Deutsche Selbstsucht und französischer Großmuth

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Autor: Max Nordau
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Titel: Deutsche Selbstsucht und französischer Großmuth
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 235–238
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Deutsche Selbstsucht und französische Großmuth.

Von Max Nordau.

In einem Buche, das gegenwärtig in Frankreich und über dessen Grenzen hinaus einen, ich muß sagen nicht ganz berechtigten, Lärm macht, in „Les Allemands“ (die Deutschen) vom Dominikaner Pater Didon, findet sich über den französischen und deutschen Nationalgeist folgende Stelle: „Obwohl die Selbstlosigkeit unter den Individuen häufiger ist, als unter den Völkern, giebt es doch auch unter diesen wie unter jenen eine Ehrlichkeit und Moral. Die Geschichte eines Volkes muß nicht nothwendig ein Gewebe von Verbrechen, der Nationalgeist eine ungezügelte Gewalt sein. Von allen Völkern der Welt ist das französische vielleicht das einzige, das in gewissen feierlichen Stunden seinem Nationalgeiste durch Gerechtigkeit und Hingebung Ehre zu machen gewußt hat. Gewisse Länder haben ihren höchsten Ruhm im Kampfe für ihre Unabhängigkeit gesucht; die französische Nation hat das Blut ihrer Söhne für den Triumph der Wahrheit und die Unabhängigkeit der befreundeten Nationen zu vergießen vermocht. Dagegen ist es der Vortheil, der persönliche Vortheil, der ausschließliche Vortheil, der die militärische Gewalt lenkt, welche Deutschland zum ersten Bestandtheil seines Volksgeistes gemacht hat. Ich habe niemals bei den heutigen Deutschen selbst in dem Alter, in welchem man den ritterlichen Ideen am zugänglichsten ist, eine schwungvolle Regung überraschen können, die über den Gesichtskreis des deutschen Vaterlandes hinausreichen würde. Diese Grenze zwängt den Germanen ganz und gar ein. Das Interesse ist sein oberstes Gesetz. Seine großen Staatsmänner sind blos geniale Utilitarier. Ihre selbstsüchtige Politik, die mehr nach Nutzen, als nach Ruhm gierig ist, hat niemals die leiseste Mißbilligung des Landes erfahren, welches widerstandslos und blind deren Orakel annimmt. Die Deutschen schaffen sich Bundesgenossen, aber keine Freunde. Die, welche sie an sich ketten, lassen sich nur durch das Interesse oder die Furcht packen, da sie an die ihrer harrende Zukunft denken müssen. Wie sollte man keine Furcht haben, wenn man der Gnade einer Macht überliefert ist, die nicht von Gerechtigkeit beseelt wird, und wenn die selbstsüchtige Kraft unbeschränkt herrscht? ... Deutschlands Uebergewicht in Europa bedeutet den allgemeinen Militarismus, die Herrschaft des Schreckens, der Gewalt, der Selbstsucht. Ich habe unzählige Male versucht, beim Deutschen irgend eine Sympathie für andere Nationen zu entdecken, es ist mir nicht geglückt.“

Soweit der Pater Didon. Die Behauptung, daß der Deutsche ein kalter Egoist und keiner Neigung zu einem fremden Volke fähig, der Franzose dagegen ein selbstloser Enthusiast und voll hingebender Liebe für die ganze Menschheit sei, ist der Ausdruck einer Vorstellung, die das französische Volk und die französische Literatur beherrscht, von der sie auf die ganze romanische Welt übergegangen ist, welche sie nun wie einen grundlegenden, unanfechtbaren Glaubensartikel bei jeder Gelegenheit ausspricht. Nun denn, diese Vorstellung ist mehr als eine alberne Ungerechtigkeit, sie ist eine empörende, himmelschreiende Undankbarkeit. Wie Fürst Bismarck einmal von sich im deutschen Reichstage behauptete, so kann auch das deutsche Volk von sich sagen, es sei das bestgehaßte in Europa. Man gönnt ihm nirgends seine Einheit, ja nur das nackte Bischen Leben. Diesen Haß können wir ertragen, denn wenn wir bitter werden wollen, so trösten wir uns mit unserem guten alten Sprüchworte: Besser beneidet als bemitleidet. Wenn die Nachbarn uns Ehrlichkeit und Offenheit, Muth und Treue absprechen, wenn sie uns schwerfällig und geistlos, unser Denken nebelhaft und verschwommen nennen, so beweisen sie nur, daß sie uns entweder nicht kennen oder uns nicht gerecht werden wollen, also entweder unwissend oder unwahr sind. Wenn sie aber sagen, der Deutsche sei ein Selbstling und keiner Sympathie für ein fremdes Volk fähig, so begehen sie eine Handlung, die viel schlechter ist, als Unwissenheit und selbst Unwahrheit: sie vergelten Liebe mit Verleumdung und schlagen die Hand, die sie so oft gestreichelt hat.

Das gerade Gegenteil der Behauptung des Paters Didon ist wahr. Man kann ruhig sagen, daß kein Volk auf Erden für Leid und Freud fremder Völker ein so offenes Herz hat wie das deutsche, daß kein Volk auch nur entfernt mit solcher Begeisterung, mit so überströmender Liebe an den Geschicken anderer Nationen Antheil genommen hat wie das deutsche, und ich bin gar nicht weit entfernt, zu behaupten, daß dies geradezu eine Schwäche des deutschen Nationalcharakters, daß der Deutsche mit seiner Sympathie viel zu rasch bei der Hand ist, daß er in seiner kosmopolitischen Sentimentalität seine Theilnahme selbst an Völker wegwirft, die nicht werth sind, daß er seinen Kopf nach ihnen umwende oder auch nur die Thatsache ihres Daseins auf Erden zur Kenntniß nehme.

[236] Ehe ich dies an Beispielen nachweise, habe ich eine Vorfrage zu beantworten: Wie giebt sich eine nationale Sympathie für ein fremdes Volk kund? Sollen etwa blos amtliche Handlungen der Regierung als Maßstab gelten? Das ist ein Maßstab, den zurückzuweisen Pater Didon der Allererste sein sollte, und zwar im Interesse seines eigenen Volkes. Denn die Eingriffe der französischen Regierung in die Geschicke benachbarter Länder waren nicht von Sympathien, sondern von Rücksichten einer egoistischen Politik bedingt. König Ludwig Philipp ließ Antwerpen belagern, nicht weil er die Belgier liebte und sich für ihre Unabhängigkeit begeisterte, sondern weil König Leopold I. sein Schwiegersohn war und weil diese harmlose Action seinen jungen Thron befestigte. Der Prinz-Regent Louis Napoleon schritt gegen die römische Republik ein, weil er sich die Unterstützung der Clericalen zu dem schon damals von ihm geplanten Staatsstreiche in Frankreich sichern wollte. Als Kaiser erklärte Napoleon III. wohl anscheinend im Interesse Italiens Oesterreich den Krieg, aber nicht um den Traum der italienischen Patrioten und Bluzeugen zu verwirklichen, sondern um Oesterreich zu demüthigen, das damals für mächtig galt, und um die Hegemonie Frankreichs in Europa endgültig zu begründen. Als Oesterreich einige Niederlagen erlitten hatte, beeilte sich Napoleon III. denn auch, Frieden zu schließen, ohne seinen Verbündeten Victor Emanuel auch nur zu Rathe zu ziehen; er ließ sich seine Intervention durch die Abtretung von Nizza und Savoyen bezahlen und widersetzte sich, so viel an ihm lag, bis 1870 der Vollendung des italienischen Einheitswerkes durch die Besetzung Roms. Mit all diesen politischen Actionen hatten die nationalen Sympathien nichts zu thun. Es ist wahr, zur Zeit der ersten Republik fielen französische Truppen in fremde Länder unter dem Vorwande ein, sie von ihren einheimischen Tyrannen zu befreien. So überschwemmten sie die Schweiz, Italien, Westdeutschland, die österreichischen Niederlande und Holland. Die Befreiung bestand aber in der Aneignung der überfallenen Länder, die ausgesogen, ihrer Sprache, ihres Volksthums, ihrer geschichtlichen Individualität beraubt wurden und die denn auch ihren „Befreiern“ so wenig Dank wußten, daß sie sich bei der ersten Gelegenheit mit dem Schwerte wider sie erhoben.

Deutschland hat nie in die Geschicke eines fremden Volkes eingegriffen, wenn es dazu nicht durch das Interesse seiner Selbsterhaltung genöthigt war; das ist richtig; doch sei nicht vergessen, daß Deutschland als ein Factor, mit dem gerechnet wird, erst seit gestern existirt und daß in Momenten, wo starke deutsche Sympathien für ausländische Nationalbestrebungen bestanden, die öffentliche Meinung Deutschlands kein Mittel besaß, die Handlungen der deutschen Regierungen zu bestimmen.

Von Regierungsactionen muß also abgesehen werden, denn in diesen ist bisher alles Andere eher zum Ausdrucke gekommen, als nationale Sympathie oder Antipathie. Die Dolmetscher der Gefühle des Volkes finden wir außerhalb des kleinen Kreises der Minister und vortragenden Räthe. Bei seinen Dichtern, seinen Schriftstellern müssen wir Umfrage halten, wenn wir wissen wollen, was zu gegebenen Zeiten seine Seele bewegt hat. Die flüchtigste Wanderung durch das deutsche Schriftthum genügt nun aber, um die Ueberzeugung zu erwecken, daß seit einem Jahrhundert jede noch so leise Regung eines fremden Volksthums im deutschen Herzen ein lautes, oft sogar überlautes Echo erweckt, daß in diesem Zeitraume die häufig leidenschaftliche und unverhältnißmäßige Sympathie der Deutschen jedes Volk begleitet hat, das nach Licht und Luft rang, das sich sein Dasein und einen Platz unter der Sonne, das sich Freiheit und Menschenrechte erkämpfen wollte. Weiter als um ein Jahrhundert zurückzugreifen ist nicht thunlich. Wie ein Individuum, so muß auch ein Volk zuerst sich seiner selbst bewußt werden, ehe es für andere etwas fühlen kann; das Nationalbewußtsein hat sich aber bei keinem der großen Völker Europas vor viel mehr als hundert Jahren von einer unbestimmten ahnenden Empfindung zur Klarheit emporgerungen.

Der erste Beweis, daß man sich für ein fremdes Volk interessirt, daß man dafür Sympathie empfindet, ist doch wohl, [237] daß man sich die Mühe nimmt, es kennen zu lernen. Diesen Beweis für seine Landsleute zu erbringen, dürfte dem Pater Didon schwer werden. Dagegen ist es allbekannt, daß es kein Volk auf Erden giebt, welches sich so viel um Wesen und Eigenart fremder Nationen kümmert, wie das deutsche. In England kamen Percy und Andere zuerst auf den Gedanken, die Lieder zu sammeln, die das Volk sang, jedoch wohlgemerkt nur die des eigenen Volkes. Aber der Deutsche Herder war es, der in seiner höhern und selbstlosern Anschauung mit seinem Interesse alle Völker gleichmäßig umfaßte und in seinen „Stimmen der Völker“ alle in ihrer charakteristischen Weise zu Worte kommen ließ.

Der Gedanke einer Weltliteratur, welche die bedeutendsten Hervorbringungen des Genius aller Culturvölker wie in einem Ehrensaale der gesammten Menschheit vereinigt, keimte im Gehirne des größten Dichters der Deutschen, Goethe’s, wenn es etwa nöthig ist, ihn zu nennen. Das deutsche Volk ist das einzige in Europa, das wahllos alle fremdeu Bücher übersetzt, selbst solche, welche in ihrem Ursprungslande weder Beachtung noch Leser finden. Dieser Drang, das Schriftthum der übrigen Nationen zu kennen, hat uns poetische Uebersetzungen eingetragen, wie sie keine andere Literatur so herrlich und vollkommen besitzt, und durch diese Meisterwerke der Uebertragung ist es uns möglich geworden, die größten Dichter aller Zeiten und Völker, Shakespeare, Dante, Tegnér, Cervantes, Molière, von den alten Classikern nicht zu sprechen, gleichsam als unsere Nationaldichter zu adoptiren. – Allerdings hat das Interesse an den fremden Literaturen auch zu dem Uebelstande geführt, den man drastisch als „Uebersetzungsseuche“ bezeichnen konnte. Immerhin aber ist es eine dem deutschen Volke zur Ehre gereichende Thatsache, daß unsere Literatur weitaus die gastfreundlichste der Welt ist. Wir nehmen Alles freundlich auf, was an unsere Thür klopft; an unserem schlichten Tische wissen wir einen Platz für Alle zu finden, die einen solchen verlangen; wir haben zahlreiche kleine Nationen zu ständigen Clienten, die nur durch unsere Vermittelung aus der sehr beschränkten Oeffentlichkeit, welche ihre unbekannte Sprache ihren literarischen Erzeugnissen gewähren kann, zur wirklichen weltweiten Bekanntheit gelangen. Die meisten skandinavischen, slavischen, magyarischen Schriftsteller werden außerhalb ihrer Heimath nur durch deutsche Uebersetzungen bekannt. In ihrem Nationalcostüm können sie sich nirgends sehen lassen. Wir leihen ihnen das deutsche Kleid und machen sie dadurch in der Versammlung der großen Culturvölker salonfähig. Natürlich könnten wir diese großmüthig selbstlose Vermittlerrolle, für die wir noch nie einen Dank gehabt haben, nicht spielen, wenn wir nicht sprachenkundig wären. Auch in diesem Punkte vermag sich kein anderes Volk mit dem deutschen zu vergleichen. Nirgends kann ein so großer Procentsatz der Bevölkerung fremde Sprachen sprechen oder doch wenigstens lesen, wie in Deutschland.

Das sind, sollte ich meinen, Beweise einer thatkräftigen, ernste Prüfung vertragenden und nicht blos in leeren Phrasen bestehenden Sympathie für fremde Völker. Aber auch mit anderen Beweisen, solchen gemüthlicher Art, können wir in größerer Menge dienen als irgend ein zweites Culturvolk. Unsere Dichter und Schriftsteller haben es immer für ihre heilige Aufgabe gehalten, fremde Volksthaten zu preisen und zu verherrlichen. Ich denke da nicht an Gelegenheitsreimereien, welche irgend ein ausländisches Tagesereigniß sensationeller Natur poetisch glossiren, sondern an Werke unserer besten und vornehmsten Geister, an Dichtungen, die eine weite und tiefe Popularität erlangt und dadurch bewiesen haben, daß sie eine im ganzen deutschen Volke verbreitete vorbestehende Stimmung ausdrückten. Gerade dem französischen Volke ist die deutsche Literatur in Vers und Prosa mehr als gerecht geworden. Seine große Revolution begrüßte Klopstock in einer Ode, Georg Forster in Schriften von flammender Begeisterung. Der hochbegabte frühverstorbene Georg Büchner nahm „Danton’s Tod“ zum Vorwurfe einer großartigen Tragödie, Griepenkerl versuchte seine dichterische Kraft an Robespierre. Napoleon, der doch Deutschland so bitteres Leid zugefügt, wurde zu einem Heros der deutschen Dichtung, kaum daß die Hochfluth [238] des vaterländischen Aufschwunges der Befreiungskriege vorübergerauscht war. Grabbe schrieb seinen formlosen, aber genialen „Napoleon oder die hundert Tage“, Zedlitz widmete dem großen Krieger und noch größern Tyrannen einige „Todtenkränze“ und dichtete die „Mitternächtige Heerschau“, aus welcher eine abergläubische, mit Grauen vermischte Bewunderung Napoleon’s spricht, und Heine schrieb das Buch vom Tambour Le Grand in den „Reisebildern“ und „Die beiden Grenadiere“, ein so schönes Gedicht, wie es die napoleonische Legende keinem französischen Poeten eingegeben hat. Und noch in der letzten Zeit war es das Buch eines Deutschen, „Gambetta und seine Heere“ von v. d. Goltz, das einem Franzosen die Gerechtigkeit zu Theil werden ließ, welche er bei seinen Landsleuten weder im Leben noch nach seinem Tode gefunden hat.

Die kleinen Völker werden über den großen nicht vernachlässigt. Die Serben erheben sich unter Karageorgiewitsch wider die Türken. Europa weiß damals von ihnen ungefähr so viel, wie heute von den hamitischen Stämmen des Sudans. Goethe lernt aber ein Gedicht dieses kleinen unbekannten Barbarenvolks kennen, er spürt den menschlichen Herzschlag unter der wildfremden Tracht, er interessirt sich für die Serben, schreibt den ergreifenden „Klagegesang von den edeln Frauen des Asan Aga“ und bringt damit die „hinten, weit in der Türkei“ auf einander schlagenden Volksstämme der Phantasie und dem Mitgefühle des deutsche Volkes nahe.

Die Griechen beginnen ihren Unabhängigkeitskampf. Das Philhellenenthum reißt alte, ehrbare Professoren zu Thaten jugendlichster Ueberschwenglichkeit fort. Wilhelm Müller singt seine „Griechenlieder“ und kommt damit einer so weit verbreiteten Volksstimmung entgegen, daß er über Nacht zum berühmten Dichter wird. In allen deutschen Gauen declamirt Jung und Alt „Bobolina, Bobolina, Königin der Meeresfluth“ und „Heil! Heil! Nie wird Thermopylä den Sieg der Sclaven sehn!“ und man hört selbst dann nicht auf, für die Neohellenen zu schwärmen, als Fallmereyer sein unerbittliches Buch geschrieben hat, das alle romantischen und classischen Illusionen über sie zerstören mußte. Der Polenaufstand rief einen neuen Ausbruch deutscher Begeisterung hervor. Mosen besang „Die letzten Zehn vom vierten Regiment“:

„In Warschau schwuren Tausend auf den Knieen,
Kein Schuß im heiligen Kampfe sei gethan“,

ein Gedicht, das noch heute eins der volksthümlichsten unserer Literatur ist und in keiner Liedersammlung fehlt, und er feierte in einem zweiten Gedichte, „Polonia“, den Heldenmuth einer polnischen Mutter. Platen beweinte „Warschaus Fall“:

„Ihr edlen Schläfer unterm Sand, o laßt den Kampf euch nicht gereun,
Es wird der spätste Pilger einst auf eure Gräber Rosen streun.
Und auch der Dichter eilt herbei, von keiner ird’schen Furcht besiegt,
Wo rings um Warschau hingestreckt die große Hekatombe liegt.
Einst kommen wird ein freies Volk und pflanzen eine Siegstrophä’
Für euch, und ein Simonides besingen dies Thermopylä.“

Im „Vermächtniß der sterbenden Polen an die Deutschen“ („Wir gehn zu Grab erschöpft und laß – Nach manchem kühnen Straus, – Und athmen unsern Russenhaß – In eure Seelen aus“) suchte er ein Band geistiger Verwandtschaft zwischen den besiegten Polen und seinem eigenen Volke zu knüpfen. Lenau’s „Polenflüchtling“ ist das ergreifendste Gemälde tragischer Vaterlandslosigkeit, das sich in irgend einer Literatur findet; namentlich die polnische selbst hat nichts, was sie diesem Gedichte an die Seite stellen kann.

Das Jahr 1848 brachte den Magyarenaufstand, dem der Tag von Vilagos ein blutiges Ende machte. Heine rief da sein „Wenn ich den Namen Ungar hör, – Wird mir mein deutsches Wams zu enge“; Moritz Hartmann widmete Kossuth herrliche Strophen:

„So hat nicht Capistran,
Nicht Irlands Dan gesprochen,
Wie jener blasse Mann,
Von Kerkerpein gebrochen,
Mit blassem Angesicht,
Mit Augen, welche blauen
Im Schatten dunkler Brauen
Gleich Veilchen zarter Frauen –
Wie der zum Volke spricht.“

Die Schweizer streiten im Sonderbundkriege um die Gewissensfreiheit; Georg Herwegh schmettert ihnen die anfeuernden Fanfaren seiner schlachttrompetengleichen Poesie entgegen. Die Irländer werden von den Engländern bedrückt; Ferdinand Freiligrath wirbt mit den rührenden Terzinen der „Irischen Wittwe“ um deutsches Mitleid für sie. Und nicht nur für das fremde Volksleben der Gegenwart, auch für das in der fernen Vergangenheit begeistert sich die deutsche Dichtung und an ihr das deutsche Volk. Derselbe edle Freiligrath setzt in der „Geusenwacht“ dem Unabhängigkeitskampfe der Niederländer ein prächtiges Denkmal. Alfred Meißner findet selbst an den blutigen Hussiten rührende und heroische Züge, und ohne sich bei der Erwägung aufzuhalten, daß sie nicht blos für eine religiöse Idee, sondern auch für ihre czechische Nationalität gegen das Deutschthum gestritten haben, umgiebt er das struppige Haupt des „Ziska“ mit dem Glorienscheine der Halbgötter.

Wo giebt es noch eine poetische Literatur, in der sich so viele und von so großen Dichtern herrührende Zeugnisse der Theilnahme, der Liebe, der Begeisterung für fremde Völker finden? Wir müssen aber gar nicht einmal auf den idealen Höhen der Dichtung verweilen; wir können in die platte, praktische Alltäglichkeit niedersteigen und werden auch da auf Schritt und Tritt den Beweis antreffen, daß das deutsche Volk wie kein zweites ein warmes und offenes Herz für andere Nationen, den Willen und die Fähigkeit, sie zu verstehen, Bewunderung für ihre Vorzüge, Nachsicht mit ihren Schwächen hat. Der einzelne Ausländer ist überall – und in Paris am meisten – eine verdächtige und abstoßende Figur, die Mißtrauen, Geringschätzung und Spott erweckt. In Deutschland allein wird er wie ein vornehmeres Wesen angestaunt, findet man ihn interessant, wird ihm im gesellschaftlichen Verkehr ein gewisses Prestige zuerkannt. Den Verunglückten von Chio, den Ueberschwemmten von Szegedin, den Opfern von Ischia kam Deutschland rascher und reichlicher zu Hülfe, als irgend ein anderes Land, und das in der deutschen schlicht bescheidenen Art, ohne große Worte, ohne Lärm und Selbstberühmen und namentlich ohne das Almosen später den Beschenkten bei jeder Aufwallung übler Laune vorzuhalten. Scenen, wie die Verfolgung der italienischen Arbeiter in Marseille, sind in Deutschland noch nie vorgekommen, und obwohl der deutsche Arbeiter mit der Noth des Lebens hart zu kämpfen hat, ist es ihm noch niemals eingefallen, von seiner Regierung die Nichtzulassung ausländischer Concurrenten zu verlangen, wie es die Pariser Arbeiter in den letzten zwei Jahren dutzendmale gethan haben.

Die deutsche Sympathie für fremde Völker ist um so verdienstlicher, als sie nicht ein gnädiger Lohn für dargebrachte Huldigungen ist. Dem französischen Volke wird von den Nationen, die es „sympathique“ nennt, lange und aufdringlich der Hof gemacht; sie müsse sich erst um seine Huld bewerben, sie müssen sich derselben, durch Complimente, ausdauernde Anschwärmung und treuen Minnedienst würdig erweisen, dann wird sie ihnen vielleicht gewährt. Dem deutschen Volke aber macht Niemand den Hof; Niemand bittet es um seine Sympathie, und wenn es sie in seiner selbstlosen Warmherzigkeit verschenkt, so hält man sich dafür weder zu einer Rücksicht noch zur Dankbarkeit verpflichtet, ja man nimmt kaum Notiz davon. So ist das deutsche Volk geradezu der Toggenburg unter den Nationen, wozu ich es nicht eben beglückwünschen kann. Gewiß, die Gestalt des Toggenburg hat ihre rührende Seite; aber ich fürchte sehr, daß die unfreiwillig komische denn doch überwiegt.