten, ging es ganz gut. Man hatte ihnen Geld und Brot versprochen und gab ihnen dies auch in der ersten Zeit, pro Kopf, soviel ich mich erinnere, 30 Para (12 Pfg.). Sehr bald aber hörten diese Rationen auf, und es gab nur noch Bulgur (gedörrten Weizen) 50 Dram (150 Gr.) pro Kopf und Tag. Auf diese Weise waren die Furnusleute nach vierwöchentlicher beschwerlicher Reise über Marasch und Aleppo in Deir-es-Sor angelangt. 3 Wochen lagen sie schon dort im Khan und wußten nicht, was aus ihnen werden sollte. Geld hatten sie nicht mehr, und auch die von den Türken gegebenen Lebensmittel waren sehr spärlich geworden. Schon tagelang hatten sie kein Brot mehr gehabt. In den Städten hatte man sie nachts eingesperrt und ihnen nicht erlaubt, mit den Einwohnern zu reden. So hatte auch Martha in Marasch nicht ins Waisenhaus gehen dürfen. Traurig erzählte sie mir: Wir hatten zwei Häuser, und alles mußten wir lassen, jetzt sitzen Muhadjirs (aus Bulgarien ausgewanderte Muhammedaner) darin. Ein Massaker war in Furnus nicht gewesen, und auch die Saptiehs hatten die Leute gut behandelt. Gelitten hatten sie hauptsächlich aus Mangel an Nahrung und Wasser, auf dem Marsch durch die glühend heiße Wüste. Als Yailadji (Bergbewohner), wie sie sich nannten, empfanden sie die Hitze doppelt schwer.

Die Armenier behaupten den Grund für ihre Vertreibung nicht zu kennen.

Am nächsten Tag, bei der Mittagsrast trafen wir auf ein ganzes Armenierlager. Die armen Leute hatten sich nach Art der Kurden primitive Ziegenhaarzelte gemacht und rasteten da. Zum größten Teil aber lagen sie schutzlos auf dem glühenden Sand unter sengender Sonne. Der vielen Kranken wegen hatten die Türken einen Ruhetag erlaubt. Etwas Trostloseres, wie solche Volksmenge in der Wüste, unter den gegebenen Umständen, kann man sich gar nicht vorstellen. An der Kleidung konnte man erkennen, daß sie in gewissem Wohlstande gelebt hatten, und nun stand ihnen das Elend im Gesicht geschrieben. Brot, – Brot, – war die allgemeine Bitte. Es waren die Leute von Geben, die man mit ihrem Prediger vertrieben hatte. Dieser erzählte mir, es stürben täglich 5 bis 6 Kinder und Kranke. An diesem Tage hat man kurz vorher die Mutter eines etwa neunjährigen Mädchens beerdigt, das nun ganz allein stand. Man bat mich flehentlich, das Kind mit ins Waisenhaus zu nehmen. Der Prediger erzählte ganz die gleiche Geschichte wie das Mädchen in Der-es-Sor.

Wer die Wüste nicht selbst kennt, kann sich auch nicht annähernd einen Begriff von der Not und Mühsal der deportierten Armenier machen. Sie ist gebirgig, aber meist schattenlos. Tagelang führt der Weg über Felsen und ist sehr beschwerlich. Auf der linken Seite von Aleppo kommend, hat man stets den Euphrat, der sich wie ein gelber Lehmstreifen dahinzieht, jedoch nicht nahe genug, um aus ihm schöpfen zu können. Unerträglich müssen die Durstqualen der armen Menschen sein, kein Wunder, daß so viele erkranken und sterben.

Ein Beutel steinhartes Brot aus Bagdad wurde mit großem Dank hingenommen. „Wir tauchen es in Wasser, und dann essen es die Kinder“, sagten die beglückten Mütter.

Am Abend im Dorfe angekommen, fanden wir wieder solch ein Armenierlager vor. Diesmal waren es die Leute aus Zeitun. Es war die gleiche Not und die gleiche Klage über Hitze, Mangel an Brot und Belästigung von seiten der Araber. Ein im Waisenhaus in Beirut von Kaiserswerter Diakonissen erzogenes Mädchen erzählte uns in gutem Deutsch von ihren Erlebnissen.

„Warum läßt Gott das zu? Warum müssen wir so leiden? Warum schlägt man uns nicht lieber gleich tot? Bet Tage haben wir kein Wasser für die Kinder, und diese schreien vor Durst. Nachts kommen die Araber und stehlen unsere Betten und Kleider. Sie haben uns Mädchen weggenommen und sich an Frauen vergangen. Können wir auf dem Marsch nicht weiter, werden wir von den Saptiehs geschlagen.“ Sie erzählten auch, daß sich Frauen ins Wasser gestürzt hätten, um der Schande zu entgehen, daß Mütter mit ihren neugeborenen Kindern das Gleiche getan, weil sie aus ihrer Not keinen Ausweg sahen.

Auf der ganzen Wüstenreise war Mangel an Lebensmitteln. Ein schneller Tod, zusammen mit der Familie, erscheint den Mütttrn leichter, als langsam dem eigenen und der Angehörigen Hungertod ins Auge zu sehen.

Am zweiten Tage nach Aleppo, im Amanusgebirge, trafen wir noch einmal Armenier; diesmal die Leute von Hadjin und Umgebung. Sie waren erst neun Tage unterwegs. Im Vergleich zu denen in der Wüste, lebten sie noch in glänzenden Verhältnissen, sie führten Wagen mit Hausrat, Pferde mit Fohlen, Ochsen und Kühe und sogar Kamele mit sich. Endlos war der Zug, der sich da das Gebirge hinaufzog, und ich mußte mich fragen, wie lange sie ihre Habe noch behalten würden. Noch waren sie auf heimatlichem Boden, im Gebirge, und hatten von den Schrecken der Wüste keine Ahnung. Es war dies das letzte, das ich von Armeniern sah. Vergessen lassen sich solche Erlebnisse nicht.“




Zweiter Teil.


Die Schuldfrage.


1. Der Charakter der Ereignisse.


Aus unserm Bericht geht unzweifelhaft hervor, daß die Deportation von der Zentralregierung in Konstantinopel angeordnet und durchgeführt worden ist. Eine so umfassende Maßregel, die sich auf ein Gebiet von 880 000 Quadratkilometer erstreckt (Armenien, Kurdistan, Klein-Asien, Nordsyrien und Mesopotamien, d. h. auf ein Gebiet, das ebenso groß ist als Deutschland, Österreich und die Schweiz zusammengenommen), kann nicht irgendwelche zufälligen und unkontrollierbaren Ursprünge gehabt haben.

Es ist in der deutschen Presse, die mangels eigner Nachrichten auf Vermutungen angewiesen war und ihre Urteile über Dinge, die „hinten in der Türkei“ vor sich gehen, mehr aus der Phantasie, als aus der Kenntnis von Tatsachen schöpfen mußte, lang und breit ausgeführt worden, daß es sich bei den armenischen Massakers und Deportationen um Dinge handle, die etwa mit den Judenverfolgungen des Mittelalters zu vergleichen seien. „Der Ottomane ist arglos und gutmütig“ schreibt Graf Reventlow in der „Deutschen Tageszeitung“, „er bietet ein überaus bequemes Objekt zur Ausnutzung bis zu einem gewissen Augenblick und Grade, wo ihn die Verzweiflung erfaßt und er sich mit Gewalt gegen seine Peiniger erhebt. Wie bedauerlich an sich, vom Standpunkt der Zivilisation gesehen, solche gesetzlose Selbsthilfe sein mag, so liegt doch auf der Hand, daß gerade die Armenier ... am wenigsten Mitleid und gefühlvolle Erregung der Kulturwelt verdienen.“ Natürlich ist dem Verfasser unbekannt, daß 80 v. H. der armenischen Bevölkerung, und zwar gerade diejenigen, die in erster Linie von der Deportation betroffen wurden, Bauern sind, die sich vermutlich nicht mit der Aussaugung der ihnen benachbarten räuberischen Kurden abgegeben haben. Auch beruht alles, was man in der deutschen Presse über Charakter und Bedeutung des armenischen Handels als selbstverständliches und nicht erst zu beweisendes Urteil zu lesen gewohnt ist, auf nicht mehr als der Kenntnis einer Redensart, die im Orient je nach Bedarf abwechselnd auf Armenier, Juden oder Griechen angewendet wird. Die Grundannahme aber, daß es sich bei der Deportation und Vernichtung des armenischen Volkes um „gesetzlose Selbsthilfe“ handle, ist so sehr aus der Luft gegriffen, daß sie nicht erst der Wiederlegung bedarf.

Eine beträchtliche Anzahl von Regierungsbeamten im Innern, wie der Wali Djelal Bey in Aleppo, der Wali Rachmi Bey in Smyrna, der Wali Tahsin Bey in Erzerum, die Mutessarifs von Malatia Nabi Bey und Reschid Pascha und viele Kaimakams, haben sich mit oder ohne Erfolg gegen die Durchführung der Maßregel gesträubt. Die türkische Bevölkerung, die überall im Frieden mit den Armeniern lebte, hat sich vielfältig gegen die Deportation ihrer Mitbürger aufgelehnt und gegen deren Vernichtung bei den Behörden Verwahrung eingelegt. Die Bevölkerung von Erzerum hat eine Eingabe an die Zentralregierung gemacht. Die Türken von Alaschkert telegraphierten nach Konstantinopel und erhoben Einspruch gegen die Behandlung der Armenier. Die Türken von Wan haben ihre armenischen Mitbürger wissen lassen, daß sie nur gezwungen gegen sie kämpften; ein unberücksichtigt gebliebener Protest wurde von mehreren vornehmen Türken gegen den von dem Gouverneur angestifteten Bürgerkrieg erhoben. In mehreren Orten von Nikomedien hat die Bevölkerung den Abzug der Armenier zu verhindern versucht. In Adabasar versammelten sich die Muhammedaner der Stadt am Bahnhof, um sich der Verschickung zu widersetzen. Dasselbe geschah in Mudania, so daß der Befehl zunächst zurückgenommen wurde. In einem Dorf in der Nähe von Kaisarije weigerten sich die Türken, die im besten Einvernehmen mit ihren christlichen Nachbarn lebten, die Armenier ziehen zu lassen und erklärten dem Kaimakam, wenn er die Deportation ausführen würde, würden sie mitgehen. Auch hier mußte der Kaimakam den Deportationsbefehl vorläufig zurücknehmen. Der Pöbel in den Städten hat sich zwar, soweit es die Regierung zuließ, an der Plünderung armenischer Habseligkeiten beteiligt, nirgends aber handelte es sich dabei um einen Ausbruch von Volksleidenschaften, sondern um eine willkommene Gelegenheit zum Diebstahl. Denn die Regierung war es, die Äcker, Häuser, Warenbestände und Hauseinrichtungen der Deportierten mit Beschlag belegte und nach dem Abzug zu Spottpreisen verauktionierte.

Was geschehen ist, ist eine in größtem Maßstabe durchgeführte Expropriation von anderthalb Millionen Staatsbürgern, die durch ihre zähe Arbeitskraft am meisten zur Hebung der wirtschaftlichen Kultur des Landes beigetragen hatten.

Die europäische Vorstellung, daß die verschiedenen Religions- und Rassenelemente der Türkei nicht im Frieden miteinander zu leben vermöchten, ist grundfalsch. Die Bevölkerung hat seit Jahrhunderten zusammengelebt. Ebenso wie Muhammedaner und Christen in Bosnien und der Herzegowina friedlich beisammen wohnen, würden Araber und Syrer, Armenier und Kurden, Türken und Griechen, Drusen und Maroniten im schönsten Frieden zusammenleben und zusammenarbeiten, wenn es etwas einer europäischen Regierung Ähnliches in der Türkei gäbe. Die alte Regierungsweisheit der türkischen Sultane war das divide et impera, ein Grundsatz, durch den die Bevölkerung der Türkei allmählich auf den vierten Teil ihres ursprünglichen Bestandes herunter dividiert worden ist. Die jetzige Maßregel der türkischen Regierung, die das dünnbesäte Land aufs neue entvölkert, ist dagegen nicht durch Aufhetzung der Bevölkerungsteile gegeneinander, sondern auf dem Verwaltungswege, zustande gekommen.

Wir sind in den Berichten wiederholt der Tatsache begegnet, daß die Provinzialregierung in ihren Anordnungen sei es gehemmt sei es gefördert wurde durch Organe einer Nebenregierung, die, obwohl unverantwortlich, doch den Charakter einer höheren Instanz trug. Es ist die Organisation der Klubs des „Komitees für Einheit und Fortschritt“, die tatsächlich ebenso, wie einst das Spionagesystem Abdul Hamids, die Regierungshandlungen im Innern entscheidend bestimmt. Diese Organisation ist nicht eine Parteiorganisation im europäischen Sinne, denn sie besteht nur aus Führern und hat keine Volksmassen hinter sich. Sie ist nur eine dünne Schicht türkischer Intellektueller und ihrer Werkzeuge. Vor der Niederschlagung der türkischen Opposition im Jahre 1912 hatte die gegenwärtige Organisation noch mit einem Widerstande von seiten der Anhänger der liberalen Opposition und der vornehmen Alttürken zu rechnen. Zur Zeit besitzt sie die Alleinherrschaft und sorgt dafür, daß bei den Wahlen nur die von dem „Komitee für Einheit und Fortschritt“ bezeichneten Kandidaten gewählt werden. Eine Opposition im türkischen Parlament gibt es vorläufig nicht. Obwohl nur der Regierungsapparat, mit dem die militärischen Behörden zusammenwirken, eine Maßregel, wie die der Expropriation und Deportation des armenischen Volkes durchführen konnte, so war doch augenscheinlich das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ und seine Organe in den Provinzen die Seele des ganzen Unternehmens. Es sorgte dafür, daß die Dinge nach Wunsch vonstatten gingen und nirgends durch Regungen des Wohlwollens oder der Menschlichkeit gehemmt wurden. Insbesondere lag auch die Organisation der Banden, für die alle nur brauchbaren Elemente, Kurdenstämme, berüchtigte Räuberbanden und entlassene Sträflinge, verwendet wurden, in den Händen der jungtürkischen Klubs. Die türkische Bevölkerung ist von dem Vorwurf freizusprechen, daß sie „in gesetzloser Selbsthilfe“ sich an ihren armenischen Mitbürgern, mit denen sie im Frieden lebte, vergriffen habe. Es braucht aber nicht erst gesagt zu werden, daß die systematisch organisierten Kurdenhorden und Verbrecherbanden, die auf die Deportierten losgelassen wurden, nicht lange eingeladen zu werden brauchten, nach ihren eigenen Gelüsten mit den unglücklichen Opfern der Deportation zu verfahren. Die große Masse der Erschlagenen kommt aber nicht auf Rechnung dieser legalisierten gesetzlosen Elemente, sondern auf Rechnung der Regierungsorgane, der Gendarmerie und der türkischen Milizen.


2. Die Lage beim Ausbruch des Krieges und während der ersten Kriegsmonate.


Wir haben bis jetzt die Ereignisse in Konstantinopel zurückgestellt, die am Sitz der Zentralregierung stattfanden und mit der Frage des Ursprungs der Gesamtmaßregel zusammenhängen.

In den Berichten sind die wenigen Akte des Widerstandes, die im Verlauf der Ereignisse vorgekommen sind, wie die geringfügigen Vorgänge in Zeitun, der bald niedergeworfene Widerstand in Schabin-Karahissar und die Selbstverteidigung der Armenier von Wan eingehend zur Sprache gekommen. Diese drei Vorgänge, zu denen vielleicht noch ein oder der andere bei näherer Kenntnis der ganzen Tragödie hinzukommen mag, standen in keiner Verbindung miteinander. Die drei Plätze sind jeder vom andern rund 400 Kilometer entfernt, und die Vorgänge, wie sie zeitlich auseinanderfielen, standen sachlich in keinerlei Zusammenhang. Auf irgendwelche Spuren einer planvollen gegen die Regierung gerichteten Bewegung sind wir nirgends in den Berichten gestoßen. Nur die Verfolgung war planvoll und wurde methodisch durchgeführt. Auch ist von seiten der türkischen Regierung die Behauptung, daß das armenische Volk als solches sich einer revolutionären Erhebung schuldig gemacht habe, nicht aufgestellt worden.[23] Monatelang war in der türkischen Presse zu lesen, wie treu die Armenier zu ihrem türkischen Vaterlande hielten.

Die armenische Presse ohne Ausnahme forderte bei Kriegsbeginn in Aufrufen das armenische Volk zur Verteidigung der Einheit des ottomanischen Vaterlandes auf. Das Blatt Azatamart führte aus: „Wir widersetzen uns der Okkupation des vom armenischen Volke besiedelten Gebietes durch Fremde. Das armenische Volk darf nicht zu einem Handelsartikel noch zu einem Spekulationsobjekt einer fremden Regierung werden. Der armenische Soldat wird mit Entschlossenheit an allen Grenzen, die vom Feinde überschritten werden sollten, kämpfen.“ Der Patriarch der armenisch-gregorianischen Kirche Msgr. Sawen, der seinen Sitz in Konstantinopel hat, richtete an alle armenischen Bistümer und Vikariate der Türkei telegraphisch ein Rundschreiben, in dem er hervorhebt, daß „die armenische Nation, deren Jahrhunderte alte Treue bekannt sei, in dem gegenwärtigen Augenblick, in dem sich das Vaterland mit mehreren Mächten im Krieg befände, ihre Pflichten erfüllen und allen Opfern zustimmen müsse für die Erhöhung des Ruhmes des ottomanischen Thrones, mit dem sie fest verbunden sei, und für die Verteidigung des Vaterlandes“. Die Bischöfe und Vikare werden aufgefordert, in diesem Sinne ihre Gemeinden zu beraten. In allen armenischen Kirchen wurde für den Sieg der ottomanischen Waffen gebetet. Die armenischen Erzbischöfe im Innern sandten aus Erzerum, Wan usw., Telegramme an die Pforte, daß „die Armenier, die niemals vor irgend einem Opfer zur Verteidigung des Vaterlandes zurückgeschreckt seien, auch diesmal zu allen Opfern bereit sein würden“. Diese Kundgebungen wurden von der türkischen und deutschen Presse mit Befriedigung aufgenommen und festgestellt, „daß die Haltung der armenischen Presse und der armenischen Bevölkerung seit Ausbruch der russisch-türkischen Feindseligkeiten in jeder Beziehung loyal“ sei. Die in Deutschland und Österreich lebenden Armenier äußerten und betätigten sich in demselben Sinne. In Wien wurde ein armenisches Hilfskomitee für den Roten Halbmond gebildet. Einer Abordnung desselben erklärte der türkische Botschafter Hussein Hilmi Pascha, der Präsident des ottomanischen Roten Halbmondes, „daß die türkische Regierung nie an der Treue und Ergebenheit der Armenier gezweifelt hätte.

Die zur türkischen Armee einberufenen armenischen Soldaten, die sich bereits im Balkankriege nach türkischem Zeugnis als vollkommen zuverlässig bewährt und ausgezeichnet tapfer geschlagen hatten, empfingen ebenso in den Anfangsmonaten des Krieges von höchsten militärischen Stellen das allerbeste Zeugnis. In der Militärschule von Konstantinopel meldeten sich zur Ausbildung als Reserveoffiziere mehr Armenier als Türken. Über 1500 Armenier, hauptsächlich aus den gebildeten und wohlhabenden armenischen Kreisen, traten in den Ausbildungskursus ein. Sie drängten sich dazu, mit der Waffe zu dienen und wünschten nicht in Post- und Telegraphendienst u. dergl. beschäftigt zu werden.

Als der Kriegsminister Enver Pascha im Februar von der kaukasischen Front zurückkehrte, sprach er dem armenischen Patriarchen seine besondere Zufriedenheit über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten aus, die sich in ausgezeichneter Weise geschlagen hätten. Besonders erwähnte er noch ein sehr glückliches Manöver, das ein Armenier Namens Ohannes Tschausch mit seinen Leuten ausgeführt habe, durch das sein Stab aus einer sehr kritischen Lage befreit worden sei. Der Mann wurde noch auf dem Platze dekoriert. Als Enver Pascha durch Erzingjan kam, sandten ihm die armenischen Bischöfe ein Begrüßungsschreiben, das er in der liebenswürdigsten Weise beantwortete. Dem Bischof von Konia erwiderte er auf eine Adresse, die er ihm im Namen der armenischen Gemeinde eingereicht hatte, nach dem Osmanischen Lloyd, der deutschen Zeitung von Konstantinopel, vom 26. Februar 1915: „Ich bedaure, bei meinem kürzlichen Aufenthalt in Konia Eure Hochwürden nicht haben sprechen zu können. Ich habe inzwischen das Schreiben erhalten, das Sie die Güte hatten, an mich zu richten, in dem Sie mich mit Anerkennung überhäufen. Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze die Gelegenheit, um Ihnen zu sagen, daß die armenischen Soldaten der ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen, was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann.

Ich bitte, der armenischen Nation, die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der kaiserlich Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu übermitteln.

Enver, Kriegsminister, Vizegeneralissimus der Kaiserlichen Armee.“

Bis in den fünften Kriegsmonat hinein seit Ausbruch des türkisch-russischen Krieges lagen keine Anzeichen dafür vor, daß die Zentralregierung gegen die Armenier mißgestimmt sei oder daß die leitenden armenischen Kreise zu irgendwelchem Mißtrauen Anlaß gegeben hätten. Was war geschehen oder welche Gründe hatte die türkische Regierung, ihre Haltung gegen die Armenier, deren Loyalität wiederholt anerkannt war, zu ändern? Ist die Regierung irgendwelchen revolutionären Komplotts auf die Spur gekommen? oder wann und wie ist das Gespenst einer armenischen Revolution aufgetaucht?

Noch am vierten Juni gibt die türkische Regierung die folgende Erklärung ab:

„Es ist völlig falsch, daß in der Türkei Mordtaten oder gar Massenmorde an den Armeniern stattgefunden hätten (was die Regierungen der Entente in der Agence Havas vom 24. Mai behauptet hatten). Die Armenier von Erzerum, Terdjan, Egin, Sassun, Bitlis, Musch und von Cilicien hatten überhaupt keine Handlung begangen, die die öffentliche Ordnung und Ruhe hätte stören oder Maßregeln seitens der Regierung hätte erforderlich machen können“.[24] Der türkische Generalkonsul in Genf Zia Bey setzte sogar noch am 27. August auf Anweisung der Pforte allen in neutralen Blättern verbreiteten Nachrichten von Armenier-Massakers ein formelles Dementi entgegen und schrieb, zu einer Zeit, wo die Gesamtdeportation bereits vollendet war: „Die gesamte armenische Bevölkerung, Männer, Frauen und Kinder erfreuen sich in vollständiger Sicherheit des Schutzes der Behörden; es hat einige Schuldige gegeben, die durch gesetzmäßig gebildete Gerichte verurteilt worden sind.“

Wir stehen also der merkwürdigen Tatsache gegenüber, daß die türkische Regierung nicht nur in den ersten Monaten, sondern bis zum September, abgesehen von einzelnen Exekutionen Schuldiger, mit dem Verhalten der armenischen Nation zufrieden gewesen sein will und von einer Gesamtverschwörung des armenischen Volkes, die hätte bestraft werden müssen, nichts gewußt hat.

Trotzdem berichtet der Jungägypter Dr. Risaat, ein Mitglied des Komitees für „Einheit und Fortschritt“ in einem Interview des Kopenhagener „Extrabladet“ vom 14. Oktober, das durch die ganze deutsche Presse gegangen ist, von „einer alle in der Türkei wohnenden Armenier umfassenden Verschwörung, die die eigentliche Existenz des Landes bedrohte und Konstantinopel den Alliierten in die Hände spielen sollte“. Er will sogar wissen, daß „zum Unglück für die Armenier der Aufstand zu zeitig losbrach, und daß gleichzeitig der Haupteingeweihte in Konstantinopel die ganze Verschwörung an die Regierung verriet“. Er fährt fort: „Zahlreiche durch die Untersuchung zutage gebrachte Dokumente erwiesen klar, daß die Engländer den größten in der Geschichte der Türkei bekannten Aufruhr organisiert haben. Zahlreiche Verschworene wurden verhaftet und bestraft, darunter der Hauptleiter des Aufruhrs in Arabien, Scheich Abdul Kerim. Obwohl er und seine Anhänger Muhammedaner waren, wurden dennoch 21 davon gehängt, 100 zu schweren Gefängnisstrafen verurteilt.“

Wenn Dr. Risaat etwas von einer arabischen Verschwörung weiß, so können wir das nicht nachprüfen. Jedenfalls ist eine „arabische“ keine „armenische“ Verschwörung. Von einer umfassenden armenischen Verschwörung hat die türkische Regierung kein Wort gesagt. Dagegen läßt sich aus der Zahl von 21 Gehängten und dem übrigen Inhalt des Interviews der bündige Schluß ziehen, daß Dr. Risaat die öffentliche Meinung absichtlich irregeführt hat, indem er das bereits vor dem Kriege aufgedeckte Komplott der türkischen liberalen Opposition, das den Sturz der gegenwärtigen Regierung und die Ermordung von Talaat Bey und anderen jungtürkischen Führern zum Ziele hatte, für „eine alle in der Türkei wohnenden Armenier umfassende Verschwörung“ ausgegeben hat.

3. Das Komplott der türkischen liberalen Opposition.


Über das türkische Komplott, das der Regierung in Konstantinopel durch den „Haupteingeweihten“ (den Polizeispitzel Mehemed Midhat, einen türkischen Offizier aus Akova) verraten wurde, liegen ausführliche Mitteilungen vor, die im „Tanin“ unter dem Titel „Eine Politische Komödie“ veröffentlicht und durch den „Osmanischen Lloyd“, die deutsche Zeitung von Konstantinopel, in zwölf Nummern übersetzt und wiedergegeben wurden. (Nr. 126 bis Nr. 137 vom 9. bis 22. Mai 1915.) Da dies Komplott der türkischen Opposition dazu benutzt wurde, um den Anschein zu erwecken, als ob die türkische Regierung einer sozusagen „alle in der Türkei wohnenden Armenier umfassenden Verschwörung“ auf die Spur gekommen sei, geben wir das Wesentliche des Berichtes wieder.

Das Komplott geht auf das Jahr 1912 zurück und war bereits aufgedeckt worden, ehe der europäische Krieg ausbrach. Bekanntlich ist die gegenwärtig herrschende jungtürkische Partei seit der Begründung der Verfassung zweimal gestürzt worden, einmal im Jahre 1909 durch die alttürkische Partei, als Abdul Hamid noch nominell regierte, und einmal im Jahre 1912 durch eine Opposition, die sich innerhalb des Komitees für Einheit und Fortschritt („Hürriet we Ittihad“, auch kurz „Ittihad“ genannt) gebildet und die Majorität erlangt hatte. Den Anstoß zu diesem zweiten Sturz gab die neugebildete Offiziersliga unter Führung des Oberst Zadik Bey. Die dissentierenden Mitglieder des Komitees vereinigten sich mit der Partei der liberalen Union „Hürriet we Ittilaf“, auch kurz „Ittilaf“ genannt) und arbeiteten am Sturz der Regierung. Das erste Opfer der Diktatur der Offiziersliga war der Kriegsminister Mahmud Schewket Pascha, der am 10. Juli sein Amt niederlegen mußte, das zweite Opfer das jungtürkische Kabinett, das am 16. Juli demissionierte, das dritte Opfer die türkische Kammer, die von dem neuen Ministerium Muktar Pascha am 5. August nach Haus geschickt wurde. Die Partei der liberalen Union, welche jetzt mit Männern aus dem alten Regime wie Achmed Muktar Pascha und Kiamil Pascha zusammenarbeitete, hatte zwar nicht das Heft in Händen, aber sie bedeutete doch einen wichtigen Faktor im politischen Leben. Ihre Führer waren Prinz Sabaheddin, Ismail von Gümüldschina und der Hodscha Sabri Efendi. Das Ministerium der „Böjükler“ (großen Männer), das die bedeutendsten Politiker der alten Zeit zur Rettung des Vaterlandes umfaßte, verlor den Balkankrieg und die europäische Türkei. Als Kiamil Pascha im Begriff war, einen Frieden zu schließen, der den Verlust Adrianopels einschloß, ergriffen die gestürzten Führer der jungtürkischen Partei aufs neue die Zügel. Bei dem Putsch, den Enver Bey inszenierte, erschoß er den Kriegsminister Nasim Pascha, und die gegenwärtigen Führer Talaat Bey und Enver Pascha saßen im Sattel. Mit diesem Umschwung der Dinge beginnt die Verschwörungsarbeit der Partei der liberalen Union. Ihre erste Tat war die Ermordung des Kriegsministers Mahmud Schewket Pascha am 11. Juli 1913. Dies Attentat wurde mit einer rücksichtslosen Verfolgung aller Mitglieder der türkischen Opposition beantwortet, deren Führer ins Ausland flohen. Auf diese Zeit geht das Komplott zurück, das sich den Umsturz der gegenwärtigen Regierung zum Ziel gesetzt hatte, aber durch den Verrat eines „Haupteingeweihten“ rechtzeitig entdeckt wurde. Die Führer der Opposition hatten sich in Paris mit dem erbittertsten Feind des Komitees, Scherif Pascha, der über große Mittel verfügte, in Verbindung gesetzt. Leiter des Komplotts waren Prinz Sabaheddin, Oberst Zadik, Ismail aus Gümüldschina und Scherif Pascha, der die Mittel liefern mußte. Verwickelt in das Komplott wurde der Armenier Sabahgülian, früheres Mitglied eines Hintschakisten-Komitees in Ägypten, aus dem er bereits ausgeschlossen worden war. Im letzten Stadium wurden angeblich der griechische Gesandte in Konstantinopel, sein Archivar und andere griechische und türkische Elemente zugezogen. Zuletzt sei man auch an Venizelos und Lord Kitchener herangetreten, der aber nur für den Fall des Gelingens irgend einer Tat Mittel in Aussicht gestellt haben soll. Ein junger türkischer Offizier, Midhat Efendi, einer der Mitbegründer jener Offiziersliga der „Vaterlandsretter“ (Halaskiaran Dschemijeti), wurde unvorsichtigerweise in Paris in die Geheimnisse der Verschwörung eingeweiht. Er gab sich dazu her, nicht nur das Komplott der Polizei in Konstantinopel mitzuteilen, sondern auch zwei Jahre lang durch falsche Vorspiegelungen, den Schein zu erwecken, als ob er in Konstantinopel als Werkzeug der Verschwörung tätig sei. Die im „Tanin“ veröffentlichte Korrespondenz, die eine Reihe wichtiger Briefe von Ismail aus Gümüwjina und Scherif-Pascha enthält und die ganzen Fäden der Verschwörung bloßlegt, ist von Midhat-Efendi der Polizei ausgeliefert worden. Die Briefe sind sämtlich vor dem Kriege geschrieben und datieren vom 31. Juli 1913 bis zum 22. Juli 1914. In dies Komplott war, wie gesagt, durch Oberst Zadik auch der Hintschakist Sabahgülian in Ägypten hineingezogen worden.

Die Hintschakisten haben als revolutionäre armenische Partei in den neunziger Jahren in Rußland eine gewisse Rolle gespielt. Die Partei zerfiel später in verschiedene kleine Auslandsgruppen und zählte in der Türkei nur noch wenige einflußlose Mitglieder. Sie war durch die Partei der Daschnakzagan verdrängt worden, die zusammen mit den Jungtürken die Einführung der Konstitution und den Sturz Abdul Hamids herbeigeführt hatten und sich seitdem zu der gegenwärtigen jungtürkischen Regierung gehalten hatten. Der Hintschakist Sabahgülian, der von seinen Landsleuten bereits abgeschüttelt war, schickte einen gewissen Paramaß mit drei anderen jungen Leuten nach Konstantinopel. Die Konstantinopeler Hintschakisten wollten nichts von ihm wissen und verweigerten jede Mitwirkung an dem Komplott.

Im Jahre 1913 hatte in Constantza eine Konferenz von Hintschakisten stattgefunden, bei der gegen eine Minorität von Stimmen eine Resolution gefaßt worden war, daß man die türkische Regierung, wenn sie nicht gewisse Reformen bewillige, mit allen Mitteln bekämpfen müsse. Die türkischen Hintschakisten lehnten die Resolution ab und erklärten den Kongreß für inkompetent, im Namen der türkischen Hintschakisten zu sprechen. Folgerichtig lehnten sie auch jetzt, als die vier ägyptischen Armenier nach Konstantinopel kamen, jede Mitwirkung ab. Die vier Armenier wurden in Konstantinopel von der Polizei ausfindig gemacht und noch vor dem Kriege in Haft gesetzt. Die Führer des türkischen Komplotts, die in Paris, Ägypten und Athen saßen, wurden von Midhat Efendi weiter an der Nase herumgeführt, bis sie selbst unter sich uneins wurden und eine Aktion aufgaben. Mittel von England haben sie nicht erhalten. Dann erst wurde durch die Veröffentlichung des „Tanin“ die ganze Geschichte aufgedeckt.

Wie man sieht, spielten die vier auswärtigen Armenier in der ganzen Komplottgeschichte eine nur untergeordnete Rolle und waren von ihren Kameraden in der Türkei zurückgewiesen worden. Hätte man diese Verschwörer, als man sie gefaßt hatte, einfach gehenkt, so hätte die Sache weiter nichts auf sich gehabt und niemand würde auf den Gedanken gekommen sein, die Verschwörung der Führer der türkischen Oppositionspartei für eine armenische Revolution auszugeben. Man ließ aber die vier verhafteten Armenier ein gutes Jahr im Gefängnis und holte sie erst am 17. Juni des Jahres 1915 heraus, um sie auf dem Platz vor dem Kriegsministerium mit noch 17 andern Armeniern, die man ebenfalls für Mitglieder des Hintschakkomitees ausgab, zu henken. Die übrigen 17 waren in das Komplott nicht verwickelt, die türkische Polizei hatte aber eine Liste der Mitglieder der Hintschakistenkonferenz in Constantza in die Hände bekommen und einige dieser Mitglieder ebenfalls verhaftet. Andere, deren Namen man aus Briefadressen oder Tagebuchnotizen als Bekannte der verhafteten Hintschakisten festgestellt hatte, wurden mitgehenkt, um den Schein einer großen Verschwörung zu erwecken. Niemand wußte, daß es sich um eine Sache handelte, die längst vor dem Kriege gespielt hatte. Als die Armenier von Konstantinopel am 17. Juni die Bekanntmachung des Platzkommandanten von Konstantinopel von der Hinrichtung der 21 Armenier und der Verurteilung in contumatiam der beiden ägyptischen Hintschakisten Sabahgülian und Dirtat in der Zeitung lasen, waren sie aufs Höchste betroffen, denn sie wußten, daß diese demonstrative Exekution, die auch durch die deutsche Presse bekannt gemacht wurde, die Ankündigung eines Schlages gegen das armenische Volk bedeutete.

Das türkische Komplott, das von den Führern der türkischen Opposition geplant worden war, wurde durch die Veröffentlichung des „Tanin“ unter der Spitzmarke „Eine politische Komödie“ nur ins Lächerliche gezogen, und auch von einer Verfolgung der beteiligten griechischen Elemente ließ man nichts verlauten, nur die Beteiligung von vier ägyptischen Hintschakisten wurde an die große Glocke gehängt. Von jungtürkischer Seite wurde indessen offen zugestanden, daß die Partei der Daschnakzagan, wie überhaupt das armenische Volk in der Türkei mit dem ganzen Komplott nichts zu tun gehabt hat.

Die Geschichte der Verschwörung der liberalen türkischen Opposition gegen die gegenwärtigen Machthaber mußte etwas eingehender dargelegt werden, da, wie auch die Veröffentlichung des Interviews von Dr. Risaat beweist, der Versuch gemacht worden ist, aus der Exekution der 21 Hintschakisten einen Beweis für eine mit englischem Gelde organisierte umfassende armenische Revolution zu konstruieren. Leider ist die deutsche Presse auf diesen plumpen Versuch hineingefallen.

4. Das armenische Patriarchat.


Eine Verschwörung, noch dazu eine „alle in der Türkei wohnenden Armenier umfassende Verschwörung“ läßt sich nicht improvisieren. Sie müßte von irgend einer Seite organisiert sein, die alle Fäden über das ganze Reich hin von der Hauptstadt bis zum Kaukasus und vom Schwarzen Meer bis nach Cilicien und Mesopotamien in der Hand hatte. Das Unternehmen hätte um so sorgfältiger vorbereitet sein müssen, da die Zeit des Krieges ohne Frage der ungünstigste Zeitpunkt für eine armenische Revolution gewesen wäre. Die wehrhafte Mannschaft des Volkes war zur Armee einberufen, der Rest arbeitsfähiger Männer zum Straßen- und Lastträgerdienst ausgehoben. Das Land stand unter Kriegsrecht und die türkische Armee war mobilisiert. Irreguläre Milizen durchstreiften das Land, die muhammedanische Bevölkerung war bewaffnet, die armenische entwaffnet. Sollten die in den Dörfern und Städten zurückgebliebenen Frauen, Kinder, Kranken und Greise und der kleine Rest männlicher Bevölkerung, der sich freigekauft hatte oder als dienstuntauglich zurückgeblieben war, eine Revolution inszenieren? Es wäre der helle Wahnsinn gewesen.

Welches waren die Organisationen, die für die Vorbereitung einer Revolution in Betracht gekommen wären?

Nur zwei kommen in Frage: das Patriarchat und die Daschnakzagan. Die Armenier in der Türkei sind kirchlich und parteipolitisch organisiert. Von einer dieser beiden Seiten müßte die angebliche Revolution geplant gewesen sein.

Die kirchliche Organisation des armenischen „Millets“ (Nation) ruht auf alter staatsrechtlicher Grundlage, die seit der Zeit der Eroberung durch die Türken nicht angetastet worden ist. Das Patriarchat vertritt auch in bürgerlicher Beziehung das armenische Volk bei der Pforte. Neben dem Patriarchat steht als Vertretungskörper die armenische Nationalversammlung. Obwohl die Repräsentanten derselben aus allen Teilen des Reiches gewählt werden, so ist sie doch im wesentlichen nur eine Vertretung der besitzenden Klassen von Konstantinopel. Von ihren 160 Mitgliedern sind ordnungsmäßig 120 Vertreter der Hauptstadt und 40 Vertreter der Provinz. Aber auch diese 40 Provinzvertreter werden wegen der Schwierigkeit der Reiseverbindung mit dem Innern aus der Zahl der Konstantinopeler Intellektuellen gewählt. Der Charakter des Patriarchats mit seiner kirchlichen Organisation und ebenso der Charakter einer derartig zusammengesetzten Nationalversammlung ist naturgemäß konservativ. Wenn von seiten armenischer Politiker an der Haltung des Patriarchats und der Nationalversammlung Kritik geübt wurde, so lag dieselbe immer in der Richtung, daß die Patriarchen mehr den Charakter von osmanischen Staatsbeamten als von Vertretern der Nation trügen und daß die Nationalversammlung, auch wo es sich um wichtige Interessen des armenischen Millets handelte, zu fügsam und nachgiebig gegenüber dem herrschenden Regime wäre. Der gegenwärtige Inhaber des Patriarchats-Stuhles war vor seiner Erwählung Bischof in Diarbekir und als ein trefflicher Seelsorger seines Sprengels bekannt. Er war anderen Kandidaten, die eine schärfere politische Physiognomie hatten, vorgezogen worden, da man für die Friedensära nach dem Balkankriege mehr an die kirchlichen, als an die politischen Aufgaben des Patriarchats dachte. Msgr. Sawen ist seinem ganzen Charakter nach von dem Typus eines politischen Intriganten so fern als nur möglich. Er hat schwer unter dem Schicksal, das seine Nation und seine Kirche traf, gelitten, ist aber niemals auch nur auf den Gedanken gekommen, etwas wie einen Widerstand gegen die Regierungsgewalt zu planen. Er hat alle in seiner Kompetenz liegenden Schritte getan, hat die unglückliche Lage seines Volkes während des Krieges den Ministern solange in ernsten Bitten und Beschwerden vorgetragen, bis sich die Türen vor ihm verschlossen und er sich von der völligen Ohnmacht seines Amtes überzeugen mußte. Nicht einmal die geringsten, auf die kirchliche Versorgung der Deportierten bezüglichen Wünsche, wie die Entsendung von Priestern an die Verschickungsorte mit den für die Erfüllung der kirchlichen Bräuche notwendigen kirchlichen Requisiten wurden gewährt. Er mußte es ruhig mit ansehen, daß mit der Vernichtung des Volkes zugleich die Rechte des Patriarchats außer Kraft gesetzt und die kirchliche Organisation des armenischen Volkes vernichtet wurde.10) Die folgende Liste von kirchlichen Würdenträgern, die im Lauf der Massakers und Deportationen beseitigt wurden, sagt mehr von den Leiden des Patriarchats als es irgendwelche weiteren Ausführungen vermöchten.

Liste der kirchlichen Würdenträger.
1.
Diarbekir:
Der Wartabed (Archimandrit) Tschekhlarian – lebendig verbrannt.
2.
Ismid:
Der Erzbischof Hovagim – verbannt.
3.
Armasch:
Der Bischof Mesrop, Abt des Klosters Armasch – verbannt.
4.
Brussa:
Der Wartabed Taniklian – eingekerkert.
5.
Kaisarije:
Der Bischof Behrigian – eingekerkert.
6.
Siwas:
Der Bischof Knel Kalzmskrian – ermordet.
7.
Urfa:
Der Wartabed Kasparian – verbannt.
8.
Schabin-Karahissar:
Der Wartabed Torikian – gehenkt.
9.
Samsun:
Der Wartabed Hammazaß – verschickt.
10.
Trapezunt:
Der Wartabed Turian – eingekerkert.
11.
Baiburt:
Der Wartabed Hazarabedian – gehenkt.
12.
Kemach:
Der Wartabed Hemayak – verschickt.
13.
Kharput:
Der Wartabed Korenian – ermordet.
14.
Tscharsandjak:
Der Wartabed Nalbandian – gehenkt.
15.
Aleppo:
Der Bischof Nerses Danielian – verschickt.
16.
Bitlis:
Der Wartabed Kalenderian – verschickt.
17.
Erzerum:
Der Bischof Saadedian – ermordet.

Von den kirchlichen Würdenträgern der übrigen Sprengel fehlen die Nachrichten. Von 17 Prälaten wurden somit 7 deportiert, 8 eingekerkert, 3 gehenkt, 3 ermordet und einer lebendig verbrannt. Das Schicksal der übrigen wird schwerlich ein andres sein.

Da gegen das Patriarchat und seine Hierarchie von der Regierung niemals die Anklage erhoben worden ist, daß es sich revolutionärer Umtriebe schuldig gemacht habe, fällt die Möglichkeit, die kirchliche Organisation mit einer angeblich geplanten armenischen Revolution zu belasten, aus. Es bleibt also die politische Organisation der Daschnakzagan, auf die der Verdacht geworfen werden könnte, daß sie mit dem Gedanken an eine Revolution umgegangen oder eine Erhebung des armenischen Volkes vorbereitet habe.


5. Die Daschnakzagan.


Die Partei der Daschnakzagan („Verbündeten“) entstand Ende der achtziger Jahre. Sie war damals, ebenso wie die gegenwärtig in der Türkei herrschende jungtürkische Partei revolutionär. Ihre Führer standen in der absolutistischen Zeit mit den Führern des Komitees für Einheit und Fortschritt in enger Verbindung und arbeiteten mit diesen am Sturz des Hamidischen Regiments und der Einführung der Konstitution. Sie glaubten mit den Jungtürken, daß es nur durch die Einführung der Konstitution möglich sein würde, die verschiedenen Bevölkerungselemente des Osmanischen Reiches untereinander zu versöhnen und die Rassen- und Religionsgegensätze zu überbrücken. Auf ihrem Pariser Kongreß vom Jahre 1907 beschlossen die Daschnakzagan, alle nationalen Gruppen der Türkei durch die Losung „Einführung der Konstitution“ miteinander zu vereinigen. Auf ihre Einladung kamen Ende 1907 die Vertreter aller politischen Parteien der Türkei, die im Gegensatz zum Absolutismus Abdul Hamids standen, Jungtürken, Armenier, Griechen, Bulgaren, Israeliten, in Paris zusammen. Es gelang den Daschnakzagan die damaligen Führer der in Feindschaft lebenden jungtürkischen Gruppen, Achmed Riza und Prinz Sabaheddin, miteinander zu versöhnen. Auf diesem Kongreß übernahmen für den Fall des Gelingens ihrer Pläne die jungtürkischen Führer die folgenden Verpflichtungen:

1.
Sultan Abdul Hamid abzusetzen,
2.
in dem neuen konstitutionellen Staatswesen die bürgerliche Gleichberechtigung der Religionen und Nationalitäten einzuführen,
3.
das parteiische Verwaltungssystem, das die nichtmuhammedanischen Nationalitäten unterdrückte, dementsprechend abzuändern.

Einige Monate nach diesem Kongreß brach die Revolution aus und die Konstitution wurde eingeführt. Unbeschreiblicher Jubel herrschte damals in der ganzen muhammedanischen und christlichen Bevölkerung des Reiches. Christen und Moslems, Priester und Mollahs umarmten sich auf den Straßen. Man war im Rausch des Entzückens über die gewonnene Freiheit „ein einig Volk von Brüdern“ geworden. In Konstantinopel zog eine Prozession von türkischen Notabeln, Mollahs und Hodschas mit den Armeniern in die armenische Kirche der Dreieinigkeit, um dort große Reden zu schwingen und die armenischen Opfer der Verfolgungen Abdul Hamids zu beklagen. Die Türken sagten zu den Armeniern: „Ihr seid glücklich zu preisen, ihr wißt, wo eure von Abdul Hamid hingeschlachteten Opfer begraben sind; die unsrigen aber liegen auf dem Meeresgrunde oder sind in den Wüsten Arabiens verschwunden. Wir wollen mit euch auf euren Friedhof gehen und an den Gräbern eurer Toten, an deren Blut wir unschuldig sind, den Sieg der Freiheit feiern. Kommt ihr mit uns, um auf dem Befreiungshügel den Tag unserer Erlösung festlich zu begehen.“ So geschah es. Das Einvernehmen zwischen Christen und Moslems, Armeniern und Türken konnte nicht inniger sein, und alle Welt glaubte an eine glückliche Zukunft des Reiches.

Die jungtürkischen Führer hielten sich nicht an ihre Versprechungen. Abdul Hamid blieb auf dem Thron. Erst ein Jahr später mußte nach dem vorübergehenden Sieg der Reaktion die Absetzung Abdul Hamids nachgeholt werden. In den April 1909 fiel auch das Massaker von Adana, bei dem unter Mitwirkung von jungtürkischen Truppen 20 000 Armenier umgebracht wurden. Ein schlimmes Vorzeichen! Das Komitee für Einheit und Fortschritt hatte die früheren Zusagen seiner Führer, die die Gleichberechtigung der Nationalitäten und Religionen verbürgten, vergessen. Es wandte sich schnell einem panislamischen Programm zu, in der Hoffnung, so die türkischen Massen zu gewinnen und die reaktionäre Propaganda aus dem Felde zu schlagen. Trotzdem blieben die Daschnakzagan an der Seite der Jungtürken und hielten ihr politisches Zusammengehen mit dem Komitee für Einheit und Fortschritt aufrecht. In der Zeit ihrer gemeinsamen Verbannung waren sie Kameraden der jungtürkischen Führer gewesen, waren persönlich mit ihnen befreundet und waren entschlossen, ihnen treu zu bleiben. Trotz mancher Enttäuschungen und trotz des Massakers von Adana blieben sie der Überzeugung, daß einzig die jungtürkischen Führer (die gegenwärtig die Regierung des türkischen Reiches in Händen haben) aufrichtige Anhänger und Verteidiger der Konstitution seien. Dies ließ sie über manches hinwegsehen, was sie hätte zurückstoßen müssen. Aber auch die Jungtürken kamen, wenn sie eine Zeitlang ihre eigenen Wege gegangen waren, immer wieder zu den Daschnakzagan zurück. Sobald nämlich ihre eigene Herrschaft in Gefahr war, baten sie die Daschnakzagan um ihre Hilfe, machten ihnen größere Versprechungen als zuvor und rüsteten sie für den Fall eines Bürgerkrieges mit Waffen aus, um die Konstitution zu verteidigen. Solche Vereinbarungen wurden mündlich und schriftlich getroffen und von den jungtürkischen Führern mit ihren Namen unterzeichnet. Sobald die Letzteren wieder Oberwasser hatten, vergaßen sie ihre Versprechungen und fragten nichts nach dem Mißmut der Daschnakzagan. Als die Krisis des Jahres 1911 die Auflösung des Parlaments herbeiführte und die Jungtürken fürchteten, daß die Wahlen für sie ungünstig ausfallen könnten, näherten sie sich aufs neue den Daschnakzagan, schlossen ein Wahlabkommen mit ihnen ab und sicherten ihnen, entsprechend der armenischen Bevölkerungszahl von ca. 2 Millionen, 19 Parlamentssitze zu. Durch Unterschrift der angesehensten Vertreter des Komitees für Einheit und Fortschritt wurde das Wahlabkommen besiegelt. Gemeinsame Wahlaufrufe wurden unterschrieben und überall im Reich agitierten die Daschnakzagan für die Jungtürken. Als die Letzteren während der Wahlkampagne das Heft wieder in die Hand bekamen, richteten sie die Sache so ein, daß die Armenier nicht nur keine 19, sondern statt der früher innegehabten 12 nur 9 Sitze bekamen. Diese 9 Sitze waren überdies zum Teil mit Kreaturen des Komitees besetzt, die das Vertrauen der Armenier nicht besaßen. Trotz all dieser Enttäuschungen blieben die Daschnakzagan den Jungtürken treu, wie gesagt aus dem einzigen Grunde, weil sie sie für die einzig aufrichtigen Vertreter des konstitutionellen Prinzips hielten. Weder während des tripolitanischen Krieges noch während des Balkankrieges dachten sie daran, die Schwäche des Reiches für eigennützige Pläne auszunützen. So traten sie auch in den gegenwärtigen Krieg mit der Zuversicht ein, daß ihre seit sieben Jahren bewiesene Loyalität und Treue endlich ihre Früchte zeitigen würde.

Beim Ausbruch des europäischen Krieges, Ende Juli und Anfang August 1914, tagte im Theaterklub zu Erzerum mit Zustimmung des Ministers des Innern Talaat Bey ein Kongreß der Daschnakzagan. Die Möglichkeit eines russisch-türkischen Krieges mußte ins Auge gefaßt werden, und es wurde mit voller Aufrichtigkeit beschlossen, in diesem Falle strengste Loyalität gegen die osmanische Regierung einzuhalten und, gegen wen es immer sei, die Unabhängigkeit und Souveränität der Türkei mit bewaffneter Hand zu verteidigen. Die türkischen Armenier wußten, daß ihre Volksgenossen im Kaukasus gezwungen sein würden, im russischen Heere gegen die Türkei zu kämpfen. Das politische Programm der Daschnakzagan vertrat grundsätzlich den Standpunkt, daß die Zukunft des armenischen Volkstums in der Türkei besser gesichert sei, als in Rußland. Ihr Programm, das durch seine innere Logik für sich selbst spricht, beruhte auf folgendem Gedankengang:

Das armenische Volk, das in der Türkei gegen 2 Millionen, in Rußland gegen 1¾ Millionen zählt, kann weder in Rußland noch in der Türkei auf eine Autonomie rechnen. Es muß daher die Vorteile des Gleichgewichts zwischen diesen beiden Ländern benutzen, um seine nationale Eigenart zu schützen, die durch ein völliges Aufgehen in Rußland gefährdet wäre. Keine Nation ist so sehr an der Existenz der Türkei interessiert als die armenische. Denn nur im Zusammenhang mit einem größeren Staatswesen vermöchte sie wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung zu erlangen, vorausgesetzt, daß ihr normale Existenzbedingungen gegeben würden. Die Armenier selbst müßten eine Türkei schaffen, wenn sie nicht existierte, um an ihr einen Rückhalt gegen die russische Expansion zu haben.11)

Der Beweis, daß dieses Programm und die daraus folgende loyale Haltung gegenüber der jungtürkischen Regierung bis zu dem Tage der völlig unerwarteten Verhaftung und Verschickung ihrer Führer die strenge Richtlinie aller Absichten und Maßnahmen der Daschnakzagan gewesen und geblieben ist, kann lückenlos erbracht werden.

Zu dem Kongreß in Erzerum stellten sich auch zwei Mitglieder des jungtürkischen Zentralkomitees ein, Omer Nadji und Dr. Behaeddin Schakir, die mit den Führern der Daschnakzagan über die Mitwirkung der Armenier bei dem kommenden Kriege gegen Rußland verhandelten. Sie regten an, ob man nicht die Kaukasusarmenier gegen Rußland revolutionieren könne, wie man ein gleiches mit den Georgiern und Tataren des Kaukasus vorhatte. Die Daschnakzagan erklärten dies für nicht wohl möglich. Nach den Verfolgungen der Jahre 1903 bis 1905, bei denen der Statthalter des Kaukasus regelrechte Massakers unter den Armeniern durch die Tataren hatte veranstalten lassen, war mit der Übernahme der Statthalterschaft durch Fürst Woronzoff Daschkoff ein völliger Wechsel des bisherigen Systems eingetreten. Die über die Armenier verhängten Maßregeln, Entziehung ihres Kirchen- und Schulvermögens, wurden rückgängig gemacht, und die Kaukasusarmenier hatten sich wieder einer loyalen Behandlung von seiten der russischen Regierung zu erfreuen. Zwar dauerte die Unterdrückung der Partei der Daschnakzagan, die sich zu einem Werkzeug für die russische Regierung nicht hergab, noch an, aber die armenische Bevölkerung und die armenische Kirche hatte sich über keinerlei Repressalien zu beschweren. Ein den Russen genehmer Katholikos in Etschmiadzin wurde gewählt. Hätten die Jungtürken auch nur die gleiche Haltung gegen die armenische Bevölkerung der Türkei bis zum Kriege eingenommen, sie hätten nicht nur, wie es der Fall war, auf die Loyalität der türkischen Armenier rechnen können, sie würden vielleicht auch das Band zwischen den Kaukasusarmeniern und der russischen Regierung gelockert haben. Besonders eine Maßregel machte auf die russischen Armenier den allerschlechtesten Eindruck. Im Jahre 1913 war auf Drängen der Großmächte, insbesondere Rußlands, endlich ein Reformplan für die Verwaltung der von Armeniern bewohnten sieben östlichen Wilajets ausgearbeitet und damit ein Versprechen eingelöst worden, das die Türkei auf dem Berliner Kongreß im Jahre 1878 ihren armenischen Untertanen und den sechs Großmächten gegeben hatte. Die Ausarbeitung des Reformprogrammes war von seiten der übrigen Mächte Rußland und Deutschland als den wirtschaftlich am meisten an der Türkei interessierten überlassen worden. Der deutsche Botschafter, Baron von Wangenheim, hatte sich mit Erfolg bemüht, das Programm in Grenzen zu halten, durch die die Souveränitätsrechte der Türkei nicht angetastet wurden, um die Pforte zur Annahme des Programms willig zu machen. Am 26. Januar[WS 6]/8. Februar 1914 war das Programm von der Pforte angenommen worden. Zwei Generalinspektoren, der Holländer Westemenk und der Norweger Hoff, wurden berufen und trafen im Frühjahr in Konstantinopel ein. Bei Ausbruch des europäischen Krieges waren sie im Begriff, ihr Amt anzutreten. Hoff befand sich bereits in Wan. Sofort nach Ausbruch des europäischen Krieges nahm die Pforte das Reformprogramm zurück und schickte die Generalinspektoren nach Haus. Ein unverzeihlicher Fehler. Wären die Generalinspektoren im Lande geblieben, so hätten die Ereignisse, die zum Verlust von Wan führten, verhütet werden können und das Vertrauen des armenischen Volkes in die Aufrichtigkeit der Reformabsichten wäre nicht erschüttert worden.

Auch sonst erlebten die türkischen Armenier böse Enttäuschungen. Auf dem Kongreß von Erzerum war mit den jungtürkischen Führern vereinbart worden, daß ein bekannter Daschnakzagan, Alojan, in den Kaukasus gesandt werden sollte, um die russischen Armenier dazu zu bewegen, daß sie sich, soweit es in den Grenzen der Loyalität möglich war, zurückhalten und alle provokatorischen Handlungen vermeiden sollten, um nicht die Loyalität der türkischen Armenier zu kompromittieren. Alojan wurde auf der Reise nach dem Kaukasus, noch auf türkischem Boden, ermordet. Auch die Bewegungsfreiheit der Führer der türkischen Daschnakzagan wurde eingeschränkt. Der Minister des Innern Talaat Bey nötigte seinen Freund Aknuni und andere Daschnakzagan, wie Nostam und Wrazian, die sich in den Provinzen der gemeinsamen Sache widmen wollten, in Konstantinopel zu bleiben, um sie dort überwachen zu lassen. Durch diese Beweise eines illoyalen Mißtrauens wurde Garo Pastermadsjian, der Deputierte von Erzerum, derartig konsterniert, daß er Ende August, also 2½ Monate vor dem Ausbruch des russisch-türkischen Krieges, in den Kaukasus, wo er zu Haus ist und Fabriken besitzt, und von wo er lange Zeit verbannt war, zurückkehrte. Da er in Tiflis sein Geschäft hat, war das sein gutes Recht. Aber es war sein persönlicher Entschluß, der von allen andern Führern der Daschnakzagan mißbilligt wurde. Er hatte bis dahin mit ganzer Seele das Programm vertreten, daß das Schicksal des armenischen Volkes an das Schicksal der Türkei gebunden sei und war in seinem Herzen durchaus antirussischer Gesinnung gewesen. Sein impulsives Temperament aber hatte den Stoß, von dem sein Vertrauen getroffen war, nicht überwunden. Er kehrte in den Kaukasus zurück, hat aber niemals ein Gewehr abgeschossen und ist im Kaukasus tätig gewesen, um den Unterhalt der armenischen Flüchtlinge zu organisieren.

Noch eine Sache, die beiläufig auf dem Kongreß zu Erzerum zur Sprache kam, verdient erwähnt zu werden. Von kurdischer Seite war den Daschnakzagan der Vorschlag zugegangen, die Türkei im Stich zu lassen und gemeinsam die Waffen gegen die Regierung zu erheben. Der Vorschlag stammte von bekannten türkischen Kurdenscheichs, die, wie jedermann wußte, in russischem Solde standen und schon längst mit Rußland konspiriert hatten. Ebenso wurde von russischer Seite den Armeniern zugemutet, im Geheimen Waffen an die Kurden zu liefern. Beide Vorschläge wurden von der Schwelle weg abgewiesen. Die Daschnakzagan wollten nichts mit irgend welchen illoyalen Machenschaften und Verschwörungen gegen die Türkei zu tun haben.

Als der Ausbruch des russisch-türkischen Krieges in sicherer Aussicht stand, richtete das Bureau der Daschnakzagan in Konstantinopel an die Zentralkomitees am 10./23. Oktober eine Proklamation folgenden Inhalts:

„Kameraden, wie Sie wissen, hatte der achte Parteitag zu der anberaumten Zeit seine Arbeiten angefangen und beendet. Indem wir die Ausführung unserer Beschlüsse den lokalen Organisationen überlassen, wollen wir hiermit Ihre Aufmerksamkeit auf den Ernst der Lage lenken, in die unser Land infolge des allgemeinen Krieges versetzt wurde. Es ist jetzt mehr als je notwendig, alle Kräfte anzuspannen, um unser Volk vor einem Unglück zu bewahren. Um unsrerseits zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung und Sicherheit beizutragen, muß jeder Anlaß zu irgend welchen Zwischenfällen oder politischen Mißverständnissen unter den verschiedenen Elementen der Bevölkerung vermieden werden.
Indem wir Ihnen ein besonderes Maß von Arbeitskraft in diesen besonderen Zeiten wünschen, senden wir Ihnen unsere freundschaftlichen Grüße.
Das Bureau von Konstantinopel.“

Die weitere Korrespondenz des Bureaus, die bis zur allgemeinen Deportation vorliegt, bewegt sich unentwegt auf der Linie der Loyalität. Die Verbindung mit dem jungtürkischen Komitee, die zur Bestürzung der Führer allmählich abzureißen drohte, wird immer wieder angeknüpft. Nach und nach kommt die Sorge zum Ausdruck, daß die ungeordneten Zustände in den Provinzen und die panislamische Tendenz der Regierung eines Tages Anlässe zu einem Schlage gegen die christlichen Nationalitäten suchen könne. Mit wachsender Beängstigung werden die Symptome registriert, die dieser Befürchtung Recht zu geben scheinen. Jeder denkbare Weg wird beschritten, um die Regierung von der Loyalität der Daschnakzagan zu überzeugen. Die persönlichen Beziehungen der Führer der Daschnakzagan mit den jungtürkischen Führern werden angespannt, um das drohende Verderben aufzuhalten, bis endlich die schmerzliche Überzeugung zum Ausdruck gelangt, daß alle Loyalität und Treue der Daschnakzagan gegen das jungtürkische Komitee umsonst war und daß ihr Vertrauen nur dazu gemißbraucht wurde, um sie über die Absichten der türkischen Regierung zu täuschen.

Die Lektüre dieser Korrespondenz macht einen erschütternden Eindruck. Man sieht, wie sich ein Steinchen auf der Höhe eines Schneefeldes löst, wie der Ball ins Rollen kommt und wächst, bis endlich eine ungeheure Lawine in die blühenden Gefilde des armenischen Volkes niederrast und wahllos Dörfer, Städte, Besitz, Kultur und Menschenleben in einer ungeheuren Katastrophe begräbt.

Es ist notwendig, den Vorgängen, wie sie von Konstantinopel berichtet werden, im einzelnen zu folgen, um einen Einblick in den Zusammenhang der Ereignisse und in Tatsachen zu gewinnen, die, von fern betrachtet, kaum glaublich erscheinen.

Aknuni, ein Mann von hoher Bildung und weitem Horizont, der die gleichen Sympathien bei Türken wie bei Armeniern genoß, und als Führer der konstitutionellen Armenier sichtbar im Vordergrund stand, als Schriftsteller ebenso bedeutend wie als Mensch, war ein persönlicher Freund des allmächtigen Ministers des Innern Talaat Bey. Aknuni besucht Talaat Bey und spricht mit ihm über die Lage der Armenier in der Provinz. Darauf gibt Talaat den telegraphischen Befehl nach Erzerum, daß man die Armenier und insbesondere die Daschnakzagan gut behandeln solle.

„Es gibt in der Tat keine Ursache,“ heißt es nach der Mitteilung über diese Unterredung in der Parteikorrespondenz[25] (29. Sept./12. Okt. 1914), „weshalb die Regierung gegen uns Mißtrauen hegen könnte. Das Gegenteil sollte der Fall sein. Sie wissen, daß unser Kongreß beschlossen hat, daß jeder Armenier seine Pflicht als ottomanischer Untertan erfüllen und sich willig der Mobilmachung unterziehen soll. Wir sind daher berechtigt zu erwarten, daß die Regierung unsere Loyalität anerkennt, denn wir sind bereit, alles, was in unsern Kräften steht, für die Aufrechterhaltung der Unantastbarkeit des Osmanischen Reiches und für die Verteidigung unseres Vaterlandes zu tun.“ (Schon damals waren in den Provinzen vielerlei Unregelmäßigkeiten und Übergriffe gegen die Armenier von seiten der Gendarmerie und der Lokalbehörden vorgekommen. Die Korrespondenz fährt daher fort:) „Bei dem Vorgehen gegen die Armenier im Innern scheint es sich nicht um Maßnahmen der Zentrale zu handeln, sondern um Maßregeln der Lokalbehörden. Wahrscheinlich verdanken wir dieses verfehlte Vorgehen verleumderischen Denunziationen (journals). Es ist traurig, daß dieses System aus der Zeit Abdul Hamids auch in die konstitutionelle Regierung Eingang gefunden hat, was böse Folgen haben kann.“

Einige charakteristische Auszüge aus der Partei-Korrespondenz, die den Lauf der Dinge wiederspiegeln, mögen hier folgen:

7./20. Oktober: „Wir erfahren, daß sich die Lage im Innern von Tag zu Tag verschlimmert. Infolge der allgemeinen Mobilisierung wurde der Belagerungszustand erklärt. Seitdem ist die ganze Lage verändert. Die Armenier haben der Mobilisierung Folge geleistet. Wir haben alles getan, was in unsern Kräften stand, und unsere Ratschläge gegeben, daß jeder Armenier seine Pflichten als ottomanischer Untertan erfülle. Immerhin hat es wie unter den Türken auch unter unserm Volk einige gegeben, die der Mobilisierungsorder nicht gefolgt sind; die Regierung hat sehr strenge Maßregeln gegen sie erlassen: die, welche sich nicht melden, werden damit bestraft, daß ihre Häuser verbrannt werden. Deserteure werden füsiliert. Leider treffen diese Füsiladen auch völlig Unschuldige. Im Wilajet Wan waren fünf solche Fälle. Ähnliches gab es in Cilicien.“

24. November/7. Dezember 1914: „Man hat weder Aknuni noch Scharikian erlaubt, Konstantinopel zu verlassen; man will die Führer der Daschnakzagan in der Hand behalten.“

26. Dezember/8. Januar 1914/15: „Es scheint, daß die Haltung der kaukasischen Armenier die Regierung enttäuscht hat. Man sieht dies aus ihrem Verhalten gegen die Armenier überhaupt und gegen die Daschnakzagan insbesondere. Nun ist es natürlich sehr schwer, unsere türkischen Freunde davon zu überzeugen, daß wir Daschnakzagan nicht nur keinen Anteil an dem Verhalten der russischen Armenier haben, sondern auch überzeugte Anhänger der Erhaltung der Türkei und Gegner der Einverleibung Armeniens in Rußland sind. Wir haben von Wan einen Brief vom 16/29. November erhalten, der die Lage als sehr schwierig schildert. Die Requisitionen haben den Charakter einer Ausplünderung angenommen; die Dörfer werden vollständig ausgeleert. Unter dem Vorwande der Bestrafung von Deserteuren haben die Gendarmen zahllose Häuser niedergebrannt und Güter konfisziert. Gegen die Muhammedaner, bei denen viel mehr Desertionen vorkommen, tut man nichts dergleichen. Neulich hat man alle Räuber amnestiert und bewaffnet. In einigen Orten hat man bekannte Verbrecher aus den Gefängnissen freigelassen und ihnen Waffen gegeben. Die Schritte unserer Kameraden bei der Regierung bleiben fast immer ohne Erfolg.“

Im Januar kommen die ersten Nachrichten über böse Zustände im Wilajet Erzerum. Die Daschnakzagan wenden sich an den Wali Tahsin Bey, der verspricht, binnen zwei Tagen die Missetäter, die in den Dörfern gehaust haben, zu bestrafen. Aber nach zehn Tagen geschieht dasselbe in anderen Dörfern. Die Armenier werden von Türken gewarnt. Zum erstenmal hören sie von dem „Plan einer allgemeinen Metzelei“.

20. Januar/2. Februar: Weitere beunruhigende Nachrichten aus den Wilajets Erzerum und Bitlis. „Hier in Konstantinopel ist das Mißtrauen der Regierung gegen die Daschnakzagan so groß, daß man mit ihr kaum über die Lage sprechen kann.“

20. Februar/5. März: Beunruhigende Nachrichten aus dem Wilajet Wan über Mißhandlungen und Totschläge in den Dörfern durch Gendarmerie und Tschettehs.

27. Februar/12. März: Nachrichten über ein Massaker in den Alaschkertdörfern, die nach dem Rückzug der russischen Armee (seit 22. 12. 14.) von Hamidieh-Kurden geplündert wurden. „Alle in den Dörfern zurückgebliebenen jungen Frauen und Mädchen wurden geraubt und gezwungen, den Islam anzunehmen. Als die Russen Mitte Januar zurückkamen, fürchtete die muhammedanische Bevölkerung wegen ihrer Untaten an der christlichen bestraft zu werden. Sie verließen mit ihren Familien die Dörfer und wurden von der Regierung in der Gegend von Malaskeri und Bulanek in armenischen Dörfern untergebracht. Die Flüchtlinge zählten ungefähr zweitausend Familien. In allen diesen Gebieten sind die Kurden und Tschettehs die einzigen Truppen, über die die Regierung verfügt. Es gibt nicht einen regulären Soldaten. Wären reguläre Truppen dagewesen, das Unglück wäre nicht geschehen. Man hat den Alai-Kurden die Verteidigung des Landes anvertraut. Welch ein ungeheurer Fehler der Regierung! Wahan Papasian (Parlamentsmitglied für Wan) tat Schritte bei der Regierung, daß die Muhadjirs (muhammedanischen Flüchtlinge) nicht in die Ebene von Musch geschickt würden. Der Mutessarif von Musch versprach, sie nach Diarbekir zu schicken, hat aber nicht Wort gehalten.“ Es folgen beunruhigende Nachrichten über die allgemeinen Zustände im Wilajet Wan und Siwas, besonders über Requisitionen und das Schicksal der als Lastträger ausgehobenen Armenier, die vielfältig unterwegs umkommen oder erschlagen werden. Dann kommen die ersten Nachrichten aus Cilicien, Dört-Jol und Hadjin, mit der Schlußfolgerung: „Die Absicht der Regierung scheint darauf hinzugehen, die Armenier aus ihren Zentren zu entfernen. Obwohl wir mit ganzem Herzen unsere Bürgerpflicht erfüllen, mißtraut uns doch die Regierung mit ungerechtfertigtem Zweifel. Hier in Konstantinopel fangen die Türken an, die Stadt zu verlassen und nach Eskischeher und Konia überzusiedeln; falls die Dardanellen forciert werden sollten, soll der Sitz der Regierung nach Konia verlegt werden. Auch das Patriarchat wurde davon benachrichtigt, daß es in diesem Falle mitüberzusiedeln habe.“

2./15. März: „Das Memorandum von Wramjan hat nichts genützt und nur die Regierung gegen ihn eingenommen. so daß sein Leben in Gefahr ist.“

11./24. März: „Aus offiziellen Quellen hören wir, daß es in Zeitun einen Zusammenstoß gab.“ Folgen weitere Nachrichten über Untaten von Gendarmen im Wilajet Bitlis, in Terdjan und Baiburt.

Aus Baiburt wird geschrieben: „Die ganze Bevölkerung lebt unter dem Albdruck eines allgemeinen Massakers. Die Regierung hat Befehl gegeben, daß alle armenischen Soldaten entwaffnet werden sollen. Im Falle auch des unbedeutendsten Anlasses sollen alle niedergemetzelt werden.“

20. März/2. April 1915: Aus den Wilajets Erzerum und Bitlis wird wachsende Beunruhigung über die Plünderungen in den Dörfern und die allgemeine Unsicherheit gemeldet. Die ökonomische Lage der Armenier ist entsetzlich, sie werden allmählich zu Bettlern gemacht. Weder im Frühjahr noch im Herbst konnte man die Felder besäen. „Die Furcht vor einem allgemeinen Massaker hängt über unsem Häuptern. Die Türken sagen zu uns: ,Ihr Armenier seid an dem Unglück dieses Krieges schuld, und wir werden euch vernichten.' Es ist die höchste Zeit, die Aufmerksamkeit auf die Zustände in Armenien zu lenken, sonst werden wir statt eines Armenien bald nur einen Haufen von Ruinen haben.“

In Konstantinopel hatte sich bis dahin nichts ereignet, was befürchten ließ, daß die Regierung gegen das armenische Element in der Hauptstadt einschreiten könnte. Gründe zu einem Mißtrauen gegen die loyale Bevölkerung lagen nicht vor. Ebensowenig hatte man den Führern der Daschnakzagan oder dem Patriarchat etwas vorzuwerfen. Da kam am 18./31. März das erste Anzeichen, daß hinter den Kulissen der Regierung etwas vorging. Das weitere Erscheinen der Tageszeitung „Azatamart“, des Organs der Daschnakzagan, wurde ohne sichtbaren Grund vom Kriegsgericht verboten. Als Vorwand diente ein Artikel über die Verwaltung der protestantisch-armenischen Gemeinden. Einer der Redakteure des Azatamart, der persischer Untertan war, wurde verhaftet und trotz der Intervention des persischen Konsuls ins Innere verschickt.

Noch niemand wußte, was dies Vorgehen zu bedeuten hatte. Nur merkte man, daß die Regierung ein auffallendes Mißtrauen gegen die Armenier hege, für das man Gründe nicht ausfindig machen konnte. Die ungewisse und schwüle Stimmung hielt noch drei Wochen an. Man ahnte nicht, was inzwischen vorbereitet worden war. Da, am Sonntag, den 12./25. April, wurde die armenische Bevölkerung von Konstantinopel von einer fast unglaublichen Kunde überrascht.

Am Sonnabend war seit dem frühen Morgen die ganze Polizei in Bewegung. Nach einer vorbereiteten Liste nahm man den Tag über einzelne Verhaftungen vor. Dann fanden von neun Uhr abends bis Sonntag früh ununterbrochen Verhaftungen statt. Fast alle, im Vordergrunde des öffentlichen Lebens stehenden Armenier, besonders auch die Führer der Daschnakzagan, wurden verhaftet und mit ihren Tresors und Papieren in Automobilen auf die Polizei gebracht. Von Mitternacht an wurde die Redaktion von Azatamart besetzt, alle Insassen verhaftet, das Haus geschlossen. Ein Gendarm bewachte das Tor. Aknuni wurde in seiner Wohnung verhaftet, wo sich gerade auch zwei andere Führer der Daschnakzagan, Wartkes und Heratsch, befanden. Der letztere ging zur Redaktion des Azatamart, wo man ihn auch verhaftete. Am nächsten Morgen waren 235 Armenier, die führenden Männer aus der besten Gesellschaft, in den Händen der Polizei und wurden sofort ins Innere abtransportiert.

Die beiden armenischen Parlamentsmitglieder Wartkes und Sohrab, persönliche Freunde von Talaat Bey und anderen hervorragenden Mitgliedern des jungtürkischen Komitees, hatte man noch auf freiem Fuß gelassen. Sie gingen zu Talaat Bey, um ihn um eine Erklärung der unbegreiflichen Vorgänge zu bitten. Talaat Bey antwortete: „Die Euren sind von den Bergen herabgekommen und haben Wan mit Hilfe der armenischen Stadtbevölkerung besetzt.“ (Die Armenier von Konstantinopel wußten noch nichts von den Vorgängen in Wan, die offenbar am gleichen Tage sofort telegraphisch nach Konstantinopel gemeldet waren und die Verhaftung der armenischen Führer zur Folge hatte. Die Annahme von Talaat Bey, daß auswärtige Armenier nach Wan gekommen seien und die dortigen Ereignisse veranlaßt hätten, war irrtümlich. Vergleiche die eingehende Darstellung in dem Bericht S. 81 ff.) Auf die Frage von Wartkes, warum man denn völlig Unbeteiligte verhafte, antwortete Talaat Bey: „Ich konnte mich dem nicht widersetzen.“ Er gab noch Wartkes den freundschaftlichen Rat, sich nicht öffentlich zu zeigen. Wartkes ging darauf zu dem Polizeichef Bedri Bey und sagte zu ihm: „Soweit habt ihr die Sache kommen lassen.“ Bedri Bey antwortet: „Djanum (meine Seele), was haben wir getan?“ Wartkes: „Ihr geht darauf aus, unser Volk aufzureizen und zur Verzweiflung zu treiben.“ Bedri Bey: „Ich gebe dir drei Tage Zeit, Konstantinopel zu verlassen und dich an einem nur von Türken bewohnten Ort niederzulassen.“ Wartkes: „Meine Frau ist krank, ich brauche wenigstens zehn Tage.“ Bedri Bey: „Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe.“

An anderen Stellen wurde geantwortet, „die Regierung habe zwar keinen bestimmten Verdacht, aber sie fürchte, es könne etwas geschehen, darum habe man aus Vorsicht die Verhaftungen vorgenommen“.

Zu den Verhafteten gehörten die folgenden Personen: Aknuni, allbekannter Publizist und Politiker, Parlamentsmitglied; Zartarian, Redakteur des Azatamart; Chajak, Heratsch, führende Daschnakzagan; Schahbas, Jurist; Schahmil, Jurist; Mowses Pedrosian, Jurist; Scharikian, Advokat; Kalfajan, Bürgermeister von Makriköj; Dr. Daghavarian, Arzt, Vizepräsident der armenischen Nationalversammlung; Dr. Torkomian, Präsident der Ärztegesellschaft, einer der ersten Ärzte von Konstantinopel; Dr. Paschajan, Arzt; Dr. Mirza Gendjian, Arzt; Dr. Nergiledschian, Arzt; Jirair, Verleger; Stepan Kürkdjian, Verleger; Adom Schahin, Druckereibesitzer; Diran Kelekian, Redakteur von „Sabah“; Ketschian, Redakteur von „Byzantion“ (Konservatives armenisches Organ); Gigo und Gawrosch, bekannte Herausgeber humoristischer Blätter; Hamparzumian, Journalist; Djavuschian, Schriftsteller; Tigran Tschögürian, Schriftsteller; Aram Andonian, Publizist: Artasches Harutunian, Kritiker; Jerwand Odian, bekannter Humorist; Siamanto, Dichter: Warujan, Schuldirektor und Dichter; Marsbeduni, Pädagoge[WS 7] (österreichischer Untertan) ; Dr. Barseghian, Gelehrter; Leon Larenz, Novellist; Melkom Gürdjian, Armenist und Schriftsteller (Pseudonym Herant); Aram Tscharek, Dichter; Erzbischof Hemajak; Wartabed Valakian; Wartabed Komitas (beide haben in Deutschland studiert); Wartabed Hovnan; Priester Hussik; Kerowsaljan, protestantischer Pfarrer; Nerses Sakarian, Aram Aschott, bekannte Intellektuelle, des weiteren alle Mitglieder der Klubs von Skutari und Kumkapu. Viele Doktoren, Apotheker, bekannte Priester, kurz alle im Vordergrund stehenden Männer.

Von diesen wurden später 8 wieder freigelassen, darunter der Jurist Pedrosian als bulgarischer Untertan, die Ärzte Dr. Torkomian und Dr. Nergiledschian, der Redakteur Kelekian, der Pfarrer Kerowsaljan und die beiden Wartabeds Balakian und Komitas. Der letztere, ein bekannter Musikgelehrter, soll auf Fürsprache des † Thronfolgers Prinz Jussuf Izzeddin frei gekommen sein. Die Sultanfamilie ist bekanntlich sehr musikalisch.

In der nächsten Zeit folgten methodisch weitere Verhaftungen, so daß im Ganzen gegen 600 armenische Intellektuelle von Konstantinopel ins Gefängnis wanderten. Nur sehr wenige wurden davon auf besondere Fürsprache nachträglich wieder freigelassen und aus dem Verbannungsort zurückgeschickt.

Zugleich mit den Verhaftungen begannen die peinlichsten Nachforschungen und Haussuchungen, die noch geraume Zeit fortgesetzt wurden, in der Hoffnung, irgendwelche Schuldbeweise zu finden, durch die die Verhaftungen nachträglich begründet werden konnten. Sogar in den Schulen von Gedik Pascha, Kumkapu, Jenikapu, Psamatia, in den Kirchen und im Patriarchat wurde alles durchwühlt, in der Hoffnung, irgend etwas zu finden, woraus man einen Schuldbeweis für die Armenier konstruieren konnte. Aber es fand sich nichts. Das Resultat aller Nachforschungen war gleich Null. Wenn man den Maßstab eines Rechtsstaates anlegen will, ein beschämender Beweis für die Grundlosigkeit der Verhaftungen.

Von seiten des Patriarchats und aller Instanzen, die etwa in Frage kamen, wurden Schritte getan, um womöglich noch der Verschickung Einhalt zu tun und Sicherheiten zu erwirken, die einer weiteren Ausdehnung der Maßregel Schranken setzen könnten. Die Verschickung aber nahm unbehindert und ungestört ihren Verlauf. Von führenden Persönlichkeiten waren Sohrab und Wartkes zurückgeblieben.

Der Abgeordnete Sohrab gehörte nicht zu den Daschnakzagan. Er war Parlamentsmitglied für Konstantinopel und stand in nahen persönlichen Beziehungen zu den führenden Männern der türkischen Regierung. Als im März 1909 die jungtürkische Regierung gestürzt worden war und Abdul Hamid wieder das Heft in die Hand bekam, war das Leben der jungtürkischen Führer keinen Pfennig Wert. Damals flüchteten sich die Männer, die gegenwärtig an der Macht sind, in die Häuser ihrer armenischen Freunde. Halil Bey, Minister des Auswärtigen,[26] der heute neben Talaat Bey und Enver Pascha den größten Einfluß besitzt, floh damals in die Wohnung seines Freundes Sohrab, der ihn mit eigner Lebensgefahr 14 Tage bei sich versteckt hielt, bis die Reaktion niedergeworfen und Sultan Abdul Hamid entthront war. Mahmud Schewket Pascha und Talaat Bey hatten sich ebenfalls bei ihren armenischen Freunden versteckt, andere Jungtürken waren in die Redaktion des Azatamart geflüchtet. Auch in den Provinzen fanden die Jungtürken bei den Armeniern Schutz vor ihren reaktionären Feinden. In Erzerum brachten die Daschnakzagan die jungtürkischen Führer in die Konsulate und in ihre Häuser, und als ein Teil von ihnen gefangen nach Baiburt transportiert wurde, eskortierten die Daschnakzagan den Transport, um ihre politischen Freunde vor einem Überfall zu schützen. Obwohl sich inzwischen in den freundschaftlichen Beziehungen zwischen Jungtürken und Daschnakzagan nichts geändert hatte, waren jetzt alle diese Dienste vergessen und die damaligen Lebensretter wurden gleich allen andern führenden Armeniern in die Verbannung geschickt. Der Abgeordnete Sohrab hatte auch sonst sich als wertvoller[WS 8] Mitarbeiter der jungtürkischen Regierung erwiesen. Als hervorragender Jurist wurde er von den Führern der Regierung um die Ausarbeitung von Gesetzentwürfen gebeten, auch in der Kammer war er unermüdlich in den Kommissionen tätig. Auch Wartkes[27], Parlamentsmitglied für Erzerum, der unter Abdul Hamid 7½ Jahre im Gefängnis war, war ein persönlicher Freund der führenden Männer. Ihren persönlichen Beziehungen zu Talaat Bey dankten es die Abgeordneten Sohrab und Wartkes, daß sie zunächst noch nicht verschickt wurden.

Bei der Schließung des Redaktionslokales der Zeitung Azatamart war der Kassenbestand von 450 türkischen Pfund und alles vorrätige Papier beschlagnahmt worden. Da nicht nur die Redakteure, sondern auch alle Setzer, der Portier und alle Leute, die zufällig im Hause waren, verhaftet und verschickt worden waren, wünschte man wenigstens so viel zu erreichen, daß das beschlagnahmte Geld zu Gunsten der Familien der Redakteure und Angestellten der Zeitung verwendet werden möchte. Talaat Bey versprach, die Sache zu regeln. Wegen dieser und ähnlicher Verhandlungen blieben Sohrab und Wartkes noch mit den Männern der Regierung in Verbindung. Sie versuchten auch das Los der Verschickten zu erleichtern.

Als Verschickungsort der 600 Notabeln von Konstantinopel waren drei nur von Muhammedanern bewohnte Plätze in der Nähe von Angora bestimmt worden. Die Männer, die bisher politisch tätig gewesen waren, wurden nach dem Dorf Ajasch bei Angora geschickt, die mehr unpolitischen Intellektuellen nach Tschangri (einem Städtchen zwischen Angora und Kastamuni) und nach Tschorum (zwischen Tschangri und Amasia). In Angora sollte ein Kriegsgericht gebildet werden, um über die Verschickten abzuurteilen. Später scheint man, da sich kein Material zu Anklagen fand, von einem Rechtsverfahren Abstand genommen zu haben. Dagegen beschloß man, die hauptsächlichsten Führer noch weiter ins Innere zu transportieren, über Adana und Aleppo bis nach Diarbekir.

Wartkes und Sohrab blieben zunächst noch in Konstantinopel. Kam Wartkes zu seinen jungtürkischen Freunden, so hieß es: „Warum kommen Sie nicht öfter?“ Es schien, als ob man auf freundschaftlichem Wege noch etwas erreichen könnte. Vielleicht war die Verschickung der Intellektuellen nur eine Vorsichtsmaßregel gewesen. Die jungtürkischen Führer hatten Grund, ein schlechtes Gewisien gegenüber ihren armenischen Freunden zu haben. Versprechungen, die sie in der Zeit der Not gemacht hatten, waren nicht gehalten worden, und die Reformen wurden in dem Augenblick, wo sie verwirklicht werden sollten, wieder rückgängig gemacht. Vielleicht schlossen die Jungtürken von sich auf ihre armenischen Freunde und dachten, daß sie in solchem Falle ihren politischen Kameraden die Treue nicht gehalten, sondern auf Rache gesonnen hätten. So mochte das Vorgehen gegen die Daschnakzagan aus dem schlechten Gewissen der jungtürkischen Führer erklärbar sein. Da aber die Daschnakzagan ein gutes Gewissen hatten, versuchten sie immer noch, die Männer der Regierung von ihrem Irrtum zu überzeugen, ohne zu verhehlen, wie sehr sie sich durch das Vorgehen ihrer Freunde gegen sie persönlich verletzt fühlten. Noch am 1. Mai schrieb Wartkes an seine Parteifreunde: „Das Unglück unserer Kameraden hat uns gelehrt, daß unsere loyale Haltung der Regierung gegenüber völlig vergeblich gewesen ist. Vielleicht kann man die Maßregel, wenn auch nicht verhindern, so doch wenigstens mäßigen. Wir bemühen uns, die Regierung davon zu überzeugen, daß wir keine separatistischen Bestrebungen haben und keine andere Souveränität als die des Sultans wünschen. Wir sehen deutlich, daß die Regierung nicht davon überzeugt ist, wir hätten eine revolutionäre Bewegung gegen sie organisiert und seien ihre Gegner. Sie ist beinahe vom Gegenteil überzeugt, denn die Haussuchungen und Nachforschungen, bei denen nichts gefunden wurde, waren ein vollständiges Fiasko. Nur die Ereignisse in Wan und Siwas (Schabin-Karahissar) haben sie irre gemacht, so daß sie eine allgemeine Bewegung zu fürchten schien. In den Provinzen wird die Lage immer schlimmer. Wir können ihnen auf keine Weise begreiflich machen, daß alles, was im Innern vorgeht, das Ergebnis der schlechten Aufführung ihrer Beamten ist. Die Erklärung des Belagerungszustandes hat die Bedingungen dafür geschaffen, und der allgemeine Kriegszustand hat die Beamten in die Lage gesetzt, straflos alles zu tun, was ihnen beliebt.“

Am 12. Mai besuchte Wartkes Talaat Bey in seinem Hause. Talaat Bey war nicht imstande, irgendwelche revolutionären Pläne der Daschnakzagan als Ursache der Verschickung geltend zu machen. Bezeichnenderweise griff er auf die früheren Reformbestrebungen der Armenier, die ja auch die Ursache der Massakers unter Abdul Hamid gewesen waren, zurück.[28]

Talaat sagte zu Wartkes: „In den Tagen unserer Schwäche“ (nach der Rückeroberung von Adrianopel!) „seid ihr uns an die Kehle gefahren und habt die armenische Reformfrage aufgeworfen. Darum werden wir die Gunst der Lage in der wir uns jetzt befinden, dazu benutzen, euer Volk derart zu zerstreuen, daß ihr euch für fünfzig Jahre den Gedanken an Reformen aus dem Kopf schlagt!“ Wartkes erwiderte darauf: „Also beabsichtigt man das Werk Abdul Hamids fortzusetzen?“ Talaat antwortete: „Ja.“.

Am 21. Mai besuchte Wartkes den Chef der Polizei Bedri Bey, um die in der Redaktion der Zeitung Azatamart beschlagnahmten Gelder in Empfang zu nehmen und ein Wort für die Kranken unter den Verschickten einzulegen. In seiner Abwesenheit drangen 15 Polizisten in sein Haus ein, um dort eine Haussuchung vorzunehmen. Zur selben Zeit wurde der Abgeordnete Sohrab in seinem Hause verhaftet.

Weder Wartkes noch Sohrab kamen zu den Ihrigen zurück. Sie wurden in der Nacht nach Konia abtransportiert.

Von Ajasch richteten die verhafteten Führer der Daschnakzagan an Talaat Bey folgendes Schreiben:

„Die Organisation (der Daschnakzagan), die alle ihre Bemühungen mit den Ihrigen vereinigt hatte, um an der Wohlfahrt und dem Fortschritt des Reiches zu arbeiten, befindet sich heute in einer so befremdlichen und unbegreiflichen Lage, daß diese Tatsache allein für Sie hätte genügen müssen, um diesem beschämenden Zustande ein Ende zumachen. Man sollte bedenken, daß ein derartiges Verhalten der türkischen Regierung gegenüber der Vertretung des armenischen Volkes die Beziehungen zwischen den beiden Nationen stören und die beiden Volkselemente einander entfremden muß. Wir hätten uns nie träumen lassen, daß wir nach unserer gemeinsamen Arbeit eines Tages gezwungen sein würden, von hieraus telegraphisch mit Ihnen zu verhandeln.

Aknuni.     Zartarian.     Dr. Paschajan.“

Die Führer der Daschnakzagan waren immer noch der irrigen Meinung, daß es sich bei all dem, was vorgegangen war, um etwas wie einen Irrtum handeln müsse. Aber die Gründe, mit denen die Daschnakzagan die Regierung von der Unnatürlichkeit und der Unvernunft ihres Vorgehens zu überzeugen suchten, konnten keinerlei Eindruck mehr erzielen. Die Vorstellung, daß „die Beziehungen“ zwischen Türken und Armeniern „gestört“ werden würden, konnte die Regierung wirklich nicht rühren, da sie ja die Absicht hatte, das ganze armenische Volk zu zerstören, so daß von Beziehungen überhaupt nicht mehr die Rede sein konnte. Es war aber begreiflich, daß die Armenier, da sie sich keiner Illoyalität gegen die Regierung bewußt waren, erst aus ihren Illusionen herausgerissen wurden, als durch die allgemeine Deportation klar geworden war, welchen Sinn die Verschickung der Intellektuellen von Konstantinopel und die gleichzeitigen Verhaftungen von Notabeln in allen Zentren des Innern hatte.

Da man sich von verschiedenen Seiten für Wartkes und Sohrab verwendete, wurde ihren Angehörigen versprochen, beide wieder zurückzurufen. Die Verwendung hatte aber nur die Folge, daß Wartkes und Sohrab von Konia nach Adana, von Adana nach Aleppo und von Aleppo nach Diarbekir weitertransportiert wurden. Eines Tages wurde der Frau von Sohrab telephonisch von der Pforte mitgeteilt, ihr Mann sei gestorben. Von Wartkes wurde behauptet, er habe sich das Leben genommen.12) Über das Schicksal der übrigen Intellektuellen von Konstantinopel hat man nichts mehr gehört.

Das Damoklesschwert der Verschickung hing über den Armeniern der Hauptstadt.

Am 29. April wurde die armenische Bevölkerung von Konstantinopel aufgefordert, alle Waffen abzuliefern, was ohne Zwischenfall oder Störung der Ordnung innerhalb zehn Tagen geschah. Während des Balkankrieges hatte man nur Gewehre und Revolver abverlangt, jetzt auch alle harmlosen Antiquitäten und Raritäten, Yatagans, Messer und dergleichen. Die Waffen wurden registriert und Quittung dafür erteilt. Trotz gründlichster Haussuchungen wurden nirgends kompromittierende Papiere gefunden und ebensowenig die eifrig gesuchten Bomben. Doch nein, bei einem Krämer fand man alte Eisenkugeln aus der Zeit Muhammeds des Eroberers, die er als Gewichte für seine Wage gebrauchte. Er wurde sofort wegen des Besitzes von Bomben verhaftet.

Da von seiten der Botschaften wiederholt der Pforte die ernstesten Vorstellungen wegen der Maßregeln gegen die Armenier gemacht worden waren, nahm man von einer Ausdehnung der Deportationsmaßregel auf die armenische Bevölkerung von Konstantinopel und Smyrna Abstand. In der Stille aber wurde auch die Verschickung von Konstantinopeler Armeniern fortgesetzt. Im ganzen sollen gegen 10 000 abgeschoben worden sein, von deren Verbleib man nichts erfahren hat.

Auch die Bemühungen, nachträglich Schuldbeweise für die verhafteten Daschnakzagan zu entdecken, wurden fortgesetzt. Man wollte die Führer der Daschnakzagan, da man ihnen sonst nichts vorwerfen konnte, mit den Vorgängen in Wan in Verbindung bringen, von denen sie überhaupt nichts wußten. Da Beweise nicht vorhanden waren, wurde ein armenischer Kaufmann, Aghadjanian aus Erzerum, Protestant, der als Importeur in Konstantinopel lebte und mit nach Ajasch gebracht worden war, nach Konstantinopel zurücktransportiert. Im Gefängnis legte man ihm ein Dokument vor, in dem er aussagen sollte, daß die deportierten Abgeordneten und Daschnakzaganführer Sohrab, Wartkes, Aknuni, Hajak, Minassian, Daghavarian, Djanguljan eine Revolution vorbereitet, Aufstände in Wan und Zeitun organisiert und alle Fäden in ihrer Hand gehabt hätten. Durch die Folter versuchte man ihn zu zwingen, das Dokument zu unterschreiben. Als er sich standhaft weigerte, Aussagen zu unterschreiben, die, wie er wußte, vollständig erlogen waren, wurde die Folterung mehrere Tage fortgesetzt. Endlich soll er nach drei Wochen, nachdem er durch die Qualen halb um seinen Verstand gekommen war, ein anderes Schriftstück unterschrieben haben, das Aussagen gegen Sohrab und Wartkes enthielt.


6. Die türkische Darstellung.


Eine Revolution, noch dazu, wie behauptet wird, eine „das ganze armenische Volk umfassende Revolution“ konnte nicht improvisiert werden, sie hätte von einer das armenische Volk umfassenden Organisation vorbereitet und ins Werk gesetzt werden müssen. Die beiden Organisationen, die kirchliche und die politische, die hierfür in Frage kamen, haben, weit entfernt an eine Auflehnung gegen die türkische Regierung zu denken, ihr Äußerstes getan, um der Regierung ihre Loyalität zu beweisen und das gemeinsame Vaterland zu verteidigen. Auch der Bericht über die Tatsachen hat nirgends den Beweis an die Hand gegeben, daß die Armenier durch ihr Verhalten die Vernichtung ihres Volkstums verschuldet oder Maßregelungen irgend welcher Art provociert hätten.

Fragen wir also dir Türken selbst, soweit sie sich zur armenischen Sache geäußert haben. Es liegen einige mehr oder weniger offizielle Communiqués vor, die durch das Wolffsche Telegraphenbureau und die Presse verbreitet worden sind. Sie stellen das einzige Material dar, aus dem sich die öffentliche Meinung in Deutschland ein Urteil bilden konnte. Ihre Zahl ist gering. Bis auf das erste begnügen sie sich damit, auf Grund eines oder des anderen Falles, dessen Ursprünge nicht aufgehellt werden, allgemeinere Schlüsse zu ziehen. Untersuchen wir die Tatsachen, die von türkischer Seite zur Sprache gebracht worden sind.

Das erste türkische Communiqué.
W.T.B. Konstantinopel, d. 4. Juni 1915:

Am 24. Mai hatte die „Agence Havas“ folgende, von den Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und Rußlands im gegenseitigen Einverständnis beschlossenen Erklärungen veröffentlicht:

„Seit ungefähr einem Monat begeht die türkische und kurdische Bevölkerung Armeniens unter Duldung und oft mit Unterstützung der osmanischen Behörden Massenmorde unter den Armeniern. Solche Massenmorde haben um die Mitte des April in Erzerum, Terdschan, Egin, Bitlis, Musch, Sassun, Zeitun und in ganz Cilicien stattgefunden. Die Einwohner von ungefähr hundert Dörfern in der Umgebung von Wan sind alle ermordet, und das armenische Viertel ist von den Kurden belagert worden. Zur selben Zeit hat die osmanische Regierung gegen die wehrlose armenische Bevölkerung in Konstantinopel gewütet. In Anbetracht dieses neuen Verbrechens der Türkei gegen Menschlichkeit und Zivilisation geben die alliierten Regierungen der Hohen Pforte öffentlich bekannt, daß sie alle Mitglieder der türkischen Regierung sowie diejenigen ihrer Beauftragten, die an solchen Massenmorden beteiligt sind, in Person verantwortlich machen.“

Die Antwort der kaiserlich türkischen Regierung (W.T.B. Konstantinopel, 4. Juni) stellt die einzige umfangreichere Kundgebung über die Lage des armenischen Volkes seit dem Kriegsausbruch dar. Sie richtet ihre Spitze nicht gegen das armenische Volk, sondern gegen die Ententemächte. Es wird ausdrücklich erklärt, daß die Maßregeln der türkischen Regierung „keineswegs eine gegen die Armenier gerichtete Bewegung darstellen“. Ebenso wird den Armeniern von Erzerum, Terdjan, Egin, Sassun, Bitlis, Musch und Cilicien das Zeugnis ausgestellt, „daß sie keine Handlungen begangen hätten, die die öffentliche Ruhe und Ordnung hätte stören können“ und festgestellt, daß diese Armenier (im Gegensatz zur Behauptung der Ententeregierungen) „keinerlei Maßregeln der Kaiserlichen Behörden unterworfen“ worden seien. Das Letztere hatte die Note der „Agence Havas“ eigentlich nicht gesagt. Sie hatte nur gesagt, daß die türkische und kurdische Bevölkerung Armeniens um die Mitte des April unter Duldung und oft mit Unterstützung der osmanischen Behörden Massenmorde begangen habe, was für gewisse Gebiete der Wilajets Wan und Erzerum zutrifft. Zur Zeit der Abfassung der Note (4. Juni) war aber die Gesamtdeportation bereits beschlossen und in Cilicien schon ausgeführt worden. Stellen wir fest, was die türkische Regierung den Ententeregierungen vorwirft.

Es sind zunächst allgemeine Beschuldigungen: 1. „Daß die Beauftragten des Dreiverbandes, insbesondere diejenigen Rußlands und Englands jede Gelegenheit benützen, die armenische Bevölkerung zum Aufruhr gegen die kaiserliche Regierung anzustiften.“

Diese allgemeine Beschuldigung wird folgendermaßen spezifiziert:

1. Die Konsuln der Ententemächte und andere von ihnen Beauftragte hätten „in Bulgarien und Rumänien junge türkische Armenier über Warna, Sulina, Constantza usw. nach dem Kaukasus geschickt, und die russische Regierung habe sich nicht gescheut, diese jungen türkischen Armenier entweder in ihre Armee einzureihen oder sie, mit Waffen, Bomben und umstürzlerischen Aufrufen und Programmen versehen, in die armenischen Hauptorte des türkischen Reiches zu senden. Sie sollten in diesen Hauptorten eine geheime umstürzlerische Organisation schaffen und die Armenier dieser Gegenden, insbesondere diejenigen von Wan, Schattach, Hawasur, Kewach und Timar aufreizen und sich mit den Waffen in der Hand gegen die kaiserliche Regierung erheben. Zugleich sie dazu verleiten, die Türken und Kurden zu ermorden“.
Das Gebiet, das namhaft gemacht wird (Wan, Schattach, Hawasur, Kewach und Timar) ist ein kleiner Winkel an der Südostecke des Wansees. Was dort vorgegangen ist, haben wir geschildert. Die armenischen Dörfer dieses kleinen Gebietes standen, soweit sie politisch organisiert waren, unter der Leitung der Daschnakzagan in Wan. Hätte man hier erst eine Organisation schaffen wollen, (die ja vorhanden war), so hätte man dazu sicher nicht türkische Armenier über Bulgarien und Rumänien kommen lassen. Da hätten es die 1½ Millionen Armenier im benachbarten Kaukasus näher gehabt. Es handelt sich also in der türkischen Mitteilung um eine Kombination weit auseinander liegender Dinge. Die vereinzelten Armenier, die über Bulgarien und Rumänien in den Kaukasus gegangen sind – es waren größtenteils russische Armenier – zählen unter den 1½ Millionen Kaukasus-Armeniern überhaupt nicht.

Die türkische Mitteilung weiß denn auch von einem Erfolg dieser angeblichen Sendlinge nichts zu berichten. Als Beispiel wird nur

2. die Tätigkeit des früheren Abgeordneten Witoman Karikin Pasdermadschian, bekannt unter dem Namen „Armen Garo“ gekennzeichnet, „der in die von den armenischen Bandenführern Tro und Hedscho gebildete Bande eintrat“. „An der Spitze von armenischen Freiwilligen, die von Rußland bewaffnet waren, zerstörte er, als Bajasid von den Russen besetzt wurde, alle türkischen Dörfer, die er auf seinem Weg fand, und ermordete die Einwohner. Als die Russen aus dieser Gegend verjagt wurden, wurde er verwundet. Gegenwärtig ist er mit seiner Bande an der kaukasischen Grenze tätig. Die in Amerika erscheinende Zeitung Asparez hat seine Photographie veröffentlicht, auf der er zusammen mit Tro und Hedscho abgebildet ist, wie sie eben den feierlichen Eid vor dem Auszug in den Krieg leisten.“[29]
Es ist allen türkischen Mitteilungen eigentümlich, daß sie die Öffentlichkeit darüber im Unklaren lassen, daß die anderthalb Millionen russischer Armenier pflichtgemäß auf russischer Seite kämpfen müssen. Es wird der Schein erweckt, daß die in die russische Armee oder in russische Freischaren eintretenden Armenier verräterischer Weise gegen ihr türkisches Vaterland kämpfen, während sie wohl oder übel für ihr russisches Vaterland kämpfen mußten. Nehmen wir selbst an, daß die Angaben über die Tätigkeit von Garo Pasdermadschian, über die wir bereits Seite 180 berichtet haben, richtig seien, so könnten sie billigerweise nur vom russischen Standpunkt aus beurteilt werden. Wenn es mit der Zerstörung türkischer Dörfer im Gebiet von Bajasid seine Richtigkeit hätte, so würde es sich um kriegerische Handlungen der russischen Armee handeln. Die Dörfer dieser Gegend aber sind zum größten Teil von Armeniern bewohnt, und diese armenischen Dörfer waren bereits vor dem Einmarsch der Russen von türkischen und kurdischen Banden geplündert, die Männer massakriert und die Frauen und Mädchen weggeschleppt worden. Es würde sich also um Vergeltungsmaßregeln handeln. Da aber die Türken überall, bevor die Russen kamen, ihre Dörfer verließen und sich hinter die türkische Front zurückzogen, ist nicht anzunehmen, daß hier eine nennenswerte Zahl von Türken umgekommen ist. Der eine Fall Pasdermadschian ist als einziger Beweis für die allgemeine Behauptung der Anstiftung umstürzlerischer Handlungen seitens der Ententeregierungen nicht glücklich gewählt, denn es handelt sich um einen wohlhabenden und selbstbewußten Armenier, der für das, was er tat oder nicht tat, keiner Anstiftung bedurfte und für Dollars und Rubel unzugänglich ist.

3. Nachdem im allgemeinen gesagt war, daß die Armenier „von Cilicien überhaupt keine Handlung begangen hatten, die die öffentliche Ordnung und Ruhe hätte stören oder Maßregeln der Regierung erforderlich machen können“ (ein Zeugnis des Wohlverhaltens, das um so schwerer wiegt, da zur Zeit seiner Ausstellung, am 4. Juni die armenische Bevölkerung von Cilicien schon so gut wie völlig deportiert war), werden die englischen Behörden von Cypern beschuldigt, „Armenier in die Umgebung von Alexandrette gebracht zu haben, die unter anderm einige Züge zur Entgleisung gebracht hätten“. Genannt werden die Armenier „Toros-Oglu und Agob, bei denen Papiere gefunden wurden, die unzweifelhaft den angestrebten verbrecherischen Zweck beweisen“. Sodann werden die Kommandanten der englisch-französischen Seestreitkräfte beschuldigt, „mit den Armeniern der Gegend von Adana, Dört-Jol, Jumurtalik, Alexandrette und anderen Küstenorten in Verbindung getreten zu sein und diese zum Aufruhr aufgestachelt zu haben“. Daß ihnen dieses gelungen sei, wird nicht behauptet. Zuletzt werden die Armenier von Zeitun erwähnt, „die sich gegen die kaiserlichen Behörden erhoben und die Residenz des Gouverneurs umzingelt hätten“. Über die Vorgänge in Zeitun haben wir uns bereits unterrichtet. (Vgl. Seite 4 bis 10.) In Zeitun handelte es sich um etwa 20 Armenier, die eines Mädchens wegen mit türkischen Gendarmen in Konflikt gerieten. Dieser Fall wurde mit der Deportation der 20 000 Armenier von Zeitun und Umgebung bestraft. Die völlig vereinzelten Spionageakte im Küstengebiet wurden mit der Deportation der gesamten armenischen Bevölkerung von Cilicien in Zahl von mehr als 100 000 Armenier geahndet. Von der Unterdrückung einer Revolution kann nicht die Rede sein. Die Bevölkerung war längst entwaffnet, die Männer waren ausgehoben. Die Frauen, Kinder und Greise sind wie eine Schafherde in die Wüste getrieben
worden. Die Bestrafung einzelner landesverräterischer Handlungen, noch dazu im Kriege, versteht sich von selbst. Ebenso wie die Bestrafung von Deserteuren, die sich dem Heeresdienst entziehen. Die Deportationen einer Bevölkerung kann man damit nicht begründen. Darum schweigt auch das Communiqué von der bereits erfolgten Deportation.
4. Es folgt der Versuch, einen Beweis zu erbringen, daß von der Entente die Armenier zu einem Aufstande verleitet werden sollten, der unter dem Schutz der französischen, englischen und russischen Regierung von revolutionären Komitees im Auslande geplant worden sei. Da hierbei auf den Kongreß der Hintschakisten, der vor 2½ Jahren in Constantza stattfand, Bezug genommen wird, kann es sich nur um das Komplott der türkischen Opposition handeln, das von Scherif Pascha, Sabaheddin, Oberst Zadik und Ismail von Gümüldschina geplant und bereits vor dem Ausbruch des europäischen Krieges aufgedeckt worden war. In dieses Komplott, dessen Geschichte wir Seite 165 ff. erzählt haben, waren einige Hintschakisten verwickelt. Da die türkischen Hintschakisten die Beschlüsse des Kongresses von Constantza abgelehnt hatten, unterläßt das türkische Communiqué nicht hinzuzufügen, „daß der Kongreß öffentlich den Anschein erwecken wollte, als hätte er auf die aufständische Bewegung verzichtet“. Die türkischen Hintschakisten hatten in der Tat darauf verzichtet. Da es sich bei diesem Komplott um ein von der türkischen Opposition gegen die gegenwärtige türkische Regierung geplantes Komplott handelte (und nicht um die Anstiftung einer armenischen Revolution) unterläßt auch das türkische Communiqué nicht, noch das Folgende hinzuzufügen: „Die englischen, französischen und russischen Drahtzieher haben sich nicht damit begnügt, den Aufstand der Armenier (?) auf diese Weise vorzubereiten, sie haben auch versucht, die muselmanischen Bevölkerungsteile
ebenfalls gegen die Regierung Seiner Majestät des Sultans zu empören. Um diesen Zweck zu erreichen, haben sie sogar die Ausführung persönlicher Verbrechen organisiert, wofür die Beweise in den Händen der Hohen Pforte sind. Diese unqualifizierbaren Umtriebe sind selbst in den ältesten und von Handlungen der Grausamkeit am meisten befleckten Zeiten nicht mehr beobachtet worden“. (Sollte diese Charakteristik nicht zutreffender auf die vernichtenden Maßregeln anzuwenden sein, die die türkische Regierung gegen das armenische Volk zur Ausführung gebracht hat, als auf ein mißlungenes von Türken angestiftetes Komplott, dessen „Beweise“ unter dem Titel „Eine politische Komödie“ (!) vom Tanin veröffentlicht wurden?)


5. Um den Eindruck zu erzeugen, daß etwas wie eine armenische Revolution geplant gewesen sei, wird noch berichtet, daß bei Untersuchungen in den Wohnungen der Revolutionäre revolutionäre Fahnen und wichtige Dokumente über den beabsichtigten Aufstand, sowie über die separatistischen Ziele der Bewegung gefunden seien, und daß in den Provinzen bei den Armeniern Tausende von russischen Gewehren und Bomben entdeckt worden seien. Auf diese Funde von Fahnen (es handelt sich um das bekannte Parteiwappen der Daschnakzagan, das seit Begründung der Konstitution in allen armenischen Klubs öffentlich aushing), Dokumenten und Waffen werden wir noch zurückkommen. Die Pforte versprach „zur geeigneten Zeit alle diese Dokumente einzeln zu veröffentlichen, um die öffentliche Meinung aufzuklären“. Mit Ausnahme der Publikation des „Tanin“ ist bis jetzt nichts derart geschehen.13)

Eine besondere Beachtung verdienen diejenigen Ausführungen des türkischen Communiqués, welche sich auf die Bestrafung von landesverräterischen Akten und umstürzlerischen gegen die Reichseinheit gerichteten Bewegungen beziehen. Es wird ausdrücklich betont, daß die Verhaftung revolutionärer Armenier, die mit revolutionären Komitees im Auslande und mit Agenten des Dreiverbandes in Verbindung standen, (wie es bei den in das Komplott der türkischen Opposition verwickelten vier Hintschakisten der Fall war), in allen Formen des Rechtes vor sich gingen. Es wird mitgeteilt, daß „gewisse Armenier von ihren Wohnorten weggeschafft werden mußten, weil sie im Kriegsgebiet wohnten und ihre Anwesenheit daselbst der Regierung in Anbetracht der vorgefallenen Ereignisse eine gewisse Unruhe im Hinblick auf die nationale Verteidigung einflößte“. Sicherlich ist niemand auf den Gedanken gekommen, daß mit dem Ausdruck „gewisse Armenier“ das ganze armenische Volk der Türkei gemeint sei, und daß das „Kriegsgebiet“, aus dem die Armenier weggeschafft werden mußten, ganz Kleinasien, Armenien, Cilicien, Nordsyrien und Mesopotamien umfaßte. Aber es wird ausdrücklich betont, daß alle diese Maßregeln „ohne die geringste Beteiligung irgendwelcher Elemente der Bevölkerung“ durchgeführt worden seien, und daß die Aufstandsbewegung der Armenier, für deren Existenz das Communiqué selbst nur das eine Beispiel der Tätigkeit von Pasdermadschian und den Fall von Zeitun bringt, „unterdrückt wurde, ohne daß Massenmorde stattgefunden hätten“. Obwohl die allgemeine Deportation des armenischen Volkes bereits beschlossen war, wird ausdrücklich versichert: „Diese Maßregeln stellen keineswegs eine gegen die Armenier gerichtete Bewegung dar, was schon daraus hervorgeht, daß von den 77 835 Armeniern Konstantinopels nur 235 der Mitschuld an der aufständischen Bewegung bezichtigt und verhaftet worden sind, während die anderen in Ruhe ihren Geschäften nachgehen und sich der größten Sicherheit erfreuen“.

Die genannten Zahlen sind interessant. 235 Konstantinopeler Intellektuelle waren bereits in der Nacht vom 24. auf den 25. April verhaftet worden. Die 300 bis 400, die ihnen folgten, werden nicht erwähnt. Auch ist es unrichtig, daß die Konstantinopeler Intellektuellen „der Mitschuld an einer aufständischen Bewegung bezichtigt worden seien“. Unter vier Augen gestand man, „daß man keinen bestimmten Verdacht habe, und daß es sich nur um eine Vorsichtsmaßregel handle“.14) Auch nachträglich wurden keine Beweise revolutionärer Absichten oder Handlungen beigebracht. Die Zahl der Armenier in Konstantinopel wird gewöhnlich auf ca. 150 000 Gregorianer, 10 000 Katholiken und 1000 Protestanten angegeben. Dies entspricht einer älteren Statistik des armenischen Patriarchates. Neuerdings wurde die Zahl der Armenier von Konstantinopel auf mindestens 180 000 eingeschätzt. Die Zahl von 77 835 scheint also bereits mit einem Abgang von 100 000 Armenier gerechnet zu haben. Sollte damit vorweggenommen werden, daß nach der Durchführung der Maßregeln nur noch so viel Armenier in Konstantinopel übrig bleiben würden? Oder handelt es sich nur um ein in der türkischen Statistik übliches Verfahren, die Zahl der den christlichen Nationalitäten angehörigen Untertanen etwa um die Hälfte zu reduzieren und die muhammedanische Bevölkerung dementsprechend zu erhöhen?

Die übrigen Ausführungen des Communiqués, die gegenüber den unmenschlichen Grausamkeiten, die sich seinerzeit Engländer, Franzosen und Russen in Ägypten, Indien, Marokko und im Kaukasus hätten zuschulden kommen lassen, die Humanität der Türkei ins hellste Licht rücken, können wir auf sich beruhen lassen. Uns interessiert daran nur, daß die türkische Regierung versichert, daß sie „die Abwehrmaßregeln, zu denen sie sich genötigt sah, mit der größten Mäßigung und Gerechtigkeit angewandt“ habe.

Das zweite türkische Communiqué
W.T.B. Konstantinopel, den 17. Juni 1915

enthält eine Bekanntmachung des Platzkommandos von Konstantinopel, die in den Konstantinopeler Blättern veröffentlicht wurde. Die Bekanntmachung betrifft die Hinrichtung der 21 Hintschakisten auf dem Platz vor dem Kriegsministerium. Vier von diesen Hintschakisten waren in das Komplott der türkischen Opposition, dessen Geschichte wir dargestellt haben, verwickelt. Die übrigen wurden als Hintschakisten mitgehenkt. Das türkische Komplott geht auf zwei Jahre zurück, war vor dem Beginn des europäischen Krieges bereits aufgedeckt worden und die vier Hintschakisten saßen bereits vor Kriegsbeginn im Gefängnis (Vergl. Seite 165 ff.) Mit dem armenischen Volke und den Kriegsereignissen hat das Komplott nichts zu tun. Vor dem Kriege war auch die Partei der Hintschakisten in der Türkei geduldet. Nach dem Kriegsausbruch genügte der Nachweis der Parteizugehörigkeit, um ein Todesurteil zu begründen.

Das dritte türkische Communiqué
W.T.B. Konstantinopel, den 29. Juni 1915
berichtet zuerst von einem Vorstoß gegen die kaukasische Front und von einer Vorwärtsbewegung der türkischen Truppen „in der Gegend von Wan“. Daß der östliche Zipfel des Wilajets Erzerum und der größere Teil des Wilajets Wan, das Gebiet nördlich, östlich und südöstlich des Wansees zu der Zeit in den Händen der Russen war, konnte man aus den türkischen Kriegsberichten nicht ersehen. In dem zweiten Abschnitt des Communiqués werden Russen und Armenier einer abscheulichen Schandtat gegen Frauen, die vergewaltigt und ermordet worden seien, beschuldigt. Die Schandtat wird folgendermaßen dargestellt:
„Vor kurzem griffen russische Abteilungen und armenische Banden im Dorfe Assulat, Bezirk Nevruz, eine größere Zahl Auswanderer an, töteten alle Männer und sperrten dann etwa 600 Frauen und Kinder in ein großes Haus ein; von diesen haben die russischen Offiziere zuerst, was sie zur Befriedigung ihrer Gelüste gut fanden, ausgesucht und den Rest von armenischen Banden durch Bajonettstiche ermorden lassen.“

Der Bezirk Nevruz (soll heißen Norduz) ist eine kurdische Kasa (Kreis) südöstlich des Wansees. Die „Auswanderer“ (Muhadjirs) waren Kurden, die vor den russischen Truppen, die in das obere Zabtal eingedrungen waren, mit der auf dem Rückzug befindlichen türkischen Armee von Chalil Bey geflüchtet waren. Ein Haus, das 600 Menschen fassen kann, gibt es in kurdischen Dörfern nicht. Die Vermutung liegt nahe, daß die Zahl 600 eine Null zu viel hat. In jedem Falle handelt es sich, wenn die Sache richtig ist, um eine Schandtat russischer Offiziere und, soweit Armenier in Betracht kommen, um russische Armenier und um die Ausführung eines Befehles russischer Offiziere. Die türkischen Armenier haben mit dieser Sache nichts zu tun. An diesen Bericht schließen sich die folgenden beiden Sätze an:

„Von 180 000 Muselmanen, die das Wilajet Wan bewohnen, haben sich kaum 30 000 retten können. Der Rest blieb den Mordtaten der Russen und Armenier ausgesetzt, ohne daß man bis jetzt über deren Schicksal etwas erfahren konnte.“

Dieser Passus ist, obwohl er in der deutschen Presse richtig abgedruckt worden ist, zu einer groben Fälschung benutzt worden. Der letzte Passus wurde dahin abgeändert, es seien 150 000 Muselmanen von Russen und Armeniern ermordet worden.15) In der deutschen Presse verschwinden später auch die Russen. In einem weit verbreiteten Artikel (von einem Berliner Dr.-a-Mitarbeiter), der u. a. im Neuen Stuttgarter Tageblatt und im Neuen Leipziger Tageblatt abgedruckt war, ist zu lesen: „Erwiesenermaßen(!) sind 150 000 Muhammedaner den Armeniern zum Opfer gefallen.“

Nun lese man noch einmal die vorsichtig gehaltene türkische Mitteilung. Sie beruht auf einem statistischen Rechenexempel: Das Wilajet Wan zählt 180 000 Muselmanen unter seinen Bewohnern. (ca. 30 000 Türken, der Rest Kurden.) 30 000 von diesen waren aus dem Wilajet Wan geflüchtet. Wie aus dem dritten Absatz des Communiqués hervorgeht, standen damals die Russen „östlich Achlat“, also schon jenseits der Westgrenze des Wilajets Wan am Westufer des Wansees. 30 000 Türken hatten sich aus den nördlichen und nordöstlichen von den Russen besetzten Gebieten geflüchtet; 150 000 Kurden befanden sich in den südlichen und südöstlichen Gebieten, die auf der einen Seite bis zum Tigris, auf der anderen über das obere Zab-Tal in das Gebiet der Hakkiari-Kurden hinübergreifen. Es sind die Gebiete der fast unabhängigen Kurdenstämme, die von den Russen nur an ihrer nördlichen Grenze berührt worden waren. Natürlich konnte man von dem Schicksal dieser abgelegenen Gebiete und von den „150 000 Muselmanen“, die sie bewohnen, im türkischen Hauptquartier „nichts erfahren“. Armenier und Russen wußten ebensowenig von ihnen. Auch hatten die Russen gar kein Interesse, diese Gebiete zu besetzen, da die Scheichs dieser Kurdenstämme sich um die Türkei herzlich wenig kümmern. Bekannte kurdische Scheichs hatten bereits vor dem Kriege mit den Russen konspiriert und waren in Tiflis und Petersburg liebenswürdig empfangen worden.16)


Das vierte türkische Communiqué
W.T.B. Nicht amtlich. Konstantinopel, den 12. Juli 1915

wendet sich gegen einen Artikel der „Gazette de Lausanne“ vom 19. Juni, in dem behauptet war, „die osmanische Regierung leihe den gegen die in der Türkei lebenden Armeniern begangenen Ausschreitungen ihren Schutz und die Ausschreitungen beständen häufig in Metzeleien“. Derselbe Artikel stellt die Teilnahme von 50 000 Armeniern am Kriege fest, darunter 10 000 Freiwillige, die auf russischer Seite ständen und ihr Blut für die Sache der Alliierten opferten. Die türkische Telegraphenagentur Agence Milli erklärt dazu:

„Wir halten es für unnütz, solche Sinnlosigkeiten zu dementieren, wir fragen indessen, wie die feindlichen Zeitungen die Handlungsweise ihrer Landsleute bezeichnen würden, die sich gegen ihr Vaterland erheben, zum Feinde übergehen und ihre im Heere des Vaterlandes verbliebenen Brüder bekämpfen. Das ist der Fall bei diesen Armeniern, die als Helden und Märtyrer gefeiert werden, während sie selber Ursache und Mittel grausamer Verbrechen sind, die von ihnen und ihren Religionsgenossen an der muselmanischen Bevölkerung unserer östlichen Provinzen begangen werden. Die osmanische Regierung geht mit großer Umsicht vor, um jeden Schuldigen nach dem Gesetz zu bestrafen, und erstreckt ihren wohlwollenden Schutz auf alle ehrlichen und friedlichen in der Türkei lebenden Christen, von denen eine große Anzahl in den Reihen der türkischen Armee kämpft. Wir stellen mit tiefer Verachtung fest, daß unseren zynischen Feinden alle Waffen recht sind. Sie besitzen die Niedrigkeit, uns unter Umkehrung der Wahrheit Untaten zuzuschreiben, welche die Russen im Kaukasus und in Persien täglich begehen.“

Daß es sich hierbei um russische Armenier handelt, wird verschwiegen. Was würde man dazu sagen, wenn wir Deutsche uns in derselben Weise darüber aufregen wollten, daß Hunderttausende von Polen in der russischen Armee kämpfen? Entweder weiß der türkische Schreiber der obigen Auslassung nichts davon, daß 1½ Millionen Armenier russische Untertanen sind, oder er spekuliert auf die Unwissenheit des Publikums in Fragen der Ethnographie. Hätte er hinzugefügt, daß es sich um russische Armenier handelt, dann hätte er sein Pathos sparen müssen. Von Untaten der Russen im Kaukasus und in Persien ist nichts bekannt. Dagegen haben türkische Banden im Verein mit russischen Adjaren (muhammedanischen Grusiniern) auf russischem Gebiet in dem Gebiet von Artwin und Ardanusch Massakers veranstaltet. (S. 77.)


Das fünfte türkische Communiqué
W.T.B. Konstantinopel, den 16. Juli 1915

bedient sich desselben Kunstgriffs, indem es darauf hinweist, daß die Armenier fortfahren, „auf russischer Seite gegen die Türkei zu kämpfen“. Sodann wird von dem Vorhandensein „eines seit lange vorbereiteten und beschlossenen Planes“ geredet, den „die Armenier pünktlich auszuführen fortfahren“. Ein Beweis dafür wird aber nicht erbracht, abgesehen von dem Fall Schabin-Karahissar, bei dem es sich um Widerstand gegen ein drohendes Massaker handelte. (Vergl. Seite 63.) Hierüber sagt das Communiqué:

„Am 2. Juni a. St. (12. Juni n. St.) überfielen 500 bewaffnete Armenier, welchen sich Fahnenflüchtige desselben Stammes angeschlossen hatten, die Stadt Schabin-Karahissar und griffen die muselmanischen Viertel an, wo sie sämtliche Häuser ausplünderten. Sie verbarrikadierten sich dann in der Zitadelle der Stadt und beantworteten die väterlichen und versöhnlichen Ratschläge der örtlichen Behörden mit Gewehrfeuer und Bomben, wodurch 150 Zivil- und Militärpersonen getötet wurden. Der letzte Vorschlag der Regierung, der auf die Unterwerfung ohne Blutvergießen abzielte, ist erfolglos geblieben. Unter diesen Umständen sahen sich die Behörden gezwungen, die Geschütze gegen die Zitadelle zu wenden, und dank dieser Zwangsmaßnahmen ist es gelungen, dieser Rebellen am 20. Juni Herr zu werden.
Ähnliche revolutionäre Bewegungen, die hier und da ausbrechen, zwingen uns, an unseren verschiedenen Grenzen unseren Armeen Kräfte zu entnehmen, um sie zu unterdrücken. Um diese Unannehmlichkeit zu vermeiden und die Wiederholung von Ereignissen zu verhindern, bei welchen neben den Schuldigen auch die unschuldige und friedliche Bevölkerung bedauernswerten Schaden erleidet, mußte die Kaiserliche Regierung gegen die revolutionären Armenier gewisse vorbeugende und einschränkende Maßnahmen treffen.
Infolge der Ausführung dieser Maßnahmen sind diese Armenier aus den Grenzzonen und den Gebieten, wo Etappenlinien eingerichtet sind, entfernt worden. Somit sind sie dem mehr oder weniger wirksamen Einfluß der Russen entzogen und sind dadurch außerstand gesetzt, den höheren Interessen der Landesverteidigung zu schaden und die innere Sicherheit zu gefährden.“

Hier wird zum ersten Male die Deportation, die bereits im größten Stile über das ganze armenische Volk der Türkei verhängt war, angedeutet. Sie wird allerdings als auf die „Grenzzonen“ und „die Gebiete, wo Etappenlinien eingerichtet sind“, beschränkt bezeichnet. Danach müßte die ganze Türkei, abgesehen von den arabischen Wüsten, aus Grenzzonen und Etappenlinien bestehen. Seltsam klingt die Besorgtheit um „die unschuldige und friedliche Bevölkerung, welche neben den Schuldigen bedauernswerten Schaden erleidet“.

Diese „unschuldige und friedliche Bevölkerung“ war inzwischen durch die Anordnung der Behörden ihrer gesamten Habe beraubt worden. Die Männer waren erschlagen, die unschuldigen Kinder und friedlichen Frauen befanden sich auf dem Wege in die arabische Wüste.

Über die Verteidigung der armenischen Viertel in Wan durch die dortigen Armenier und über die Entsetzung von Wan durch die russischen Truppen hat die türkische Regierung offiziell geschwiegen.

Ergebnis.

Stellen wir die nackten Tatsachen fest, die in den 5 Communiqués der türkischen Regierung mit Anführung von Personen und Ortsnamen als Beweise für eine revolutionäre Erhebung des armenischen Volkes aufgeführt werden. Es sind die Folgenden:

1. Garo Pasdermadschian, der in Tiflis zu Haus ist, begibt sich Ende August 1914, also vor dem Kriege, von Erzerum nach dem Kaukasus und schließt sich bei Ausbruch des Krieges, angeblich einem armenischen Freikorps an. Das übrige, was ihm zugeschrieben wird, geht die russische Kriegführung an.
2. Zwei Armenier, Toros Oglu und Agob, bringen in Cilicien Züge zur Entgleisung.
3. Kommandanten englischer und französischer Schiffe setzen sich mit Armeniern der Küstenorte in Verbindung.
4. Armenier von Zeitun haben den Behörden Widerstand geleistet.
5. Die Führer der türkischen Oppositionspartei zettelten ein Komplott an, in das vier Hintschakisten verwickelt waren. (Das Komplott wurde vor dem Kriege aufgedeckt.)
6. Armenier von Wan, Schattach, Hawasur, Kewach und Timar um die Südostecke des Wansees herum „erheben sich mit der Waffe in der Hand“.
7. 500 Armenier von Schabin-Karahissar besetzen den Burgfelsen.

Dies sind die Tatsachen der Communiqués.17) Für die Beschuldigung einer geplanten armenischen Revolution reichen diese Beweise nicht aus. Die Tatsachen, soweit sie nicht zur Kategorie der zwischen kriegführenden Mächten üblichen Spionageakte gehören, haben wir bereits in unserer Darstellung der Geschichte der Deportation klargestellt, so besonders die Vorgänge in Zeitun (Seite 4 ff.), Schabin-Karahissar (Seite 63) und im Wangebiet (Seite 81 ff.).

Durch unsre obige Darstellung haben wir festgestellt, daß weder das Patriarchat noch die Daschnakzutiun sich irgendwelcher vaterlandsfeindlicher Akte schuldig gemacht haben, noch auch daran gedacht haben, solche vorzubereiten. Im Gegenteil kann bewiesen werden, daß beide Organisationen ihr Äußerstes getan haben, um jede Handlung, die von der Regierung mißdeutet werden konnte, zu vermeiden, und mit aller Gewissenhaftigkeit ihre nationalen Pflichten erfüllt haben. Die Daschnakzagan insbesondere, als langjährige politische Freunde und Gesinnungsgenossen der Führer des Komitees für Einheit und Fortschritt, waren aufs Äußerste betroffen und überrascht, daß ihre bis zuletzt festgehaltene loyale Gesinnung und Kameradschaftlichkeit von ihren politischen und persönlichen Freunden mit schnödem Undank belohnt wurde, und daß ihr Leben von eben den Männern, denen sie während der Reaktion das Leben gerettet hatten, jetzt bedroht wurde. Die Beteiligung von vier auswärtigen Hintschakisten an dem Komplott, das von den Führern der türkischen Opposition angezettelt war, hatte ebenfalls nichts mit dem armenischen Volke oder einer angeblichen Erhebung desselben zu tun, ganz abgesehen davon, daß dieses Komplott in die Zeit vor dem Kriege fällt und bereits im Mai 1914 aufgedeckt war. Die Versuche, dieses türkische Komplott als Beweisstück für eine geplante armenische Revolution zu verwerten, beweisen nur, daß andere Beweisstücke nicht vorhanden waren.

Da die großen politischen und kirchlichen Organisationen des armenischen Volkes sich völlig loyal verhielten, ja in ihrer Loyalität bitter enttäuscht worden sind, und sonstige Organisationen, die in der Lage gewesen wären, das armenische Volk zu revolutionieren weder vorhanden waren, noch auch von türkischer Seite namhaft gemacht worden sind, müssen tiefer liegende Gründe ausfindig gemacht werden, die imstande sind, den ganzen Verlauf der Ereignisse zu erklären.


7. Das panislamische Programm.


Wir haben bereits darauf aufmerksam gemacht, daß strategische Gründe, die für die Deportation geltend gemacht wurden, in kaum nennenswertem Maße anerkannt werden können. Abgesehen vom Wangebiet, das ja gerade von einer Deportation verschont blieb, weil es von den Russen besetzt wurde, liegen die zwei oder drei Plätze, wo die Armenier Widerstand leisteten, wie in Zeitun und Schabin-Karahissar so sehr abseits von den Kriegsgebieten, daß die Deportation einer Bevölkerung von anderthalb Millionen, die sich über alle Teile des Reiches, auch die dem Kriegsschauplatz entlegensten, erstreckte, nun und nimmermehr durch militärische Interessen gerechtfertigt werden kann.

Die einzige Erklärung, welche die Maßregel der Behörden nicht als eine sinnlose Handlung erscheinen läßt, bietet die Annahme, daß es sich um die Durchführung eines innerpolitischen Programms handelte, das sich mit kalter Überlegung und Berechnung die Vernichtung des armenischen Volkselementes zur Aufgabe machte. Sehen wir zu, ob sich hierfür in den vom jungtürkischen Komitee und ihren Führern aufgestellten politischen Richtlinien ausreichende Grundlagen finden und ob insbesondere für die Maßregeln gegen die Armenier Anhaltspunkte, die in dieselbe Richtung weisen, vorhanden sind.

Als im Juli 1908 in Saloniki die Verfassung ausgerufen war, glaubte alle Welt, daß nun auch der Türkei endlich eine Regierung beschieden sei, die die Grundsätze bürgerlicher Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetze der aus tausend Wunden blutenden Bevölkerung des türkischen Reiches zugute kommen lassen würde. Es ist nicht zu bezweifeln, daß das Komitee für Einheit und Fortschritt, das damals die politische Macht in Händen hatte, die Absicht gehabt hat, sich von den Grundsätzen europäischer Zivilisation und staatlicher Gerechtigkeit in der Reorganisation des Reiches leiten zu lassen. Ein Freiheitsrausch ergriff alle Teile der Bevölkerung, als die Jungtürken die Verfassung proklamierten. Aber schon die Reaktion vom April 1909, die mit einem Schlage die führenden Männer aus den leitenden Stellungen verdrängte und der ganzen Konstitution den Garaus zu machen schien, führte den Beweis, daß einflußreiche Elemente noch zum alten Regime hielten oder mindestens der Einführung europäischer Grundsätze in das türkische Verfassungsleben widerstrebten. Außer den Kreaturen des Hamidischen Regiments waren es vor allem die geistlichen Führer des Volkes, die Ulemas, Chodschas und Softas, welche das unwissende Volk gegen die europäischen Neuerungen aufzureizen versuchten.

Als durch den Marsch der mazedonischen Truppen gegen Konstantinopel die Jungtürken sich wieder der Herrschaft bemächtigt und Sultan Abdul Hamid abgesetzt hatten, lenkte das Komitee für Einheit und Fortschritt mehr und mehr wieder in die Bahnen der Politik Abdul Hamids ein. Zunächst wurde eine rigorose Parteiherrschaft durchgesetzt. Eine Nebenregierung bekam den offiziellen Verwaltungsapparat in die Hand, und die Wahlen büßten den Charakter der Freiwilligkeit ein. Die Berufung der höchsten Beamten des Reiches und aller wichtigsten Verwaltungsstellen wurde durch Beschlüsse des Komitees geregelt. Alle Gesetzesanträge wurden vom Komitee durchberaten und genehmigt, ehe sie vor die Kammer kamen. Das Regierungsprogramm wurde durch zwei leitende Gesichtspunkte bestimmt. 1. Der zentralistische Gedanke, der der türkischen Rasse nicht nur die Vorherrschaft, sondern die Alleinherrschaft im Reiche zuerkannte, sollte mit allen Konsequenzen durchgeführt werden. 2. Das Reich sollte auf rein islamischer Grundlage aufgebaut werden. Der türkische Nationalismus und die panislamische Idee schlossen von vornherein jede Gleichberechtigung der verschiedenen Nationalitäten und Religionen des Reiches aus und jede Bewegung, die das Heil des Reiches in der Dezentralisation oder Selbstverwaltung der verschiedenen Reichsteile erblickte, wurde als Landesverrat gebrandmarkt. Die nationalistische und zentralistische Tendenz richtete sich nicht nur gegen die verschiedenen nicht–muhammedanischen Nationalitäten, Griechen, Armenier, Syrer und Juden (ehe der Balkan abgetrennt war, auch Bulgaren, Serben und Kutzowalachen), sondern auch gegen die nicht–türkischen Nationen, Araber, muhammedanische Syrer, Kurden und die schiitischen Volkselemente (vor dem Balkankriege auch gegen die Albanesen). Ein Pan-Turkismus wurde als Idol aufgerichtet, und gegen alle nicht-türkischen Volkselemente wurden die schroffsten Maßnahmen ergriffen. Das durch diese Politik vorgezeichnete rigorose Vorgehen gegen die Albanesen, die ja zum größten Teil Muhammedaner und bis dahin durchaus reichstreu waren, hat den Verlust fast der ganzen europäischen Türkei zur Folge gehabt. Ebenso hat es Aufstandsbewegungen in der arabischen Reichshälfte hervorgerufen, die durch verschiedene Feldzüge nicht unterdrückt worden sind. Der Konflikt mit dem arabischen Element besteht heute noch, trotzdem er durch den „heiligen Krieg“ bis zu einem gewissen Grade zurückgedrängt wurde. Die halbunabhängigen Kurdenstämme führten ihre Sonderpolitik und konspirierten teilweise mit Rußland. Das Reich kam aus den inneren Kriegen nicht heraus, und die Folge der kurzsichtigen Politik war der Verlust der afrikanischen und der europäischen Besitzungen bis auf den Rest von Thrazien, der während des zweiten Balkankrieges mit Adrianopel noch zuguterletzt zurückgewonnen wurde.

Es scheint nicht, daß die führenden Männer des Komitees für Einheit und Fortschritt aus den üblen Erfahrungen, die sie mit ihrer nationalistischen und panislamischen Politik gemacht hatten, gelernt haben. Im Gegenteil, man versteifte sich je mehr und mehr auf die chauvinistischen und intoleranten Prinzipien, die man sich zur Richtschnur gemacht hatte.

Noch im Herbst 1911, als bereits Tripolis verloren war und die Aufstände im Yemen jeder Waffengewalt siegreichen Widerstand geleistet hatten, bekannte sich der Parteitag des Komitees für Einheit und Fortschritt, der Anfang Oktober in Saloniki tagte, zu den gleichen radikal zentralistischen und panislamischen Grundsätzen.

Das Komitee für Einheit und Fortschritt, das das Reich regiert, bestand statutengemäß nur aus Türken. Die Wahl auch nur eines einzigen Arabers in das Komitee wurde abgelehnt. Die Grundsätze, die damals in bezug auf die Behandlung der christlichen Nationalitäten des Balkans, der ja noch unter türkischer Herrschaft stand, aufgestellt wurden, sind zwar heute nach dem Verlust der europäischen Reichsteile gegenstandslos geworden, aber es verlohnt der Mühe, sich dieselben noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, weil sie für die christlichen Nationen der asiatischen Türkei in Geltung geblieben und genau so, wie es für den Balkan beabsichtigt war, während des jetzigen Krieges durchgeführt worden sind.

Im Oktober 1911 war auf dem jungtürkischen Kongreß in Saloniki das Folgende beschlossen worden:

Die Entwaffnung der Christen in Mazedonien solle durchgeführt werden. Die Muhammedaner sollten im allgemeinen ihre Waffen behalten; wo sie in der Minorität seien, sollten Waffen unter sie von den Behörden verteilt werden. Verdächtige Personen müßten verschickt und der Gendarmerie und den Truppen freie Hand gegeben werden. Die Militärgerichtshöfe müßten in beständiger
Verbindung mit dem Komitee bleiben und in der Bestrafung der Schuldigen müsse rigoroser vorgegangen werden, damit die Delinquenten nicht entwischten. An den griechischen und bulgarischen Grenzen müsse die Ansiedlung von 20 000 Muhammedanern durchgeführt werden, wofür 220 000 türkische Pfund ausgeworfen wurden. Die Einwanderung aus dem Kaukasus und Turkestan solle befördert, Land für die Einwanderer vorgesehen und die Christen verhindert werden, Eigentum zu erwerben. Da der bulgarische Boykott fehlgeschlagen sei, müsse man an seiner Stelle mit der Austreibung von Lehrern, Priestern und Agenten vorgehen. Der griechische Boykott müsse, da ein Krieg mit Griechenland nicht riskiert werden könne, bis die Flotte verstärkt sei, weiter geführt und vom Komitee kontrolliert werden. Die Bildung neuer Parteien in der Kammer und im Lande müsse unterdrückt und das Aufkommen neuer „liberaler Ideen“ verhindert werden. Die Türkei müsse ein wesentlich muhammedanisches Land sein, und moslimische Ideen und moslimischer Einfluß müßten das Übergewicht haben. Jede andere religiöse Propaganda müsse unterdrückt werden. Die Existenz des Reiches hänge von der Stärke der jungtürkischen Partei und von der Unterdrückung aller antagonistischen Ideen ab.

In dem Bericht über die Arbeit des Komitees wurde mit Genugtuung festgestellt, daß es dem Komitee gelungen sei, nahezu alle wichtigen Stellen im Reich mit seinen Anhängern zu besetzen. Alle noch verbleibenden Ausnahmen müßten geregelt, alle wichtigen Stellen ausschließlich von Muhammedanern besetzt werden und nur die unbedeutendsten Funktionen dürften von Personen anderen Glaubens ausgeübt werden.

Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung erreicht werden könne, sondern man müsse zur
Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am Türkischen Reich. Die Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten, aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eins der Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen Elemente zu assimilieren.

So sah das Programm des Komitees für Einheit und Fortschritt schon im Herbst 1911 aus. Man wird finden, daß die darin ausgesprochenen Grundsätze in jeder Beziehung dem Vorgehen gegen die Armenier zugrunde liegen.18) Bekanntlich wurde die Herrschaft des Komitees im Juli 1912 gestürzt. Vier Jahre lang hatten sich die aufeinanderfolgenden Kabinette von Kiamil-Pascha, Hilmi-Pascha, Hakki-Pascha und Said-Pascha auf die unbestrittene Majorität der jungtürkischen Partei in der Kammer gestützt. Aber bereits im April 1911 war eine Spaltung im Komitee eingetreten und eine allmählich erstarkte konservative Gruppe hatte die Majorität erlangt. Die Krisis war dadurch gelöst worden, daß Talaat Bey und Dschavid Bey aus dem Ministerium ausschieden.

Aber nach den Wahlen kehrten die jungtürkischen Führer in das Kabinett zurück und schienen fester denn je im Sattel zu sitzen. Erst infolge der unglücklichen Operationen gegen die Albanier, die man durch militärische Strafexpeditionen zum Abfall gereizt hatte, bildete sich in dem mazedonischen Offizierkorps eine Opposition gegen die jungtürkische Herrschaft, die durch den Geheimbund der Militärliga die politische Macht an sich riß. Am 16. Juli demissionierte das jungtürkische Kabinett des greisen Said-Pascha und am 5. August wurde die jungtürkische Kammer von dem neuen Ministerium der „großen Männer“, mit Gahzi Achmed Muktar Pascha als Großwezir, nach Hause geschickt. Der unglückliche Balkankrieg führte kurz vor seinem Ausgange die Jungtürken, die inzwischen die konservativen Elemente aus dem Komitee ausgeschieden hatten, zur Herrschaft zurück. Die Wiedergewinnung von Adrianopel gab ihnen ein gewisses Prestige und das Komplott der liberalen Opposition, dem am 11. Juli 1913 der Kriegsminister Machmud Schewket Pascha zum Opfer fiel, wurde mit der rücksichtslosen Verfolgung aller Elemente, die sich der Parteiherrschaft des Komitees widersetzten, beantwortet.

Die Folge der Kämpfe innerhalb des Komitees war eine Verschärfung der zentralistischen und panislamischen Grundsätze.

Der europäische Krieg brach aus, und die Frage der Teilnahme der Türkei am Kriege rief neue Gegensätze innerhalb des Komitees hervor. Die Jungtürken waren von Hause aus ententefreundlich. Das konstitutionelle Programm war in Paris geboren und in London getauft worden. Die Grundsätze der französischen Revolution und das Vorbild des englischen Parlamentarismus beherrschten die Köpfe der jungtürkischen Revolutionäre. In den ersten Wochen der Verfassung wurde kein Buch in den Buchläden von Konstantinopel so häufig begehrt, als Thiers’ Geschichte der französischen Revolution. Es dauerte geraume Zeit, bis der deutsche Einfluß sich in Konstantinopel wieder gegen den englischen und französischen behaupten konnte. Erst das Interesse an der Reorganisation des türkischen Militärs und der Wunsch, sich nach allen Seiten die Unabhängigkeit zu wahren, ließ den deutschen Einfluß wieder erstarken. Aber noch im Herbst 1911 wurde vom jungtürkischen Kongreß in Saloniki die Stellung zu den Mächten folgendermaßen präzisiert:

Mit Bezug auf die Großmächte muß sich die Türkei reserviert halten und darf, bis sie militärisch erstarkt ist, kein Bündnis abschließen, weil sonst ihre Unabhängigkeit
gefährdet würde. Die Türkei sei dazu bestimmt, auf beiden Kontinenten eine große Rolle zu spielen, wenn es den Muhammedanern gelänge, das fremde Joch abzuschütteln. Ebendies werde von Großbritannien, Rußland und Frankreich befürchtet. Zu großes Vertrauen dürfe man auch auf die Mächte des Dreibundes nicht setzen, doch sollte die Türkei freundliche Beziehungen mit ihnen unterhalten, jedenfalls aber ihre Neutralität wahren und von einem förmlichen Bündnis absehen. Zugleich müsse man den Versuch machen, die Sympathien der Ententemächte wiederzugewinnen.

Die auswärtige Politik war also genau wie die Abdul Hamids auf die Bilanzierung der Mächte eingestellt. Gleichwohl gelang es Enver Pascha, den inzwischen allmächtig gewordenen Minister des Innern Talaat Bey und den Kammerpräsidenten Halil Bey für den Eintritt in den Weltkrieg an der Seite Deutschlands zu gewinnen, trotzdem einflußreiche Mitglieder des Komitees wie Djemal Bey, Djavid Bey und der Scheich ül Islam dagegen waren. Die türkische Gesellschaft von Konstantinopel, deren Sympathien Frankreich gehörten, war ebenso, wie die Masse des Volkes, mit dem Eintritt in den Krieg unzufrieden, aber die panislamische Propaganda und die Militärdiktatur sorgten dafür, daß der Widerspruch verstummte. Die Proklamation des „heiligen Krieges“ brachte eine allgemeine Aufstachelung der muhammedanischen gegen die christlichen Elemente des Reiches mit sich, und die christlichen Nationalitäten hatten bald zu der Befürchtung Grund, daß sich der türkische Chauvinismus auch des muhammedanischen Fanatismus bedienen würde, um den Krieg bei der Masse des muhammedanischen Volkes beliebt zu machen.

Die Verschärfung des jungtürkischen Programms kam besonders darin zum Ausdruck, daß der Nachdruck weniger auf die Reorganisation des Reiches als auf die restlose Durchsetzung der Souveränität der Türkei in allen Fragen der inneren Politik gelegt wurde. Die Abschaffung der Kapitulationen, die zu Beginn des Krieges beschlossen wurde, ohne daß man zuvor die Zustimmung der Mächte einholte, eine Maßregel, die u. a. auch die Aufhebung der fremden Posten mit sich führte, wurde das sichtbare Symbol für die politischen Aspirationen der Türkei. Schon im Herbst 1911 wurde auf dem jungtürkischen Kongreß betont, „die Abschaffung der Kapitulationen sei wichtiger als die Reorganisation des Justizwesens“.

In dem zentralistischen und nationalistischen Programm des jungtürkischen Komitees waren alle auf Dezentralisation und Selbstverwaltung gerichteten Bestrebungen, wie sie auch von der türkischen liberalen Opposition vertreten wurden, mit dem Stempel des „Landesverrats“ versehen worden. Gleichwohl hatte noch im Jahre 1913 die jungtürkische Regierung gute Miene dazu gemacht, als von den Mächten die Frage der armenischen Reformen wieder aufs Tapet gebracht worden war. Die weitgehenden russischen Vorschläge, die die Souveränität der Türkei anzutasten schienen, wurden durch die Mitarbeit der deutschen Politik dahin ermäßigt, daß der endgültige Reformplan, der durch eine Note der Pforte vom 26. Januar (8. Februar) 1914 von der Pforte angenommen wurde, sich durchaus in den Grenzen hielt, die der Achtung vor der Souveränität der Türkei und ihrem eignen vitalen Interesse entsprach. Gleichwohl berührte selbst die maßvolle Mitwirkung der Botschafter der Großmächte an dem armenischen Reformplan – eine Mitwirkung, deren berechtigte internationale Grundlage im § 61 des Berliner Vertrages nicht bestritten werden konnte – die Empfindlichkeit der türkischen Machthaber. Wiederholt wurden die Armenier bedroht, daß sie es zu büßen haben würden, wenn sie irgend die Mitwirkung der Mächte für die Durchsetzung des Reformplanes anzurufen wagten. Schon damals verlautete, daß einflußreiche jungtürkische Führer sich öffentlich dahin geäußert hätten, wenn die Armenier nicht von der Reformfrage die Finger ließen, so hätten sie ein Massaker zu besehen, gegen das die Massakers von Abdul Hamid ein Kinderspiel wären. Was die Armenier wünschten, war ja nichts anderes, als die Grundrechte der Sicherheit von Leben und Eigentum und der Gleichheit vor dem Gesetze, die sich für jeden europäischen Staatsbürger von selbst verstehen, die man ihnen aber, trotz der internationalen Verträge der Großmächte mit der Türkei seit Jahrzehnten vorenthalten hatte. War es ein Wunder, daß sie aufatmeten, als ihnen endlich, dank der Mitwirkung der deutschen Politik, von der Pforte die Zugeständnisse gemacht waren, die für eine friedliche Entwicklung ihres Lebens unerläßlich waren und für eine Abwehr der russischen Einmischungsversuche in die inneren Angelegenheiten der Türkei im eignen Lebensinteresse der Türkei lagen? Und sollten sie auf die Anteilnahme der Mächte an ihrem Schicksal, obwohl sie offiziell weder mitzureden hatten noch gefragt wurden, verzichten, wenn ihnen bekannt war, welche Grundsätze die Jungtürken in ihrem Programm für die Behandlung der christlichen Nationalitäten aufgestellt hatten? Gleichwohl wurde den Armeniern noch nachträglich aus ihrer freudigen Aufnahme des Reformplanes ein Verbrechen gemacht. Die Maßregel der Deportation, mit den dazu gehörigen Massakers ist von jungtürkischen Führern ganz offen damit begründet worden, daß man den Armeniern ein- für allemal den Gedanken an Reformen austreiben wolle.19)

Einen charakteristischen Beleg bietet ein Steckbrief, der gegen den Chef einer vom Katholikos der Armenier eingesetzen Deputation, Boghos Nubar Pascha, nach der Durchführung der Deportation erlassen und am 11. August 1915 im „Hilal“ veröffentlicht worden ist.

Zum Verständnis desselben muß zuvor gesagt werden, daß Boghos Nubar Pascha, ein Sohn des hervorragenden Ministers Nubar Pascha, der unter dem Khedive Ismael die ägyptische Politik leitete, keineswegs türkischer, sondern ägyptischer Untertan ist und in Ägypten als Großgrundbesitzer lebt. Der Katholikos aller Armenier hat seinen Sitz in Etschmiadzin bei Eriwan auf russischem Boden. Natürlich stand es dem Katholikos frei, in einer Frage, die die ganze armenische Nation nicht nur in bürgerlicher, sondern auch in kirchlicher und kultureller Beziehung berührt, eine Delegation zu berufen, an deren Spitze Boghos Nubar Pascha trat, um mit den Kabinetten der Großmächte in bezug auf eine wünschenswerte Lösung der armenischen Reformfrage in Beziehung zu treten. Boghos Nubar Pascha reiste also nach Paris, London, Berlin und Petersburg, um sich über die schwebenden Fragen mit den Kabinetten zu unterhalten. Das Ergebnis der Reformverhandlungen, dessen Zustandekommen wesentlich dem Auswärtigen Amt in Berlin und dem Botschafter Baron von Wangenheim zu danken war, fand den vollen Beifall von Nubar Pascha. So wenig hatte die Pforte damals gegen die Tätigkeit von Nubar Pascha etwas einzuwenden, daß sie ihn sondierte, ob er nicht selbst das Amt eines Generalinspektors für die ostanatolischen Provinzen übernehmen wollte, ja daß ihm der Großvezier Said Halim Pascha einen Ministerposten anbot.

Jetzt nachträglich wurde Exzellenz Boghos Nubar Pascha aus seiner Tätigkeit ein Verbrechen gemacht, und er wurde beschuldigt, „die frühere Lage der Türkei, die sich aus dem Balkankrieg ergeben und die Kaiserliche Regierung in einen Schwächezustand versetzt habe, benutzt zu haben, um sich an die Spitze von armenischen Komitees zu setzen und in der Eigenschaft eines Delegierten der ganzen armenischen Nation in den Hauptstädten der Länder der Tripleentente Schritte unternommen zu haben, die sich gegen die ottomanische Regierung richteten, um ein autonomes Armenien unter fremder Kontrolle zu schaffen“.

Die Beschuldigung ist in doppelter Hinsicht falsch. Nubar Pascha hat sich nicht für einen Delegierten der armenischen Nation, sondern, wie es seiner Berufung entsprach, für den Chef einer vom armenischen Katholikos berufenen Delegation ausgegeben. Auch hat er keineswegs ein autonomes Armenien unter fremder Kontrolle erstrebt – er hat oft genug in öffentlichen Kundgebungen und in der Presse den Gedanken einer Autonomie zuückgewiesen – sondern er hat das Ergebnis der Verhandlungen in der Form, wie es durch die deutsche Diplomatie erzielt wurde, als eine dankenswerte Erfüllung seiner Wünsche begrüßt.

Es ist nun seltsam, daß trotz alledem Boghos Nubar Pascha als ein „flüchtiger Hochverräter“ steckbrieflich verfolgt, vor ein für ihn gar nicht zuständiges Kriegsgericht geladen und im Falle des Nichterscheinens mit der Konfiskation seines (in Ägypten (!) befindlichen) beweglichen und unbeweglichen Vermögens und der Entziehung seiner (ägyptischen) Bürgerrechte, Titel und Dekorationen bedroht wird.

Dies Dokument ist insofern charakteristisch, als es beweist, daß genau wie zur Zeit Abdul Hamids jede Beschäftigung mit der armenischen Reformfrage, die ja auch in ihrer letzten Phase von den Kabinetten und Botschaftern der Großmächte, einschließlich Deutschlands, bei der Pforte in Anregung gebracht worden war, als ein Verbrechen gegen die Souveränität des türkischen Staates aufgefaßt wird und strafbar sein soll. Da nun die ganze armenische Nation an dieser Reformfrage Anteil genommen hat, die ja nichts mehr als Sicherheit des Lebens und Eigentums verbürgen sollte, so kann sie freilich unter solcher Auslegung internationaler Verträge für eine Nation von „Hochverrätern“ ausgegeben werden. Es bedarf nicht erst der Beschuldigung oder Überführung revolutionärer Absichten oder Handlungen. Der Anspruch eines Christen auf Sicherheit des Lebens und Eigentums, auf bürgerliche Gleichberechtigung und die Achtung seiner nationalen Kultur und Sprache, ist schon Hochverrat und muß, wenn die Gelegenheit dazu günstig ist, durch entsprechende Strafen geahndet werden.20)


8. Die Ausführung.


Seit Beginn des europäischen Krieges und im verstärkten Maße seit Ausbruch des russisch-türkischen Krieges hat man sich im jungtürkischen Komitee mit der Frage beschäftigt, wie man die Gelegenheit des Krieges benützen könne, um die Armenier für ihre Reformbestrebungen zu bestrafen und die armenische Frage ein- für allemal aus der Welt zu schaffen. Man kam auf dieselbe Lösung, die ein Minister Abdul Hamids in zynischer Weise definiert hat: „Die armenische Frage schafft man am besten dadurch aus der Welt, daß man die Armenier aus der Welt schafft.“21) Daß man am liebsten mit den Griechen und Syrern in gleicher Weise verfahren wäre, beweist das Vorgehen gegen die griechische Bevölkerung in der Umgegend von Smyrna im Frühjahr 1914 und gegen die syrische Bevölkerung in Nordpersien, in der Umgegend von Urmia, die beim Einbruch der Armee von Halil Bey aus ihren Wohnsitzen vertrieben wurde. Das Gleiche geschah mit den nestorianischen Bergsyrern im oberen Zab-Tal.

Ein türkischer Minister soll während des Krieges geäußert haben: „Am Ende des Krieges wird es keinen Christen mehr in Konstantinopel geben. Es wird so vollständig von Christen gesäubert werden, daß Konstantinopel sein wird wie die Kaaba.“ Man braucht das Wort, selbst wenn es gesprochen wurde, nicht ernst zu nehmen. Die griechische Bevölkerung wird so lange sicher sein, als sich Griechenland nicht der Entente angeschlossen hat. Dagegen hat man ernstlich an eine Austreibung der 160 000 Armenier aus Konstantinopel gedacht. Der Einspruch Deutschlands hat sie verhindert. Ein Sektionschef im Justizministerium sagte zu einem Armenier: „Es ist in diesem Reich kein Raum für uns und euch, und es würde ein unverantwortlicher Leichtsinn sein, wenn wir diese Gelegenheit nicht benützen würden, um mit euch aufzuräumen“. Mitglieder des jungtürkischen Komitees sprachen es offen aus, daß alle „Fremden“ aus der Türkei verschwinden müßten, erst die Armenier, dann die Griechen, dann die Juden und zuletzt die Europäer“. Die Frage, ob ein Armenier schuldig oder unschuldig ist, ob man ihn eines Verbrechens gegen den Staat für verdächtigt hält oder nicht, ob er durch ordentliche Gerichte einer Schuld überführt ist oder nicht, existiert für das Bewußtsein eines Muhammedaners, da es sich um Christen handelt nicht, wenn man ihn aus Gründen der Staatsraison beseitigen will. Andernfalls wäre es nicht möglich, an einer Million von Staatsbürgern einen Massenraub zu begehen, der niemals eine gerichtliche Ahndung finden wird. Das muhammedanische Recht und das Vorbild Muhammeds erlauben solche Dinge. Ein türkischer Minister rühmte sich dessen, daß, was Abdul Hamid in 30 Jahren nicht fertig gebracht habe, er in 3 Wochen zustande bringen würde. Dem Einwande, daß mit den wenigen Schuldigen eine ungeheure Masse Unschuldiger mitbestraft und umgebracht werde, begegnete ein türkischer Offizier mit der Bemerkung: „Dieselbe Frage richtete jemand an unseren Propheten Muhammed – Gottes Friede über Ihm! – und er erwiderte: „Wenn du von einem Floh gebissen wirst, tötest du nicht alle?“

Als die Frage der Unterdrückung der christlichen Nationalitäten einmal im Komitee zur Sprache kam, äußerte ein exaltierter Türke: „Der Fehler ist, daß nicht schon Muhammed der Eroberer, das getan hat, was wir jetzt tun.“ Von einem anderen Komiteemitglied, das etwas mehr geschichtliche Bildung besaß, erhielt er die Antwort: „Dann stünde die Türkei heut noch auf der Kulturstufe von Marokko.“

Bei der Mehrheit des Komitees scheint die Absicht, einen vernichtenden Schlag gegen die Armenier zu führen, schon am Anfang des Krieges bestanden zu haben. Natürlich erhob sich auch Widerspruch gegen eine so radikale Politik, die unbedenklich zu den Methoden Abdul Hamids zurückkehrte und ein Hohn war auf all die schönen Reden von Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit, mit denen die Ära der Konstitution eingeleitet worden war. Djemal Bey, der Oberstkommandierende in Syrien, versuchte noch während der Deportation die Bevölkerung von Adana, wo er früher Wali gewesen war, zu retten. Daß verschiedene Walis, Mutessarifs und Kaimakams sich der Maßregel widersetzten, haben wir gesehen. Sobald aber im Zentralkomitee für Einheit und Fortschritt die Entscheidung gefallen war, begann die fieberhafte Tätigkeit der Zweigkomitees, die jeden Widerstand der Regierungsorgane im Innern brach und durch organisierte Banden die allgemeine Deportationsmaßregel in ein allgemeines Massaker verwandelte.

Gewisse psychische Hemmungen mußten auch beim Zentralkomitee und bei der Regierung überwunden werden. Man war sich augenscheinlich dessen bewußt, daß man an den Führern der Daschnakzagan, die gemeinsam mit den Jungtürken den Absolutismus gestürzt und seit Beginn der Konstitution unentwegt zu dem Komitee gehalten hatten, einen schnöden Verrat beging. Verschiedene der jungtürkischen Führer, die (wie der Auswärtige Minister Halil Bey, der während der Reaktion sich zwei Wochen im Haus von Sohrab versteckt gehalten hatte), ihren armenischen Freunden ihr Leben verdankten, mochten Regungen eines gewissen Anstandsgefühls empfinden, das sie abhielt, ihre Lebensretter ans Messer zu liefern. Um derartige psychische Hemmungen zu überwinden, mußte man sich wenigstens einreden, daß möglicherweise die Führer des armenischen Volkes mit dem Gedanken einer nationalen Erhebung umgingen. Der Gedanke konnte ihnen auch dadurch nahegelegt werden, daß sie den Daschnakzagan gegenüber ein schlechtes Gewissen hatten. Schon vor der Begründung der Verfassung und bei jeder Krise seit der Begründung der Verfassung hatten sie den Führern der Daschnakzagan mündlich und schriftlich Versprechungen gemacht, ihre gerechten Wünsche in bezug auf die Neuordnung der Zustände im Innern zu erfüllen, und regelmäßig hatten sie diese Versprechungen, sobald sie wieder obenauf waren, gebrochen und dazu noch die Armenier um die ihnen zukommenden Kammersitze verkürzt. Daß die Daschnakzagan, wie es wirklich der Fall war, ihnen und ihrer politischen Überzeugung trotzdem treu geblieben waren, konnten sich vielleicht die Jungtürken nicht vorstellen und vermuteten, daß sie heimlich auf Vergeltung bedacht wären. Die krampfhaften Bemühungen, nachträglich Schuldbeweise zu finden, und, wenn auch unter der Folter, zu erzwingen, sind ein Ausfluß der moralischen Verlegenheit, in der sich die Regierung gegenüber den Daschnakzagan befand. Um auf die Daschnakzagan den Schein des Vaterlandsverrates zu werfen, bediente sie sich eines merkwürdigen Tricks. Daß jedermann Waffen besitzt, ja, daß die Jungtürken selbst noch in den letzten Jahren, als die Gefahr der Reaktion drohte, ihre politischen Freunde und deren Anhang mit Waffen versorgt hatten, war bekannt. Auch bezweifelte niemand, daß aus der Zeit Abdul Hamids noch Bomben vorhanden waren. Da die Bombe in diesem Kriege zu der Würde einer der ehrenhaftesten Waffen avanciert ist, gab es natürlich in den Regierungsarsenalen eine genügende Anzahl von Bomben, die man als bei Armeniern gefunden ausgeben konnte. So wurden denn im Polizeiblatt von Konstantinopel („Polizei-Revue für die intellektuelle Bildung der Polizisten“, nennt sich das Blatt) in der Mai-Nummer Haufen von Gewehren und Bomben, die man photographiert hatte, abgebildet. Die Veröffentlichung sollte dazu dienen, die Bevölkerung und die Vertreter der fremden Mächte von den revolutionären Absichten der Armenier zu überzeugen. Um die Beschuldigung, daß die Armenier die Ausrichtung eines armenischen Königreiches geplant hätten, glaubhaft zu machen, wurde auch die Photographie einer „revolutionären Fahne mit dem armenischen Wappen“ wiedergegeben.13) (Auch das offizielle Communiqué vom 4. Juni spricht von diesen „revolutionären Fahnen“.) Wie verhält es sich damit?

Die Partei der Daschnakzägan hatte ein Parteiwappen, das in allen armenischen Klubs aushing. Junge Damen machten sich ein Vergnügen daraus, dieses Wappen als Emblem für die Klublokale zu sticken. Hundertmal haben die Jungtürken, wenn sie in den Klubs der Daschnakzagan aus- und eingingen, dieses Wappen gesehen. Im Scherz nannten sie es „le drapeau du patriotisme ottoman“. Da man keine anderen Beweise hatte, wurde jetzt das Parteiwappen der Daschnakzagan photographiert und für die Fahne der Revolution ausgegeben.

Man kann sich den Verkehr, der früher zwischen den armenischen und jungtürkischen Klubs und ihren Führern bestand, nicht eng genug denken. Man beriet nicht nur, man dinierte und soupierte zusammen. Man veranstaltete gemeinsame Wahlfeldzüge und tauschte freundschaftliche Besuche aus. Als Aknuni krank war wurde er von Talaat Bey und Dschavid Bey besucht. Tags darauf kamen Dr. Nasim und Omer Nadji. Der letztere ließ sich allwöchentlich auf der Redaktion des Azatamart sehen.

Es ist begreiflich, daß auch im jungtürkischen Komitee lange Zeit eine Majorität für die Maßregeln gegen die Armenier nicht zustande kam. Überdies schlugen sich die Armenier, wie der Kriegsminister Enver Pascha aus persönlichem Augenschein mündlich und schriftlich bekundet hat, selbst an der Kaukasusfront aufs tapferste. Es blieb daher in den ersten Monaten bei lokalen Maßnahmen, für die sich einigermaßen plausible Gründe aus strategischen Rücksichten geltend machen ließen.

Da kam die Nachricht von den Vorgängen im Wangebiet, die durch das Verhalten von Djewded Bey und durch die Ermordung und Verhaftung der armenischen Führer Ischchan und Wramjan provoziert waren. Am 16. April wurde Ischchan ermordet. Am 20. setzten sich die Armenier von Wan gegen das ihnen drohende Massaker in Verteidigungszustand. Am 24. erfolgte die Verhaftung der Intellektuellen von Konstantinopel. Sie war das Ergebnis eines Beschlusses, der von den Mitgliedern des Komitees für Einheit und Fortschritt gefaßt worden war. Seit dem 21. April war die Vernichtung des armenischen Volkes eine beschlossene Sache.

Der Großvezier Said Halim Pascha, der Kammerpräsident Halil Bey und der Scheich ül Islam waren gegen die Deportation. Da aber Talaat Bey seinen allmächtigen Einfluß für die Vernichtungsmaßregel einsetzte, ging der Beschluß durch.

Von dem Polizeichef Bedri Bey und seinen Gehilfen Dschampolad Bey und Reschad Bey war unter Zuziehung der Polizeimeister von Skutari und Pera der Plan der Verhaftung der Intellektuellen von Konstantinopel und in der Provinz ausgearbeitet worden. Sorgfältige Listen wurden zusammengestellt, um mit einem Schlage aller Führer der Nation habhaft zu werden. Waren die Führer beseitigt, so brauchte man nicht mehr zu befürchten, daß wegen der Maßregeln gegen das armenische Volk Lärm geschlagen würde. Der Widerstand der Gouverneure im Innern verzögerte die Ausführung der Maßregel in verschiedenen Wilajets um einige Wochen. Als aber Wan in die Hände der Russen gefallen war, am 19. Mai, erging in alle Provinzen der kategorische Befehl, dafür zu sorgen, daß alle Städte und Dörfer des Reiches von Armeniern ausgeräumt werden sollten, bis nicht ein einziger Armenier mehr zurückbliebe, es sei denn, daß er zum Islam übertrete.

Der Polizeichef Bedri Bey sagte zu dieser Zeit zu dem Armenier Sakarian: „Wenn es ein Massaker gibt, so wird es nicht sein wie zur Zeit Abdul Hamids. Nicht ein einziger Armenier wird übrig bleiben.“ Der Scheich ül Islam soll auch zu dieser Zeit noch seinen Widerspruch gegen die Maßregel aufrecht erhalten und seine Demission eingereicht haben.


9. Russische und türkische Zeugnisse.


Die loyale Haltung der Armenier der Türkei und der Daschnakzagan insbesondere läßt sich noch von zwei anderen Seiten her überzeugend beweisen.

Die russische Zensur hatte während des Krieges den Armeniern freigestellt, sich offen über ihre nationalen Wünsche auszusprechen. Eine lebhafte Diskussion fand in der Presse zwischen den Vertretern der großrussischen Expansionspolitik und führenden armenischen Politikern statt. Die russischen Politiker traten ganz offen für die Annexion von Türkisch-Armenien und die Einverleibung mindestens der ostanatolischen Wilajets in Rußland ein. Gegen diese Pläne brachte die armenische Presse („Horizon“, „Arew“ u. a.) ihren lebhaften Widerspruch zum Ausdruck. Der linksliberale Dumaabgeordnete Adschemoff, ein namentlich in Südrußland einflußreicher armenischer Politiker, erklärte im „Petrogradski Kurier“: Die Türkei könne und dürfe auch nach dem Kriege nicht aufhören zu existieren. Sowohl Rußland, das viele Millionen Muhammedaner als Untertanen zählt, als auch England müßten das Khalifat erhalten. Die Armenier seien für ihre nationalen Aufgaben auf die Erhaltung der türkischen Souveränität angewiesen. Der Sekretär des armenischen Komitees in Moskau K. B. Kussikjan erklärte, die innere Gestaltung von Türkisch-Armenien sei Sache der türkischen Armenier und könne nicht nach russischen Wünschen geordnet werden. – Zuletzt griff der Kadettenführer Miljukow im „Rjetsch“ in die Diskussion ein und machte den armenischen Politikern zum Vorwurf, daß sie keineswegs nur aus taktischen Gründen mit Rücksicht auf ihre armenischen Brüder in der Türkei die Erhaltung der Souveränität der Türkei für Türkisch-Armenien wünschten, es sei vielmehr ersichtlich, daß sie im Interesse ihres nationalen Programms für die Erhaltung der Türkei einträten. „Ich sehe mich zu der Schlußfolgerung gezwungen“, sagte Miljukow, „daß die Idee der Erhaltung der türkischen Souveränität kein zufälliger und vorübergehender, sondern ein innerlich begründeter und dauernder Bestandteil des nationalen Programms (der Armenier) ist. Ich sage offen, ich betrachte diesen Standpunkt, sowohl für die armenischen, als auch für die russischen Interessen als schädlich und gefährlich und halte eine entsprechende Revision des nationalen Programms der Armenier für unbedingt notwendig.“

Aus diesen Worten ist ersichtlich, daß zwischen den russischen und armenischen Wünschen durchaus kein Einverständnis herrschte. Das nationale Programm der Daschnakzagan wollte und will selbst heute noch die Erhaltung der Türkei unter der Souveränität des Sultans, unter der selbstverständlichen Voraussetzung, daß das zertrümmerte armenische Volk wiederhergestellt wird und seine geraubten Güter zurückempfängt.22) Dies Programm steht dem großrussischen Expansionswillen im Wege; seine Vereitelung ist notwendig, um die russischen Wünsche zu erfüllen. Die Aufgabe der türkischen Politik wäre es gewesen, sich das grundsätzliche Widerstreben der türkischen Armenier gegen den Gedanken einer Einverleibung in Rußland zunutze zu machen und gerade das armenische Element als starke Grenzwacht gegen den Kaukasus zu benützen. Das zentralistische Programm des Komitees hat genau so wie im Falle Albaniens die vernünftigen Interessen der kleineren Nationalitäten einem fanatischen Panturkismus geopfert und die zuverlässigsten Stützen einer gesunden Reichspolitik zerbrochen, um der Donquichoterie eines panislamischen Weltreiches nachzujagen.

Wie von russischer Seite, so liegen auch von türkischer Seite unwillkürliche Zeugnisse für die Loyalität der Armenier gegenüber der türkischen Regierung vor.

Scherif Pascha, einer der Führer der türkischen Opposition, hat unter dem 10. September einen Brief an die Redaktion des „Journal de Genève“ (Nr. vom 18. Sept.) gerichtet. In diesem Brief spricht er seine Entrüstung über die Verfolgung der Armenier aus und beklagt die Vernichtung einer Rasse, die so große kulturelle Leistungen hervorgebracht habe und der Türkei als Träger moderner Zivilisationsbestrebungen unentbehrlich gewesen sei.

„Wenn es eine Rasse gibt“, schreibt er, „die durch ihre Treue, durch die Dienste, die ihre talentvollen Staatsmänner und Beamten dem Lande geleistet haben, durch die Intelligenz, die sie auf allen Gebieten, im Handel, in der Industrie, in der Wissenschaft und in den Künsten, bewiesen haben, uns Türken nahe stehen, so sind es die Armenier. Sie sind es, die den Buchdruck und die dramatische Kunst in die Türkei eingeführt haben. Ihre Dichter, ihre Schriftsteller, ihre großen Finanzmänner sind nicht zu zählen, viele unter ihren großen Geistern, wie in alten Zeiten der Historiker Moses von Chorene und der Dichter Aristarch von Lasdiverde, den man mit Jeremias verglichen hat, oder in unseren Tagen Raffi, Sundugiantz, Schirwansadeh, Aharonian, Tschobanian, Novayr und Dutzende von anderen würden jedem westlichen Lande zur Ehre gereichen. War nicht Odian, der Mitarbeiter Midhat Paschas, des Urhebers der ottomanischen Konstitution, ein Armenier? Jeffrem Khan, „der Garibaldi des Ostens“ wurde der Heros der persischen Konstitution, die von einem andern Armenier Malkolm Khan vorbereitet worden war, und gerechterweise muß man anerkennen, daß ebenso wie in Persien, auch in der Türkei die Armenier einen wesentlichen Anteil an dem Sturz des despotischen Regimes und an der Einführung der Konstitution gehabt haben.

Es gibt nicht einen aufgeklärten Türken, der nicht das Urteil, das der bekannte Parlamentarier Lynch vor 13 Jahren gefällt hat, unterschriebe:

„Die Armenier sind ganz besonders dazu befähigt, die Vermittler der neuen Zivilisation zu sein. Sie haben sich mit unseren höchsten Idealen vertraut gemacht und eignen sich alle neuen Errungenschaften der europäischen Kultur so unermüdlich und vollkommen an, daß darin keine andere Nation ihnen gleichkommen konnte.“[30]

Wenn man nun bedenkt, daß ein so hochbegabtes Volk, das das wohltätigste Ferment in der Erneuerung des Osmanischen Reiches hätte werden können, auf dem Punkte steht, aus der Geschichte zu verschwinden, nicht nur unterdrückt, sondern vernichtet zu werden, so muß das Herz auch des Unempfindlichsten bluten. Ich möchte meinesteils hierdurch dieser geopferten und sterbenden Nation meinen Zorn gegen ihre Henker und mein unendliches Mitleid für ihre Opfer aussprechen.“

Nach diesen Äußerungen ergeht sich Scherif Pascha in den heftigsten Vorwürfen gegen die Partei der Daschnakzagan, die sich seit sechs Jahren (d. h. seit der Spaltung der Jungtürken in Ittihab und Ittilaf) „zu Parteigängern und Schildhaltern des jungtürkischen Komitees hergegeben haben“. „Wie oft“, schließt er, „habe ich sie vor den Unionisten (dem Komitee für Einheit und Fortschritt) gewarnt, deren schwarze Seele ich kenne. Mindestens hätten die Massakers von Adana, die auf den Befehl des Komitees veranstaltet wurden, die Daschnakzagan auf den Boden der Wirklichkeit zurückführen müssen. Dadurch, daß sie sich mit der Politik des Komitees für Einheit und Fortschritt solidarisch erklärten, haben sie die Sache ihrer Nation, statt sie zu retten, verraten“. Gerade damit, daß Scherif Pascha den Daschnakzagan ihre Anhänglichkeit an die gegenwärtige Regierung zum Vorwurf macht, beweist er indirekt ihre Loyalität. Eben diese Loyalität, die er als eine Dummheit und als ein Verbrechen charakterisiert, macht er für den Untergang des armenischen Volkes verantwortlich.

Ein andrer Führer der türkischen liberalen Opposition, Ismail Hakki von Gümüldschina, schreibt in der türkischen Zeitung Bejan ül Hakk die gegenwärtig in Saloniki erscheint:

„Jede gewaltsame Unterdrückung, gegen welchen Teil der Bevölkerung sie auch ausgeübt werden möchte, ist unverzeihlich. Verfolgungen, die sich gegen eine friedliche Bevölkerung richten, sind barbarisch und gewissenlos. Solche Dinge stillschweigend mitanzusehen, heißt sich an ihnen mitschuldig machen. Gegen die im Osmanischen Reich lebenden Griechen und in besonderem Maße gegen die Armenier werden die schrecklichsten Verbrechen begangen. Die menschliche Sprache und Feder sind unvermögend, auch nur den hundertsten Teil der Tatsachen wiederzugeben. Falsche Patrioten und kurzsichtige Politiker bemühen sich, die in der Türkei herrschenden Zustände zu verschleiern. Aber wir, als wahre Osmanen, rufen heute der Menschheit und dem zivilisierten Europa zu, daß die gegen die Armenier und Griechen verübten Verfolgungen weit entsetzlichere Dimensionen angenommen haben, als es aus den Darstellungen der Presse zu ersehen ist. Die Armenier und Griechen werden unbarmherzig verfolgt. Ihr Leben, Gut und Ehre sind in beständiger Gefahr. Tag für Tag werden Hunderte von Armeniern in entlegenen Gegenden getötet. Wir nehmen mit ganzem Herzen Anteil an dem Unglück unserer Landsleute.“

Obwohl Scherif Pascha und Ismail von Gümüldschina der türkischen Opposition angehören, darf man die Bedeutung und den Ernst dieser Kundgebungen nicht unterschätzen. Denn sogar in den osmanischen Vertretungskörpern macht sich in wachsendem Maße die Erregung türkischer Kreise Luft, die die Vernichtung der Armenier verurteilen.

Eine Interpellation des früheren Kammerpräsidenten Achmed Riza, des Begründers des konstituionellen Regimes, wegen der Armenierverfolgungen rief im Senat einen Sturm hervor.23) Viele Senatoren stehen auf seiten Achmed Rizas. Die Interpellation wurde nur unter der Bedingung zurückgezogen, daß die Armenierfrage durch eine besondere Delegation vor die Kammer gebracht werden sollte. Chef der Delegation wurde der offizielle Historiograph Abdurrachmann Bey, der seit kurzem Präsident des Senats ist.

Bei der Eröffnung der Kammer hielt Achmed Riza eine Rede, die sich in den stärksten Vorwürfen gegen die Regierung erging. Er protestierte gegen die Armeniermetzeleien und gegen die Ausplünderung des Volkes, der sich das „Komitee für Nationale Verteidigung“ schuldig mache. Talaat Bey, der Minister des Innern, begnügte sich mit der Erklärung, daß die Regierung auf die angeregten Fragen nicht antworten könne, da eine öffentliche Erörterung den Interessen des Reiches schaden würde.




Dritter Teil.


1. Die wirtschaftlichen Folgen.

2. Die Zwangsbekehrungen.

3. Die armenische Frage und die deutsche Presse.

4. Nachträge.

5. Statistik.


1. Die wirtschaftlichen Folgen.


Um sich ein Bild von den wirtschaftlichen Folgen der Deportation des armenischen Volkes zu machen, muß man sich zunächst darüber klar werden, welchen Bruchteil der Bevölkerung in den hauptsächlich betroffenen Wilajets das armenische Element ausmachte. In den armenischen Stammlanden, d. h. in den ostanatolischen Wilajets und in Cilicien, betrug die armenische Bevölkerung mehr als 25%, der Gesamtbevölkerung, in den westanatolischen Distrikten von Brussa und Ismid 10%, in Konstantinopel 15%. Bringt man in den ostanatolischen Provinzen die an der Peripherie liegenden rein kurdischen Bezirke in Abzug und schaltet das Wilajet Trapezunt aus, in dem die Armenier hinter den Griechen zurücktreten, so ist damit das eigentliche „Armenien“ (als historisch-ethnographischer Begriff) umschrieben. In diesem hocharmenischen Gebiet machten die Armenier rund 39% der Bevölkerung aus. Rechnet man die syrischen Christen (Nestorianer und Chaldäer) mit 4,6% dazu, so betrug in diesen Gebieten die christliche Bevölkerung nicht weniger als 43,6 % der Gesamtbevölkerung. Bei der Beurteilung des wirtschaftlichen Wertes des vernichteten armenischen und syrischen Elementes muß man im Auge behalten, daß die Türken in diesem Gebiet einschließlich der wenig kultivierten Turkmenen nur 25 % der Bevölkerung ausmachten, und daß der Rest aus Kurden, Kisilbasch, Lasen, Tscherkessen, Jesidis usw. d. h. aus lauter unkultivierten Volkselementen besteht. Die Vernichtung der armenischen Bevölkerung bedeutet nicht nur den Ausfall von 10 bis 25% der Bevölkerung von Anatolien, sondern was am schwersten ins Gewicht fällt, die Ausscheidung der kulturell wertvollsten und wirtschaftlich entwickeltsten Elemente der Bevölkerung.

Die Vorstellungen, die man sich in der deutschen Presse von Charakter und Bedeutung der Armenier in der Türkei zu machen pflegt, sind von der Unwissenheit diktiert. Ein armseliges Sprichwort, das seit 20 Jahren in den deutschen Zeitungen umgeht und das selbst Gebildete nicht nachzubeten verschmähen, ist meist der ganze Fonds an Kenntnissen, über den man verfügt. Im Orient wird das Sprichwort variiert, je nachdem, ob man Juden, Griechen oder Armeniern etwas anhängen will. Da sich Griechen, Armenier und Juden in den Export- und Jmporthandel teilen, während der Türke niemals über den Kleinhandel hinausgekommen und im übrigen – von der Beamtenkaste abgesehen – Bauer geblieben ist, so bedeutet, kulturgeschichtlich angesehen, die Abneigung der Türken gegen Armenier, Griechen und Juden, soweit sie nicht religiös begründet ist, nichts anderes als den natürlichen Gegensatz zwischen Natural- und Geldwirtschaft, zwischen primitiver Agrarkultur und beginnender Industrialisierung des Landes. Als im Jahre 1909 in Cilicien gegen 20 000 Armenier grund- und sinnlos unter Mitwirkung jungtürkischer Truppen totgeschlagen wurden, war das erste, was die türkischen Bauern taten, von den über hundert Dreschmaschinen, die dort arbeiteten, den größten Teil und alle Dampfpflüge zu zerstören, die die armenischen Dorfbewohner zur Bewirtschaftung der cilicischen Ebene aus Europa bezogen hatten.

Reporter, die von den Armeniern als „Betrügern und Gaunern“ reden (es sind dieselben, die zur Charakteristik der Serben nur über das Wort „Hammeldiebe“ verfügten), beweisen damit nur ihre eigene Unwissenheit und Unkultur. Das armenische Volk in der Türkei bestand zu 80 % aus Bauern; die städtische Bevölkerung befaßt sich keineswegs nur mit dem Handel, sondern war ebenso stark im Handwerk und allen freien Berufen vertreten.

Die Türken selbst gestehen freimütig zu, daß ihr Volk kein Talent zum Handel hat. Wenn dagegen europäische Beurteiler behaupten, daß der Türke nur darum im Handel nichts leiste, well er dem „geriebenen“ Armenier, Griechen oder Juden nicht gewachsen sei, und die „gutmütigen“ Türken bedauern, die sich seit Jahrhunderten „von Christen und Juden übers Ohr hauen ließen“, so scheint man sich nicht klar zu sein, welches Zeugnis man damit der Intelligenz dieses Herrenvolkes ausstellt.

Nicht einmal die Religion kann man für die mangelnde Begabung der Türken für den Handel verantwortlich machen. Da, wo Perser und Araber mit Armeniern und Griechen in Konkurrenz treten, beweist sich ihre Geschäftstüchtigkeit, soweit sie nicht durch mangelnde Sprachkenntnis gehemmt wird, als durchaus konkurrenzfähig. Die Vorstellung, daß die Christenmassakers in der Türkei nach Art der Judenverfolgungen des Mittelalters Auswüchse der Volksleidenschaft seien, die sich in einer Aufwallung von Wut gegen die Ausbeuter richte, hat in den Tatsachen nicht die geringste Unterlage. Massakers werden in der Türkei von der Regierung veranstaltet und von niemand sonst.

Eher mag der Gedanke, durch Vernichtung des christlichen Handels dem türkischen Handel aufzuhelfen, ein mitwirkendes Motiv für die Maßregeln der Regierung gewesen sein.

Während des Balkankrieges wurde von Mitgliedern des jungtürkischen Komitees der Versuch gemacht, Mittels eines Boykotts, der den Schutz der Regierung genoß, den griechischen und armenischen Handel zu schädigen. Gesellschaften wurden gegründet, die sich zur Aufgabe stellten, die bäuerliche Kundschaft, die ihre Einkäufe bei griechischen und armenischen Häusern machte, an sich zu ziehen und mit Freundlichkeiten und Drohungen ihren bisherigen Lieferanten abwendig zu machen. Die Bauern, die in die Städte kamen, wurden abgefangen und in türkische Bureaus geführt, wo sie ihre Einkäufe besorgen sollten. Aber sie bekamen nicht, was sie wünschten, und was sie sich an Waren aufhängen ließen, mußten sie zu ungewöhnlich hohen Preisen bezahlen. Die Bauern kamen zu ihren früheren Lieferanten und klagten ihnen ihre Not und baten um Rat, wie sie sich aus den Händen ihrer Glaubensgenossen erretten könnten. Sie waren froh, als endlich die Zeit des Boykotts vorüber war, und sie wieder bei Griechen und Armeniern kaufen konnten, wo sie gut und preiswert bedient wurden.

Auch in Deutschland begegnet man unter Kaufleuten der Ansicht, daß man besser täte, mit türkischen als mit armenischen und griechischen Häusern zu verkehren. Wenn es nur solche gäbe! Viele Kaufleute sind der Meinung, daß sie mit türkischen Häusern in Geschäftsverbindung stehen, und wissen gar nicht, daß sie es ausschließlich mit armenischen, griechischen und jüdischen Firmen der Türkei zu tun haben, weil sie jeden Fezträger für einen Türken halten. Die Verluste, die sie infolge der Vernichtung des armenischen Elementes betreffen werden, werden ihnen die Augen über die Bedeutung des armenischen Handels öffnen.

Während England nur ziemlich kurzfristige Kredite für seine Verkäufe an die Türkei gewährt, ist der deutsche und österreichische Handel mit der Türkei, mit Ausnahme einzelner Artikel, ein Kreditgeschäft, das in den letzten Jahrzehnten einen von Jahr zu Jahr wachsenden Umfang gewonnen hat. Es waren in erster Linie armenische, sodann griechische und jüdische Firmen, die durch Vermittlung unsrer Banken mit unseren ersten Exportfirmen arbeiteten. Schon der Umfang dieses Kreditgeschäftes beweist, in wie hohem Maße armenische, griechische und jüdische Firmen das Vertrauen unserer Handelswelt besaßen. Ungeachtet der Tatsache, daß diese Firmen ihrerseits durchschnittlich gegen ein Ziel von 6 bis 9 Monaten verkaufen und schwerlich vor einem Jahr zu ihrem Gelde kommen, sind sie mit ganz verschwindenden Ausnahmen ihren Verpflichtungen gegenüber ihren deutschen Kreditgebern nachgekommen. Das Kreditwesen, das diesem Importhandel zugrunde liegt, hat zur Folge, daß der türkische Konsument und Kleinhändler den Importfirmen dauernd größere Summen schuldet, so daß der Armenier bezw. Grieche oder Jude stets Gläubiger des Türken ist. Dem Türken stellt sich dies selbstverständliche Schuldverhältnis (da er vergißt, daß er für das Geld, welches er schuldet, Waren bezogen hat) als ein Abhängigkeitsverhältnis dar und verleitet ihn zu der Vorstellung, daß eine Vernichtung des christlichen und jüdischen Handels ihn von seinen Schulden befreien und in eine wirtschaftlich vorteilhaftere Lage bringen werde. Die Folgen einer Politik, die diesen Unverstand begünstigt, trägt aber nicht nur der armenische Kaufmann, der von der Bildfläche verschwunden ist, sondern auch der deutsche und österreichische Fabrikant und Exporteur und die beteiligten Bankfirmen. Vor uns liegt eine Liste der Kunden einer einzigen Konstantinopeler Importfirma, die ihre Waren hauptsächlich aus Deutschland und Österreich bezieht. Die Außenstände dieser Firma betragen zur Zeit zusammen 13 922 L. türk. (ca. 280 000 Mk.) bei 378 Kunden in 42 Städten des Innern. Diese Außenstände sind infolge der Deportation der Armenier uneintreibbar. Die 378 Kunden, samt ihren Angestellten, Waren und Werten sind vom Erdboden verschwunden. Soweit die Inhaber noch leben, befinden sie sich als Bettler am Rande der arabischen Wüste. Die zur Liquidation des Vermögens der Deportierten in den verschiedenen Städten seitens der Regierung eingesetzten Kommissionen haben nur den Zweck, die Expropriation des armenischen Volkes durch scheinbare Rechtsformen zu verschleiern.

Die deutsche Einfuhr in die Türkei lag vornehmlich in den Händen der Armenier. Die Griechen haben mehr mit dem Export als mit dem Import zu tun.

Sämtliche Industrieartikel werden in der Türkei vom Ausland importiert. Ja sogar der Fez, der einen wichtigen, beinahe religiös empfundenen Teil der türkischen Nationaltracht bildet, wird in Österreich und seit zwei Jahren auch in Deutschland hergestellt. Zwar existiert in Konstantinopel seit 30 Jahren eine Fezfabrik, die aber bis heute nicht gelernt hat, konkurrenzfähige Ware zu erzeugen.

Von sachkundiger Seite wird über die Lage des Importhandels in der Türkei folgendes ausgeführt:

„Die Hauptartikel des Importes sind die Folgenden: Baumwoll- und Wollstoffe, Baumwollgarne, Trikotagen, Konfektionsartikel und alle Bekleidungsartikel. „Sehen Sie“, sagte ein Türke, „alles was ich trage, mit Ausnahme meines Bartes, stammt aus Frengistan (Europa). Wenn diese Frengi (Europäer) nicht wären, müßten wir noch wie zur Zeit Adams und Evas nackt herumgehen“. Maschinen wurden aus Deutschland, England und Amerika, Eisen- und Stahlwaren aus Deutschland und England, teilweise auch aus Amerika, Bauholz aus Österreich, Rumänien und Schweden, in letzter Zeit auch aus Bulgarien importiert. Zement und Ziegel kamen aus Frankreich, Zucker aus Österreich, Rußland und in den letzten Jahren auch aus Deutschland, obwohl die Türkei große für den Rübenbau sehr geeignete brachliegende Bodenflächen besitzt. Selbst das einheimische türkische Mehl ist in den Hafenstädten durch russisches, rumänisches und französisches Mehl verdrängt worden. Die ganze Industrie der Türkei besteht aus einigen Fabriken in Konstantinopel, Smyrna, Tarsus und Mersina; doch auch diese Unternehmungen sind teilweise von Europäern und inländischen Christen finanziert und geleitet. Den Aufschwung der Teppichindustrie verdankt das Land Unternehmern und Exporteuren, die fast ausschließlich Armenier, Griechen, Juden und Europäer sind. Diese Industrie ist jedoch durch die Deportation der Armenier zum großen Teil, in den östlichen Provinzen, ihrer Arbeitskräfte beraubt worden, ebenso die von Deutschland eingeführte Baumwollkultur in Cilicien.

Der größte Teil des Imports liegt in den Händen der Armenier. Die größeren armenischen Häuser haben ihre Einkaufsniederlassungen in den verschiedenen Industriestädten Europas. Mit ganz wenigen Ausnahmen, die niemals im Handel zu vermeiden sind, haben sich die Armenier, im Widerspruch zu ihrem Ruf, in ihren geschäftlichen Beziehungen mit den europäischen Lieferanten als durchaus korrekt und ehrlich erwiesen. Wenn sich heute im deutschen Handel der türkische Kaufmann eines guten Rufes erfreut, so verdankt er dies den armenischen Firmen. Denn abgesehen von einzelnen Salonikier Dönmehs (muhammedanische Juden) und Sefardims (spanische Juden) gibt es in ganz Kleinasien, vielleicht mit ein oder zwei Ausnahmen, keine einzige rein türkische Firma, die mit dem Auslande Handel treibt. Wenn auch bisher die türkische Regierung keine zuverlässigen Handelsstatistiken veröffentlicht, kann doch der Import der größeren türkischen Hafenplätze, mit Ausschluß von Syrien, und zwar Konstantinopel, Smyrna, Trapezunt, Samsun, Mersina, die direkt mit Europa arbeiten, auf 15 Millionen türkische Pfund (ca. 300 Mill. Mk.) geschätzt werden. Dieser Import liegt zum größeren Teil in den Händen armenischer Großkaufleute.

Der Export des Landes lag früher fast ausschließlich in den Händen europäischer und griechischer Firmen. Die Armenier spielten dabei nur eine Vermittlerrolle, indem sie die verschiedenen Landesprodukte nach den Handelsplätzen brachten beziehungsweise an griechische und armenische Kommissionshäuser lieferten, die sie ihrerseits an die europäischen Exportfirmen verkauften. Seit etwa 20 Jahren haben auch die Armenier angefangen, sich mit dem Export abzugeben und haben es in kurzer Zeit soweit gebracht, daß vor dem Kriege einzelne Artikel, wie Feigen, Rosinen, Nüsse und Opium zum größten Teil durch armenische Firmen exportiert wurden. Zwei der größten armenischen Firmen von Smyrna machen allein einen Umsatz von beinahe 20 Proz. der Ausfuhr von Smyrna, die insgesamt 5 Millionen Lira beträgt. Während der letzten Jahre haben armenische Firmen des Innern angefangen, ihre Waren, hauptsächlich Landesprodukte, ohne Vermittlung der Kommissionshäuser in den Hafenstädten direkt nach Europa und Amerika zu verkaufen oder auf ihre Rechnung zu konsignieren. Zu einer schnellen Entwicklung solcher direkten Verbindungen haben die in den Handelsplätzen Europas und Amerikas etablierten armenischen Firmen viel beigetragen. Es wird nicht übertrieben sein, wenn man sagt, daß vom ganzen türkischen Handel über 60 Proz. des Importes und 40 Proz. des Exportes mit dem Ausland und vom allgemeinen inländischen Handel wenigstens 80 Proz. in den Händen der Armenier gelegen haben.“

Von diesem armenischen Handel sind nur noch die Häuser in Konstantinopel und Smyrna, deren Bevölkerung von der Deportation in der Hauptsache bisher verschont blieb, übrig geblieben. Der gesamte Handel des Innern ist mit allen seinen Warenbeständen und Werten, und, was schlimmer ist, mit allen Werte schaffenden Kräften vernichtet worden. Den wirtschaftlichen Schaden, der sich nicht nur auf die gegenwärtigen ungeheuren Verluste erstreckt, sondern vor allem erst in der Folge in seiner ganzen Größe in Erscheinung treten wird, wird in erster Linie Deutschland und Österreich zu tragen haben. Es ist kaum zuviel gesagt, wenn der amerikanische Konsul von Aleppo seinen Bericht vom 15. August 1915 mit folgenden zusammenfassenden Bemerkungen schließt:

„Da 90 Proz. des Handels des Innern in den Händen der Armenier liegen, ist der Erfolg der, daß das Land dem Ruin gegenübersteht. Da die große Überzahl der Geschäfte auf Kredit geführt wird, stehen Hunderte von angesehenen Kaufleuten, die nicht Armenier sind, vor dem Bankerott. In den evakuierten Orten wird, mit wenigen Ausnahmen, kein einziger Maurer, Schmied, Schneider, Zimmermann, Töpfer, Zeltmacher, Weber, Schuhmacher, Juwelier, Apotheker, Doktor, Rechtsanwalt oder irgend einer der Berufsleute oder Händler übrig sein, das Land wird tatsächlich in einem hilflosen Zustande sein.“

Es ist ein fragwürdiger Gewinn, wenn die gesamten Güter des armenischen Volkes im Innern (Häuser, Liegenschaften, Warenbestände, Hauseinrichtungen, Lebensmittel, selbst Kleidungsstücke und Schuhe nicht ausgeschlossen, ausgenommen die Habe der islamisierten Armenier[31]) in die Hände der türkischen Regierung oder zu billigem oder gar keinem Preise in den Besitz der türkischen und kurdischen Bevölkerung übergegangen sind. Auf diesem Massenraub, der in der Geschichte kaum seinesgleichen hat und nur unter türkischen Rechtsverhältnissen denkbar ist, kann unmöglich ein Segen ruhen. Man wird nicht dadurch zu einem Kaufmann, daß man einen Kaufmann erschlägt. Man versteht noch kein Handwerk, wenn man Handwerkszeug zerstört. Ein dünn bevölkertes Land wird nicht produktiver, wenn es seine arbeitsamste Bevölkerung vernichtet. Man fördert die kulturelle Entwicklung nicht, wenn man die wirtschaftlich tüchtigsten, in der Schulbildung gefördertsten und in jeder Hinsicht strebsamsten Elemente, die befähigt waren, die Brücke vom Orient zum Occident zu schlagen, als Sündenbock für die Versäumnisse von Jahrzehnten und Jahrhunderten in die Wüste schickt. Man korrumpiert nur das eigene Rechtsbewußtsein, wenn man das Recht anderer mit Füßen tritt. Mag vorübergehend die Volkstümlichkeit des unpopulären Krieges durch die Vernichtung und Beraubung der nichtmuhammedanischen Volksteile, in erster Linie der Armenier, zum Teil auch der Syrer, Griechen, Maroniten und Juden, bei dem türkischen Pöbel gestiegen sein, besonnene Muhammedaner werden, wenn sie den Gesamtschaden ansehen, den das Reich erlitten hat, den wirtschaftlichen Ruin der Türkei aufs schmerzlichste beklagen und zu dem Urteil kommen, daß die türkische Regierung durch den inneren Krieg unvergleichlich mehr verloren hat, als sie durch äußere Siege je gewinnen konnte.


2. Zwangsbekehrungen zum Islam.24)


Eine charakteristische Erscheinung, die sich zur Zeit der Masiakers Abdul Hamids von 1895/96 und während der cilicischen Massakers von 1909 in derselben Weise abgespielt hat, sind die Massenübertritte zum Islam, die selbstverständlich, auch wo sie dafür ausgegeben werden, nicht freiwillig erfolgt sind. Man begegnet vielfältig der Meinung, daß die Zwangskonversionen nicht als „Christenverfolgungen“ beurteilt werden können, weil sie ja politische Zwecke haben, in diesem Falle die Turkifizierung der nicht-türkischen Untertanen der Türkei. Man müßte aber ein schlechter Kenner der Kirchengeschichte sein, wenn man annehmen wollte, daß es je Christenverfolgungen gegeben hätte, die nicht politischen Zwecken dienten. Der Mißbrauch der Religion zu politischen Zwecken ist die Wurzel und das Wesen aller Religionsverfolgungen. Darum wird man auch diesem Falle nicht bestreiten können, daß die Zwangsbekehrungen zum Islam alle Merkmale einer Christenverfolgung tragen.

Unter welchen Umständen gingen die Zwangsbekehrungen vor sich?

Die einzige Möglichkeit, den Deportationen zu entgehen, war in vielen Fällen der Übertritt zum Islam. Da Deportation meist mit Massaker gleichbedeutend war und mindestens die Männer, sobald sie auf den Weg gebracht waren, in den sicheren Tod gingen, die jüngeren Frauen und die Mädchen von 10 Jahren aufwärts darauf rechnen mußten, in türkische Harems und kurdische Dörfer verschleppt zu werden, wo sie selbstverständlich zum Islam übertreten mußten, so lag die Versuchung sehr nahe, dem Tode und der Schande durch den übertritt zum Islam zu entgehen. Aus allen Wilajets liegen Nachrichten vor, daß die türkischen Behörden selbst diesen Ausweg anboten, und daß in der Regel alle Christen, die sich bereit erklärten, zum Islam überzutreten, von der Deportation und den Massakers verschont blieben. Es wurden aber auch Pressionen ausgeübt, um den Übertritt zum Islam herbeizuführen, sei es durch Aushungerung, sei es durch Bedrohung mit dem Tode. Um den Charakter der Zwangsbekehrung zu verschleiern, wurden vielfältig den Übergetretenen Schriftstücke vorgelegt, in denen sie durch ihre Unterschrift zu bezeugen hatten, daß ihr Übertritt freiwillig erfolgt sei. Nach dem Massaker von Adana im Jahre 1909 war durch den Druck der europäischen Mächte die Regierung gezwungen worden, die Rückkehr der islamisierten Christen anzuordnen und sogar die Zurückhaltung christlicher Kinder in muhammedanischen Häusern unter Strafe zu setzen. Daher hat man sich jetzt bemüht, den Zwangscharakter der Übertritte möglichst zu verschleiern und durch systematische Verheiratung christlicher Mädchen und Frauen an muhammedanische Männer, ja durch zwangweisen Austausch von Frauen zwischen Christen und Muhammedanern die Rückkehr zum christlichen Bekennntnis im voraus zu hintertreiben. Schändlicherweise wurden auch viele junge armenische Frauen, deren Männer in der türkischen Armee dienten, in deren Abwesenheit gezwungen, sich mit muhammedanischen Männern zu verheiraten. Die muhammedanische Vielweiberei gestattet es, derartige Maßregeln in großem Maßstabe zur Ausführung zu bringen. Die Männer, die zum Islam übertraten, wurden beschnitten und erhielten muhammedanische Namen.

Charakteristische Beispiele, von denen einige schon in unserem Bericht über die Tatsachen erwähnt wurden, mögen das eben Gesagte erläutern.

In Samsun, dem wichtigsten Küstenplatz des Schwarzen Meeres, hat der Mutessarif (Regierungspräsident) die vornehmsten Armenier der Stadt zum Essen eingeladen und sie aufgefordert, zum Islam überzutreten. An dem Tage, an dem der Deportationsbefehl erging, wurde in der Stadt Samsun zwischen den[WS 9] christlichen und muhammedanischen Stadtvierteln ein Kordon gezogen und durch einen Ausrufer bekannt gemacht, daß, wer den Islam annehme, dableiben könne. Diejenigen, die dazu bereit waren, konnten den Kordon passieren, die übrigen wurden deportiert.25)

In Mersiwan wurde während der Vorbereitung der Deportation bekannt gemacht, daß, wer den Islam annehme, der Deportation entgehen würde und friedlich zu Haus bleiben dürfe. Die Bureaus der Beamten, die die Gesuche protokollierten, waren dicht gefüllt mit Leuten, die zum Islam übertreten wollten. Sie taten es ihren Frauen und Kindern zuliebe, in der Empfindung, daß es nur eine Frage der Zeit sei, bis ihnen der Rücktritt ermöglicht werden würde.

In Zile versuchte man die Frauen und Kinder, nachdem man ihre Männer getötet, durch Hunger mürbe zu machen. Auf freiem Felde ließ man sie Tage lang ohne Nahrung. Als man bei der Aufforderung, zum Islam überzutreten, dem geschlossenen Widerstand aller Frauen begegnete, erstach man die Mütter mit dem Bajonett vor den Augen ihrer Kinder.

Deutsche Rote Kreuz-Schwestern berichten, daß in Gemerek 30 der hübschesten jungen Frauen und Mädchen gesammelt und vor die Wahl gestellt wurden: „Entweder ihr werdet Moslems oder ihr sterbt!“ Auf die Antwort: „Dann sterben wir“, wurde an den Wali in Siwas telegraphiert, der die Weisung gab, diese Mädchen und Frauen, deren viele in amerikanischen Schulen erzogen sind, an Moslems zu verteilen.

Derartige Beispiele liegen aus allen Wilajets vor. Des öfteren wurde der übertritt einzelner abgelehnt und verlangt, daß sich mindestens hundert gleichzeitig zum Übertritt melden müßten, wenn sie von der Deportation verschont bleiben wollten. Hie und da wurde der Übertritt zwar von den Behörden angenommen, aber die Verschickung erfolgte trotzdem.

Genauere Nachrichten liegen aus den Küstenstädten des Schwarzen Meeres vor.

Verwandte und Freunde von Armeniern der Provinz in Konstantinopel erhielten zur Zeit der Verschickungen aus Trapezunt, Samsun, Unjeh, Ordu, Amasia und anderen Städten Telegramme, die lauteten: „Hak dini kabul etdik. (Wir haben den wahren Glauben angenommen.“) Briefe und Postkarten kamen von der Post zurück mit der Aufforderung, als Adresse statt des früheren christlichen Namens den neuen muhammedanischen Namen zu schreiben. Aus Samsun kamen die folgenden einzelnen Adreßäußerungen:

Mihran Dawidjan heißt Da'ud Zia.
Agob Gjidschian heißt Osman Zureija.
Garabed Kilimedschian heißt Hodi Efendi.
Howsep Dawidjan heißt Zia Tutuoglu.
Aus Unjeh:
Tschakarian & Söhne heißen Schakir - Zadeh - Fehmi we Machdumlar.
Kazarjan heißt Abdul Medschid.

Ein gewisser Tschakirian von Ordu telegraphierte an seinen Bruder: „Ich habe den wahren Glauben angenommen; ich bitte dich, tue das Gleiche. Dein Bruder Mehemed.“ Ebenso telegraphierte er an seinen Sohn mit der Unterschrift Schakir-Zadeh.

Als der Kaufmann Harutjun Torikian, ein Protestant, aufgefordert wurde, Muhammedaner zu werden, antwortete er: „Jung habe ich geglaubt, soll ich nun, da ich alt bin, verleugnen? Für diese Stunde habe ich gelebt.“ Er wurde abgeführt und getötet. Gleich ihm haben Zehntausende Tod oder Verbannung dem Abfall vom Christentum vorgezogen.

Die Zahl der zwangsweise oder unter dem Druck der Behörden und der Notlage vollzogenen Übertritte wird sich erst nach dem Kriege näher berechnen lassen, wenn aus allen Gebieten der Türkei Informationen eingezogen werden können. Bis jetzt liegen Zahlenangaben nur aus den Küstenstädten des Wilajets Trapezunt vor. So wurden in der Stadt Trapezunt 200, in Kerasunt 160, in Ordu 200, im Samsun 150 Familien islamisiert. In Arabkir soll sich die ganze Bevölkerung durch Übertritt zum Islam der Deportation entzogen haben. Aus dem Wilajet Kharput liegen Nachrichten vor, daß dort die Zahl der Islamisierten besonders groß sein soll. Auch der amerikanische Konsul in Kharput nimmt an, daß alle noch dort verbliebenen Frauen und Kinder gezwungen werden würden, den Islam anzunehmen.

Als zwangsweise islamisiert haben die jungen Frauen, jungen Mädchen und Kinder zu gelten, welche in türkische Harems oder kurdische Dörfer entführt worden sind. Aus allen Berichten, die den Zustand der Karawanen beschreiben, die aus dem Norden nach dem Süden gelangt sind, geht hervor, daß, bis auf die Kinder unter zehn Jahren, alle jungen Mädchen unterwegs verschwunden, und auch die jüngeren Frauen der Mehrzahl nach geraubt worden sind. In den Städten, die passiert wurden, hat man, wie wiederholt berichtet wird, der muhammedanischen Bevölkerung Gelegenheit gegeben, sich die schönsten unter den Mädchen auszusuchen, ja sogar zuvor durch Ärzte auf ihre Tauglichkeit untersuchen zu lassen. Die Kinder wurden teils von den Gendarmen verkauft, teils von den Müttern weggegeben, um ihr Leben zu retten. Die Karawanen der Deportierten waren wandelnde Sklavenmärkte. Viele Frauen und Mädchen haben sich ihrer Schändung durch den Tod entzogen.

Einzelne heroische Fälle werden erzählt, daß Frauen in den Fluß sprangen oder sich das Leben nahmen, um nicht vergewaltigt zu werden oder den Islam annehmen zu müßen. Ein Armenier zündete eigenhändig sein Haus an und verbrannte sich mit seiner Familie, damit sie nicht geschändet oder konvertiert würden.

Einen Einblick in die Art, wie Frauen und Kinder dem Islam zugeführt werden, gibt der Bericht der armenischen Witwe aus Baiburt auf Seite 48–50. Sie begegnete einem Zuge von 50 bis 60 Wagen mit 30 türkischen Offizierswitwen, deren eine sich den Spaß machte, einen beliebigen Armenier mit dem Revolver zu erschießen. Jede dieser türkischen Frauen hatte 5 oder 6 armenische Mädchen von 10 Jahren oder darunter bei sich. Die armenische Witwe konnte ihre Tochter vor dem gleichen Schicksal nur dadurch bewahren, daß sie sich selbst bereit erklärte, mit derselben zum Islam überzutreten. Sie wurde in einen der Wagen aufgenommen, und sogleich änderte man ihre christlichen Namen in muhammedanische um und fing an, sie in den muhammedanischen Gebräuchen zu unterrichten.

Der Druck, der auf die christliche Bevölkerung ausgeübt wurde, um sie zu bewegen, den Islam anzunehmen, kam nirgends vonseiten der muhammedanischen Bevölkerung, ja nicht einmal von muhammedanischen Geistlichen, sondern ausschließlich vonseiten der Regierung. Ebenso sind es die Behörden, die den Versuch machten, die Übertritte zum Islam als freiwillige erscheinen zu lassen. Durch eine vertrauliche Verfügung der kaiserlich ottomanischen Regierung wurden die Lokalbehörden im Innern angewiesen, die Überreste des armenischen Volkes dazu zu bringen, daß sie einen Revers unterzeichnen, in dem um die besondere Gnade gebeten wird, „zur heiligen Religion des Islam überzutreten“. Alle sich Weigernden sollen abtransportiert werden.

Die Zahl der im Verlauf der Deportationen zum Islam konvertierten armenischen und syrischen Christen wird sich vor dem Ende des Krieges auch nicht annähernd feststellen lasten. Man wird sie als sehr bedeutend annehmen können, da alle geraubten Mädchen, Frauen und Kinder von den Türken ohne weiteres als Moslems behandelt werden.

In den Städten und Dörfern wurden nach Austreibung der Armenier die christlichen Kirchen in Moscheen verwandelt oder für andre Zwecke verwendet. In Termeh, zwischen Samsun und Unjeh, wurde nach der Verwandlung der Kirche in eine Moschee dem armenischen Priester zum Spott ein Turban umgewickelt. Alsdann mußte er Namas machen (das muhammedanische Gebet) und den muhammedanischen Gottesdienst halten.

In Erzerum wurde auch die katholische Kirche in eine Moschee verwandelt.

In Erzingjan machte man aus der armenisch-gregorianischen Kirche einen öffentlichen Abort. In Hüssni-Manzur wurde die Kirche geplündert und der Kelch in den Abort geworfen. Die Gendarmen zogen sich die Ornate der Priester an und celebrierten unter Blasphemien die Messe. Der Priester wurde ins Gefängnis geworfen und gefoltert.

In Angora wurde der Geburtstag des Sultans dadurch gefeiert, daß 100 (meist katholische) zwangsweise konvertierte Christenknaben beschnitten wurden.

Die vorstehenden Tatsachen werden für diejenigen, welche uns in der letzten Zeit die Toleranz des Islam nicht genug rühmen konnten, eine herbe Enttäuschung sein.


3. Die armenische Frage und die deutsche Presse.


Die Presse steht während des Krieges unter der Diktatur der Zensur. Zustände in den Ländern unserer Verbündeten, die uns unbequem sind oder deren Bekanntwerden unserm politischen Interesse widerstreitet, können öffentlich nicht erörtert werden. Die Wahrheit kann nicht immer gesagt werden. Unwahrheiten können nicht widerlegt werden. Halbwahre Dinge zu sagen, hat keinen Wert. Diejenigen, die am besten unterrichtet sind, sind am wenigsten in der Lage, zu reden. Ihre Mitteilungen würden ohne weiteres der Zensur verfallen. Da aber das Publikum von Dingen, über die man nicht reden darf, doch etwas läuten hört, so kann es nicht ausbleiben, daß sich die Phantasie die Möglichkeiten so zurecht legt, wie sie uns am bequemsten sind. Der Wunsch wird der Vater des Gedankens. Vermutungen werden für Informationen, Erfindungen für Tatsachen genommen. Solange der Krieg dauert, muß man diese Übelstände hinnehmen. Durch die natürliche Verstopfung der Quellen und die künstlichen Verschüttungen der Zensur wird der Nachrichtendienst aus dem Auslande in ein schmales Rinnsal eingedämmt, das oft genug ganz versiegt. Überall aber, wo die Presse auf Selbstzucht hält, wird sie es verschmähen, die Lücken ihrer Kenntnisse phantasievoll auszufüllen und rücksichtslos wird sie der Verbreitung von Lügen, selbst wenn sie unserem politischen Interesse schmeicheln, entgegentreten.

Auch im Kriege erringt man, wie die Presse unserer Gegner zu ihrem Leidwesen erfahren hat, durch Lügen keine Siege.

Was von der Presse gilt, gilt natürlich auch von der Broschürenliteratur.

In der Beurteilung der armenischen Frage stand, wie sich jeder überzeugen konnte, der die deutsche Presse verfolgt hat, den Verfassern von Zeitungsartikeln und Broschüren eigenes Material nicht zur Verfügung. Der einzige Stoff, der verarbeitet wurde, waren die wenigen türkischen Communiqués, von denen von vornherein angenommen werden mußte, daß sie in militärischem und politischem Interesse eine lückenhafte und einseitige Darstellung der Vorgänge gaben. Die deutsche Presse hatte keine Möglichkeit, diese Darstellung nachzuprüfen. Von vornherein war sie geneigt, alle für den Bundesgenossen vorteilhaften Nachrichten zu glauben und alle Nachrichten, die weniger schmeichelhaft waren, zu unterdrücken. So war es dem türkischen Pressebureau bequem gemacht, für die Außenwelt einen Schleier über die Vorgänge im eigenen Lande zu werfen und nur diejenigen Auffassungen, die ihr bequem waren, in die Presse der verbündeten Mächte zu lancieren.

Die deutsche Presse hat pflichtschuldigst in den ersten Monaten des Krieges die anerkennenden Urteile und die Lobeserhebungen der türkischen Presse über die Haltung der Armenier abgedruckt und hat ebenso in den späteren Monaten die türkischen Communiqués (meist ohne Kommentar) wiedergegeben. Die türkischen Communiqués behaupteten zuerst auch nur, daß einzelne Armenier landesverräterische Handlungen begangen hätten, wie das auch bei Muhammedanern vorgekommen sei, zugleich aber bezeugten sie ausdrücklich, daß die Maßnahmen der Türkei „nicht eine gegen die Armenier gerichtete Bewegung darstellen“, und „mit der größten Mäßigung und Gerechtigkeit angewendet würden“, auch daß die armenische Bevölkerung „in Ruhe ihren Geschäften nachgehe und sich der größten Sicherheit erfreue“. Noch am 27. August 1915 setzte der türkische Generalkonsul in Genf allen Nachrichten über Verfolgungen der Armenier in der Türkei ein formelles Dementi entgegen und versicherte, daß „die gesamte armenische Bevölkerung, Männer, Frauen und Kinder, sich in vollständiger Sicherheit des Schutzes der Behörden erfreuten“. Natürlich nahm man in der deutschen Presse gern von diesen Versicherungen der befreundeten Macht Kenntnis und schenkte ihnen das gebührende Vertrauen.

Als dann im August und September in Amerika die ersten Berichte über die vernichtenden Maßregeln der türkischen Regierung gegen die Armenier veröffentlicht wurden, fanden sie in der deutschen Presse keinen Glauben. Man gab sie für böswillige Erfindungen aus und beschuldigte in erregter Weise die Amerikaner, sie wollten durch solche Bluffs nur Deutschland Knüttel zwischen die Beine werfen. Natürlich fehlte es auch nicht an solchen, die die Berichte der amerikanischen Presse für englische Lügenfabrikate ausgaben. Hätte man die Berichte gekannt, so hätte man diese Beschuldigungen unterlassen. Die englischen Berichte gaben ausschließlich die amerikanischen Quellen wieder.

Die amerikanischen Berichte sind von einem Komitee herausgegeben worden, dem Männer angehören, die auch in Deutschland großes Vertrauen besitzen. Die Berichte enthalten nur Mitteilungen von Augenzeugen, hauptsächlich von Konsuln und Missionaren, und beschränken sich auf die Darstellung von Tatsachen, ohne in die Erörterung der politischen Seite der Frage einzutreten. In den 25 umfangreichen Berichten, die publiziert worden sind, findet sich nur ein einziger Satz (im Bericht des amerikanischen Konsuls von Aleppo), in dem „die Deutschen“ getadelt werden, daß sie die Vernichtung der armenischen Rasse zugelassen hätten. Man konnte in Amerika nicht wissen, daß Deutschland wiederholt die schärfsten Proteste gegen das Vorgehen der türkischen Regierung eingelegt hat. Es hat damit ebensowenig erreicht, wie Amerika durch seine Proteste. Der Grund dieser Mißerfolge kann hier nicht erörtert werden. Die unwürdige Verleumdung, daß deutsche Konsuln die armenischen Massakers geleitet oder ermutigt hätten und daß der deutsche Konsul Dr. Rößler in Aleppo sich nach Aintab begeben habe, um dort in eigener Person die Massakers zu leiten, stammt weder aus Amerika noch aus England, sondern geht auf die Aussage eines syrischen Flüchtlings (Mitteilung aus Kairo vom 30. September) zurück, die vom „Temps“ am 1. Oktober 1915 veröffentlicht und von der französischen Presse verbreitet wurde. Wir haben bereits oben darauf hingewiesen, daß von armenischer Seite den deutschen Konsuln und speziell Dr. Rößler das beste Zeugnis ausgestellt und vollste Anerkennung für ihre menschenfreundliche Tätigkeit ausgesprochen worden ist.

Die Berichte des amerikanischen Komitees bezweckten ausschließlich eine Hilfeleistung für die deportierten und verhungernden armenischen Frauen und Kinder und sind frei von jeder politischen Tendenz. Es sind auch bereits 200 000 Dollar, die gesammelt wurden, der amerikanischen Botschaft in Konstantinopel für die Notleidenden zur Verfügung gestellt worden. Der amerikanische Botschafter Mr. Morgenthau in Konstantinopel war es, der dem Minister des Innern Talaat Bey und dem Kriegsminister Enver Pascha den Vorschlag machte, die gesamte armenische Bevölkerung der Türkei, einschließlich der Armenier von Konstantinopel, nach den Vereinigten Staaten überzuführen. Es wäre sicherlich besser gewesen, diesen wohlgemeinten Vorschlag anzunehmen, statt die armenische Bevölkerung dem Untergange preiszugeben. Amerika würde sich glücklich geschätzt haben, ein so arbeitsames und strebsames Volk wie die Armenier der Türkei aufzunehmen und es würde von einer solchen ebenso klugen als menschenfreundlichen Handlungsweise denselben Segen gehabt haben, wie Preußen von der Aufnahme der französischen Réfugiés und der Salzburger Emigranten. Leider ist die türkische Regierung auf den Vorschlag nicht eingegangen, sondern hat es vorgezogen, die Frauen und Kinder der Armenier zu Hunderttausenden in die Wüste zu schicken.

Auch in Deutschland wurde, nach der ersten unbegründeten Aufregung über die amerikanischen Berichte, – die inzwischen in ihrem vollen Umfange durch deutsche Quellen bestätigt wurden, – unter der Hand die Wahrheit der Tatsachen bekannt, und die große Presse, die sich auch in der Kriegszeit ihrer Verantwortung gegenüber der Wahrheit bewußt geblieben ist, zog es mit wenigen Ausnahmen vor, über die armenische Frage zu schweigen, weil die Zensur mit Rücksicht auf die Türkei die öffentliche Erörterung der Frage nicht gestatten konnte.

Auch die Broschürenliteratur hat sich in bezug auf die armenische Frage Zurückhaltung auferlegt. Nur ein Pamphlet, das unverdiente Beachtung gefunden hat, bedarf der Widerlegung. Es ist dies die Broschüre von C. A. Bratter: Die armenische Frage. Berlin SW. 11, Concordia, Deutsche Verlagsanstalt. 1915. Auf dem Umschlage wird Herr Bratter als „Angehöriger eines neutralen Staates und als deutscher Journalist“ charakterisiert. Er ist amerikanischer Untertan.

Zu anderen Zeiten würde es nicht verlohnen, von dieser Broschüre Kenntnis zu nehmen, denn nach dem Kriege werden ohnehin alle derartigen Augenblicksprodukte Makulatur sein. Es hat höchstens ein gewisses psychologisches Interesse, an einem kleinen Musterbeispiel zu zeigen, wie man es macht, um mit der Miene eines Sachkenners über Dinge zu schreiben, von denen man nichts weiß.

Offenbar ist der Verfasser zu seinem Elaborat durch den in den großen Schweizer Blättern Mitte Oktober veröffentlichten Aufruf zugunsten der Armenier, den er auf Seite 18 abdruckt, gereizt worden, denn die kurze Broschüre (38 Seiten Text) beschäftigt sich auf 3 Seiten mit diesem Aufruf und läuft in eine Apostrophe an „die Schweizer Herren“ aus. Der Schweizer Aufruf enthält sich jeder politischen Parteinahme und jeder Anspielung auf eine Mitverantwortlichkeit Deutschlands, wie sie sonst in der Ententepresse geflissentlich betont wird, und vertritt ausschließlich die Interessen der Menschlichkeit. Er lautet:

„Während der Krieg die Aufmerksamkeit der ganzen Welt beschäftigt und alle Kräfte der europäischen Großmächte in Anspruch nimmt, gehen in der Türkei Dinge vor sich, die selbst in unserer an das Schreckliche gewöhnten Zeit furchtbar sind und das, was früher schon dort geschah, noch hinter sich lassen.
Es handelt sich um nichts weniger als die systematische Ausrottung eines ganzen christlichen Volkes, der Armenier, welche jetzt ins Werk gesetzt wird, weil die vollständige Herrschaft des Islam im türkischen Reich durchgeführt werden soll.
Schon Hunderttausende von Armeniern sind entweder hingemordet oder müssen aus ihrer Heimat verschleppt, in den Steppen Mesopotamiens oder anderer Gegenden elend verderben. Eine große Zahl namentlich von Frauen und Kindern ist gezwungen worden, den Islam anzunehmen.
Diese Tatsachen sind festgestellt durch bestimmte Aussagen und Berichte von in jeder Hinsicht einwandfreien Personen, welche ihre Kenntnisse aus eigner Anschauung haben.
Die Unterzeichneten wollen nicht nur das Schweizervolk um Gewährung tatkräftiger Hilfe bitten zur Linderung der Not, welche unter den Überlebenden des unglücklichen armenischen Volkes herrscht. Sie fühlen sich auch verpflichtet, vor aller Welt auf diese Vorgänge aufmerksam zu machen und sich an die öffentliche Meinung
aller Länder zu wenden, damit zum Schutz der überlebenden Armenier unverzüglich getan wird, was gegenwärtig in Konstantinopel noch getan werden kann.“

Um die Tendenz des Aufrufs als deutschfeindlich zu verdächtigen, schreibt Herr Bratter: „Der Aufruf trägt die Unterschrift von hundert Personen, zumeist Professoren und Geistlichen aus der Schweiz, der Mehrzahl nach allerdings aus der uns feindlich gesinnten Westschweiz.“ Hierauf erwidert Dr. H. Christ-Socin in den „Baseler Nachrichten“ vom 18. Dezember 1915:

„Seltsam berührt es, daß der Verfasser behauptet, von den hundert Unterschriften des Aufrufs stamme die Mehrzahl „aus der uns feindlichen Westschweiz“. Abgesehen davon, daß in Wahrheit bloß deren 30 der Westschweiz, 32 der Ostschweiz und der Rest der Zentral- und Nordschweiz angehören, ist der durch diese Bemerkung vom Verfasser betonte Zusammenhang der schweizerischen Sympathien für die leidenden Armenier mit irgendwelcher Deutschfeindlichkeit eine glatte Erfindung, denn nichts lag den allen möglichen politischen Schattierungen angehörenden Unterzeichnern des Aufrufs ferner, als gegen Deutschland zu demonstrieren.“

Analysieren wir die Schrift von Bratter.

Die Substanz derselben sind 10 Zeitungsausschnitte. Die ersten 4 betreffen die gegenwärtigen Vorgänge in der Türkei. Es sind die folgenden:

1. Das Interview des Jungägypters Dr. Risaat aus dem Kopenhagener „Extrabladet“ vom 14. Oktober. Das Interview ist ohne Angabe des Verfassers und der Quelle wörtlich ausgeschrieben, als handle es sich um eigenes Wissen des Verfassers.
2. Das erste türkische Communiqué (Konstantinopel, den 4. Juni) ohne Angabe des Datums.
3. Das dritte türkische Communiqué, Konstantinopel, den 16. Juni 1915.
4. Auszug aus dem Steckbrief gegen Boghos Nuba Pascha. Wörtliche Wiedergabe einer Konstantinopeler Korrespondenz, ohne Angabe der Quelle. S. Neues Wiener Tageblatt vom 4. Aug. 1915.

Es folgen zwei Zeitungsausschnitte, die eine Verdächtigung der „englischen“ Missionen in Armenien bezwecken:

5. Ausschnitt aus dem „Newyork Herald“, ohne Angabe des Datums.
6. Ausschnitt aus dem Bericht eines angeblich „kundigen deutschen Beobachters“, ohne Angabe von Quelle, Namen und Datum.

Sodann zwei Ausschnitte zur Charakteristik der armenischen Hintschakisten:

7. Ausschnitt aus einem Artikel von Reverend Cyrus Hamlin aus dem Bostoner Missionsorgan „The Congregationalist“, aus dem Anfang der neunziger Jahre.
8. Ausschnitt aus dem Organ der Hintschakisten „Hajk“, drei Wochen vor dem Armeniergemetzel von 1895.

Eine besondere Bewandnis hat es mit einem

9. Auszug aus einer ungedruckten „analytischen Geschichte Abdul Hamids“.

Dazu kommt noch:

10. Der Aufruf des Schweizer Komitees.

Diese 10 Ausschnitte umfassen 16 Seiten von den 33 der Broschüre.

Die ersten vier beweisen, daß dem Verfasser über die Ereignisse in der Türkei während des Krieges keine anderen Nachrichten zur Verfügung standen, als die, welche jedem deutschen Zeitungsleser bekannt waren, nämlich das Interview von Dr. Risaat und die türkischen Communiqués. Mehr Material besitzt der Verfasser nicht. Wie benützt er dieses Material?

Seiner Darstellung legt er in wörtlicher Entlehnung, aber ohne Angabe der Quelle das Interview des Jungägypters Dr. Risaat zugrunde, das wir Seite 164 bereits charakterisiert haben. Vielleicht war der unorientierte Herr Bratter nicht in der Lage, zu erkennen, daß Dr. Risaat ein Komplott der türkischen Opposition und einen „arabischen“ Aufstand für eine „allgemeine armenische Revolution“ ausgegeben hat. Umsoweniger hätte er den Inhalt des Interviews als eigene Weisheit auftischen dürfen. Es ist ihm auch unbekannt, daß das von Dr. Risaat umgefälschte Komplott der türkischen Opposition auf das Jahr 1912 zurückgeht, also auf eine Zeit, in der die Entente noch in guten Beziehungen zu den Jungtürken stand, und daß jenes Komplott bereits vor dem Ausbruch des europäischen Krieges von der Polizei in Konstantinopel aufgedeckt worden ist. Ebenso ist ihm unbekannt, daß „die aktenmäßige Darstellung“ dieses Komplotts bereits einige Monate vor dem Erscheinen seiner Broschüre im „Tanin“ veröffentlicht worden ist.

Eine Gegenüberstellung des Interviews von Dr. Risaat[32] und der Darstellung von Herrn Bratter wird deutlicher zeigen, wie die Sache gemacht ist. Die wörtlichen Entlehnungen sind gesperrt, die Zusätze von Herrn Bratter klein gedruckt.

Dr. Risaat: Herr Bratter:
„Ich kann hinzufügen, daß die türkische Regierung jederzeit gewillt ist, der neutralen Öffentlichkeit die Dokumente vorzulegen, die Englands Schuld beweisen.“[33] „Es wird in nicht allzuferner Zeit aktenmäßig dargelegt werden, daß England mit Hilfe Rußlands und Frankreichs in Armenien
„Die Massaker werden nicht aus rücksichtsloser Lust an der Ausrottung der armenischen Nation vorgenommen, sondern weil England eine weitverzweigte eine weitverzweigte
sozusagen alle in der Türkei wohnenden Armenier umfassende Verschwörung zu dem Zwecke angestiftet hat, einen großen Aufstand in dem Augenblick hervorzurufen, sobald die Flotten der Allierten in die Dardanellen eingedrungen wären Verschwörung angelegt hat zu dem Zwecke, einen allgemeinen Aufstand in dem Augenblicke hervorzurufen, in dem die Verbündeten in die Dardanellen eingedrungen wären.
Die Engländer hatten den Aufruhr sehr sorgfältig vorbereitet. Die Armenier waren mit Waffen und Munition in Mengen, ja sogar mit Polizeiuniformen für die provisorische von den Armeniern zu errichtende Regierung versehen. Die Engländer hatten den Aufruhr sehr sorgfältig vorbereitet. Die Armenier waren mit Waffen und Munition in großen Mengen, ja sogar mit Polizeiuniformen für die von den Armeniern zu errichtende provisorische Regierung versehen.
Zahlreiche … Dokumente erwiesen klar, daß die Engländer den größten in der Geschichte der Türkei bekannten Aufruhr organisiert hatten. Es war die größte Verschwörung, die England je im Orient angezettelt hat, und das will viel sagen.
Es handelt sich nicht um eine lokale Verschwörung, sondern um eine Verschwörung, die die eigentliche Existenz des Landes bedrohte und Konstantinopel den Allierten in die Hände spielen sollte. Es war eine Verschwörung, die den Bestand des türkischen Reiches bedrohte, denn ihr Zweck war Konstantinopel den Verbündeten in die Hände zu spielen.
Zum Unglück für die Armenier brach der Aufstand zu zeitig los, gleichzeitig verriet der Haupteingeweihte in Konstantinopel die ganze Verschwörung an die Regierung. Zum Unglück für die Armenier brach der Aufstand vorzeitig los; gleichzeitig wurde die Verschwörung der türkischen Regierung verraten.
Zahlreiche Verschworene wurden verhaftet und bestraft, Das Strafgericht war furchtbar, traf aber nicht ausschließlich die armenischen Verschwörer.
darunter der Hauptleiter des Aufruhrs in Arabien Scheich Abd ul Kerim. Obwohl er und seine Anhänger Muhammedaner waren, wurden dennoch einundzwanzig davon gehängt, hundert zu schweren Gefängnisstrafen verurteilt. Die Führer des Aufstandes in Arabien, sämtlich Muhammedaner, wurden ebenso grausam bestraft. Der Scheich Abd ul Kerim und einundzwanzig seiner Anhänger wurden gehängt, hundert andere gepeitscht und zu schweren Gefängnisstrafen verurteilt.

Man braucht keine philologisch geschulten Augen zu haben, um zu erkennen, daß die grundlegenden Ausführungen Bratters, die er sich den Anschein gibt aus eigenem Wissen beizubringen, aus dem verlogenen Interview von Dr. Risaat ausgeschrieben sind. Wir mußten das Interview von Risaat zerlegen und umstellen, um die Übereinstimmung mit dem Plagiat von Herrn Bratter ersichtlich zu machen.

Herr Bratter gönnte England die alleinige Urheberschaft der angeblich „alle Armenier, umfassenden Verschwörung“ nicht, sondern machte mit einem Federstrich Rußland und Frankreich zu Mitschuldigen. Auch die „Mengen von Waffen und Munition“ reichten ihm noch nicht aus, er macht „große“ Mengen daraus. Herr Bratter scheint auch einen Hang zur Grausamkeit zu haben, denn er macht das Strafgericht zu einem „furchtbaren“ und läßt die Hundert zu schweren Gefängnisstrafen verurteilten Araber noch vorher „peitschen“.

Wir wissen nicht, was an der arabischen Verschwörung des Scheich Abdul Kerim ist. Nach einer anderen Wiedergabe eines Interviews von Dr. Risaat sind die Mengen von Waffen und Munition und die Polizeiuniformen nicht bei Armeniern, sondern bei dem Araberscheich Abdul Kerim gefunden worden. Die einundzwanzig Gehenkten dagegen sind nicht Anhänger von Abdul Kerim, sondern die 21 Hintschakisten, die in Konstantinopel vor dem Seraskierat aufgeknüpft wurden. (Vgl. Seite 168 ff.) Vier von ihnen waren in das Komplott der türkisch-liberalen Opposition, das vor dem Kriege aufgedeckt wurde, verwickelt. Dieses mit einem arabischen Aufstand kombinierte türkische Komplott ist der einzige Beweis, den Dr. Risaat und sein Nachschreiber Herr Bratter für die erdichtete „alle in der Türkei wohnenden Armenier umfassende Verschwörung“ beibringt.

So also ist die Grundlage der Bratterschen Beweisführung beschaffen.

Der Eingang, mit dem Bratter sein Plagiat aus dem Interview von Dr. Risaat versehen hat: „Es wird in nicht allzuferner Zeit aktenmäßig dargelegt werden“, hat ihm so gut gefallen, daß er ihn noch zweimal zur Beglaubigung weiterer Behauptungen verwendet. Er schreibt:

„Es wird in nicht allzuferner Zeit gleichfalls bewiesen werden, 1. daß armenische Revolutionäre in diesem jetzigen Kriege eine Zeitlang die größten Städte des armenischen Hochlandes besetzten und sie den Russen auslieferten, 2. daß diese armenischen Banden überall mit russischen Waffen ausgerüstet waren, am Wansee mit russischen Truppen gegen die Türken kämpften, so daß diese Kämpfe sogar in den amtlichen Petersburger Kriegsberichten als „Siege“ verzeichnet wurden, 3. daß die Mehrzahl der armenischen Bevölkerung in der asiatischen Türkei sich in diesem Kriege neutral erklärte (!), anstatt für die Türkei gegen Rußland zu kämpfen.“

Hierzu ist zu sagen. 1. Es bedarf nicht erst eines Beweises, daß (zwar nicht armenische Revolutionäre, aber) Armenier sich in Wan verteidigt und in Schabin Karahissar den Burgfelsen besetzt haben, denn das ist in den offiziellen türkischen Communiqués zu lesen. Es handelt sich zwar nicht „um die größten Städte des armenischen Hochlandes“, aber um eine der größten Städte und um den Burgfelsen einer kleineren Stadt. Wie die auf den Burgfelsen von Schabin-Karahissar geflüchteten 500 Armenier es hätten machen sollen, die „Stadt an Rußland auszuliefern“, das scheint sich Herr Bratter nicht überlegt zu haben. Wan ist nicht von den belagerten Armeniern „den Russen ausgeliefert“ worden, sondern die Russen haben nach dem Abzug der Türken ohne Zutun der belagerten Armenier Wan und das ganze Wilajet Wan besetzt.

2. Auch die selbstverständliche Tatsache, daß die russischen Armenier mit russischen Waffen ausgerüstet und mit russischen Truppen gegen die Türken kämpften und daß diese Kämpfe in den amtlichen Petersburger Kriegsberichten als „Siege“ bezeichnet wurden, braucht nicht erst „in nicht allzuferner Zeit bewiesen zu werden“, denn jedermann außer Herrn Bratter weiß, daß 1½ Millionen Armenier im Kaukasus wohnen, und daß diese russischen Armenier so gut wie die russischen Polen auf russischer Seite zu kämpfen hatten. Selbstverständlich sind Siege, die russische Armenier mit russischen Truppen zusammen erfochten haben, „russische Siege“.

3. Daß die Mehrzahl der armenischen Bevölkerung in der asiatischen Türkei sich in diesem Kriege neutral erklärt hätte (!), ist eine so kindliche Vorstellung, das sie keiner Widerlegung bedarf. Man stelle sich vor, daß sich die Mehrzahl der preußischen Polen „für neutral erklärt hätten“.

„Es wird unter Beweis gestellt werden“, hebt Herr Bratter zum drittenmal an, „daß der englische Konsul in Mersina den Armenieraufstand im Wilajet Adana im April 1909 angezettelt hat. Ebenso das einige Jahre zuvor 40 000 Armenier, die an einem Aufstande beteiligt waren, mit Erlaubnis und Hilfeleistung der russischen Regierung nach Kaukasien flüchteten“. Man weiß nicht, welche von diesen beiden Behauptungen eine dreistere Erfindung ist. Einen Aufstand in Armenien hat es „einige Jahre vor 1909“ überhaupt nicht gegeben. Die „40 000 Armenier“, die sich zu der Zeit nach Kaukasien geflüchtet haben sollen, sind ebenso wie die angebliche Anzettelung des Massakers von Adana durch den englischen Konsul glatt erfunden. Die Wahrheit über das Massaker in Adana vom April 1909 kann jeder, der sie zu wissen wünscht, aus den Berichten von Dr. Paul Rohrbach erfahren, der nach dem Massaker Cilicien bereist hat.[34] Das Massaker in Adana ist auf türkisches Anstiften unter Mitwirkung jungtürkischer Truppen veranstaltet worden. Die türkischen Anstifter wurden unter dem Druck der Großmächte wenigstens teilweise von der türkischen Regierung bestraft. Für England, das seine intimen Beziehungen zu der jungtürkischen Regierung damals nicht trüben wollte, war die Sache im Gegenteil sehr unbequem, so daß sie möglichst ignoriert wurde.

Die türkischen Communiqués, die Bratter abdruckt, haben wir bereits analysiert. Ebenso haben wir die türkischen Angaben über die Mission von Boghos Nubar Pascha richtig gestellt. (S. 226-229.) Alles, was Herr Bratter erzählt, daß Boghos Nubar Pascha sich „in den Dienst der Mächte des Dreiverbandes gestellt habe“, daß er „Geldsammlungen zur Anwerbung armenischer Freiwilliger für die im Kaukasus operierende russische Armee veranstaltet“ habe, daß er in amerikanischen Blättern Aufrufe zum Aufstande der armenischen Nation veröffentlicht habe, daß er „ein unabhängiges Armenien unter ausländischer Kontrolle habe schaffen“ wollen usw., ist wörtlich aus der Konstantinopeler Korrespondenz ausgeschrieben, und entbehrt der Wahrheit. Wenn Herr Bratter aus seinem Eigenen hinzufügt, daß Boghos Nubar Pascha, (der als ägyptischer Großgrundbesitzer zu der konservativen Schicht des armenischen Volkes gehört) „einer der Haupträdelsführer der revolutionären Armenier“ sei, und schließt: „daß die Fäden der von Boghos Nubar geleiteten Verschwörung im russischen Gouverneurspalast zu Tiflis zusammenlaufen, ist längst erwiesen“, so ist die Leichtfertigkeit, mit der derartige lächerliche Erfindungen mangels jeder Beweise als „längst erwiesen“ ausgegeben werden, höchlichst zu bedauern.

Mit den Zeitungsausschnitten, die die Tätigkeit „einer Legion von Missionaren, die England nach Kleinasien entsandte“ beleuchten sollen, ist Herrn Bratter ein arges Mißgeschick begegnet. Er will nämlich durch sie beweisen, daß England in Kleinasien „allenthalben protestantische Schulen und Kirchen gründen ließ, die nach außen hin der religiösen, in Wahrheit der politischen Propaganda unter den Armeniern dienten“, und einen „Seelenfang mit ausgesprochen politischer Tendenz“ betrieb, um „die christlichen Völkerschaften in der Türkei als gebrauchsfertige Werkzeuge zur Hand zu haben, wenn England sie einmal gegen die Türken benötigen sollte“. Zwar weiß jedermann, daß England seit dem Krimkriege das politische Interesse gehabt hat, die asiatische Türkei als Pufferstaat gegen Rußland zu erhalten, daß es nur notgedrungen seit Beginn dieses Krieges von seiner früheren Politik abgewichen ist. Nach diesem Kriege wird es vermutlich durch seine Mittelmeerpolitik und zum Schutz des Suezkanals gezwungen sein, seine alte Politik weiterzuführen. Das Mißgeschick, das Herrn Bratter begegnet ist, besteht aber darin, daß es in Armenien überhaupt keine englischen Missionen gibt,26) sondern lediglich amerikanische, denen er selbst das Zeugnis ausstellt, daß sie ohne politische Absichten in die Türkei kamen. Natürlich gefallen ihm auch die amerikanischen Missionare nicht, denn er weiß von ihnen ebensoviel als von den englischen. Wo er es brauchen kann, beruft er sich zwar auf das Zeugnis eines amerikanischen Missionars „des hoch angesehenen Geistlichen Cyrus Hamlin“, aber zuvor läßt er sich vom „Newyork Herald“, dem er ein besonderes Maß von Glaubwürdigkeit für deutsche Leser beizumessen scheint, ein nettes Leumundszeugnis über amerikanische Missionare ausstellen. „Enthusiatische, halbgebildete und unerfahrene Männer, die imstande sind, jedes Land der Welt in Verwirrung zu bringen.“ Will man sich über die grandiosen Werke der amerikanischen Schul-Missionen in der Türkei ein Urteil bilden, so tut ein Deutscher sicherlich besser, deutsche Sachkenner, z. B. Prof. D. Jul. Richter von der Berliner Universität, zu befragen,[35] als den „Newyork Herald“. Dann wird man nicht solche Böcke schießen, daß man nicht existierende englische Missionen politischer Umtriebe in Armenien bezichtigt. Das Unglück will noch, daß die vom „Newyork Herald“ übel beleumundeten Missionare, die „ihre Bureaus in Newyork haben“, Presbyterianer sind, die in Armenien gar keine Arbeit haben. Die amerikanischen Missionare in Armenien sind Kongregationalisten, die ihre Bureaus in Boston haben.

Noch schlimmer geht es Herrn Bratter mit seinem „kundigen deutschen Beobachter, der die Verhältnisse an Ort und Stelle kennen lernte“. Auch dieser kundige Thebaner ist auf England geladen. Auch er regt sich über englische Missionare und Schulen in Anatolien auf, die im Interesse „der englischen Politik“ armenische Kinder „in Siwas, Kharput, Diarbekir“ durch ihre Erziehung auf die „Bahnen des Anarchismus“ getrieben haben. Hierfür solle man nicht das armenische Volk anklagen, „das sonst die meisten Eigenschaften besitzt, die einen ruhigen Staatsbürger auszuzeichnen pflegen“ und „nicht bloß die revolutionäre Jugend verantwortlich machen“, sondern solle „jene Engländer (die Missionare nämlich) schonungslos an den Pranger stellen, welche in die Seele des armenischen Volkes das Gift getröpfelt haben, das nun dem unglücklichen Volke Not und Tod bringt“.

Der „kundige deutsche Beobachter“ muß „an Ort und Stelle“ Visionen gehabt haben, denn an all den genannten Orten und in ganz Armenien hat es niemals einen englischen Missionar gegeben.

Als Beweis dafür, daß englische Missionare in Mersiwan (wo es nie englische Missionare gegeben hat) und in Kumkapu, (wo es ebenfalls keine englischen Missionare gibt) vom Hintschak veranstaltete Tumulte angestiftet hätten, wird eine amerikanische Enquete ins Feld geführt.

Den „Hintschakisten“, einer revolutionären Partei, die vor 20 Jahren im Kaukasus eine Bedeutung hatte, aber seitdem so gut wie verschollen ist, widmet Herr Bratter (da er nichts anderes über Armenien zu berichten weiß) auf 5 Seiten seine besondere Aufmerksamkeit. Was er darüber weiß, entnimmt er zwei längeren Zitaten, die aus dem Anfang der neunziger Jahre stammen, also mehr als zwanzig Jahre alt sind. Das eine ist dem Bostoner Missionsorgan der Kongregationalisten entnommen, also dem Organ derselben Missionare, die angeblich Anarchisten erziehen und in einem ihrer Kolleges in Mersiwan angeblich Hintschakistentumulte veranlaßt und geschürt haben. Dieser Artikel des kongregationalistischen Blattes, geschrieben von dem Missionar Rev. Cyrus Hamlin, dem „hochangesehenen“ Zeugen Bratters, verurteilt in der schärfsten Weise eben jene Hintschakisten, vor denen das armenische Volk aufs eindringlichste gewarnt wird. Herr Bratter scheint nicht bemerkt zu haben, daß dieser kongregationalistische Missionar, Rev. Hamlin, in dem von ihm zitierten Zeitungsausschnitt die Hintschakisten beschuldigt, die Türken gegen die protestantischen Missionare und die protestantischen Armenier aufzuhetzen, und daß er ihnen die Unruhen von Mersiwan in die Schuhe schiebt, während Herr Bratter dieselben Unruhen in Mersiwan ebendenselben kongregationalistischen Missionaren, in deren Namen Rev. Hamlin spricht, auf Rechnung setzt. Es ergibt sich dabei folgendes Bild: Die Hintschakisten hetzen gegen die protestantischen Missionare von Mersiwan, und die protestantischen Missionare von Mersiwan schüren die Hetzereien der Hintschakisten. Wenn amerikanische Missionare so handeln, dann sind sie allerdings „Männer, die“, wie der Newyork Herald sagt, „jedes Land der Welt in Verwirrung bringen können“. Sie würden nach dem Worte Jesu handeln: „Setzt sich nun der Satan wider sich selbst, so kann er nicht bestehen, sondern es ist aus mit ihm“. Aber solche Narren sind die amerikanischen Missionare wirklich nicht. Herr Bratter wird allerdings sagen, er habe nicht die armerikanischen Missionare von Mersiwan, sondern die englischen Missionare gemeint (die es dort niemals gab).

Was haben nun diese ganzen Deklamationen gegen die Hintschakisten, ein kleines Grüppchen revolutionärer Auslandarmenier, die unter den Armeniern der Türkei längst jeden Einfluß verloren haben, mit dem gegenwärtigen Stande der armenischen Frage zu tun? – Nichts. Nur der Mangel an Stoff kann es begreiflich machen, daß sich Herr Bratter so lebhaft für sie interessiert und noch einen Artikel aus dem „Hajk“ vom Jahre 1895 ausschreibt. Dem „berüchtigten“ Hamparzum, einen ihrer früheren Führer, der elf Jahre in türkischen Gefängnissen schmachtete und erst von den Jungtürken freigelassen worden ist, werden dabei die unglaublichsten Schändlichkeiten angedichtet. Entweder man verurteilt jede Revolution, oder man hat sich Revolutionäre darauf anzusehen, aus welchen Motiven sie handeln, und ob die Not ihres Volkes ihr Vorgehen rechtfertigt. Dann wird man zu einem billigen Urteil gelangen. Man vergesse doch nicht, daß die Jungtürken, die gegenwärtig unsere Bundesgenossen sind, zu jener Zeit Gesinnungsgenossen und Kameraden der Hintschakisten waren; beide wandten sich gegen die terroristische Regierung Abdul Hamids. Die revolutionären Bestrebungen der Jungtürken sind geglückt, die der Hintschakisten nicht. Das ist der Unterschied. Wer anders urteilt, macht sich der Heuchelei schuldig. Über das Massaker in Sassun sind ebenso wie über die großen Massakers, die Abdul Hamid veranstaltet hat, die Akten geschlossen. Wer mit dem Urteil, das alle Welt gewonnen hat, nicht übereinstimmt, soll erst die Bände von Konsular- und Botschaftsberichten aller Mächte, die darüber vorliegen, widerlegen und sich mit Männern wie Dr. Paul Rohrbach und anderen, die die Zustände in Armenien und ihre jüngste Geschichte aus eigener Anschauung kennen, auseinandersetzen.

Zur Charakteristik der Hamidischen Massakers, von denen Herr Bratter aus eigenen Quellen nichts weiß, zitiert er eine ungedruckte „analytische Geschichte der Regierung Abdul Hamids“ von einem „dem Jungtürkentum feindlich gesinnten freisinnigen albanesischen Fürsten“. Ob ein Historiker, der die Regierung Abdul Hamids behandeln will, über die Dutzende von europäischen Schriften vorliegen, sich gerade dem Urteil eines ungedruckten Albanesen anvertrauen würde, ist uns zweifelhaft. Immerhin läßt der zitierte Albanese dem armenischen Volk noch mehr Gerechtigkeit widerfahren, als Herr Bratter, denn augenscheinlich verurteilt er, daß Abdul Hamid „die Schuld einiger bestochener armenischer Fanatiker und Hallunken…“, „das ganze armenische Volk, das früher im osmanischen Reich fast das herrschende war, da es die meisten hohen Stellen und die größten Reichtümer besaß“, habe entgelten lassen. Auch lehnt sich das Gerechtigkeitsgefühl des Albanesen dagegen auf, daß „das ganze armenische Volk mit den paar Verbrechern identifiziert wird und unter schrecklichen Verfolgern leiden“ mußte.

Völlig schief ist bei dem Albanesen die Beurteilung des Zweckes, den die armenischen Revolutionäre mit Besetzung der Ottomanbank verfolgten. Selbstverständlich waren die Armenier nicht so töricht, zu glauben, daß sie „eine Revolution in Konstantinopel würden anzetteln“ können. Der Zweck der Besetzung der Ottomanbank war eine Demonstration an die Adresse der sechs Großmächte, die den § 61 des Berliner Vertrages unterschrieben und vor der Tatsache kapituliert hatten, daß Abdul Hamid ihre Reformbestrebungen für das unglückliche Armenien mit einer Abschlachtung von 80 bis 100 000 Armenier beantwortete. Darum ist die Frage des Albanesen, ob die Armenier mit der Besetzung der Ottomanbank „irgend welche verständliche Zwecke verfolgten“, unangebracht. Abdul Hamid wußte von dem Vorhaben und seinem Zweck, aber statt dem Anschlag vorzubeugen, ließ er die Revolutionäre gewähren und bereitete als Antwort auf die im übrigen unschädlich verlaufene Demonstration in aller Stille ein Massaker der Armenier von Konstantinopel vor, das dann unter den Augen der Botschafter der Großmächte vor sich ging. Nach dem offiziellen Bericht für den Palast zählten die Opfer 8750 Ermordete, nach dem Botschafterbericht 5-6000.

Ebenso unrichtig ist die Behauptung des Albanesen, „daß England die armenische Frage aus dem Nichts künstlich hervorgerufen habe zur Zeit, als der britische Einfluß in der Türkei stark gesunken war und das Ansehen Deutschlands zu steigen begann“. Die armenische Frage datiert vom Jahre 1878, aus der Zeit nach dem Russisch-Türkischen Kriege. Die deutsche Orientpolitik setzt 20 Jahre später ein. Wenn jemand die armenische Frage „geschaffen“ hat, so ist es nicht England, sondern Rußland, das in dem Vertrag von San Stefano den § 16 aufnahm, der die Grundlage des § 61 des Berliner Vertrages bildet. Nicht England allein, sondern alle sechs Großmächte, Deutschland eingeschlossen, haben sich als Unterzeichner des Berliner Vertrages für das Schicksal des armenischen Volkes verantwortlich gemacht. Ihre löbliche Absicht ging nach dem Buchstaben des Vertrages dahin, den Armeniern Schutz des Lebens und Eigentums gegen Kurden und Tscherkessen zu verbürgen. Bald genug wurde die armenische Frage ein Spiel der internationalen Diplomatie, die durch den Gegensatz der russischen und englischen Interessen in der Türkei bestimmt war. Als in den Jahren 1893-95 das armenische Reformprogramm entsprechend den Verpflichtungen des Berliner Vertrages von den Botschaftern Englands, Frankreichs und Rußlands unterschrieben und von Abdul Hamid unterzeichnet war, untersiegelte Abdul Hamid den Reformplan mit dem Blut von 100 000 Armeniern. Die jungtürkische Regierung ist seinem Beispiel gefolgt. Sie hat die russisch-deutschen Reformverhandlungen vom Jahre 1913/14 mit der Vernichtung des armenischen Volkes beantwortet. Ob zum Heile der Türkei, das wird die Zukunft lehren.

Soviel zur Richtigstellung der Urteile des Albanesen, der zwar über armenische Dinge schlecht unterrichtet ist, aber sich immerhin eines unparteilicheren Urteils befleißigt, als Herr Bratter.

Mit den Zitaten des Herrn Bratter aus dem Werk des Albanesen hat es aber noch eine eigene Bewandtnis, die für die Art, wie Herr Bratter zitiert, charakteristisch ist. Er gibt sich nämlich den Anschein, als ob er seine Zitate dem „Manuskript gebliebenen“ Geschichtswerk des Albanesen entnommen habe und bemerkt, daß in diesem Werk „natürlich auch die armenische Frage einen breiten Raum einnimmt“. In Wahrheit hat Herr Bratter die „Analytische Geschichte der Regierung Abdul Hamids“ niemals gesehen und ebensowenig stammen seine Zitate aus diesem Werke, denn die Anführungen von Bratter sind ein Plagiat aus dem Buch „Der erlöschende Halbmond, Türkische Enthüllungen von Alexander Ular und Enrico Insabato“, Verlag der Literarischen Anstalt Rütten & Loening, Frankfurt a. M. 1909.

Die Verfasser, die vielen bösartigen Klatsch zusammengetragen haben, mit der Absicht, die deutsche Orientpolitik zu verdächtigen, machen über das Manuskript des Albanesen die folgenden Angaben, denen wir das Plagiat des Herrn Bratter gegenüberstellen: die Änderungen von Bratter sind gesperrt gedruckt, Zusätze klein.

Ular und Insabato: Bratter:
„Als Einleitung zu unserer Darstellung seiner (Abdul Hamids) Herrschaft … glauben wir nichts besseres geben zu können, als eine kurze uns auf albanesisch
in die Feder diktierte Darstellung[36] einiger wesentlicher Momente der Hamidischen Regierung, deren Autor, einen freisinnigen, der ver­fas­sungs­mäßigen Regierung zugeneigten albanesischen Fürsten, „Ein dem Sultan Abdul Hamid nicht minder als dem Jungtürkentum feindlich gesinnter freisinniger albanesischer Fürst,
wir einstweilen nicht nennen dürfen, da er gerade jetzt in seinem Lande von den Jungtürken mit Meuchelmord bedroht wird. Dieser ausgezeichnete Mann hat jahrelang als erster Mitarbeiter Hilmi Paschas in Mazedonien zur Aufrechterhaltung der Ruhe… der jahrelang Mitarbeiter des mazedonischen Generalgouverneurs Hilmi Pascha war,
mehr als irgend ein Anderer getan… Er hat in hat
türkischer Sprache eine…
eine
großangelegte Geschichte Abdul Hamids verfaßt; doch wurde ihm im September 1908 das Manusskript dieses Werkes, dessen Titel „Analytische Geschichte der Regierung Abdul Hamids“ lautete, durch einen ungeheuerlichen Gewaltstreich der Jungtürken entrissen. Die folgenden nicht nur geschichtlich, sondern auch „Analytische Geschichte der Regierung Abdul Hamids“ geschrieben, in der natürlich auch die armenische Frage einen breiten Raum einnimmt. Dieses großangelegte Geschichtswerk ist bis jetzt Manusskript geblieben, da seine Ver­öf­fent­lich­ung aus politi­schen Gründen nicht oppurtun erschien.“
anekdotisch höchst interessante Sätze stellen die Zusammenfassung einiger Kapitel dieses Werkes dar.“

Wie man sieht, stammen die von Bratter angeführten Zitate nicht aus dem Geschichtswerk, das niemand gesehen hat, da es angeblich von den Jungtürken geraubt wurde, sondern aus Reminiszenzen aus diesem Werke, die der Albanese den Herren Ular und Insabato in die Feder diktierte. Dies verschweigt Herr Bratter, wie er auch die Quelle seiner Zitate, den „Erlöschenden Halbmond“ verschweigt. Der „breite Raum“, den die armenische Frage in diesen Reminiszenzen einnimmt, beträgt 1½ Seiten. Es ist das ungefähr alles, was Herr Bratter anführt, mit sehr charakteristischen Auslassungen und Zusätzen. Stellen wir Original und Kopie gegenüber:

Ular und Insabato: Bratter:
„Aber als man in London von dem Besuche Wilhelms und seiner Freundschaft zu Abdul Hamid erfuhr, stellte sich Britannien ein für alle mal auf feindliche Seite: und so erhob sich plötzlich aus dem Nichts die armenische Frage. Auch dieser Geschichtsschreiber stellt fest, daß England die „armenische Frage aus dem Nichts künstlich hervorgerufen hat zur Zeit, als der britische Einfluß in der Türkei stark gesunken war und das Ansehen Deutschlands zu steigen begann. Er schreibt sodann:
Durch die Schuld einiger weniger bestochener Fanatiker und Hallunken mußte nun bald das ganze armenische Volk, das früher im osmanischen Reich fast das herrschende war, da es die „Durch die Schuld einiger … bestochener Fanatiker und Hallunken mußte nun bald das ganze armenische Volk, das früher im osmanischen Reiche fast das herrschende war, da es die
meisten hohen Stellen und die größten Reichtümer besaß, von seinen Nachbarn meisten hohen Stellen und die größten Reichtümer besaß
mit den paar Verbrechern, mit den paar Verbrechern,
die zu ihm gehörten identifiziert identifiziert
werden, und unter schrecklichen Verfolgungen und Gemetzeln leiden, von denen Europa in Entsetzen erstarrte. werden, und unter schrecklichen Verfolgern leiden.
Wir müssen uns Wir müssen uns, angesichts des Angiffs auf die Ottoman-Bank (der ja nur einen Teil der großen Verschwörung bildete)
vorurteilslos fragen: Hatten denn die Armenier irgendwelche Gründe, verfolgten sie irgendwelche verständlichen Zwecke, besaßen sie irgendwelche Vorwände, um in Konstantinopel eine Revolution anzuzetteln? vorurteilslos fragen: Hatten denn die Armenier irgendwelche Gründe, verfolgten sie irgendwelche verständlichen Zwecke, besaßen sie irgendwelche Vorwände, um in Konstantinopel eine Revolution anzuzetteln?
Sicherlich nicht. Sicherlich nicht.
Denn in Konstantinopel waren sie höchstens einer gegen zwanzig und sie durften nicht die geringste Hoffnung hegen, sich der Stadt als eines ihrer revolutionären Handstreichen offenstehenden Manöverfeldes zu bedienen, und schließlich konnte man ihnen doch wirklich nicht gestatten, den Palast der Ottomanischen Denn in Konstantinopel waren sie höchstens einer gegen zwanzig und sie durften nicht die geringste Hoffnung hegen, sich der Stadt als eines ihrer revolutionären Handstreichen offenstehenden Manöverfeldes zu bedienen. Und schließlich konnte man ihnen doch wirklich nicht gestatten, den Palast der Ottomanischen
Bank mitten in der Hauptstadt in eine revolutionäre Festung zu verwandeln. Bank mitten in der Hauptstadt in eine revolutionäre Festung zu verwandeln.
Das größte Unglück bei ihrer verwerflichen Unternehmung aber war, daß die Häuptlinge, die die Unruhen hervorgerufen, persönlich unter dem Schutze der Ausländer, die sie bezahlt hatten, unversehrt gerettet wurden, während zahllose Unschuldige sich an ihrer Stelle jammervoll Das größte Unglück bei ihrer verwerflichen Unternehmung aber war, daß die Häuptlinge, die die Unruhen hervorgerufen, persönlich unter dem Schutze der Ausländer, die sie bezahlt hatten, unversehrt gerettet wurden, während zahllose Unschuldige an ihrer Stelle
dahinmorden lassen mußten. untergingen.
Und wer weiß nicht, das Und wer weiß    , ob
die Zahl dieser unglücklichen Opfer der Revolutionäre und der britischen Provokatoren sich noch verdoppelt oder verdreifacht hätte, wenn nicht ehrliche entsetzte Muselmanen in Übereinstimmung mit dem heiligen Gesetz Mohammeds, unzählige Armenier in ihren Häusern und in ihren Moscheen vor den tödlichen Knüppeln Kütschük-Saids geschützt hätten? die Zahl dieser unglücklichen Opfer der Revolutionäre und der britischen Provokatoren sich noch verdoppelt oder verdreifacht hätte, wenn nicht ehrliche Muselmanen in ihrem Entsetzen, dem heiligen Gesetz Mohammeds gehorchend, unzählige Armenier in ihren Häusern und in ihren Moscheen vor den tödlichen Knüppeln Kütschük-Saids geschützt hätten?

Man sieht, daß Herr Bratter, wie er oben den „Mordanschlag“ der Jungtürken auf den albanesischen Fürsten und die Tatsache, daß ihm sein Manuskript „durch einen ungeheuerlichen Gewaltstreich der Jungtürken“ entrissen wurde, unterdrückte, auch die Ausführungen seines angeblichen Gewährmannes abzuschwächen sucht, in dem er die „Verfolgungen und Gemetzel, vor denen Europa in Entsetzen erstarrte“ unterdrückt und das „sich jammervoll dahinmorden lassen“ zu einem „untergehen“ abschwächt. Auch die Änderung von „und wer weiß nicht, daß“ in „wer weiß, ob“ ist charakteristisch.

Wir wollen nun aber auch noch „den breiten Raum“, den angeblich „die armenische Frage“ in der „Analytischen Geschichte“ einnimmt, (die Herr Bratter niemals gesehen hat), ausfüllen, indem wir den Rest der Reminiszenzen aus dem Buch von Ular und Insabato hinzufügen:

„Diese Gemetzel haben nicht nur die Armenier fürchterlich mitgenommen, sondern auch der türkischen Regierung entsetzlichen Schaden gebracht. Sie hatten nämlich zur unmittelbaren Folge nicht nur einen äußerst nachteiligen Stillstand des ganzen wirtschaftlichen Lebens und vor allem des Handels, der zum großen Teil in armenischen Händen war, sondern auch die Auswanderung sehr vieler reicher Armenier, Großhändler und Finanzleute, die sich in alle möglichen fremden Länder zerstreuten, sich in Ägypten, Westeuropa und sogar in Amerika niederließen, und die nie wieder zurückgekehrt sind. Der türkische Fiskus hat dadurch jährlich wenigstens 10 bis 15 Millionen Franken an Steuern eingebüßt! … Und da erscheint auf dem Plane wieder Wilhelm II., der den Sultan gegen die reichsbedrohlichen Wutausbrüche der armenischen Freunde in westländischen Regierungen in Schutz nimmt, seine Haltung gut heißt und aus dem plötzlichen Verfall des armenischen Handels und der armenischen Finanz Nutzen zieht, indem er an die Stelle der Getöteten und ausgewanderten armenischen Großhändler deutsche Firmen setzt.“

Das ist alles, was der Albanese den Herren Ular und Insabato über die armenische Frage in die Feder diktiert hat. Herr Bratter weiß wohl, warum er den Rest unterdrückt, denn erstens wollte er sich den Anschein geben, als ob in seiner „Analytischen Geschichte“ noch mehr wissenswerte Dinge über die armenische Frage zu lesen wären, zweitens konnte er nicht wohl wagen, einem deutschen Publikum die niederträchtige Verleumdung des deutschen Kaisers, auf die es seinem Gewährsmann in erster Linie ankam, vorzusetzen. Sein Gewährsmann hätte damit sofort jedes Vertrauen für alles, was Herr Bratter von ihm ab schreibt, verloren.

Zur Sache ist noch zu bemerken, daß die Beschuldigung, der Angriff auf die Ottoman Bank sei auf englisches Anstiften und mit englischem Gelde erfolgt, vollkommen aus der Luft gegriffen ist. Die Armenier wünschten im Gegenteil gerade die öffentliche Meinung in England gegen die englische Regierung mobil zu machen, die die Massaker Abdul Hamids lediglich mit papiernen Noten beantwortete und den armenischen Reformplan ein für alle mal fallen ließ. Hätte England den Sultan Abdul Hamid bedrohen wollen, so hätte es andere Mittel zur Verfügung gehabt, als die Demonstration einer Handvoll Armenier.

Mit besonderer Kunst umgeht Herr Bratter die hamidischen Massakers aus dem Jahre 1895/96. Es gab ja eine Zeit, wo manche Leute davon lieber schwiegen. Nach dem Sturz von Abdul Hamid war dies anders geworden. Seit dem Siege der jungtürkischen Revolution gab jedermann dem toten Löwen Fußtritte. Auch in der deutschen Presse wurde Abdul Hamid nur noch der „rote“ oder der „blutige“ Sultan genannt. Die Armenier nennen nach ihren jüngsten Erfahrungen den Sultan Abdul Hamid jetzt ironisch „ihren Wohltäter“, da ihnen die Schläge, die er ihrer Nation versetzt hat, gegen ihr jetziges Schicksal erträglich erscheinen. Mögen die Armenier zu dieser „Rettung“ Abdul Hamids berechtigt sein, Herr Bratter ist es nicht. In keinem Falle aber ist ihm eine Geschichtsfälschung erlaubt, wie er sie auf Seite 34, 35 und 36 in seiner Schilderung der Massakers von 1894/95/96 begeht. Ich ziehe es vor, anzunehmen, daß auch hier Herr Bratter, wie im Falle der Ausschreibung des Dr. Risaat und der Herren Ular und Insabato, ein Plagiat begangen hat. Denn ein so gehäuftes Maß von Lügen zu erdichten, wie sie auf diesen drei Seiten zusammengedrängt sind, kann ich ihn nicht für fähig halten.

Über das Massaker von Sassun 1894 liegen ausführliche Berichte des Untersuchungsausschusses vor, der an Ort und Stelle die Tatsachen festgestellt hat. Bei Bratter haben nicht die Kurden das Massaker veranstaltet, sondern „der berüchtigte Hamparzum“ nebst 3000 armenischen Bauern.

Die Mordbrennereien von 3000 armenischen Bauern, desgleichen die „englische Hilfe“, sind frei erfunden.

Die Armenier-Massakers unter Abdul Hamit werden von Bratter in Türken-Massakers umgedichtet. Die Geschichte der hamidischen Massakers ist der Welt bekannt.[37] Es genügt daher, diese grobe Fälschung niedriger zu hängen. Man höre: „Der blutig unterdrückten Revolte von Zeitun[38] folgte im Herbste 1895 die bewaffnete[39] Kundgebung der Armenier in Konstantinopel und dieser die Aufstände (!) in Trapezunt im Wilajet Hundawendigiar[40]), im Wilajet (lies Sandschak) Ismid, im Wilajet Bitlis, im Wilajet Siwas, im Wilajet Diarbekir, im Wilajet Aleppo und eine nochmalige Revolte in Zeitun. (?) Fast überall setzen die Aufstände mit der Ermordung von Türken und Überfällen auf die Moscheen ein. Mit Bomben und Petroleum vollendeten die Revolutionäre, was sie mit Flinten und Dolchen begonnen hatten. In Trapezunt, in Aka Hissar (lies Akhissar), bei Erzerum führten sie förmliche Kriege gegen die muhammedanische Bevölkerung. Die Führer ließen im Wilajet Erzerum alle Armenier, die den Aufstand nicht unterstützen wollten, ermorden. Den armenischen Notabeln wurde bei Todesstrafe verboten, in die von dem türkischen Gouverneur zusammengerufenen Reformausschüsse einzutreten. In Bitlis hetzt der englische (?) Missionar Georges die Armenier öffentlich gegen die Regierung auf. Im Wilajet Diarbekir ist es das englische Konsulat, das die Revolte führt. In beiden Fällen behaupten die Engländer, wenn die Aufstände siegreich seien, werde die britische Regierung dafür sorgen, daß die Türkei gezwungen werde, die sechs armenischen Wilajets an den armenischen Zukunftsstaat abzutreten. In Serwet (gibt es nicht, soll wohl heißen Sört) zündeten die Armenier den Bazar an, so daß alle Türken, die sich in dem Gebäude befanden, bei lebendigem Leibe verbrannten. In Alexandrette gingen die Hintschakisten im britischen Konsulat ein und aus… Die Stadt Marasch wurde im November 1895 von den Armeniern gleichzeitig an drei Stellen angezündet. Über hundert Muhammedaner kamen in den Flammen um. Alle diese Schandtaten werden aber tief in den Schatten gestellt durch die beispiellosen Greuel, die die Armenier um dieselbe Zeit in Zeitun verübten und die allerdings von den Türken bitter gerächt wurden.“[41]

So lautet bei Bratter die Darstellung der Blutbäder Abdul Hamids.

In dieser Darstellung ist jeder Satz eine Lüge.

Man weiß nicht, was man sagen soll, wenn offenkundige geschichtliche Tatsachen so dreist in ihr Gegenteil umgedichtet werden. Aus der Massakrierung wehrloser entwaffneter Armenier werden Aufstände von Armeniern und Abschlachtungen von Türken gemacht. Die Brandschatzung christlicher Stadtviertel und Kirchen wird in Einäscherung türkischer Bazars und Überfälle auf Moscheen verwandelt usw. Natürlich muß als Kinderschreck hinter allem England stecken. Die Behauptung, daß England Aufstände angestiftet habe, ist genau so erlogen, wie die Aufstände selbst erlogen sind. Natürlich müssen wieder englische Missionare, die es gar nicht gab, ihre Hand im Spiel haben. Wie erklärt es wohl Herr Bratter, daß bei diesen angeblichen Türken-Massakers nur eine Handvoll Türken und Kurden umkam, während in allen armenischen Städten und Distrikten die Opfer zu Tausenden zählten, so daß die Gesamtzahl der Getöteten 80- bis 100 000 betrug?

Wie groß muß die Vergeßlichkeit und Kritiklosigkeit der Leser sein, denen man derartige Lügen vorsetzen kann.

Was bleibt noch von dem Inhalt der Bratterschen Broschüre übrig, wenn wir die Zeitungsausschnitte und die vom Verfasser benutzten „Manuskripte“ abziehen? Erstens, ein sinnloses Geschimpfe auf England bei jeder Gelegenheit, die sich bei den erlogenen Tatsachen zu bieten scheint. Zweitens, grundlose Verdächtigungen amerikanischer und gar nicht vorhandener englischer Missionare. Drittens, einige dürftige kritiklose Ausführungen ethnographischer und geschichtlicher Natur. (Seite 20 bis 26.) Der Verfasser unterläßt hierbei nicht seine Unparteilichkeit zu bezeugen, er wolle „selbstverständlich kein Verdammungsurteil über das ganze armenische Volk“ aussprechen, „das zu einem sehr großen Teile aus friedlichen, arbeitsamen und tüchtigen Elementen besteht.[42] „Die Armenier in dem Gebiet des Wansees, in dem Quellgebiet des Euphrat und Tigris, in den Tälern des Taurusgebirges“, nennt er sogar „die intelligentesten und fleißigsten Ackerbauer der Türkei“. Leider hat die türkische Regierung gerade diese „friedlichen, arbeitsamen und tüchtigen Elemente“ aus ihren Wohnsitzen ausgetrieben und „die intelligentesten und fleißigsten Ackerbauer der Türkei“ vernichtet. In den 6 östlichen Wilajets beträgt das armenische Element nicht, wie Bratter angibt, 16 sondern 25 %. Im eigentlichen „Armenien“, wenn man von den kurdischen Randgebieten dieser Wilajets absieht, 39 % (zusammen mit den ebenfalls vernichteten Syrern 43,6 %) der Bevölkerung. Die Unglücksgeschichte von Jahrhunderten ist keineswegs in den „inneren Streitigkeiten“ des armenischen Volkes begründet, sondern, wie schon ein flüchtiger Überblick über die Geschichte lehrt, von der geographischen Lage bedingt. Zwischen mächtigen Weltreichen eingekeilt und abwechselnd unterjocht, von Mongolen- und Tartareneinfällen überschwemmt, hat Armenien niemals gute Tage gesehen. Die Behauptung, daß „die hartnäckigsten Feinde der armenischen Reformen die Armenier selbst seien“ und „daß der ganze große Anhang der Revolutionskomitees sich heftig jedem Reformversuch widersetze und im Volke, teilweise durch Todesdrohungen, gegen jeden solchen Versuch Stimmung mache“, ist eine lächerliche Erfindung. Das hundertmal ausgesprochene Motiv der revolutionären Gruppen, die vor der Einführung der Konstitution Hand in Hand mit den Jungtürken am Sturz des absolutistischen Regimes arbeiteten, war die Durchsetzung des von den Großmächten im Berliner Vertrage gegebenen Reformversprechens. Nach Einführung der Konstitution verwandelte sich die früher revolutionäre Partei der Daschnakzagan, die einzige, die für das armenische Volk eine Bedeutung hat, in eine konstitutionelle Vertretung der Nation. Den russisch-deutschen Reformverhandlungen von 1913 lag das von den Daschnakzagan ausgearbeitete Programm zugrunde. Boghos Nubar Pascha, den Bratter „einen der Haupträdelsführer der revolutionären Armenier“ nennt, hat sich bei den Kabinetten von Berlin, Paris, London und Petersburg um nichts anderes als um die Durchsetzung des Reformprogrammes bemüht, eben in derjenigen Form, die von Deutschland der Pforte empfohlen und am 8. Februar 1914 von der Pforte angenommen wurde.

„Die zahlreichen armenischen Aufstände der letzten 25 Jahre“ (Seite 23) sind eine freie Erfindung von Herrn Bratter, und darum ist die Formel („der unheilvolle Kreislauf: Aufstände der Armenier, – Unterdrückung der Empörung, – Strenge Bestrafung der Rädelsführer, – Raub- und Mordzüge der Kurden, – Ermordung Unschuldiger und dadurch hervorgerufene neue Aufstandsbewegung“), auf die Bratter die armenische Frage bringt, unbrauchbar.

Niemand, weder die Hintschakisten, noch die Daschnakzagan, noch die amerikanischen Missionare, noch europäische Diplomaten, noch Boghos Nubar Pascha haben je von einem „selbständigen Königreich Armenien“ geredet oder geträumt, sondern, wie die geschichtlichen Dokumente von 35 Jahren beweisen, niemals etwas anderes als Reformen erstrebt und befürwortet, die den Armeniern das Mindestmaß bürgerlicher Rechte und Freiheiten sichern sollten, das für jeden europäischen Staatsbürger selbstverständlich ist. Daß für Rußland ein „Königreich Armenien“ völlig undenkbar ist, braucht nicht erst gesagt zu werden. Alle armenischen Politiker haben die Erhaltung der Souveränität der Türkei als eine Lebensfrage für das armenische Volkstum angesehen, ja selbst heute noch, nach der Vernichtung des halben Volkes und der völligen Ausplünderung der Überlebenden, lehnen russische und türkische Armenier eine Annexion durch Rußland ab und verlangen lediglich die Erhaltung und Wiederherstellung ihres Volkstums in einer nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Freiheit reorganisierten Türkei.27)

Herr Bratter kommt noch besonders auf die katholischen Armenier zu sprechen, deren Streitigkeiten mit den gregorianischen Armeniern er eine völlig überflüssige[43] Ausführung widmet, denn diese betreffen nicht das Schicksal der jetzigen armenischen Katholiken, die das Los ihrer gregorianischen und protestantischen Brüder geteilt haben.[44] Nicht den lebenden katholischen Armeniern wendet er sein Mitleid zu, wie es der Papst bei seiner letzten Kundgebung für den Weltfrieden und durch energische Schritte bei der Hohen Pforte getan hat, sondern 12 000 längst verstorbenen katholischen Armeniern, die im Jahre 1828 aus der Umgebung von Angora gezwungen wurden, nach Angora zurückzukehren.

Und nun noch ein Wort über die Apostrophen des Herrn Bratter an die Unterzeichner des Schweizer Aufrufes.[45]

„Woher wissen diese Herren das, was sie öffentlich behaupten? Wer und wo sind die einwandfreien Personen, die alles erzählen? Haben die Unterzeichneten sich die Mühe genommen oder auch nur die Gelegenheit gehabt, sich von der Einwandfreiheit dieser Personen zu überzeugen?“

Wir können Herrn Bratter versichern, daß sich die Unterzeichner die Mühe genommen haben, die er selbst sich nicht nahm. Diese Herren sind nicht so unwissend, wie Herr Bratter. Eine große Zahl von ihnen hat bis in die jüngste Zeit eine Fülle von Beziehungen auch zu entlegenen Teilen der Türkei. Es sind Männer darunter, die die Türkei nach allen Richtungen bereist haben und die Jahre und Jahrzehnte für das unglückliche armenische Volk große finanzielle Opfer gebracht und persönlich unter ihm gewirkt haben.

„Was wissen sie von allen diesen Dingen? Und warum faseln sie von einem Vernichtungskampf der Türken gegen die christlichen Armenier?“28)

Es gehört ein trauriger Mut dazu, Hundert der angesehensten und gebildetsten Schweizer der „Faselei“ zu beschuldigen, nachdem man seinen Namen auf eine Schrift gesetzt hat, wie die, welche wir leider genötigt waren, unter die Lupe zu nehmen.

Aufrichtig gesagt, wir würden nicht das Papier verschwendet haben, um uns mit der Schrift von Herrn Bratter zu befassen, aber leider ist Kritiklosigkeit ansteckend und Männer, denen man ein besseres Urteil zutrauen sollte, sind auf sein Pamphlet hereingefallen. Ich nenne zum Beweis dessen nur den Artikel von Graf Ernst Reventlow „Das Wesen der armenischen Greuel“ in Nr. 636 der „Deutschen Tageszeitung“ vom 19. Dezember 1915, die Nr. 49 der Allgemeinen Evangel. Luther. Kirchenzeitung vom 3. Dezember 1915, das evangelische Kirchenblatt für Württemberg Nr. 48 und eine Presseäußerung des allgemeinen Positiven Verbandes. Die Analyse des Bratterschen Pamphletes wird ja die Verfasser dieser Artikel in die Lage setzen, ihr Urteil zu berichtigen.




Ergebnis.


Die Tatsachen, die wir ermitteln konnten, ergeben das folgende Bild:

Die Zahl der Armenier in der Türkei betrug vor dem Kriege nach der Statistik des Patriarchats ca. 1 845 000. Von der Maßregel der Deportation wurden alle von Armeniern bewohnten Wilajets in Ost- und West-Anatolien, Cilicien und Mesopotamien betroffen. Verschont blieb außer Konstantinopel, Bagdad und Jerusalem nur das Wilajet Aidin mit Smyrna.29) Der Deportation entgingen die Armenier des Wilajets Wan und der angrenzenden Bezirke, die, soweit sie nicht von den Kurden getötet wurden, teils über die Grenze flohen, teils von den Russen ausquartiert wurden. Als verschont können auch die Familien gelten, die sich unter dem Druck der Behörden durch den Uebertritt zum Islam der Deportation entzogen und die zahllosen Mädchen, jungen Frauen und Kinder, die in türkische Harems verkauft und in kurdische Dörfer abgeführt wurden.

Höchstens ein Drittel der Bevölkerung mag durch Flucht, Islamisierung oder durch Belassung in ihren Wohnsitzen der Deportation entgangen sein. Drei Viertel der Bevölkerung (ca. 1 400 000) sind von der Deportation betroffen worden. In den östlichen Provinzen waren die Deportationen meist von systematischen Massakers begleitet, durch die hauptsächlich die männliche Bevölkerung, zum nicht geringen Teil auch Frauen und Kinder vernichtet wurden.

Von offizieller türkischer Seite ist die Zahl der getöteten Armenier auf 300 000 angegeben worden.30) Rechnet man hinzu, was von den Massen der Deportierten unterwegs und am Verschickungsziel durch Hunger und Krankheit umgekommen ist, so muß der Verlust an Menschenleben weit höher veranschlagt werden.

Nimmt man an, daß von der noch überlebenden Million Deportierter noch ein gutes Drittel auf der Landstraße liegt, in muhammedanische Dörfer versprengt oder in die Berge geflüchtet ist, so bleiben sechshunderttausend, zumeist Frauen und Kinder, die am Ziel der Verschickung in der mesopotamischen Wüste angekommen sein müßten.

Von der türkischen Regierung wurde die Maßregel der Deportation als „Ansiedlung nicht einwandfreier Familien in Mesopotamien“ charakterisiert. Eine Ansiedlung würde erfordern, daß den Deportierten Land, Häuser Vieh, Ackergerät, Saatgut usw. zugewiesen würde. Nichts dergleichen ist geschehen.

Die Expropriation betraf anderthalb Millionen Untertanen der Türkei, die Aecker, Häuser, Werkstätten, Kaufläden, Hausrat usw. besaßen. Sie mußten alles zurücklassen. Auf Entschädigung können sie nicht hoffen. Für einen Unterhalt der Ueberlebenden wird, von geringen Ausnahmen abgesehen, nicht gesorgt, so daß sie auf den Bettel angewiesen sind und in steigender Zahl dem Tode durch Hunger und Krankheit verfallen.

Da 80 Prozent des armenischen Volkes Ackerbauer waren, bleibt ein beträchtlicher Teil der sonst bebauten Bodenfläche der Türkei unbestellt, so daß auch die muhammedanische Bevölkerung dieser Gebiete von einer Hungersnot bedroht ist.

Den Schaden der Vernichtung des Wohlstandes der armenischen Nation trägt außer dem osmanischen Reich auch der deutsche Handel. Die Armenier hatten über 60 Prozent des Imports, 40 Prozent des Exports, wenigstens 80 Prozent des inländischen Handels und den größten Teil der Handwerke und freien Berufe in Händen. Die Arbeiter und Angestellten der deutschen Firmen in der Türkei waren größtenteils Armenier.

Gregorianer, Katholiken und Protestanten wurden gleichermaßen betroffen. Die Organisation der Kirche ist zerstört. Dem Patriarchat wurde die geistliche Versorgung der Deportierten nicht gestattet. Ueber tausend Kirchen stehen leer. Sie werden, wenn nicht zu profanen Zwecken verwendet, in Moscheen verwandelt oder dem Verfall überlassen.

Das blühende Schulwesen des armenischen Volkes, das mehr als 120 000 Volksschüler[46] zählte, ist vernichtet. Schulgebäude und Schulmittel sind konfisziert, die Lehrer vielfach getötet, die Lehrerinnen verschleppt oder verschickt.

Selbst die Familien hat man auseinandergerissen und die Männer von den Frauen, die Kinder von den Eltern getrennt.

Die politischen Folgen der Vernichtung der armenischen Nation treten jetzt schon zutage. Die russischen Armenier des Kaukasus, ca. 1½ Millionen, hatten bisher keinen Grund, sich mit Rußland zu identifizieren. Sie wünschten vielmehr die Erhaltung der Türkei, die ihrer Nation mehr Bürgschaften für den Fortbestand ihrer Kirche, Schule, Sprache und nationalen Sitte zu gewähren schien als Rußland. Durch die Verfolgung der Armenier in der Türkei wurden die russischen Armenier genötigt, sich Rußland in die Arme zu werfen. Von den syrischen Nestorianern gilt das gleiche.

Die moralischen Folgen der armenischen Massakers und Deportationen werden erst nach dem Kriege fühlbar werden. Die Welt wird sich nicht davon überzeugen lassen, daß strategische Rücksichten die Deportation einer halben Million von Frauen und Kindern, Massenkonversionen zum Islam und die Vernichtung Hunderttausender von Wehrlosen erforderten.

Alle Bemühungen, die Türkei wirtschaftlich und kulturell zu heben, werden durch die Expropriierung des intelligenten und fleißigen armenischen Volkes und durch die Vernichtung der wertvollsten Arbeitskräfte der Türkei aufs schwerste geschädigt werden.

Die politischen Führer des armenischen Volkes hatten sich nicht nur aller illoyalen Handlungen gegen die türkische Regierung enthalten, sondern schon seit Begründung der Verfassung die gegenwärtig herrschende jungtürkische Partei unterstützt. Die armenischen Intellektuellen werden nicht unterlassen, die völlige Aufklärung der Vorgänge herbeizuführen, denn sie sind der Ueberzeugung, daß die vernichtenden Maßregeln, die ihr Volk betroffen haben, in den panislamischen Tendenzen der gegenwärtigen türkischen Regierung und nicht in illoyalen Handlungen des armenischen Volkes begründet sind.

Der Verfasser ist für jede Berichtigung und Vervollständigung des Materials dankbar.




Das vorstehende ist im Jahre 1916 geschrieben. Zu Pfingsten 1919 ist die von mir herausgegebene Sammlung der diplomatischen Akten des deutschen Auswärtigen Amtes erschienen. Sie bestätigt alles, was ich 1916 berichtet und befürchtet habe. Die Zahl der ermordeten und durch Hunger vernichteten Armenier wird von den deutschen Autoritäten auf eine Million geschätzt.

Dr.Lepsius.


4. Nachträge.


1) Die letzte Phase der Verfolgungsgeschichte spielte sich im Kaukasus ab, als nach dem Frieden von Brest-Litowsk die russische Armee sich zurückzog und den Kaukasus der Invasion der türkischen Truppen preisgab. Über die Vorgänge im Kaukasus vgl. „Deutschland und Armenien 1914–1918“. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, hersg. und eingel. von Dr. Johannes Lepsius. Der Tempelverlag in Potsdam 1919. Einl. S. XLV und die Aktenstücke d. Js. 1918, S. 365 ff.

2) Über Nazareth Tschauch und die Entstehung der Unruhen in Zeitun vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. IX ff. und die Berichte von Konsul Roeßler, Aleppo, Aktenstücke Nr. 11 und 25.

3) Die Gesamtzahl der Deserteure, die, aus Christen und Muhammedanern bestehend, schon vor dem Kriege seit 1913 sich in die Berge geflüchtet hatten, betrug zu der Zeit nach Mitteilung von Herrn Konsul Roeßler etwa 150. Der Verlust der Toten und Verwundeten bei dem Angriff auf das Kloster wird von ihm auf „eine Anzahl Toter und Verwundeter“ angegeben.

4) Die Zahl von 20 000 Seelen umfaßt auch die Dörfer in der Umgegend von Zeitun.

5) Über die Vorgänge in Dörtjol sind nähere Berichte in dem deutschen Konsularbericht aus Adana vom 13. März 1915 gegeben. Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 19.

6) Über die Vorgänge in Urfa siehe die Berichte des deutschen Konsuls Herrn Roeßler von Aleppo, Lepsius, Dtschl. und. Arm. Nr. 193, 202 und 226 Anl. 1. Am 19. und 20. August fanden Massakers statt, bei denen etwa 200 Armenier getötet wurden. Am 29. September setzten sich die Armenier, um der drohenden Deportation zu entgehen, in Verteidigungszustand in ihrem Stadtviertel. Vom 4. bis zum 15. Oktober währte die Belagerung des Viertels durch türkische Truppen, wobei diese 50 Tote und 120 bis 130 Verwundete hatten. Die männliche armenische Bevölkerung der Stadt wurde, nachdem der Widerstand gebrochen war, zum größten Teil getötet, die Frauen und Kinder deportiert. Die Stadt zählte vor der Deportation etwa 20 000 Armenier.

7) Dazu schrieb Prediger J. Spörri, Leiter der Station Wan des deutschen Hilfsbundes für Christliches Liebeswerk im Orient, am 7. 10. 1916 aus Zürich an den Verfassen

„Als am 20. 4. 15 die Feindseligkeiten vor meinen Augen ausgebrochen waren und in schauerlicher Weise auf uns geschossen wurde, war ich gedrungen, an den Wali zu schreiben. Ich erzählte den Anfang der Feindseligkeiten, teilte mit, daß wir dem Kugelregen ausgesetzt seien, ersuchte, da ich annehmen mußte, daß solches unmöglich nach dem Wollen des Walis sein könne, um weitere Vermeidung solcher Handlungen und bat, die Streitigkeiten friedlich zu ordnen. Mit meinem Schreiben ging ich zu Dr. Usher (es war das ein gefährlicher Weg, da unaufhörlich geschossen wurde), las ihm den Inhalt vor und veranlaßte ihn, von seiner Seite ein Gleiches zu tun. Der Brief vom 23. 4. von Djevdet Bey war die Antwort auf unser Schreiben. Übrigens hatte ich die Verteidiger gebeten, sie möchten sich von der Front unserer Station zurückziehen, da sie das Feuer auf uns zögen. Ich hatte die Genugtuung, daß mein Wunsch erfüllt wurde. Freilich war auch so von einem Aufhören des Feuers gegen uns nicht die Rede.“

8) Auch der Wali Rachmi Bei wurde schließlich, wenn auch erst ein Jahr nach der allgemeinen Deportation, durch den Befehl der Regierung von Konstantinopel gezwungen, den Befehl zur Deportation zu geben. Lediglich dem Einschreiten des Oberbefehlshabers General Liman von Sanders, der mit militärischem Widerstand drohte, ist es zu danken, daß die Deportation der Armenier von Smyrna nicht zur Ausführung kam. Vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. LIX und die Aktenstücke Nr. 306, 307, 308.


9) Vgl. den fesselnden Bericht über die Flucht der Armenier von Suedije von Pastor Digran Andreasjan, der im Anhang von Lepsius, Dtschl. und Arm. abgedruckt, auch im Tempelverlag in Potsdam separat erschienen ist, „Suedije, eine Episode aus den Armenierverfolgungen des Jahres 1915.“ M. 0,50.

10) Durch Gesetz vom 1. August 1916 wurde ein Jahr darauf die alte Kirchenverfassung der gregorianischen Kirche zerstört und das Patriarchat von Konstantinopel in das Kloster Mar Jakub in Jerusalem verlegt. Erst nach dem Sturz der jungtürkischen Regierung und dem Zusammenbruch der Türkei wurde das Gesetz wieder aufgehoben.

11) Nach dem Zusammenbruch der Türkei ist das ursprüngliche Programm der Daschnagzagan natürlich gegenstandslos geworden. Auf den Glücksfall, daß die beiden Feinde der Armenier, die Türkei und Russland, gleichzeitig zusammenbrechen würden, so daß für ein völlig unabhängiges Groß-Armenien Raum wurde, konnte kein politisches Programm im voraus rechnen.

12) Wartkes wurde zusammen mit Sohrab auf dem Wege von Urfa nach Diarbekir durch die begleitenden Gendarmen auf Befehl der Regierung ermordet. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. 109.

13) Die Polizei in Konstantinopel hat nachträglich zwei Bilderbücher mit Haufen von Gewehren, Bomben, Fahnen und dergl. veröffentlicht, die nur Unkundige über den Wert solcher Machwerke täuschen können. Eine Charakteristik dieser Publikation hat die Deutsch-Armenische Gesellschaft veröffentlicht.

14) Vgl. den Bericht des deutschen Botschafters Freiherrn von Wangenheim in Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 38. „Die Behauptung, es lägen Beweise vor, daß für den Tag des Thronbesteigungsfestes ein Putsch beabsichtigt gewesen sei, erklärte Talaat Bey für unzutreffend.“ Die Pforte selbst erklärte offiziell die Verschickung der Konstantinopler Intellektuellen nur für eine Vorbeugungsmaßregel.

15) Die letzte türkische Lesung lautete, daß alle 180 000 Muselmanen von den Armeniern massakriert worden seien. Vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. LXXIII f.

16) Vgl. dazu die Berichte des deutschen Konsuls Herrn Anders in Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 5, 6 und 10.

17) Das später erschienene Communiqué der türkischen Regierung über die Vorgänge in Urfa wird von dem deutschen Konsul Herrn Roeßler in Aleppo in seinem Bericht vom 16. November 1915 einer Kritik unterzogen. Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 202.

18) Vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. Einl Kap. V, 5: Die offizielle Motivierung. S. LXVI ff.

19) Vgl. die Urteile der deutschen Botschafter und Konsuln ebenda S. LXXVI ff.

20) Vgl. das Urteil des deutschen Botschafters Graf Wolff-Metternich in Lepsius, Dtschl. und. Arm. Nr. 287.

21) Vgl. die Urteile deutscher Konsuln in Lepsius, Dtschl. und Arm. S. LXXVI ff.

22) Wäre die Türkei siegreich aus dem Krieg hervorgegangen, so wäre allerdings nicht daran zu denken gewesen, daß der Raub des gesamten Nationalgutes des armenischen Volkes wieder rückgängig gemacht worden wäre. Auch jetzt wird es schwer sein, auch nur einen beträchtlichen Teil der beweglichen Habe den Dieben und Räubern, die daß Gut schon längst verschleudert haben werden, zu entreißen.

23) Vgl. den Bericht über die Verhandlungen im türkischen Senat vom Oktober und November 1915 in Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 223.

24) Vgl. zu diesem Kapitel den Abschnitt: Zwangsbekehrungen zum Islam, in der Einleitung von Lepsius, Dtschl. und Arm. und ebenda die Konsularberichte laut Sachregister unter Zwangsbekehrungen.

25) Vgl. den Bericht des deutschen Vizekonsuls Herrn Kuckhoff vom 4. Juli 1915 aus Samsun, Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 116 Anlage.

26) Nur unter den syrischen Nestorianern gab es eine kleine hochkirchliche Mission, die am Sitz des nestorianischen Patriarchen in Kodschannes bei Djulamerg im oberen Zabtal und in Urmia auf persischem Gebiet eine Vertretung hatte und eine Art Nuntiatur des Erzbischofs von Canterbury bei dem nestorianischen Patriarchat bildete. Diese hochkirchlichen Herren haben niemals mit Armenien oder der armenischen Frage zu tun gehabt und sich ausschließlich auf die syrischen Nestorianer beschränkt.

27) Dies war Anfang 1916 geschrieben. Nach der Vernichtung ihres Volkstums in der Türkei würden es jetzt natürlich alle noch Überlebenden Armenier ablehnen, unter türkische Herrschaft zurückzukehren.

28) Vielleicht wird Herr Bratter nach der Veröffentlichung der diplomatischen Aktenstücke über den Vernichtungskampf der Türken gegen die christlichen Armenier durch die Urteile der deutschen Botschafter und Konsuln jetzt eines Besseren belehrt werden.

29) Den genannten Städten ist noch Aleppo hinzuzufügen, wo dank der rastlosen Bemühungen des deutschen Konsuls wenigstens die ortsansässige Bevölkerung von der Deportation verschont blieb. Die Armenier von Bagdad waren zunächst nach Mossul deportiert worden und sollten von dort weitergeschafft werden. Der Einspruch des Feldmarschalls Freiherrn von der Goltz, der den Weitertransport untersagte, wurde von der Regierung in Konstantinopel erst respektiert, als der Feldmarschall wegen dieser Sache telegraphisch um seine sofortige Abberufung bat. S. Lepsius, Dtschl. und Arm. Einl. S. LIX und Aktenstück Nr. 224.


30) Über den Gesamtverlust an Ermordeten und Verhungerten, der auf eine Million geschätzt wird, vgl. Lepsius Dtschl. und Arm. Einleitung V, 4, S. LXIII, das Kapitel: Opfer.




5. Statistik der armenischen
Wilajet Provinz Sprengel
Name Bev.-Zahl Name
 1. Cilicien und Nordsyrien
 Adana 79 600   Sis
 Adana
 Hadjin
 Payas
 Aleppo 163 350   Aleppo
 Marasch
 Furnus
 Zeitun
 Aintab
 Urfa
 Antiochia
242 950 
 2. Ost-Anatolien
 Trapezunt 53 500   Trapezunt
 Samsun
 Erzerum 203 400   Erzerum
 Erzingjan
 Baiburt
 Hassankale
 Terdjan
 Kemach
 Khortzian
 Bajasid
 Siwas 200 000   Siwas
 Tokat
 Amasia
Übertrag:  456 900 


Bevölkerung der Türkei.
Gregor. Kathol. Protest. Gesamtzahl Verschont Geflüchtet Deportiert
oder getötet
 
9 000  500  9 500  9 500 
35 000  2 000  900  37 900  37 900 
20 000  1 000  200  21 200  21 200 
11 000  11 000  11 000 
15 000  5 000  2 000  22 000  22 000 
30 000  4 000  3 500  37 500  37 500 
7 000  7 000  7 000 
20 000  500  550  21 050  21 050 
30 000  1 000  4 000  35 000  35 000 
24 000  1 000  800  25 800  25 800 
12 000  2 000  1 000  15 000  4 000  11 000 
213 000  16 500  13 450  242 950  4 000  238 950 
 
30 000  2 000  700  32 700  32 700 
20 000  500  300  20 800  20 800 
75 000  8 000  2 000  85 000  25 000  60 000 
25 000  500  25 500  25 500 
17 000  17 000  17 000 
10 000  500  10 500  10 500 
15 000  15 000  15 000 
10 000  200  10 200  10 200 
24 000  1 000  25 000  25 000 
14 000  1 000  200  15 200  15 200 
80 000  5 000  1 000  86 000  86 000 
21 000  2 000  500  23 500  23 500 
25 000  500  3 000  28 500  28 500 
366 000  20 500  8 400  394 900  40 200  354 700 

Wilajet Provinz Sprengel
Name Bev.-Zahl Name
Übertrag:   456 900 
 Nekopolis
 Dewrigh
 Gurun
 Darende
 Kharput (Mamuret ül Asis) 131 200   Kharput
 Egin
 Arabkir
 Tschimischkesek
 Tscharsandjak
 Malatia
 Diarbekir 81 700   Diarbekir
 Palu
 Argana
 Tschingusch
 Wan 192 200   Wan
 Lim u. Ktutz
 Baschkale
 Achtamar
 Bitlis 196 000   Bitlis
 Kusch
 Selert
 Khizan
1 058 000 
 3. West-Anatolien
 Ismid 71 100   Nikomedien
 Armasch
 Brussa (Khodawendigiar) 91 200   Brussa
 Biledjik
 Panderma
 Kutuhia
Übertrag:  162 300 

Gregor. Kathol. Protest. Gesamtzahl Verschont Geflüchtet Deportiert
oder getötet
366 000  20 500  8 400  394 900  40 200  354 700 
25 000  200  25 200  25 200 
11 000  300  11 300  11 300 
17 000  500  1 000  18 500  18 500 
7 000  7 000  7 000 
45 000  2 000  4 000  51 000  51 000 
10 000  200  10 200  10 200 
18 000  500  1 000  19 500  19 500 
9 000  9 000  9 000 
18 000  500  18 500  18 500 
20 000  2 000  1 000  23 000  23 000 
45 000  1 000  1 000  47 000  47 000 
22 000  300  22 300  22 300 
6 000  500  200  6 700  6 700 
5 000  700  5 700  5 700 
100 000  500  200  100 700  100 700 
11 000  11 000  11 000 
10 000  10 000  10 000 
70 000  500  70 500  70 500 
50 000  500  1 000  51 500  8 000  43 500 
90 000  3 000  1 000  94 000  94 000 
25 000  500  25 500  25 500 
25 000  25 000  25 000 
1 005 000  31 500  21 500  1 058 000  240 400  817 600 
 
65 000  500  600  66 100  66 100 
5 000  5 000  5 000 
35 000  3 000  500  38 500  38 500 
17 000  1 000  18 000  18 000 
15 000  500  15 500  15 500 
18 000  1 000  200  19 200  19 200 
155 000  6 000  1 300  162 300  162 300 

Wilajet Provinz Sprengel
Name Bev.-Zahl Name
Übertrag:   162 300 
 Smyrna (Aidin) 27 200   Smyrna
 Kastamuni 14 000   Kastamuni
 Angora 108 500   Angora
 Kaisarje
 Josgad
 Konia 25 000   Konia
337 000 
 4. Europäische Türkei
 Konstantinopel 161 000   Konstantinopel
 Adrianopel 33 000   Adrianopel
 Rodosto
194 000 
 5. Syrien,Palästina,Bagdad
 Jerusalem 4 200   Jerusalem
 Jaffa
 Syrien 2 000   Damaskus
 Beyrut 1 300   Beyrut
 Bagdad 6 000   Bagdad
13 500 
Zusammenstellung
 Cilicien u. Nordpersien 242 950 
 Ost-Anatolien 1 058 000 
 West-Anatolien 337 000 
 Konstantinopel und
Adrianopel
194 000 
 Syrien,Palästina,Bagdad 13 500 
1 845 450 


In der Zahl der aus den Wilajets Erzerum, Wan und Bitlis Geflüchteten (vor-

umgekommen sind, eingeschlossen. In der Zahl der Deportierten

Gregor. Kathol. Protest. Gesamtzahl Verschont Geflüchtet Deportiert
oder getötet
155 000  6 000  1 300  162 300  162 300 [WS 10]
25 000  2 000  200  27 200  27 200 
14 000  14 000  14 000 
16 000  7 000  500  23 500  23 500 
40 000  2 000  2 000  44 000  44 000 
40 000  1 000  41 000  41 000 
25 000  25 000  25 000 
315 000  17 000  5 000  337 000  27 200  309 800 
 
150 000  10 000  1 000  161 000  151 000  10 000 [WS 11]
8 000  8 000  4 000  4 000 
25 000  25 000  9 000  16 000 
183 000  10 000  1 000  194 000  164 000  30 000 
 
3 000  200  3 200  3 200 
1 000  1 000  1 000 
2 000  2 000  2 000 
1 000  300  1 300  1 300 
5 000  1 000  6 000  6 000 
12 000  1 500  13 500  13 500 
obiger Statistik.
213 000  16 500  13 450  242 950  4 000  238 950 [WS 12]
1 005 000  31 500  21 500  1 058 000  240 400  817 600 
315 000  17 000  5 000  337 000  27 200  309 800 
 
183 000  10 000  1 000  194 000  164 000  30 000 
12 000  1 500  13 500  13 500 
1 728 000  76 500  40 950  1 845 450  204 700  244 400  1 396 350 


letzte Spalte) sind die, die von den Kurden massakriert wurden oder auf der Flucht
oder Getöteten (letzte Spalte) sind die Islamisierten mit enthalten.

Anmerkungen

  1. Abgedruckt in „Deutschland und Armenien 1914–1918“, Sammlung diplomatischer Aktenstücke, herausgegeben und eingeleitet von Dr. Johannes Lepsius, Tempelverlag in Potsdam S. 79 (Nr. 72).
  2. „Deutschland und Armenien, 1914–18.“
  3. Im Wilajet Bitlis.
  4. Der größere Teil der aus Cilicien Deportierten wurde über Marasch und Urfa in der Richtung auf Weranscheher und Ras-ul-Ajin, 5 bis 6000 über Adana nach Konia transportiert.
  5. Den folgenden Absatz des Berichtes über die wirtschaftlichen Folgen siehe Seite 248.
  6. Die Partei heißt Daschnakzutiun, die Mitglieder der Partei Daschnakzagan.
  7. Nach andrer Quelle waren es 26 Männer.
  8. Sein Name ist Raïl Bey.
  9. Über Zwangsbekehrungen im Wilajet Trapezunt vgl. Seite 183.
  10. Diese Geschichte ist von türkischer Seite umgekehrt erzählt worden, als sei die Tortur von Armeniern einem türkischen Kaimakam zugefügt worden. Der zynische Witz des Wali bürgt dafür, daß die obige Lesart die richtige ist.
  11. Mesereh ist die Unterstadt von Kharput.
  12. Das Folgende nach Berichten von deutschen Beamten.
  13. Der amerikanische Bericht wird durch die Mitteilungen von Herrn Spörri, Leiter des deutschen Waisenhauses, der nach der Zerstörung von Wan als Letzter die Stadt verlassen hat und über Rußland zurückgekehrt ist, bestätigt.
  14. Das gleiche Angebot wurde dem deutschen Waisenhaus gemacht und von Herrn Spörri angenommen; eine Wache wurde aber nicht gestellt
  15. Sie war als Mädchen im deutschen Waisenhaus erzogen und war vom Lande, wo die Dörfer verwüstet wurden, in die Stadt geflüchtet.
  16. Auch das Grundstück der Deutschen Mission wurde beschossen, obwohl eine deutsche Fahne darüber wehte.
  17. Djevded Bey ist der Sohn und Nachfolger des ausgezeichneten Wali Tahir Pascha, der 16 Jahre lang im besten Einvernehmen mit den Armeniern als Gouverneur des Wilajets Wan in der Stadt gelebt hatte und Muhammedanern und Christen gleichermaßen gerecht geworden war.
  18. Inzwischen traf die Nachricht ein, daß Schwester Martha Kleiß am 30. Juli in Bitlis an Typhus gestorben ist.
  19. Auch auf dem Grundstück der deutschen Mission wurden 600 türkische Frauen und Kinder untergebracht.
  20. Dies wird auch von den Deutschen, die die Belagerung mit durchmachten, bestätigt.
  21. Diese zwei Bezirke, obgleich dem Sandschak Gendj angegliedert, gehören geographisch zu Sassun.
  22. „Deir-es-Sor“ am Euphrat ist nur von muhammedanischen Arabern bewohnt.
  23. Die Preßlüge von einer „armenischen Revolution“ stammt aus dem Kopenhagener Interview des Jung-Ägppters Risaat Bey vgl. Seite 164.
  24. Zwar war zu dieser Zeit Cilicien schon ausgeleert und die allgemeine Deportation hatte begonnen.
  25. Die Parteikorrespondenz der Bureaus von Konstantinopel, der die obigen Auszüge entnommen sind, war für die verschiedenen Zentralkomitees im Inland und Ausland bestimmt. Sie enthält alle Nachrichten, die das Bureau aus dem Inneren erhielt, und berichtet über die Vorgänge in Konstantinopel. Der intime Charakter der Korrespondenz bringt es mit sich, daß man die Stimmungen, Urteile, Sorgen und Überlegungen, wie sie unter dem wechselnden Eindruck der Ereignisse entstehen, mit voller Deutlichkeit und Unbefangenheit verfolgen kann und einen unmittelbaren Eindruck von der Wahrhaftigkeit des Berichteten gewinnt.
  26. Bis vor kurzem war er Kammerpräsident.
  27. Wartkes (Rosenpferd) ist der Schriftstellername des Abgeordneten Ohannes Seringülian. Die Armenier nennen sich gern untereinander bei Zunamen, die sie sich geben, und die so allgemein gebraucht werden, daß bekanntere Armenier auch in der Öffentlichkeit meist nur mit ihren Zunamen genannt werden.
  28. Diese Reformbestrebungen hatten für die Armenier niemals etwas anderes zu erreichen gehofft, als Sicherheit von Leben und Eigentum und Schutz vor räuberischen Kurden. Wenn die Großmächte wiederholt auf diese Reformen zurückkamen und die Wünsche der Armenier unterstützten, so war die durch den Berliner Vertrag (§ 81) von 1878 begründet. Auch Deutschland hatte sich im Jahr 1913 In hervorragender Weise an den Reformverhandlungen beteiligt und die Pforte zur Annahme des in der Note vom 26. Januar/8. Februar 1913 formulierten Reformprogrammes bewogen. Aus den Verhandlungen der Mächte und den Zugeständnissen der Pforte wurde jetzt den Armeniern ein Verbrechen gemacht. Vgl. S. 179.
  29. Die Photographie stellt die Fahnenweihe eines russisch-armenischen Freikorps dar, bei der Garo Pasdermadschian zugegen war. Er selbst hat überhaupt nicht mit der Waffe gekämpft. sondern das Hilfswerk für die armenischen Flüchtlinge organisiert. Ebensowenig ist er verwundet worden. Vergl. Seite 180f.
  30. Es ist nur wenig bekannt, daß die literaische Renaissance, die die Armenier des Kaukasus in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ihrer Nation geschenkt haben, aufs Stärkste durch den deutschen Idealismus beeinflußt worden ist. Ihre Führer haben zu den Füßen deutscher Professoren in Dorpat gesessen und unsere klassischen Dichter ins Armenische übersetzt.
  31. Der größte Importeur von Konstantinopel Ipranossian, dessen Geschäft über 40 Filialen in den Städten des Innern hat, konnte, trotzdem er die größten Opfer für den Krieg gebracht hat, aus der Verschickung erst zurückkehren, als er zum Islam übertrat.
  32. Vossische Zeitung. Drahtmeldung Kopenhagen, 14. Oktober 1915.
  33. Bei Risaat ist dies der Schlußsatz.
  34. Dr. Paul Rohrbach, Die Wahrheit über Adana. Christl. Orient, Oktober 1909 S. 145 ff. - Die Hilfe, Nr. 46, 14. Nov. 1909. - Weltpolitisches Wanderbuch. K. R. Langewiesche, Königstein u. Leipzig. 1916. S. 118 ff.
  35. Allgemeine evangelische Missionsgeschichte II. Band. Mission und Evangelisation im Orient. Gütersloh, 1908.
  36. Dieses Diktat füllt die Seiten 113 bis 132 in dem Buch von Ular und Insabato und enthält weiter nichts als Klatsch und Verleumdungen über die Besuche des deutschen Kaisers in Konstantinopel.
  37. Über die Armenier-Massakers von 1895/96, die mit dem 2. Oktober 1895 in Trapezunt einsetzten, liegt der jedermann zugängliche Botschafterbericht vor, der am 4. Februar 1896 durch eine Kollektivnote der Botschafter der sechs Großmächte (auch Deutschlands) an die Hohe Pforte überreicht wurde. Er ist abgedruckt in: Lepsius, Armenien und Europa (Sechste Auflage Berlin 1897). Wenn jemand über die Wahrheit noch im Zweifel sein sollte, so lege er den Botschafterbericht neben die Darstellung von Herrn Bratter, und er wird über die groteske Verlogenheit (seiner, wie ich annehme kritiklos benutzten ungenannten Quelle) erstaunt sein.
  38. Bekanntlich wurde von den europäischen Konsuln ausgerechnet den Leuten von Zeitun eine Amnestie erwirkt, so daß sie von einem Massaker verschont blieben.
  39. Bekanntlich war diese Kundgebung unbewaffnet.
  40. Europäer pflegen dieses Wilajet „Brussa“ zu nennen. Der Umstand, daß Herr Bratter die türkische Bezeichnung (lies: „Khodawendighiar“) gebraucht, läßt wohl daraus schließen, daß sich Bratter einer türkischen Quelle bedient.
  41. Im Gegenteil, die europäischen Konsuln erwirkten den Armeniern von Zeitun volle Amnestie.
  42. Natürlich fehlen auch bei Bratter „die vielfach als Betrüger und Wucherer verschrieenen armenischen Kaufleute“ nicht. Die Tatsache daß unsere Großbanken und Exporteure ihr Hauptgeschäft in der Türkei mit armenischen Kaufleuten machen und ihnen die größten Kredite einräumen, sollte eigentlich genügen, diese Reporterlegende aus der Welt zu schaffen. Da die „serbischen Hammeldiebe“ und die „armenischen Gauner“ schon seit Jahrzehnten den eisernen Bestand der Orientkenntnisse unwissender Reporter bilden, wäre es an der Zeit, daß diese unwürdigen Beschimpfungen ganzer Nationen endlich aus der Presse verschwinden.
  43. Überflüssig ist es auch, daß Bratter eine angebliche Beschimpfung des römischen Papstes durch einen armenischen Patriarchen aus dem Jahre 1828 der Vergessenheit entreißt. (Seite 25.)
  44. Die für die „armenische Frage“ völlig belanglosen konfessionellen Streitigkeiten zwischen den gregorianischen und den mit Rom unirten katholischen Armeniern „eine gegenseitige Zerfleischung“ der Nation zu nennen ist sinnlos. Die Gregorianer zählen insgesammt rund 3 800 000, die katholischen Armenier 140 000, die prostetantischen 60000; also Gregorianer 95 %, Katholiken 3½ %, Protestanten l½ %. Auch von katholischer Seite wurde eine Eingabe an den Reichskanzler wegen der Vernichtung ihrer armenischen Glaubensbrüder gerichtet.
  45. Auf den Anwurf wegen der Burenfrage hat er im Baseler „Kirchenfreund“, Nr. 9, 14. Januar 1916, S. 30 die gebührende Abfertigung erhalten.
  46. Die Gesamtzahl der Schüler in den türkischen Regierungsvolksschulen beträgt nach offizieller türkischer Statistik nur 242 069 Schüler und Schülerinnen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: benachrichtig
  2. Vorlage: Die
  3. Vorlage: Cornal
  4. Vorlage: häten
  5. Vorlage: hauptächlich
  6. Vorlage: Jaunar
  7. Vorlage: Pädagog
  8. Vorlage: wertvollen
  9. Vorlage: dem
  10. Vorlage: 162 000
  11. Vorlage: 1000
  12. Vorlage: 238 953