Die Gartenlaube (1856)/Heft 15

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[193]
Ein Familiengeheimniß.
Novelle von August Schrader.
(Fortsetzung.)

„Ich komme auf Deine Mündel zurück,“ begann Henriette wieder. „Was geschieht, wenn wider Erwarten ihr Kapital verloren gehen sollte?“

„Dann würde ich es Dir überlassen, für sie zu sorgen. Dieser Befürchtung will ich übrigens nicht Raum geben. Lebt Kolbert auch noch zehn Jahre, bleibt ihr Kapital dennoch gut angelegt.“

In diesem Augenblicke trat der alte Kassirer Lorenz ein.

„Was bringen Sie, Freund?“ rief ihm der Banquier entgegen.

„So eben geht eine telegraphische Depesche von Berlin ein – hier ist sie! Ich habe in Ihrem Namen den Empfang quittirt,“ fügte Lorenz hinzu, während Soltau den Brief erbrach und eifrig zu lesen begann.

„Edmund Kolbert ist todt!“ rief überrascht der Banquier.

„Diesen Mittag zwei Uhr ist er gestorben; die nächste Post wird mir seinen Todtenschein bringen.“

Henriette zuckte zusammen; mühsam erhielt sie ihre Fassung.

Dann fragte sie flüsternd: „Wer sendet die Depesche?“

„Sie ist ohne Unterschrift.“

„Seltsam!“ hauchte die junge Frau vor sich hin. Dann trocknete sie verstohlen eine Thräne, die ihrem schönen Auge entschlüpfte.

„Sind die Briefe von der Post geholt, Lorenz?“

„Ja, Herr Soltau.“

„Ich folge Ihnen in das Comptoir. Adieu, Henriette – diesen Abend besuchen wir das Theater!“

Der aufgeregte Banquier küßte seine Frau, und verließ mit dem Kassirer das Zimmer.

„Mein Gott,“ rief Henriette, indem sie den Blick zum Himmel wandte, „gieb mir bald Gewißheit!“

Abends besuchten die beiden Gatten das Theater. Gegen zwölf Uhr gingen sie schlafen, nachdem sie sich zärtlich eine gute Nacht gewünscht. Der Banquier dachte noch eine Zeit lang darüber nach, warum die anonyme Depesche gerade an ihn gerichtet gewesen, da man doch in Berlin nicht wissen konnte, daß er die Police angekauft habe. Der Tod des Versicherten war um dieselbe Zeit erfolgt, in der er mit dem Unbekannten Ertrag seiner Arbeit. Das Unglück ist der beste Lehrmeister, pflegt man zu sagen; Franz hatte von ihm gelernt, die Welt richtig aufzufassen und sich nach dieser Auffassung seine Bahn zu brechen. Den goldenen Spruch „Zeit ist Geld“ hatte er zum Prinzipe erhoben; er arbeitete, mied die Vergnügungen, deren seine wenigen Bekannten nacheilten, und fügte sich ruhig dem Laufe der Dinge. Der junge Commis hatte ein schönes, empfehlendes Aeußere, und seine Bescheidenheit machte ihn nicht nur beliebt, sie flößte auch denen, die ihn kennen lernten, eine Art von Achtung ein.

Als sein Vater, ein armer Professionist, starb, stand Franz allein in der Welt; er hatte keine Geschwister, keine Verwandte mehr. Sein Chef, der Wechselagent, zeichnete den thätigen Commis aus, er zog ihn zu den größern Gesellschaften und Festen, die in seinem Hause stattfanden. Bei diesen Gelegenheiten lernte er die Welt kennen, ohne sich ihr anzuschließen. Franz arbeitete den ganzen Tag; seine Mußestunden verwandte er zur Erlangung nützlicher Kenntnisse.

Der Wechselagent feierte seine silberne Hochzeit. Zu dieser Festlichkeit war eine große Gesellschaft, und auch unser Commis geladen. Hier sah er ein reizend schönes Mädchen. Die armen Menschen, die ungeliebt und unter stetem Arbeiten ihre Jugend verleben, sind besonders empfänglich für die verheerende Leidenschaft der Liebe, sie bemächtigt sich gewaltsam ihrer verlassenen, ungekannten Herzen. Alle ihre Kräfte und Neigungen vereinigen sich in dem Wesen, das sie fesselt. Aber wie selten bringen sie Eindrücke hervor, wie selten werden sie erhört! Getäuscht, verrathen [194] oder mißverstanden, ist es ihnen fast nie vergönnt, die süßen Früchte einer solchen Liebe zu genießen – sie bleibt ihnen eine vom Himmel gefallene Blume.

Franz hatte das Glück, eine Ausnahme von dieser traurigen Regel zu machen; er liebte Henrietten mit grenzenloser Leidenschaft, und Henriette erwiederte diese Liebe. Wie Bruder und Schwester schlossen sie sich einander an, wie zwei Kinder, die man bewundert, wenn sie sich Bahn durch eine Menge brechen.

Henriette war ohne Herkunft und ihr Vermögen gering. Franz jauchzte vor Glück, als er dieses Unglück erfuhr. Wäre Henriette die Tochter einer reichen Familie gewesen, so hätte der glühend liebende Commis verzweifeln müssen – aber die Geliebte war arm, und er heirathete sie.

Von diesem Augenblicke an schüttete Fortuna ihr Füllhorn über den armen Commis aus. Henriette hatte unter der Obhut einer Tante gelebt; diese Tante aber gab sich als die Mutter zu erkennen, als Franz um die Hand seiner Geliebten warb. Die Enthüllung dieses Geheimnisses beeinträchtigte seine Liebe nicht im Mindesten – er führte seine Braut zum Altare.

Die jungen Eheleute wohnten bei der Mutter. Eines Abends – es mochten vier Wochen seit der Hochzeit verflossen sein – sagte die Mutter zu dem Schwiegersohne:

„Machen Sie sich selbstständig, Franz; als Commis sind Sie zu lange von Ihrer jungen Frau getrennt. Es macht mir Kummer, daß die schönste Zeit Ihrer Ehe auf diese Weise verfließt.“

„Selbstständig?“ fragte Franz mit einem schmerzlichen Lächeln.

„Wie verstehen Sie das, Mutter?“

„Sie gründen ein eigenes Bankgeschäft.“

„Mein Vermögen besteht aus sechstausend Mark.“

„Genügen fünfmalhunderttausend Mark, um einen soliden Grund zu legen?“ fragte lächelnd die Mutter.

„Ich habe den Muth, mit dieser Summe anzufangen.“

„So fange an, Franz!“ sagte Henriette, indem sie ihm ein Portefeuille überreichte.

Als der erstaunte junge Mann den Inhalt den Portefeuilles prüfte, fand er Papiere darin vor, die ihm einen Credit von fünfmalhunderttausend Mark bei der städtischen Bank eröffneten.

Sprachlos sah Franz seine Schwiegermutter an.

„Nehmen Sie nur die Aussteuer Henriette’s,“ sagte lächelnd die alte Dame. „Ich habe lange um das Vermögen meines Kindes processirt – Sie sehen, mein Proceß ist gewonnen!“

Franz kaufte das alte Haus in der W.straße, das damals gerade ausgeboten wurde, erwarb sich das Bürgerrecht, und eröffnete sein Comptoir. Nach Abschluß der ersten Jahresrechnung ergab sich, daß er fünfzehn Procent Gewinn aus dem Umsatze seiner Kapitalien gezogen hatte. Das zweite Jahr wäre ergiebiger ausgefallen, wenn der Banquier mit dem Vermögen seiner Frau nicht zu vorsichtig speculirt hätte. Das dritte Jahr aber versprach eine reiche Ernte: der Leser weiß, wie es begonnen hat. Wäre Henriette’s Mutter nicht seit länger als einem Jahre todt gewesen, er würde die beiden Geschäfte, die man ihm gewissermaßen aufgedrungen hatte, ihrem Einflusse zugeschrieben haben. Franz war eitel genug zu glauben, seine Tüchtigkeit und Rechtschaffenheit allein bewirkten die Ausdehnung seines Geschäfts.

Henriette war eine vollendete Schönheit von dreiundzwanzig Jahren, und hatte sie ihrem Gatten auch noch kein Kind geschenkt, so war ihre gegenseitige Liebe doch dieselbe geblieben – eine fast dreijährige Ehe hatte sie nicht abzukühlen vermocht.

Der erste große Gewinn hatte den jungen Banquier zu kühnen Unternehmungen angestachelt; sein Ehrgeiz gab den Einflüsterungen der Spekulanten Gehör, und er betheiligte sich bei einer Eisenbahnlinie, die man in dem benachbarten Fürstenthume errichten wollte. Da von ihm die Aufforderung zu Actienzeichnungen ausgegangen war, ernannte man ihn zum Mitgliede des Comité’s und zum Kassirer. Sein Credit wuchs mit jedem Tage, und von allen Seiten deponirte man Gelder in seinem Bankhause. Der Agent Philipps arbeitete nur für ihn, man drängte sich mit ihm, in Verbindung zu treten, und jede Speculation glückte. Bald ward Franz Soltau ein Fürst an der Börse.

Die geheimnißvolle Geschichte mit Edmund Kolbert und Sophie Saller schien im Drange den Treibens vergessen zu sein.

Da sagte Henriette eines Morgens zu ihrem Gatten:

„Franz, heute ist der fünfzehnte September.“

„Ich weiß es; ist er Dir besonders merkwürdig?“

„Sophie Saller muß heute kommen.“

„Ganz recht; das Vierteljahr ist zu Ende. Ich hatte das arme Mädchen vergessen.“

„Arm, sagst Du? Ich sollte meinen, eine Rente von viertausend Mark jährlich schützte vor Armuth, auch wenn wir den Gewinn nicht in Betracht ziehen wollen, den ihr Kapital gebracht hat.“

„Sei ohne Sorge, liebe Frau; ich werde meiner Mündel den Gewinn zu Gute schreiben.“

„Hoffentlich werden wir heute etwas Näheres über die geheimnißvolle Schöne erfahren?“

Soltau versprach, sich darum zu bemühen, und ging in sein Comptoir. Er trat zu dem jungen Commis, der bereits emsig arbeitete.

„Herr Lambert, erinnern Sie sich des jungen Mädchens, das Sie vor drei Monaten mir anmeldeten?“

Der Commis erröthete; er begriff die Absicht seines Chefs nicht.

„Ja, Herr Soltau. Ich notirte an demselben Tage eine Zahlung von tausend Mark an Sophie Saller.“

„Sophie Saller wird heute wahrscheinlich wiederkommen. Bereiten Sie sich vor, ihr zu folgen, wenn ich Ihnen einen Wink gebe. Es liegt mir daran, etwas Näheres über das junge Mädchen zu erfahren, dessen Vermögen man in meiner Bank deponirt hat. Sie sind gewandt genug, um unbemerkt diesen Zweck zu erreichen.“

Lambert verneigte sich, als Zeichen, daß er gehorchen wolle.

Von diesem Augenblicke an zitterte die Feder in der Hand des jungen Mannes und so oft die Thür sich öffnete, zuckte er heftig zusammen. Der Auftrag seines Prinzipals hatte ihn in eine fieberhafte Spannung versetzt. Um elf Uhr endlich erschien die so sehnlich Erwartete: sie trug dasselbe Kleid noch, dasselbe schwarze Mäntelchen, denselben Hut von grüner Seide. Schüchtern, wie das erste Mal, trat sie auch heute ein.

„Kann ich Herrn Soltau sprechen?“ fragte sie flüsternd.

Lambert verlor fast die Fassung; Sophie schien in dem Vierteljahre, daß er sie nicht gesehen hatte, noch schöner geworden zu sein. Wie bestürzt senkte sie die Augen, als sie sah, daß der junge Mann sie anstarrte.

„Herr Soltau ist in seinem Kabinet!“ stammelte endlich der Commis.

Und zugleich öffnete er ehrfurchtsvoll die Glasthür. Sophie dankte durch eine graziöse Verneigung und trat in das Kabinet.

Der Banquier empfing sie artig und mit einem sichtlichen Wohlwollen.

„Ich bitte, nehmen Sie Platz, Fräulein Saller, und schreiben Sie die Quittung über Ihre Rente. Lorenz,“ rief er durch die Thür, „bringen Sie tausend Mark in Golde!“

„Die Quittung, mein Herr, ist bereits geschrieben!“ antwortete Sophie mit bewegter Stimme. „Ich erlaube mir, sie Ihnen zu überreichen.“

Der Banquier nahm das Papier.

„Es scheint Ihnen daran zu liegen,“ sagte er lächelnd, „Ihren Besuch bei mir so viel als möglich abzukürzen; ich bedauere, daß es mir nicht erlaubt ist, mehr für Sie zu thun, als Ihr Vermögen auf die übliche Weise zu verzinsen. Die liebenswürdige Clientin würde wohlthun, mir eine ausgedehntere Vollmacht zu geben oder zu erwirken.“

„Mir genügt die Summe, die ich von Ihnen erhalte, mein Herr! Die Verwendung des Kapitals bleibt Ihnen überlassen.“

„Wenn ich nun im Stande wäre, durch geschickte Speculationen Ihre jährliche Revenue zu verdoppeln?“

„So würde ich nur meine bedungene Rente annehmen und darüber quittiren.“

Der Kassirer trat ein und brachte das Geld. Soltau zählte es, wie das erste Mal, selbst auf den Tisch. Sophie steckte die Goldstücke in ihre Plüschtasche, dankte und wollte sich entfernen.

„Fräulein Saller, ich bitte um eine kurze Unterredung! Als Sie das erste Mal mich besuchten, sprachen Sie mir Ihr unbedingtes Vertrauen aus - wie kommt es, daß Sie mich des Vergnügens berauben, Sie näher kennen zu lernen?“

„Erblicken Sie darin kein Mißtrauen, Herr Soltau; eben weil wir Ihnen vertrauen, hegen wir die Zuversicht, daß Sie ein Familiengeheimniß ehren werden. Und außerdem würde ich Ihnen auch nicht sagen können, was ich selbst nicht weiß. Ihrer Güte verdanke ich die Vermittelung der Rente, die mich vor [195] Entbehrung schützt – ich bin eine Waise und stehe allein in der Welt.“

„Um so mehr Grund, daß Sie sich einer Familie anschließen, die den lebhaftesten Antheil an Ihrem Geschicke nimmt. Im Namen meiner Gattin lade ich Sie ein, mein Haus so oft zu besuchen, als Sie das Bedürfniß nach Gesellschaft fühlen. Ohne Ihr Familiengeheimniß preiszugeben, können Sie uns das Vergnügen gewähren, Sie in unserer Nähe zu sehen.“

Eine tiefe Bewegung bemächtigte sich des jungen Mädchens.

„Mein Herr,“ antwortete sie mit bebender Stimme, „das Schicksal hat mich für jetzt noch zur Einsamkeit verurtheilt; aber sobald es mir gestattet ist, den Kreis meiner Existenz auszudehnen, werde ich nicht verfehlen, Ihrer Einladung nachzukommen.“

Sie verneigte sich tief, und verließ das Kabinet. Der Banquier begleitete sie bis zur Thür. Hier gab er dem Commis einen Wink – kaum hatte Sophie das Haus verlassen, so trat auch Lambert auf die Straße; er folgte dem Mädchen, das eine glühende Leidenschaft in ihm erweckt hatte.

IV.
Sophie.

Ohne sich umzublicken, ging Sophie die Straße hinab. An der nächsten Ecke bestieg sie einen Omnibus, der vorbeifuhr. Das große, schwerfällige Fahrzeug setzte so langsam seinen Weg fort, daß Lambert ohne Anstrengung folgen und das Aus- und Einsteigen der Passagiere beobachten konnte. Der Omnibus fuhr aus dem Thore der Vorstadt Sanct Georg zu. Am äußersten Ende dieser Vorstadt sah der Commis das junge Mädchen, das er unter tausend Personen wiedererkannt haben würde, aussteigen. Sie schlug eine der Seitenstraßen ein, die nach der Alster führen.

Lambert beeilte sich, ihr zu folgen, um zu sehen, welches von den Häusern sie betreten würde. Der Drang, die Wohnung des Engels kennen zu lernen, der ihn bezaubert hatte, trieb ihn mehr als der Gehorsam gegen seinen Herrn; er dachte kaum noch daran, daß er einen Auftrag des Banquiers ausführte.

Ludwig Lambert hatte fast das Schicksal Soltau’s: er besaß kein Vermögen, und außer einem alten Onkel auch keine Verwandten. Dieser alte Onkel war ein emeritirter Prediger aus dem Holsteinischen, er bezog eine kärgliche Pension, die er früher, ehe Ludwig die Stelle in Soltau’s Comptoir bekleidete, mit seinem Neffen getheilt hatte. Ludwig besaß aber statt des Vermögens eine Bildung, die man nicht häufig bei den über Zahlen erbleichenden Comptoirmenschen trifft. Sein Onkel hatte ihn zum Studium der Theologie bestimmt; Ludwig aber konnte die Universität nicht beziehen, nachdem er das Gymnasium verlassen hatte, denn der alte Prediger ward pensionirt, und seine Pension reichte nicht aus, um die Kosten des Studirens zu bestreiten. Ludwig trat als Lehrling in ein kaufmännisches Geschäft, ward nach drei Jahren Commis und erhielt die Stelle in dem neu errichteten Bankhause Soltau’s. Der Commis hatte jetzt die Liebe kennen gelernt, und seit dem ersten Erscheinen Sophie’s hatte er alle Qualen unbefriedigter Sehnsucht empfunden. Sein Bemühen, die Schöne ausfindig zu machen, war vergebens gewesen, und man kann sich seine frohe Ueberraschung denken, als er sie heute in dem Comptoir erblickte und den Auftrag erhielt, ihre Wohnung auszuspähen.

Leicht wie ein Sylph schwebte Sophie die Straße hinab. Als sie das Ufer des großen Alsterbassins erreicht hatte, blieb sie an einem Gartengitter stehen und holte einen Schlüssel aus ihrer Tasche. Bei dieser Gelegenheit wandte sie sich, und erblickte den Commis, der kaum dreißig Schritte von ihr entfernt war. Lambert stutzte; um aber keinen Verdacht zu erwecken, beschloß er, vorüber zu gehen. Sophie erkannte den Commis aus dem Comptoir Soltau’s. Rasch verbarg sie ihren Schlüssel wieder und schickte sich an, weiter zu gehen. In diesem Augenblicke kam Lambert an, dessen Gesicht vor Verwirrung wie Purpur glühte. Ehrfurchtsvoll grüßte er. Sophie dankte durch ein leichten Kopfnicken. Der Zufall wollte, daß sie Beide zugleich in die kleine Kastanienallee traten, die sich am Ufer der Alster hinzieht. Kein Mensch zeigte sich in dem ruhigen Stadttheile, und selbst die Fenster der niedlichen Landhäuser waren durch Jalousien geschlossen, um der brennenden Mittagssonne zu wehren.

Lambert konnte unmöglich diese günstige Gelegenheit, mit seiner Abgöttin anzuknüpfen, unbenutzt vorübergehen lassen. Er würde mehr gewagt haben, als sie anzureden, um endlich die Qualen seiner Sehnsucht zu mildern. Wie aber sollte er beginnen? Er sann vergebens auf eine passende Phrase. Da verlor Sophie, die einige Schritte vor ihm ging, den Schlüssel. Wie ein Habicht schoß der junge Commis aus das Kleinod, das ihm den Himmel seiner Liebe öffnen sollte. Sophie hatte den Verlust sogleich bemerkt – sie blieb stehen und sah sich um.

„Ihr Schlüssel ist gefunden, Fräulein Saller!“ stammelte Lambert, der kaum so viel Athem hatte, daß er reden konnte.

„Ich bin so glücklich, ihn Ihnen überreichen zu können.“

Sophie empfing mit zitternder Hand ihr Eigenthum.

„Sie kennen meinen Namen?“ fragte sie.

Diese Frage nahm dem armen Commis eine Centnerlast vom Herzen, denn sie bewies, daß der Engel seiner Träume nicht abgeneigt war, sich auf ein Gespräch mit ihm einzulassen. Trotzdem aber fehlte ihm noch die klare Besinnung zur unbefangenen Fortsetzung des Gesprächs.

„Ich kenne ihn,“ gab er zur Antwort, „weil ich ihn heute zum zweiten Male in unsere Register eingetragen habe. Den Namen einer schönen Clientin vergißt man so leicht nicht!“

Lambert erschrak vor sich selbst, als er, ohne es zu wollen, diese galante Phrase ausgesprochen hatte. Er warf einen Seitenblick auf Sophie, um die Wirkung derselben zu erforschen. Ein spöttisches Lächeln schwebte auf dem reizenden Gesichte des jungen Mädchens.

„Ganz recht, Sie sind der Secretär des Herrn Soltau!“

„Sie erkennen mich wieder?“

„Nur auf Ihre so eben gegebene Andeutung hin. Ich würde an eine Ähnlichkeit mit dem jungen Herrn geglaubt haben, den ich vor kaum einer halben Stunde noch arbeitend an dem Bureau gesehen habe. Der Omnibus hat mich rasch in diese Gegend gebracht, und Sie kommen mit mir zugleich an – da ich nicht annehmen konnte, daß Sie mir auf dem Fuße gefolgt sind –“

„O, nehmen Sie es nur an, mein liebes Fräulein; ich bin Ihnen auf dem Fuße gefolgt!“

„Das ist ein offenherziges Geständniß!“

Ludwig Lambert erschrak über den spröden Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden.

„Wofür ich Ihnen danke,“ fügte sie nach einer Pause hinzu.

Der Commis fühlte, daß er jetzt eine Nothlüge aussprechen mußte, wenn er den Zweck seines Ganges verheimlichen wollte; aber ihm fehlte der Muth, das Mädchen, das er liebte, gleich bei der ersten Unterredung mit einer Unwahrheit zu hintergehen. Er befand sich in einer sehr peinlichen Lage: die Liebe kämpfte mit der Dienstpflicht. Aber der Kampf dauerte nur einige Augenblicke – die Liebe trug den Sieg davon.

„Ich begreife,“ begann er zagend, „daß Ihnen mein rasches Erscheinen in dieser Vorstadt auffallen muß – darf ich es wagen, Ihnen Aufklärung darüber zu geben?“

„Fast glaube ich, daß ich Sie in meinem Interesse darum bitten muß!“

„Mein liebes Fräulein, fürchten Sie keine verletzende Indiscretion – ich bin Ihnen gefolgt, um einem Wunsche zu genügen, der mir seit einem Vierteljahre am Herzen gelegen hat.“

„Und dieser Wunsch ist?“ fragte sie flüsternd.

„Sie wiederzusehen, ohne von dem Zufalle abhängig zu sein.“

Erröthend blickte Sophie vor sich hin, ohne zu antworten.

„Kostet es Ihnen aber Ueberwindung,“ fuhr Ludwig treuherzig fort, „mich, den Fremden, einer nähern Bekanntschaft zu würdigen, so nehmen Sie an, daß Sie meine Bitte nicht gehört, und meine Person heute nicht gesehen haben. Ich werde mich bemühen, den Eindruck zu vergessen, den Ihr erstes Erscheinen auf mich ausgeübt hat!“

Sophie’s Verlegenheit erreichte den höchsten Grad. Einen so plötzlichen Sturmangriff hatte sie nicht erwartet. War ihr der hübsche blonde Commis nicht gleichgültig gewesen, so ward er ihr von diesem Augenblicke an interessant.

„Und um diesen Wunsch mir auszusprechen, sind Sie mir nachgeeilt?“ fragte sie.

„Ja! Wie anders wäre es denn möglich gewesen, Sie zu sprechen oder zu erfahren, wo Sie wohnen? Konnte ich denn [196] wissen, ob Sie je wieder unser Comptoir betraten? Ich faßte Muth, warf die Feder fort und eilte Ihnen nach.“

„Und was wird Ihr Chef sagen, wenn Sie zurückkehren?“

Bei dieser Frage war Sophie stehen geblieben und sah ihren Begleiter forschend an; aber sie lächelte mit einer Anmuth, die den armen Commis fast um die Besinnung brachte. Ihm schien Sophie kein irdisches Wesen mehr zu sein.

„Mein liebes Fräulein,“ rief er hingerissen, „Ihnen kann ich keine Unwahrheit aussprechen, ich würde es für eine Sünde gegen Gott halten, der mir erlaubt hat, Sie kennen zu lernen und zu verehren! Herr Soltau wird mich fragen, ob ich erforscht habe, wo Sie wohnen.“

„Demnach verließen Sie in seinem Aufträge das Comptoir?“

„Aber mehr noch von meinem eigenen Drange getrieben. Hätte er mir glücklicherweise nicht den Auftrag gegeben, ich würde meine Stellung auf das Spiel gesetzt haben, um mit Ihnen sprechen zu können.“

„Was werden Sie Ihrem Herrn antworten?“

„Ich erwarte, daß Sie mir die Antwort sagen.“

Sophie senkte die Augen, und setzte den Weg fort; sie schien zu überlegen, was sie sagen sollte. Lambert folgte mit klopfendem Herzen, denn es regte sich ein Gefühl in ihm, das der Eifersucht auf den reichen Banquier nicht unähnlich war. Er hatte sich bereits in tausend Vermuthungen über die Absicht seines Chefs erschöpft.

„Mein Herr,“ begann Sophie nach einer Minute, „Sie haben den Wunsch ausgesprochen, mich von Zeit zu Zeit zu sehen – dieser Wunsch kann nur in Erfüllung gehen, wenn Herr Soltau nie erfährt, daß wir uns heute gesprochen haben und daß meine Wohnung sich in der Vorstadt Sanct Georg befindet. Zugleich hoffe ich, Sie werden mich nie um die Gründe fragen, die mich veranlassen, dem Banquier unbekannt zu bleiben. Daß er mir vierteljährlich eine Rente auszahlt, verpflichtet mich ihm nicht zur Dankbarkeit – es ist dies ein Geschäft, wie jedes andere, das in den Bankhäusern vollzogen wird. Ich weiß, was ich von Ihnen fordere, indem ich Sie veranlasse, Ihren Herrn zu hintergehen; aber es ist dies eine Maßregel, die ich seinen Nachforschungen gegenüber zu ergreifen gezwungen bin, eine Maßregel, die ihm weder Nachtheil bringt, noch einen Vortheil entzieht. Aber erlaubt es Ihre Stellung nicht, das verlangte Schweigen zu bewahren, so trennen wir uns jetzt, um uns nie wiederzusehen.“

„Nein, nein!“ rief Ludwig. „Mich hält Nichts ab, Ihr Geheimniß wie ein Heiligthum zu bewahren. Auch Herr Soltau hat seine Geschäftsgeheimnisse vor uns – warum sollte ich nicht ein Herzensgeheimniß vor ihm haben? Geben Sie mir Gelegenheit, Ihnen nützlich zu sein, und Sie werden meinen Eifer kennen lernen. Ich schwöre Ihnen, daß ich verschwiegen sein will, wie das Grab.“

„Gut, mein Herr, ich nehme Ihren Schwur an!“

Sie reichte ihm ihre kleine Hand. Lambert ergriff sie und drückte sie mit Inbrunst an seine Lippen.

„Wann und wo sehe ich Sie wieder?“

„Nennen Sie mir Ihre Adresse, und Sie werden einen Brief durch die Stadtpost erhalten.“

Der Commis sann einen Augenblick nach.

„Ich wohne in dem Hause meines Prinzipals,“ murmelte er; „dorthin darf der Brief nicht kommen – aber mein Onkel kann ihn annehmen: ihm darf ich sagen, daß ich das größte Glück meines Lebens darin finde, mir die Gunst Fräulein Sophie’s zu erwerben!“

Lambert holte sein Taschenbuch hervor, schrieb einige Worte auf ein Blatt, riß das Blatt aus dem Buche, und überreichte es dem jungen Mädchen.

Sophie las:

„Ludwig Lambert, per Adresse Pastor Lambert, Polstraße 11. 3. Etage.“

„Der Pastor ist der Bruder meines verstorbenen Vaters,“ fügte Ludwig ergänzend hinzu. „Er liebt mich wie seinen eigenen Sohn, und wird den innigsten Antheil an meinem Glücke nehmen.“

„Halten Sie es denn wirklich für ein Glück, mich näher kennen zu lernen?“ fragte Sophie, verschämt lächelnd. „Wenn Sie sich nun in Ihren Erwartungen getäuscht fänden?“

„Ein Engel kann nur Glück bringen, und Sie sind für mich ein Engel in menschlicher Gestalt!“ rief Ludwig wie begeistert.

Einige vorübergehende Personen unterbrachen den Herzenserguß des liebeberauschten Commis! Indem sie sich den Anschein müßiger Spaziergänger gaben, traten sie den Rückweg an. Die Uhr in der Kirche des heiligen Georg schlug eins.

„Jetzt erlauben Sie mir, daß ich mich entferne!“ flüsterte Sophie. „Leben Sie wohl, und erwarten Sie meinen Brief!“ fügte sie tief erröthend hinzu.

„Und werde ich lange warten müssen?“

„Ich glaube, daß es mir möglich sein wird, Ihnen bis übermorgen zu schreiben. Die Bitte um Verschwiegenheit spreche ich nicht noch einmal aus, sie müßte Sie beleidigen. Leben Sie wohl, Herr Ludwig!“

„Auf Wiedersehen, Fräulein Sophie!“

Sie reichten sich einander die Hand. Dann schlüpfte Sophie in eine Seitenstraße und verschwand. Lambert sah ihr entzückt einige Augenblicke nach, dann trat er den Rückweg zur Stadt an. Gern hätte er gesehen, welches Haus seine Geliebte öffnete; aber er wollte nicht neugierig erscheinen, und ging langsam weiter. Diesen Ausgang seines Abenteuers hatte er nicht erwartet. Alle Qualen des Herzens, die er seit einem Vierteljahre erduldet, waren verschwunden, er durfte sich jetzt der süßesten Hoffnung hingeben. Sophie hatte ihm eben so viel Ehrfurcht als Liebe eingeflößt, sie war für ihn das schönste, vollkommenste Weib, das er je gesehen. Mit ganzer Seele überließ er sich dem Entzücken der ersten, der reinsten Liebe. Ludwig stand noch in dem glücklichen Alter, in dem man Genuß an der Melancholie und Seligkeit in dem Traume von entfernten Hoffnungen findet; er war noch jung genug, um in einer Frau mehr als die Frau zu erblicken. Die Stimme Sophie’s, ein Blick von ihr reichten hin, um ihn in einem Meere von Seligkeit schwelgen zu lassen.

Jetzt kam er an dem Eckhause vorbei, das die Geliebte hatte betreten wollen. Die Fenster des Erdgeschosses waren mit Läden verschlossen – in dem Augenblicke, als er zu dem obern Stockwerke emporsah, rollte ein weißes Rouleau auf, und Sophie, noch im Mantel und Hut, erschien hinter den glänzenden Fensterscheiben. Lächelnd nickte sie einen Gruß herab, dann aber legte sie schnell den Finger an die Lippen. Ludwig grüßte kaum merklich, und ging rasch weiter. Dieser neue Beweis von der Gunst des reizendes Mädchens machte ihm den Kopf wirr. Drückte ihre Pantomime nicht aus: du kennst jetzt meine Wohnung, aber schweige?

„Schweigen werde ich,“ flüsterte er wie berauscht vor sich hin, „und wenn es mich meine Stelle in dem Hause des Banquiers kostet. Jetzt habe ich ein Recht, die Geliebte vor unwürdigen Nachstellungen zu schützen!“

(Fortsetzung folgt.)




Die thüringer Edeltanne.
„Thüringen, du holdes Land,
Wie ist mein Herz dir zugewandt!“

Das alte Lied, dessen Refrain diese Verse sind, tönt Einem in Thüringen überall entgegen. Es ist gleichsam Nationalhymne der Thüringer geworden. In ihm hat Ludwig Storch die Reize seines Vaterlandes besungen und zugleich ein schönes Zeugniß seiner Liebe zu ihm abgelegt. Storch ist vorzugsweise der Dichter Thüringens; mit hoher und reiner Begeisterung hat er das schöne Thüringerland in Lied und Novelle und lebendigen Schilderungen verherrlicht, aber im Gebirge, wie im flachen Lande kennt und liebt ihn auch alles Volk, vorzüglich der „gemeine Mann“, der da weiß, daß Storch sein treuester Freund ist. Das zeigte sich so recht deutlich in den vormärzlichen Tagen, wenn er auf einem der thüringer Sängerfeste erschien, der, wie eine Edeltanne, hoch und schlank gewachsene schöne Mann, dem Alles entgegenjubelte, sobald er die Rednerbühne bestieg. In den höchsten

[197]

Ludwig Storch.

und hohen Kreisen ist er dagegen nicht eben beliebt, auch hat er weder Orden noch Titel, noch Pensionen von thüringischen Fürsten erhalten. Er ist der schlichte, einfache und arme Dichter Storch geblieben.

Schon vor zwölf Jahren sagte O. L. B. Wolff in seiner großen Encyklopädie der deutschen Dichter von unserm Storch: „Wenn man das Leben dieses Mannes kenne, müsse man über seine Leistungen erstaunen.“ Wir wollen versuchen, eine charakteristische Skizze dieses ächt deutschen Dichterlebens zu geben, denn zu einer in’s Einzelne gehenden Darstellung desselben gebricht es der Gartenlaube an Raum. Auch hat Storch sein Leben selbst sehr ausführlich unter dem Titel „Ein deutscher Schöngeist“ beschrieben und uns das Buch, welches noch Manuskript ist, zu unserer Skizze überlassen. Die jetzigen Preßverhältnisse Deutschlands erlauben freilich den Druck dieses sehr interessanten Werkes nicht, doch getrösten wir uns der Hoffnung, daß dasselbe über kurz oder lang gedruckt werden und – wir dürfen diese Ueberzeugung aussprechen – großes Aufsehen machen wird.

Wir entnehmen dem Buche zu unserm Zwecke aus Storch’s Leben folgende kurze Angaben.

Am 14. April 1803 zu Ruhla (gothaischen Theils) im nordwestlichen Thüringerwalde geboren, einziger Sohn eines Arztes, der bei der Geburt des Dichters bereits 78 Jahre alt war, aber noch sieben Jahre lebte, war er von väterlicher wie mütterlicher Seite aus Familien von sehr eigenthümlichen und ungewöhnlichen Verhältnissen entsprungen, die auf sein eignen Schicksal und seine Bildung nicht ohne bestimmenden Einfluß gewesen sind. Von väterlicher Seite stammt er nämlich aus einem Hause, welches seit zwei Jahrhunderten eine Reihe von Aerzten und Wundärzten hervorgebracht hatte, so daß es sich gleichsam von selbst verstand, daß der Sohn wieder Medicin studire, wie der Vater gethan. Der Ahn der Familie war ein Wunderdoktor, wie sie in früherer Zeit in dieser Gebirgsgegend häufig waren, und wie unser Dichter in seinem „Vörwerts-Häns“ einen solchen geschildert hat, und der Sohn desselben, ein für seine Zeit bedeutender medicinischer Schriftsteller, der als solcher sich präcisirt „Pelargus“ nannte, auch Leibarzt der Herzöge von Eisenach und dann des Herzogs Friedrich III. von Gotha und Altenburg. Ein Großneffe desselben war der Vater des Dichters. – Der sterbende Greis ließ sich indeß von der Mutter das Versprechen geben, daß sie den Sohn nicht wolle Medicin studiren lassen, „er habe die Praxis über fünfzig Jahre getrieben, und sei stets im Dunkeln getappt, ja zur Ueberzeugung gekommen, daß die Principien der Heilkunst falsche seien. Ein gewissenhafter Arzt sei ein unglücklicher Mensch, weil er täuschen müsse.

Die Mutter den Dichters war ein Sproß der Familie Gotter, [198] deren Ahnherr Oberhofprediger und Generalsuperintendent in Gotha gewesen war, und die den beiden Ländern Gotha und Altenburg eine Menge angesehener Beamten und Geistliche geliefert hatte, so daß sie zu den ersten Familien gerechnet wurde. Die beiden Glanzsterne dieser zahlreichen Familie waren der zu seiner Zeit so berühmte Graf Gustav Adolf Gotter, Hofmarschall und Minister Friedrichs des Großen, der eine seiner poetischen Episteln an ihn gerichtet hat, und der Dichter Friedrich Wilhelm Gotter, der Jugendfreund Goethe’s, der als Geheimer-Secretair in Gotha starb, und dessen Tochter die Gemahlin des Philosophen Schelling und als solche Gönnerin des Dichters Grafen Platen war.

Die mütterliche Großmutter unsres Dichters, die er noch sehr gut kannte, war die Tochter eines der reichsten Männer in Thüringen, eines Kaufmanns Kühn in Eisenach, der den Titel „wirklicher kaiserlicher Rath“ hatte. Der Volksmund legt noch heute den Kühn’s, von welchen ein Zweig geadelt wurde, Millionen bei; sie besaßen Häuser und Rittergüter in Thüringen. Der letzte Herzog von Eisenach, Wilhelm Heinrich, ein wüster Verschwender, verstand es, dem „wirklichen kaiserlichen Rath Kühn“ fabelhafte Summen abzuborgen; als der Fürst in der Blüthe des Lebens plötzlich starb und sein Erbe, der Herzog Ernst August von Weimar, die Bezahlung der Schulden verweigerte, erhielt Herr Kühn das fürstliche Mobiliar für seine Forderung. Der Mann hatte den Tod von diesem Verlust, und von dem ganzen Vermögen ward nichts gerettet.

Die gegenständliche Erinnerung an den verlorenen Reichthum blieben die fürstlichen Möbeln, mit welchen das Vaterhaus unsers Dichters überfüllt war, und wovon er selbst noch als handgreifliche Schicksalsironie eine – leere Kassette besitzt. Was davon nicht zum Gebrauch verwendet werden konnte, war auf dem Hausboden auf- und zusammengestellt, alle von Mahagoni-, Palissander- und Ebenholz, vergoldet und verschnörkelt, mit dem herzoglich sächsischen Wappen fournirt. Da hockten unter dem Dache die Gueridons, die einst um die hochfürstlichen Paradebetten gestanden, die Consoles, Toiletten, Fauteuils, Tabourets, Etageren etc., und der Knabe baute sich aus ihnen eine phantastische Welt, Häuser und Straßen, in welchen er wohnte, träumte und Bücher las. Es ist ein pikantes Bild: ein schlanker blondlockiger Knabe mit glänzenden, hellblauen Augen und der edelsten Gesichtsbildung in einer phantastisch zusammengestellten Anhäufung prachtvoller Möbeln mit dem Sachsenwappen, auf dem wüsten Boden eines Hauses in dem hochromantischen Ruhlathale, mit den alterthümlichen, poetischen Erinnerungen, und diese Möbeln die Utensilien eines ausgestorbenen Fürstenhauses und die letzten Ueberbleibsel eines schier fabelhaften Reichthums, dessen Miterbe dieser Knabe geworden sein würde, der nun in dieser kleinen wunderlichen Rococowelt mit den ersten Weihen zum Dichter der Neuzeit und der verwandelten Welt begnadigt wird. Um ihn ein Greis, der ihm von dem Wunderdoktor aus dem dreißigjährigen Kriege erzählt und von den gelehrten Aerzten, die als „Pelgari“ Bücher geschrieben und des Knaben Vorfahren gewesen, gehätschelt von einer Greisin, die, wie eine alte Fee, nicht müde wird, von den Wundern ihrer Jugend und ihres Vaterhauses, des „wirklichen kaiserlichen Raths“ zu berichten, wie sie mit Prinzessinnen gespielt und nie über die Straße gegangen, sondern stets in einer prächtigen Karosse gefahren, und endlich unterhalten von einer jüngern Frau, die ihm die staunenswerthesten Dinge von ihrem Vorfahren, dem Grafen Gotter, mittheilt und die Lieder des Dichters Gotter recidirt. Im weitern Kreise dann die reizenden ruhlaer Mädchen, die Enakssöhne der Arbeiter, die Sagen und Märchen, die herrlichen Berge und Thäler, die Buchen- und Eichenwälder, die Wiesen, Felsen und Bäche, und über Allem der Hauch der Poesie, der Romantik – wahrlich, wenn Storch kein Shakespeare geworden ist, die Schuld liegt nicht an den Gestalten und Kräften, die auf seine früheste Jugend eingewirkt haben. Aber er sollte den Becher der Poesie noch tiefer schmecken, den bittern, schlammigen Bodensatz, der da rauhe, gräßliche Wirklichkeit heißt.

Mit dem Tode des Vaters beginnt die trübe Verwirrung in des Dichters Leben. Seine familienstolze Mutter heirathete einen vierzehn Jahre jüngern Mann, einen Pfeifenbeschläger. Die Ehe wurde über die Maßen unglücklich, und der Knabe empfing neben einer thöricht strengen, regellosen, ja albernen Erziehung die scheußlichsten und widerwärtigsten Eindrücke, die ein junges, poetisches Gemüth für das ganze Leben vergiften können. Storch erzählt in seinem Buche Scenen, die jedes sittliche Gefühl auf’s Aeußerste empören müssen. Man wird vom tiefsten Mitleide mit dem unglücklichen Kinde ergriffen, das ohne Schuld verdammt ist, in solch’ bitterböser Wirthschaft aufzuwachsen und dessen erste und wichtigste Entwickelung von solch’ verkehrten leidenschaftlichen Menschen geleitet wird. Der beschränkte Raum verbietet uns, mehr als eine dieser Scenen mitzutheilen; wir wählen diese ihrer Originalität und ihres wahrhaft dämonischen Gehaltes wegen aus.

Storch spricht nämlich in seinem Buche einen furchtbaren Verdacht aus, den wir hier nicht näher bezeichnen können, der sich aber wie ein tiefer schwarzer Schatten über des Dichters Jugend, ja über sein ganzes Leben gelegt hat. Mag dieser Verdacht begründet sein oder nicht, wehe dem jugendlichen Gemüth, auf welchem ein solcher Verdacht schrecklich beängstigend lastet, wie der Alp auf einem Träumer. Der erste Gifttropfen in den Blumenkelch seines träumerischen Kinderglücks wurde dem siebenjährigen Knaben an der Leiche seines Vaters von der Mutter gereicht, die sich mit ihm in die abgelegene Stube, wo die Leiche lag, eingeschlossen hatte und hier eine so haarsträubende Scene aufführte, daß wir uns nicht wundern, daß dem Kinde das Herz im Leibe zitterte; es ist uns beim Lesen nicht besser ergangen. Seit dieser Stunde hatte der Knabe eine leicht erklärliche Scheu vor seiner Mutter. Ein Jahr später, an einem trüben regnerischen Spätherbstabend saß der Knabe mit der Mutter allein in der Wohnstube am Tische, das Kind in einem Buche lesend, die Mutter strickend. Auf dem Tische lagen noch die Messer vom Abendessen: denn Ordnung war eben nicht in der Wirthschaft. Und diese Messer waren spitz. Den Knaben überkommt plötzlich eine eigenthümliche Angst, er schlägt die Augen nach dem Gesichte der Mutter auf und erschrickt. Aus den dunkel gerötheten und verzerrten Zügen starren ihn ein paar weit aus ihren Höhlen hervorquellende glühende Augen mit einem entsetzlichen Ausdruck an.

„Mutter! Mutter! Um Gottes willen, was hast Du? Was ist mit Dir?“

Im Nu ergreift die also Angeredete ein Messer und stößt es mit wilder Heftigkeit nach der Brust ihres Kindes, das bis zum Tod entsetzt, sich bückend zur Seite weicht, so daß der gewaltige Stoß fehl geht. Sie aber faßt, ein fürchterliches Wuthgeheul ausstoßend, nach ihrem Opfer, um es zu meucheln; es entwischt ihr, springt auf die Straße und schreit um Hülfe. Die Nachbarn eilen herbei und finden eine Wahnsinnige im ersten furchtbaren Wuthausbruch. Vier starke Männer, die sie halten wollten, schleuderte sie wie Kinder von sich. Sie tobte die ganze Nacht und in Paroxismus mit lichten Intervallen mehrere Wochen. Der Arzt verlangte, daß der Knabe aus dem Hause entfernt würde, aber obgleich er sehr reiche Verwandte hatte, nahm ihn doch Niemand zu sich. Er wäre gern so weit als möglich von der Mutter fort gewesen, denn ihr Anblick erfüllte ihn stets mit gräßlicher Angst, die jede jugendliche Lebensblüthe in ihm versengte. Er mußte wohl bleiben. Nun rieth ihm der Arzt: nie mit der Mutter im Zimmer allein zu sein. So saß er denn immer auf der Lauer, um mit der dritten Person die Stube zu verlassen.

Im nächsten Sommer versah er’s und war eines Nachmittags mit ihr allein. Zufällig wendet er sich nach der Mutter und schreit auf vor Entsetzen. Der Wahnsinn glüht wieder aus ihren Augen, ihre Hände strecken sich krallenartig nach ihm aus.

„Hab’ ich Dich endlich!“ heult sie mit verzerrtem Munde. „Jetzt sollst Du mir nicht entgehen.“ Er stürzt nach der Thüre; sie verrennt ihm den Weg, sie faßt nach ihm, um ihn zu erwürgen; er springt auf den Tisch, reißt ein Fenster auf und stürzt sich auf den Hof hinaus. Der Schrecken wirkte fast tödtlich auf ihn; er wurde doch nicht entfernt, und um das harmlose Glück seiner Jugend war’s geschehen. Der Paroxismus ging diesmal schnell vorüber, aber im Wahnsinn hatte die unglückliche Frau Dinge gesprochen und gethan, die mit ihrem Gebahren an der Leiche des Vaters zusammengehalten, im Laufe der Zeit jenen Verdacht in der Seele unseres jungen Dichtern erzeugten, der sein Leben vergiftet hat.

Zwei Ereignisse sind in dieser Zeit bedeutungsvoll für den Knaben, welche die Feder des Mannes mit großer Lebendigkeit aus eigener Anschauung beschreibt, die furchtbare Explosion der französischen Pulverwagen in den Straßen Eisenachs und die dadurch bewirkte theilweise Zerstörung der Stadt am Abend des 1. September 1810, und die großartige Einweihung des Bonifacius-Denkmals (Kandelabers) bei Altenbergen am 1. September 1811.

[199] Vier Jahre lang nehmen die Truppenmärsche durch das Ruhlathal und ergreifende Kriegsscenen die Aufmerksamkeit des talentvollen Knaben fast ganz in Anspruch. Sehr rührend ist sein freiwilliger Dienst als Krankenpfleger in einem französischen Hospital. Da kocht er Suppen und labt die Leidenden.

Die Schule des Orts ist schlecht und Storch erhält den ersten besten Unterricht in der Privatschule eines Candidaten der Theologie, eines rohen und gemeinen Menschen, der im Hause wohnt. Durch den ältesten Sohn Schiller’s, der in einem in Ruhla vom Förster auf der eisenacher Seite errichteten zahlreich besuchten Forstinstitute die Forstwissenschaften studirt, lernt Storch zuerst Schiller’s Gedichte kennen. Die Wirkung ist hochberauschend. Mit den ersten Flügelschlägen der Poesie in seiner Seele zieht auch die Liebe in dieses heiße Knabenherz. Er ist kaum zwölf Jahre alt, als er ein Mädchen seines Alters (Gretchen, das er im „Vörwerts-Häns“ verherrlicht hat) mit einer Glut liebt, deren nur eine Dichterseele fähig sein kann.

Durch Zeitumstände und lüderliche Wirthschaft versank die Familie indeß mehr und mehr in Armuth. Die Mutter trieb Viehzucht, braute und schenkte Bier und hielt einen Kramladen mit Materialwaaren und Viktualien und Schnapsschank. Der elf bis zwölfjährige Knabe mußte den Gehülfen bei den Gürtlerarbeiten machen, die sein Stiefvater als Beschläger der Pfeifenköpfe betrieb, und erlangte darin eine solche Fertigkeit, daß er sie noch heute anzuwenden versteht und daraus seine Vorliebe für Mechanik erklärlich wird; er mußte ferner den Viehknecht machen und den Kühen und Schweinen ihr Futter beifahren, was er meist baarfuß verrichtete; daraus erklärt sich seine Liebe zur Landwirthschaft, respective zur Viehzucht. Er hatte ferner den Dienst eines Kellners und Bierschenken, aber auch den weit beschwerlichern eines Marketenders. Wir sehen nämlich den schlanken Knaben mit den blonden Locken und den schwärmerisch leuchtenden blauen Augen an den Sonntagmorgen früh vor vier Uhr mit einer an einem Trageband ihm über die Schultern, vor seinem Unterleibe hängenden Korbwanne voll Schnapsflaschen und Semmeln mit der neuerrichteten Landsturmkompagnie der gothischen Ruhl auf eine große Wiesenfläche hoch im Gebirge ausziehen, wo das Exercitium stattfindet, und der künftige Dichter seine Schnäpse an die Mannschaft ausschenkt. Das Vaterhaus wurde ihm zur Hölle.

Führen wir seine eignen Worte an, um die Theilnahme des Lesern für ihn zu gewinnen. „Man wird sich schwerlich eine rechte Vorstellung von der wüsten, scheußlichen Ehe meiner Mutter machen können. Mißgriffe und Irrungen fort und fort von beiden Seiten. Arbeitsunlust, Vorwürfe, tägliche Zänkereien und Schlägereien, die den tiefsten Grad von Gemeinheit erreichten, widerwärtige Scenen, die mein junges zuckendes Herz zur Verzweiflung brachten und mir jetzt noch das Blut vor Scham und Unwillen in die Wangen treiben. Mein von launenhafter Strenge, Angst und Schrecken schon schwer niedergedrücktes Gemüth wurde zermartert und zerrissen von den Furien, die mein elterliches Haus täglich durchrasten. Meine beschmutzte Kinderseele kehrte sich mit zitternder Empörung und wachsendem Abscheu von den dämonischen Gestalten, die, gepeitscht von Haß und Wuth, mich dort täglich und stündlich umgrinsten und umtobten. Weinend floh ich in die schönen einsamen Wälder, die mir von den Bergen herab die Arme mitleidig entgegenstreckten. Dort saß ich an einem Felshange und starrte sehnsüchtig in die weite blaue Ferne, ein um sein schönes Jugendglück betrogenes Kind, oft hungernd und frierend, schluchzend vor unsäglichem Schmerz, und doch bald wieder mit aufflammender Seele, dort saß ich, der arme Knabe, der Nachkomme der steinreichen Kühn, der vornehmen Götter, der gelehrten Storch, von höllischen Geistern aus dem Vaterhause vertrieben, und – schrieb meine ersten Lieder, zu welchen es mich unwiderstehlich drängte, auf ein vergilbtes Blatt Papier. Dort zuerst brauste Schiller’s großer Genius wie ein Sturmwind durch die offnen Thore meiner Seele, dort suchten mich die neckischen Berggeister, die Sagen und Märchen, auf, dort tauchten die ehernen Gestalten der Geschichte in mir auf und zogen majestätisch vor meinem brennenden Geistesauge vorüber. Damals habe ich so manches stille – schwärmerische Lied geschrieben. Selig träumend ging ich dann weiter, um Gretchen aufzusuchen und ihr in das süße, blaue Auge zu sehen. So hat mich früh der Hort der Poesie vor dem Schmutz der Erde geschützt.“

Der Knabe hatte gewünscht, Theologie zu studiren, da er gegen die Jurisprudenz durch unverständige Reden eingenommen worden war, aber er wurde von seinen Eltern bestimmt, Kaufmann zu werden. So kam er im Spätherbst 1816 nach Erfurt in eine Engros-Material- und Landesproduktenwaaren-Handlung. Neue Drangsale warteten seiner. Von einem unbedeutenden Menschen gemißhandelt, dem Hunger preisgegeben, war er nahe daran, lüderlich zu werden. Die Poesie rettete ihn. Er schrieb ein Drama und Gedichte, die der prosaische Herr Prinzipal entdeckte und dafür den poetischen Lehrling züchtigte. Er mußte die schwersten Tagelöhnerarbeiten thun und den Pferdeknecht machen.

Aus dieser Periode hat Storch’s Buch wieder sehr interessante Genrebilder. Auch die nächste Veranlassung, daß er im Spätherbst 1817 aus dem Geschäft entlassen wird, ist poetisch originell, wir können sie aber nicht mittheilen. Einige Monate später tritt er in ein Material-Detail-Geschäft in Erfurt als Lehrling ein, brennt jeden Morgen um 4 Uhr einen Centner Kaffee in einer großen Trommel und destillirt den Tag über in einer großen kupfernen Blase alle möglichen Schnäpse und Liqueure, cujonirt von einer impertinenten Ladenmamsell, und albern behandelt von einem sehr dummen Menschen, der jetzt sein Prinzipal war. Die Schilderung seines Lebens in diesem Hause ist sehr humoristisch. Ein entsetzlicher Sturz in den Keller, der das Leben des Lehrlings in die größte Gefahr brachte, machte auch diesem Aufenthalt nach einem Vierteljahre ein Ende.

Jetzt wußte der an bittern Lebenserfahrungen schon so reiche Jüngling es durchzusetzen, daß er zu Michaelis 1818 das Gymnasium zu Gotha beziehen durfte. Der Direktor desselben, Kirchenrath Döring, wollte ihn nicht annehmen, weil er, groß wie ein Mann, aller Vorkenntnisse ermangelte. Seine Fortschritte waren indeß erstaunenswerth. Und dabei litt er den bittersten Mangel an den nothwendigsten Bedürfnissen. Seine Eltern waren gänzlich verarmt, und das geringe väterliche Erbe Storch’s in ihrer Benutzung. Da gab er Unterricht, arbeitete als Gehülfe in der Hennings’schen Buchhandlung, trieb einen kleinen Buchhandel mit Schulbüchern und arbeitete für Schüler und andere Leute. Und doch mußte er zuweilen lange darben. Eine verhüllte Hand ließ ihm sehr zweckmäßige Unterstützung zufließen. Ein Zufall entdeckte sie ihm; es war ein junges hübsches Mädchen in seiner Nachbarschaft, die Tochter eines wohlhabenden Schuhfabrikanten. Aus dem Gefühl der Dankbarkeit erwuchs, wie so oft, die Liebe. Zu Michaelis 1822 verließ Storch das gothaische Gymnasium und wurde Schüler des Gymnasiums zu Nordhausen, dessen Director Krafft ihm viele Vortheile gewährte, und ein Jahr später bezog er die Universität Göttingen, um Humaniora zu studiren. Dort erschien auch unter dem Titel: „Knospen und Blüthen,“ die zweite Auflage seiner in Nordhausen bereits veröffentlichten Gedichte, die indeß von dem Dichter als Jugendarbeit später nicht brachtet wurden.

Aber schon zu Anfang des Jahres 1825 sehen wir ihn sich um eine kleine Anstellung in Gotha bewerben, die ihm der Staatsminister Lindenau, dem er sich empfohlen, zugesagt, und seine Verlobte heirathen. In diesem Jahre schrieb er seine erste Novelle, die Intrigue, die später in zweiter Auflage erschien, und ihm viele Freunde erwarb. Er erhielt die Anstellung nicht, der Minister zieht seine kleine Unterstützung zurück; der junge Dichter ist Gatte und Vater zweier Knaben ohne namhaftes Vermögen, ohne Broterwerb. Alles zieht sich von ihm zurück, er wird überall abgewiesen, nur einige anrüchige Subjecte suchen seinen Umgang aus schmutziger Absicht. Die Schilderung dieser Zeit ist im Buche herzergreifend, die Portraitirung der Persönlichkeiten von den beiden Gymnasien und der Universität vortrefflich. Wir begegnen da z. B. Heinrich Stieglitz, der in Gotha Storch’s Mitschüler und Umgangsfreund ist, freilich der verwöhnte und verzärtelte Neffe des Baron Stieglitz, des russischen Rothschild.

Die Kraft eines ursprünglichen Geistes bewahrt sich auch hier wieder. Der unglückliche Storch rafft sich auf. Wie er 1821 nur durch einen Zufall abgehalten wurde, als Philhellene nach Griechenland zu gehen, so halten ihn jetzt die Bitten seiner Mutter zurück, mit seiner jungen Frau zum Theater zu gehen, wozu Beide entschiedenes Talent haben. Er geht zu Ostern 1826 nach Leipzig, um seine Studien zu vollenden. Frau und Kinder bleiben in Gotha. Auf originelle Weise lernt er den Buchhändler Barth kennen, und dieser führt ihn in die Schriftstellerlaufbahn ein. Während er noch einige Collegia hört, werden schon Novellen und Romane von ihm gedruckt [200] Der mit großem Beifall aufgenommene „Kunz von Kauffungen“ ist eins seiner ersten Bücher. Dabei lies’t er bei Barth Korrekturen, und verschafft sich und den Seinigen durch großen Fleiß eine anständige Existenz. Der Plan, mit zwei andern jungen Gelehrten eine Buchhandlung in Gotha zu gründen, treibt ihn dahin zurück, aber auch diese neue Hoffnung scheiterte an Leichtsinn und Untreue. Storch wurde betrogen und erlitt Verluste, die Früchte seines angestrengten Fleißes, die für seine Verhältnisse groß genannt werden durften. Zu jener Zeit übersetzte er aus dem Griechischen, Lateinischen, Französischen und gab zwei Novellen, die „Kurrutzen“, heraus, die so allgemeine Anerkennung, namentlich in Oesterreich fanden, daß ihm von vielen Seiten buchhändlerische Offerten zugingen. Die Verhältnisse in Gotha konnten ihm indeß nicht behagen, er fühlte sich dort sehr unglücklich. Deshalb ergriff er das Anerbieten eines jungen Buchhändlers Franckh in Stuttgart, dorthin zu kommen und für denselben thätig zu sein, und war im Herbst 1828 schon in der Hauptstadt Würtembergs. Dort lebte er mit Carl Spindler zusammen.

Aber Franckh war ein unedler Mensch, der Storch mißbrauchen wollte. Das erste Auftreten des Schauspielers Seidelmann auf der Hofbühne in Stuttgart wurde auf sehr drastische Weise die Veranlassung, daß sich Storch’s Verbindung mit Franckh schon nach einem halben Jahre wieder löste, und der erstere, da er in Stuttgart keinen Verleger finden konnte, mit mehren fertigen und angefangenen Manuskripten im Herbst 1829 nach Leipzig ging, wo er leider in die Hände eines gewissenlosen Buchhändlers fiel, der ihn sehr gemißbraucht hat. Zu Weihnachten hatte er seine Familie wieder bei sich, und nun erschienen „Vörwerts-Häns“, „der Glockengießer“, „die Fanatiker“ und der erste Band des „Freiknecht“, ein Roman, der mit den verschiedenen Nachdrücken nicht weniger als fünf starke Auflagen erlebt hat, und von der Birch-Pfeiffer als „Hinko der Freiknecht“ für die Bühne bearbeitet worden ist.

Aber auch in Leipzig war dem gedrangsalten jungen Manne nicht lange Ruhe gegönnt. Die Revolution von 1830 und ihre Folgen, die ihn über die Maßen anekelten, vertrieben ihn. Zu Weihnachten wohnte er mit seiner Familie wieder in Gotha in einem abgelegenen Gartenhause, das er früher schon bewohnt hatte.

In der tiefsten Zurückgezogenheit und fast ohne allen Umgang lebte er hier zehn Jahre, und schrieb seine zahlreichen Schriften, von denen wir als besonders gelungen nur: „der Karikaturist“, „der Jacobsstern“, „die Beguine“ und „der Freibeuter“ aufführen. Seine Abgeschlossenheit hatte nicht nur einen moralischen, sie hatte auch einen physischen Grund. Im Jahre 1833 zeigten sich die ersten Spuren von einer den Dichter heimsuchenden nervösen Schwerhörigkeit, die sich mit den Jahren vermehrte. Vielfache Verluste und unerfreuliche Behandlung von Buchhändlern veranlaßten unsern Storch, im Jahre 1840 auf Anregung eines jungen, ihm entfernt verwandten Schriftsetzers, der ihm vorspiegelte, Besitzers eines ansehnlichen Vermögens zu sein, mit demselben eine Buchdruckerei zu errichten, und damit eine Verlagsbuchhandlung zu verbinden. Nachdem die ersten Schritte schon geschehen waren, erwiesen sich die Vermögensangaben des jungen Mannes als falsch und Storch mußte einen Compagnon in der Person eines andern jungen Mannes annehmen. Auch in dieser Wahl war er unglücklich. Die trübste Periode in Storch’s Leben beginnt hier; er wird von allen Seiten hintergangen und getäuscht, und seine bösen Erfahrungen in dieser Beziehung endeten 1844 keineswegs mit dem Verlust seiner gänzlichen Habe. Storch erzählt über diesen Gegenstand Dinge, die nur ein mit der Verworfenheit von Menschen vertrauter Mann für möglich halten kann.

Von 1845–1849 schrieb der Dichter wieder in der alten tiefen Zurückgezogenheit seinen neunbändigen historischen Roman „Ein deutscher Leinweber,“ ein Werk, daß trotz seiner Ausdehnung allgemeinen und großen Beifall fand und noch jetzt zu den gelesensten Büchern gehört. Storch zeigt sich darin zugleich als Geschichtsforscher. Die Bewegungen der Jahre 48 und 49 berührten ihn nur in den ersten Wochen. Dagegen ergriff ihn Friedrich Fröbel’s Idee der Kindergärten lebhaft; er ließ eine Nichte, die er erzogen, von Fröbel zur Kindergärtnerin bilden, und gründete einen Kindergarten in Nordhausen, welcher schon nach wenigen Monaten vom königl. preuß. Ministerium des Unterrichts geschlossen wurde, worauf das bekannte Verbot der Kindergärten in den preußischen Staaten erfolgte. Storch hatte seinen ganzen zeitherigen Erwerb darauf verwendet, und gerieth wiederum in die bedrängteste Lage. Er lebte im Jahre 1851 in Dresden und Braunschweig, um eine Kur gegen seine schweren Unterleibsleiden zu gebrauchen, 1852 in dem schönen Gebirgsdorfe Georgenthal bei Gotha, 1853–55 in dem grünen Städtchen Waltershausen, wo Frau und Nichte einen Kindergarten hielten. Um einen Lieblingswunsch, den er seit seiner Jugend gehegt, Landwirth zu werden, auszuführen, beabsichtigte er, sich in einem westlichen Staat der nordamerikanischen Union anzusiedeln, und ein Sohn ging dahin voraus.

Aber der Buchhändler E. Keil, der Verleger dieses Blattes, Storch’s thüringischer Landsmann, mit welchem er seit 1852 in nähere Verbindung getreten war, rieth so dringend von dieser Uebersiedelung ab, daß der Dichter den Plan aufgab. 1853 erschienen Storch’s lyrische Gedichte im Verlage den genannten Buchhändlers, die von der gesammten deutschen Presse mit großer Anerkennung ausgenommen wurden. Auf Betrieb desselben Verlegers erschien dann oder erscheint vielmehr noch in dessen Verlag eine Auswahl von Storch’s Schriften in einer schön ausgestatteten Familienausgabe, die ebenfalls vielen Beifall fand, und ihm, da der Verleger seinen Gewinnantheil vollständig an den Dichter abgetreten, hoffentlich die Mittel zu einer sorgenfreien Existenz liefern wird. Seit dem Spätsommer 1855 lebt der Dichter bereits auf einem kleinen Landbesitzthum in der Altstadt bei Bayreuth und giebt sich mit Eifer und Freude dem Betriebe der Landwirthschaft hin. Die schweren körperlichen Leiden, von welchen er seit einer langen Reihe von Jahren heimgesucht war, weichen von ihm, und er sieht einem ruhigen Alter entgegen. Seine Schaffenskraft ist wieder erwacht, und wir können noch manchem schönen Erzeugnisse seiner dichterischen Muße entgegensehen.

Hätte Storch früher mehr Muße gehabt, d. h. wäre seine äußere Lage eine günstigere gewesen, so würden alle seine poetischen Erzeugnisse einen weit höhern Grad von Reife haben. Wie wahr und treffend und warm er z. B. zu schildern versteht, das können am Besten seine Landsleute, die Thüringer, bezeugen, deren Berge, Wälder und Sagen von Allen Keiner so lieb und schön, Keiner so wahr und treu beschrieben hat, als L. Storch. Der arme Dichter mußte sein Leben aber meist unter drückenden Nahrungssorgen hinschleppen, gehetzt von einem Ort zum andern, und von Erholungen, wie sie den Meisten vergönnt sind, ist bei ihm niemals die Rede gewesen.

Storch’s Persönlichkeit ist eine ungemein anziehende und gewinnende – eine ächte Dichtergestalt. Man hat ihn die schlanke Edeltanne Thüringens genannt und nicht mit Unrecht. Auf einer hohen breitschultrigen Gestalt sitzt der noch immer klassisch-schöne Kopf, dessen Haare sich nach und nach weiß färben, während die Wangen noch in frischer Jugendfarbe glühen. Ein Augenpaar, so blau und treu, wie man es nur in Thüringen findet, schaut aus dem blühenden Antlitz so heiter und froh heraus, als ob es niemals Thränen des Kummers geweint. Alles an ihm, sein ganzes Wesen, besonders aber seine Sprache, die den treuherzigen thüringer Idiom noch ganz hat, macht den Eindruck eines offenen kindlichen Gemüths, das trotz aller bitteren Erfahrungen noch an die Menschheit und all’ ihre Ideale glaubt. Man muß ihn selbst sprechen hören über seine Vergangenheit, sein Leben und seine Hoffnungen, man muß mit ihm auf den thüringer Bergen gewandert sein, die er so treu liebt, muß mit ihm die Hoffnungen des Vaterlandes besprochen und berathen haben, um den Mann lieb zu gewinnen, der so hinreißend-begeistert und doch so kindlich offen, so ganz vertrauend und hingebend seine innere Welt zu offenbaren versteht. Storch ist ein Mensch im edelsten Sinne des Worten, und das ist in unsern Tagen schon ein großer Vorzug.

Er hat viel Gutes gewollt und Besseres verdient, als ihm im Leben geworden – möge sein Lebensabend ein heiterer und sorgenloser sein!
K. v. L.
[201]
Scenen aus dem Südpolarmeer.
Von Friedr. Körner.
(Zweiter Artikel.)

Obschon das Südpolarmeer grauenhaft ist wegen seiner Einöde und der wilden Erhabenheit seiner Naturschauspiele, obschon das feste Eis in der Regel bis zum 60. und 62. Grad reicht, während das Nordpolarmeer an 10 Grad weiter noch schiffbar ist: so haben sich nicht nur gewinnsüchtige Wallfischfänger in dasselbe gewagt, sondern der Drang nach Erforschung des Erdkörpers hat wissenschaftlich gebildete Seefahrer in günstigen Sommern tief in die Eiswüsten des Südpolarmeeres geführt, wo sie Gefahren zu bestehen hatten, bei deren Erzählung den Zuhörer kaltes Grausen überfällt. Wenn wir den Muth der Krieger bewundern, die sich mit Todesverachtung dem Kartätschenhagel entgegenwerfen, so verdienen die Polarfahrer die höchste Bewunderung, da sie viel größere Gefahren zu bestehen haben. Der Soldat kämpft in Gemeinschaft mit seinen Genossen, und fällt er, so endet ein kurzer Tod sein Leben, und lohnt ihn ein ehrenvolles Gedächtniß. Einsam dagegen und tausend Meilen von menschlicher Wohnung und Hülfe entfernt, ringt der Polarfahrer täglich mit dem Tode, Hunger und Kälte peinigen ihn, wenn sein Schiff, vom Winter überrascht, einfriert, und wenn die Wogen es verschlingen, die Eisberge es zermalmen, wenn er, auf eine Eisscholle sich rettend, hülflos von Sturm und Wellen umher getrieben wird, da ahnt Niemand daheim seine Qualen, seine Todesangst – er ist verschollen und wird vergessen. Erneuern wir daher das Gedächtniß an die muthigsten Südpolarfahrer, um uns alle die Grauen und Entsetzen zu vergegenwärtigen, welche diese Entdecker und Erforscher zu ertragen hatten!

Am Weitesten gegen den Südpol ragt die Spitze Südamerika’s, von wo ab die Süd-Orkneys und Süd-Shetlandsinseln nach Süden weisen, wo man einige Küstenstriche entdeckt hat, ohne zu wissen, ob sie einem Festland oder einer Inselgruppe angehören. Aehnliche Küstenstreifen liegen dem Süden Neuhollands gegenüber; doch kennt man auch hier nur einzelne Küstenlinien, die sich auf dem 70. Grad hinziehen, dann plötzlich an der Ostseite nach Süden umwenden, wo die Eisküste, Victorialand genannt, bis zum 78. Grad gegen den Pol hin verfolgt ist. Dort hemmte der Eiswall jedes weitere Vordringen, da er sich unabsehbar nach Osten ausdehnte und einen großen Meerbusen zu umschließen schien, denn südlich von Afrika zieht sich die Eisküste vom 65. Grade süd-westlich gegen den Eiswall.

Schon im Jahre 1600 war ein Holländer, als er eben die Magellansstraße passirt hatte, von einem heftigen Sturme nach Süden in das Polarmeer getrieben, dessen Eisberge und zerklüfteten Inseln ihn mit Schrecken erfüllten. In Europa glaubte man indessen seinen Berichten nicht, und da J. Cook, welcher das Südpolarmeer durchstreifte (1774), unendlich viel Eis fand, so hielt man das Südmeer bis zum 60. Grad für unzugänglich. Erst in unserem Jahrhunderte führte Aussicht auf gewinnreiche Jagd der Thranthiere verwegene Seefahrer in das südliche Eismeer; denn Smith entdeckte 1818 Neu-Südshetland, und Bronsfield untersuchte diese zwölf öden Inseln und eisbedeckten Klippen. Sie waren zwar ohne allen Pflanzenwuchs, aber es lagerten Tausende von Riesenrobben, die oft 24 Fuß Länge und 14 Fuß Umfang hatten, auf den Eisschollen, und zeigten so wenig Scheu vor den nie gesehenen Menschen, daß, wenn die einen erschlagen und abgehäutet wurden, die daneben Liegenden sich nicht von der Stelle rührten. Die reiche Beute lockte mehr Robbenfänger herbei, welche nach neuen Jagdplätzen umher forschten. Unter ihnen hatte der beherzte Weddell das Glück, daß er 1822 die Süd-Orkneys fand und bis zum 74. Grad des eisfreien Meeres vordrang, welches von verschiedenen Seevögeln wimmelte. Fast in jedem der folgenden Jahre ward ein Streifen des vermutheten Südpolarlandes und Inselklippen entdeckt, in denen aber andere Seefahrer zuweilen schwimmende Eisberge für Inseln ansahen, die ein landartiges Aussehen zeigten, weil sie sich überschlagen, und die mit Sand und Schlamm bedeckte Unterseite nach oben gekehrt hatten. Die Streifen eisbedeckter oder schneefreier Berge, die man für den Rand eines Polarfestlandes hält, konnten von den Seefahrern meist nur aus der Entfernung von einigen Meilen beobachtet werden, und lassen daher über Zusammenhang der Küste und Oberfläche derselben Vieles unentschieden. Es fand der Kapitain eines londoner Handlungshauses, der beherzte Viscon, südlich von Madagascar unter dem 65. Grad eine bergige Küste, die er nach der Firma seines Hauses Enderbysland nannte (1830), entdeckte 1832 die zackige Insel Adelaide, welche auf demselben Breitengrade, südlich unter Feuerland liegt und vielleicht die Ecke des Polarlandes ist, welches als Grahams- und Alexanderland nach Südwest, als Trinity- oder Palmersland nach Nordost sich ausdehnt und als weiter Felsenvorsprung südlich Louis Philippsland hat, wogegen die von Russen entdeckten Alexander- und Peterinseln nördlich an der Grahamsküste sich hinziehen.

Diese Entdeckungen erweckten großes Interesse, da sie die Frage über die Beschaffenheit des Südpoles wieder lebhaft anregten, so daß die englische, nordamerikanische und französische Regierung den Entschluß faßten, das Südpolarmeer im Interesse der physikalischen Wissenschaften durchforschen zu lassen. Am Frühesten hatte die französische Regierung die erforderlichen zwei Schiffe dem Zwecke und den zu bestehenden Gefahren gemäß ausgerüstet und deren Führung dem bewährten Kapitain Jules Dumont d’Urville übertragen, welcher ein wissenschaftlich vielseitig gebildeter Mann war und mit dem Kapitain Duperrey, und kurz darauf selbständig Reisen um die Welt gemacht hatte. Als die Julirevolution ausbrach, war er einer der ersten Offiziere, welcher dem König Louis Philipp seine Dienste anbot, den verbannten König Karl X. nach England brachte und dann 1837 beauftragt ward, die Expedition in’s Südpolarmeer zu befehligen. Kaum hatte er den 63. Grad südlicher Breite erreicht, so befand er sich in der schweigsamen, schauerlichen Eiswelt der schwimmenden Gletscher und meilenlangen Eisbänke. Grauenhaft waren die Scenen, die ihn umgaben. Unheimliches Schweigen lagerte über der Meereswüste, nur von Zeit zu Zeit vom dumpfen Rauschen verborgener Wogen und ferner Brandungen unterbrochen. So weit das Auge und das Fernrohr reichten, so weit dehnte sich eine Eiswüstenei aus, die aus vielgestaltigen Eisblöcken bestand. Ohne Ordnung waren sie an einander gedrängt oder dicht zusammengekeilt wie das Eispflaster einer Riesenstraße. Hier ragte eine stumpfe Pyramide, dort die Trümmer einen Würfels empor, zwischen denen sich ungeheuere tafelförmige Schollen, 90–120 Fuß, aufgerichtet hatten, während an andern Stellen die gegen einander gelehnten Eisplatten Höhlen und Gallerien bildeten oder unförmliche Eisklumpen in Haufen über den Blöcken zerstreut lagen; und hier und da gewaltige Blöcke über die übrigen hervorragten wie Marmormauern eines dachlosen Palastes. Scharf und senkrecht wie eine Mauer stand der Eiswall, doch zeigten sich hier und da zwischen den einzelnen Eisblöcken schmale Wasserstraßen, durch welche wohl ein Schiff hindurch schlüpfen konnte.

Während die Riesenwand still zu stehen schien, waren die kleineren Eisstücken, welche vor derselben schwammen, in beständiger Bewegung, indem sie mit den Wogen stiegen und sanken, gegen einander prallten, untertauchten, in die Luft geschleudert wurden und klirrend auf den großen Schollen dahin glitten, auf welche sie etwa beim Herabstürzen fielen. Die Seeleute wurden nicht müde, den Wechsel dieser grotesken Scenen zu bewundern, die mit jedem Wechsel der Beleuchtung und mit jeder Veränderung der Windrichtung andere wurden. Jetzt lagen die Eisstraßen unter wallendem Nebel, durch den ihre grauen Gestalten in unheimlicher Formlosigkeit schauten und wunderbare Perspektiven eröffneten, wenn der Nebelflor zerriß und einzelne Strecken auf Augenblicke aus der Dämmerung mit scharfen Umrissen hervortraten.

Sobald aber die Nebel wichen und die helle Sommersonne ihr volles Licht über die Eisblöcke goß, schimmerte und blitzte es weithin wie von polirtem Marmor und Alabaster. Da sah man sich plötzlich in eine verzauberte Riesenstadt versetzt, man befand sich mitten in einem Venedig des Eismeers. Hüben und drüben standen kolossale Eismassen in Ordnung neben einander wie die Marmorfronten gewaltiger Paläste. Ganz deutlich glaubte man Thüren und Thore, Erker und Mauerzinnen unterscheiden zu können. Palast stand neben Palast, von Zeit zu Zeit ragte ein Obelisk, ein Thurm, eine Säulenhalle, eine Mauerzinne, eine [202] Domkuppel empor, und zwischen den Palastreihen breitete sich eine ruhige Wasserfläche aus, auf welcher alle die Eiswunder sich abspiegelten. Todtenstille herrschte in dieser Stadt, und diese Einsamkeit verlieh der Scene ein beängstigendes Grauen. Immer erwartete man, einen Menschenlaut, das Rauschen einer Gondel, das Knarren eines Thores zu vernehmen, aber starr und regungslos blieben Kanal und Paläste. Nur Seevögel schwammen zuweilen geräuschlos in den öden Wasserstraßen, an freieren Stellen sah man die Springquellen der Wallfische im Sonnenschein schimmern, und hörte den zerfließenden Nachhall seines dumpfen Brausens.

Hatte man diese wunderbare schwimmende Eisstadt hinter sich, so sah man sich in eine andere Welt versetzt. Ringsum breiteten sich Ebenen aus, auf denen hier ein beschneites Gebüsch, dort ein halb zerstörter Garten und daneben die niedrigen Dächer eines Dorfes standen. Sie schienen halb verschüttet von wehendem Schnee, aber Dach und Wand, Schornstein und Kirchthurm, Tannenbäume und niedriges Strauchwerk waren so täuschend nachgeahmt, daß man nur mit Mühe sich überzeugen konnte, jene Landschaft bestehe aus Eisgebilden. Wie strahlte alles so verklärt und so hell im Sonnenschein, wie blitzten die Eiszacken am Strohdach und an dem Mühlrad, wie schimmerten die Schneeflocken auf den Bäumen, und doch wie grauenhaft war die Ausgestorbenheit und lautlose Einsamkeit dieses Dorfes.

Noch immer ging die Fahrt gen Nordosten an einer wunderbaren Eiswand hin, der man 200 Meilen weit folgte. Immer neuer Wechsel der Gruppen und Gestalten, und doch immer wieder dieselbe Einöde, dasselbe furchtbare Schweigen. Dazwischen erschienen auch Gruppen wild zerstörter, von Sonne und Nebel zu phantastischen Gestalten zernagter Eisklumpen. Still und feierlich zogen diese zersplitterten und zackigen Eistrümmer vorüber, die in der kurzen Dämmerung der langen Sommertage wie dunkle Traumgestalten erschienen und verschwanden.

Die Eiswände waren zum großen Theil weggeschmolzen oder zertrümmert, tiefe Löcher waren hinein gethaut, und während um den tief im Wasser gehenden Fuß des Meeres kräuselnde Wellen spielten, ächzte und stöhnte die morsche Masse der oberen Hälfte, die oft beim Zusammenstoß in tausend Splitter zersprang, verwegene Matrosen wagten sich aus dem Boot in die schmalen Wasserstraßen, die zwischen den ungeordneten Haufen der Eisblöcke offen lagen, um ihre phantastischen Bildungen näher zu betrachten.

So unterhaltend auch anfangs die Betrachtung dieser Eisgestalten war, so ermüdete doch die Einförmigkeit und der blendende Glanz, und die Mannschaft war hoch erfreut, als sie an den Neu-Südorkneys endlich wieder Land sah. Zwar waren es nur schwarze Felswände, von denen die Eishülle herabgestürzt war, aber man sah ja wieder Land und festen Boden. Unterhaltung gewährte hier, wie an manchen Eisblöcken, die Menge der unbeholfenen Pinguine, welche auf dem First der Felsen und an deren Abhängen zu Tausenden in Reihe und Glied neben einander saßen, und die seltene Erscheinung eines Schiffes mit heiserem Geschrei begrüßten. Dabei waren sie so wenig scheu, daß sie den landenden Matrosen keineswegs Platz machten, die vielmehr einen Vogel nach dem andern herab werfen mußten, wogegen alle mit großem Geschrei protestirten. Andere dieser schwerfälligen Thiere tummelten sich auf dem Wasser, schwammen pfeilschnell hin und her, tauchten und erschienen erst in weiter Entfernung wieder, schüttelten die Köpfe, glotzten die Schiffe an und versuchten dann zu landen. Da sie kurze Füße haben, die dazu noch sehr weit hinten am Körper stehen, so taumelten sie oft nieder, glitten aus und sanken in’s Meer zurück, bis sie endlich mit Hülfe des Schnabels und der kurzen Flügelstumpfe, die ihnen als Stützen dienten, sich auf’s Land schoben und dort mit langgestreckten Hälsen das Schiff anschrien. Durch die Luft zogen zahllose Sturmvögel, Kaptauben, Scharben und weißflügelige Möven, auf Eisschollen lagerten theilnahmlos Seehunde und starrten Schiff und Menschen an, dem Kielwasser folgten 15 bis 20 Fuß lange Delphine, und auf freien Wasserstellen tummelten sich Wallfische.

Bald sollten die Seefahrer aber auch die Schrecken dieser Gegenden kennen lernen. Denn die schwimmenden Eisberge traten immer dichter zusammen, mächtige Schollen schwammen unter der Oberfläche des Wassers und stießen mit solcher Gewalt an das Schiff, daß es zitterte, krachte und dröhnte, und nur durch seinen starken Bau befähigt war, den wiederholten Stößen Widerstand zu leisten. Plötzlich sah man sich in einem ungeheuren Becken, wie in einer Bucht rings von Eis eingeschlossen, und lief dabei Gefahr, von den hin- und wiedertreibenden Eisbergen zermalmt zu werden, weshalb der Kapitain die Vorsicht gebrauchte, des Nachts sein Schiff mit Ankern und Tauen dicht an einen Eisberg anzulegen, damit er es schütze. Wohl an 200 Fuß ragten die Kolosse aus der Fluth; ihre Wände waren durchfurcht von den Rinnen des Regen- und Thauwassers, welches am Tage in hellen Wasserfällen niederplätscherte, wogegen der Fuß auf einem Gestell regelmäßiger Eisplatten ruhte. Fern von menschlicher Hülfe schwamm das Schiff, an einen Gletscher angebunden, auf unbekanntem Meere Tage lang umher, oft umhüllt von Schneegestöber und umdonnert von zusammenstoßenden Eisbergen.

Da faßte der Kapitain endlich den verzweifelten Entschluß, sich mit Gewalt durch den drei Meilen breiten Eisring Bahn zu brechen, der ihn in der Bucht eingeschlossen hielt. Man spannte die Segel auf und rannte mit der scharfen Kante des vorderen Schifftheils in das Eis hinein. Es kreischte, splitterte und brach, so daß die Schiffe etliche hundert Fuß wie Sturmböcke eindrangen, dann aber unbeweglich im Eis lagen. Grauen befiel die Mannschaft, als sie die weite Strecke Eis übersah, die sie noch durchbrechen sollte. Zwar waren Alle frisch bei der Hand, schafften kleine Eisstücke weg, befestigten an die großen Blöcke starke Taue, an denen die Matrosen an Bord zogen, um das Schiff tiefer in den Eisring hineinzutreiben, aber bei aller Anstrengung rückte man nur einige Fuß vor. Dazu kam noch, daß der Wind umsprang, hohe Brandung an der Eiswand aufwarf und das Schiff zu zerquetschen drohte, weshalb man sich unter großen Mühen wieder in die Bucht zurückzog, um hier zu warten, was das Schicksal über Mannschaft und Schiff verhängen würde. Tag bei Tag verging, und schon begannen die Matrosen an ihrer Rettung zu verzagen, als der Himmel sich der braven Männer erbarmte. Der Wind sprang um, die hohe See brach mit Ungestüm gegen den Eisring heran, mächtige Wellen hoben und rückten an der Eisdecke, daß sie erbebte und krachte, und die beiden Schiffe wiederholten die Versuche, das Eis von der Bucht aus zu durchbrechen. Mit Macht rannten sie gegen dasselbe, daß die Schollen splitterten, kehrten zurück, um zu neuem Anlauf auszuholen, und arbeiteten sich auf diese Weise so tief in die Eisbank hinein, daß man drüben das offene Meer erblicken konnte. Nun wurden alle Segel ausgespannt und das Schiff von Neuem gegen dan Eis getrieben. Krachend prallten sie an, drangen ein und standen dann festgekeilt, während die Masten ächzten, die Segelstangen kreischten, und die Matrosen mit Aexten und Brecheisen dem Schiffe Raum zu schaffen suchten. Bald legte es sich unter dem Druck der gefüllten Segel auf die Seite, bald stieg der Vordertheil hoch empor, und dazwischen stöhnten die Schiffsplanken, knarrten die Maste und knirschten die Schollen. Die Besorgniß der Matrosen steigerte sich, sie verdoppelten ihre Anstrengungen, und diesen wie der Kraft des Windes gelang es endlich, die Eisschranke vollends zu durchbrechen und wieder in’s offene Meer zu gelangen.

Doch sollte die Mannschaft noch eine furchtbare Scene erleben. Die Matrosen pflegten, als das Schiff in der Bucht lag, oft in Booten nach Seehunden und Vögeln auf die Jagd zu gehen, während Andere, als das Schiff sich in das Eis einbohrte, fröhlich auf den Schollen umhersprangen und sich belustigten. Sobald das vordere Schiff die Eisbank ziemlich durchbrochen hatte, rief das Kommando: „Alle an Bord!“ die Mannschaft zusammen. Alle erschienen, nur der Kalfaterer war zu weit entfernt, um zur rechten Zeit einzutreffen. Das Schiff ging ab, als der Unglückliche noch athemlos über die Schollen heraneilte. Er lief, er sprang, stürzte und war im Nu wieder auf den Beinen; aber hatte er den Eisrand bald erreicht, so hielt ihn eine breite Spalte auf, die er umgehen mußte, so daß er wieder weit zurückblieb. Mit Entsetzen sahen die Matrosen ihren Kameraden über das Eis laufen, sahen seine Gefahr, auf ihm zurückbleiben zu müssen, und konnten ihm doch nicht helfen. Er rief, winkte und lief, starr nach dem davon segelnden Schiffe blickend, aber er schien verloren. Todesangst erfaßte ihn, Angstschweiß drang aus allen Poren, ihm flirrte es vor den Augen, er lief nicht mehr, er schoß über das Eis, die Schreckensbilder, allein im unwirthlichen Eismeer gelassen zu werden, gaben ihm Riesenkraft, und – er ward gerettet. Als eben der Hintertheil des Schiffes aus der Eisbank hervorging, erreichte er den Rand der Bank, erfaßte das ihm zugeworfene Tau [203] und ward auf’s Schiff gezogen. Lange lag er erschöpft in der Kajüte, ehe er sich von der furchtbaren Todesangst erholen konnte.

Groß war die Gefahr gewesen, aber d’Urville ward nicht muthlos, sondern setzte seine Fahrt nach Osten fort, bis er sich überzeugte, daß er wegen der Eisbank nicht nach Süden vordringen könne und nach den Süd-Orkneys umkehrte. Wieder ging es an meilenlangen und thurmhohen Eisbergen vorüber, und auf schmaler Fahrstraße durch 12–200 Fuß hohe Eisblöcke, deren Kanten von rothen, dunkel- und veilchenblauen Lichtern funkelten, während andere schneeweiße Eismassen da, wo die See anschlug, im schönsten Ultramarinblau strahlten, und an den Wänden groteske Figuren wie ausgemeiselte Basreliefs standen. In den seltenen nebelfreien Stunden konnte man 12–15 Meilen überschauen und ringsum das Schimmern, Funkeln und Blitzen der Eisberge betrachten, welche die Sonne 22 Stunden beschien, da nur von 11–1 Uhr Nachts eine leichte Dämmerung eintrat. Wundervoll schimmerten die Schneefelder und Gletscher im Morgen- und Abendroth, schien das Meer wie mit Rosenduft übergossen und sahen die schwimmenden Eisstädte wie ein Feenreich aus in den dunkelrothen, gelben und violetten Tinten des Abendhimmels, während an einzelnen Stellen der Eisblöcke die Sonnenstrahlen brennendroth sich brachen, als ob man die Fenster eines Schlosses im Abendroth glühen sähe. Ein anderes Mal beobachtete man einen Eisblock von 250 Fuß Höhe, der einer runden Festung mit spiegelglatten Wänden glich und hohl war. Gleich einem Amphitheater von 125 Fuß Höhe und 950 Fuß Umfang schwamm er dahin, den weißen und schwarzen Sturmvögeln ein bequemer Ruheplatz. Andere Eisblöcke schimmerten auf der einen Seite im durchsichtigen Amethystblau, während die andere Seite von grünen, weißen und blauen Streifen geädert war. Daneben schwamm ein Eisstück von 100 Fuß Höhe und 300 Fuß Länge hin, dessen Fuß von vier regelmäßigen Schwibbogen durchbrochen war. Die Matrosen konnten aber dieser Eiswunder kaum froh werden, denn Tag und Nacht rannten tiefgehende Schollen an die Schiffsplanken, daß es aus den Fugen zu gehen drohte, und der Kapitain selbst manchmal glaubte, das Schiff müsse bersten. Dazu hingen lange Eiszapfen an den Segelstangen, waren Taue und Segel steif gefroren, da sie der fortwährende Nebel sehr stark anfeuchtete, brüllte das Meer, wo es an den Eisbergen sich brach, von denen einer 115 Fuß hoch und 11 Meilen lang war, wechselte Schneegestöber mit Hagelwetter und kalten Regengüssen, daß die Matrosen unsägliche Anstrengungen aushalten mußten, und donnerten Tag und Nacht wie furchtbare Artilleriesalven die von den Bergen stürzenden Gletscher. Als der Gesundheitszustand der Matrosen sich besserte, kehrte d’Urville wieder nach Süden um und fand öde Felsenküsten mit Gletschern, die er Louis-Philipps- und Joinvilleland nannte. Sie sind vielleicht die dem stillen Ocean zugewandte breite Küste des Südpolarlandes. Im folgenden Jahre kehrte d’Urville noch einmal in das genannte Meer zurück und entdeckte einen andern Küstensaum, welchem er den Namen Adelineland gab.

Auch auf dieser Fahrt hatte d’Urville große Gefahren zu bestehen, denn mitten in einem Engpaß zwischen Eisblöcken überfiel seine beiden Schiffe ein ungeheuerer Sturm, der sie gerade gegen einen Eisberg zutrieb, in dessen Nähe ein furchtbarer Wasserstrudel das Schiff ergriff. Näher und näher kam man dem Berge, lauter und lauter brauste der Strudel, da gelang es im letzten Augenblick, das Schiff zu wenden und sich von dem Berge zu entfernen. Aber in demselben Augenblick jagt der Sturm das zweite Schiff gegen dan erste, vergeblich sind die Anstrengungen, sich auszuweichen. Schon sind die Schiffe so nahe, daß die Matrosen das Weiße im Auge erkennen. Dabei schwanken sie so entsetzlich, daß die Mastenspitzen die Wellen berühren. Da gerathen sie an einander, ihr Tauwerk verwickelt sich, und während die Schiffskörper auf den Wellen auf- und abtanzten, sind ihre Masten an einander gefesselt. Hier können Menschen nicht mehr helfen; Alle erwarten den Untergang. Doch der Sturm rettet sie. Es knackt und kracht in den Masten, die eine Spitze bricht, die Taue reißen, die Schiffe werden frei und haben bald den Engpaß hinter sich.

Der Amerikaner Wilkes durchforschte dieses Meer 1839 und 40, ohne Entdeckungen zu machen, wogegen der englische Wallfischfänger Balleny die Küste Sabrina sah. Am weitesten drang 1841 der Engländer Roß, der Sohn des berühmten Nordpolarfahrers, gegen den Südpol vor, indem er eine lange Gletscherküste von Norden nach Süden entlang fuhr, die er Victorialand nannte. Auf ihr beobachtete er mehrere thätige Vulkane, von denen er den südlichsten Erebus, seinen Nachbar Terror nannte. Die Berge dieser Küste bestanden meist aus 9–12,000 Fuß hohen Kegeln mit hochbeschneiten, fast senkrechten Wänden. Dem oben genannten Eiswalle folgte er 50 Meilen weit und kam bis zum 78. Grad, wo er umkehren mußte, und im folgenden Jahre wegen großer Eismassen nicht weiter vordringen konnte.




Auf dem Berge Ararat.

Wir stehen auf dem Berge Ararat in Armenien, um uns ganz Kleinasien, den Kriegsschauplatz, das gefallene Kars, die russisch-türkische Grenze, durch ein Fernrohr über das schwarze Meer hinweg, die Krim und das nun still gewordene, aus Ruinen rauchende Sebastopol, die ganze orientalische Frage und die Geschichte der alten Menschheit, die hier gleichsam ihre Denksäule in die Höhe streckt, 17,261 Fuß über dem Meeresspiegel und 10,000 Fuß über dem umliegenden Hochlande mit einem Panoramablicke anzusehen. Zunächst nehmen wir die noch ganz gut erhaltene Arche Noah in Augenschein, in welche er mit „all sündhaft Vieh und Menschenkind“ Sonntags am 30. November des Jahres 2349 vor Christi Geburt einzog, worauf es Sonntag am 7. December zu regnen anfing. Es regnete so arg, daß die Arche über den höchsten Bergen dahin schwamm, bis sie bekanntlich auf diesem Berge Ararat wieder festen Fuß faßte, und die neue Menschheit aus- und herabsteigen ließ. Die Arche ist 547 Fuß lang, 91 breit und 54 hoch. Sie faßt 72,625 Tonnen Gewicht. Noah lebte darin mit allem Zubehör 13 Monate und 18 Tage, da er erst am 18. December, Freitags, des folgenden Jahres, aussteigen konnte, nachdem die Arche Mittwochs, am 6. Mai, auf dem Berge Ararat stehen geblieben war. Die Erde war damals 1656 Jahre alt, denn sie war erst Sonntag den 23. Oktober des Jahres 4004 vor Christi Geburt fertig geworden, und steht deshalb jetzt im 5858sten Jahre. Was diese Daten und Jahreszahlen betrifft, so stehen sie wenigstens in England durch Parlamentsbeschluß als Dogma der Hochkirche fest, nachdem sie Bischof Wilkins, Schwager Oliver Cromwell’s, ausgerechnet hatte. Er wußte das revolutionäre Parlament so sehr von der Wahrheit dieser Forschungen zu überzeugen, daß es dieselben als Glaubensartikel der Hochkirche sanctionirte. Dieser Parlamentsbeschluß ist bis jetzt eben so wenig aufgehoben, wie der, daß Niemand übersponnene Knöpfe auf dem Rocke tragen, daß Niemand etwas von den Parlamentsverhandlungen veröffentlichen darf und tausend andere Parlamentsbeschlüsse, die noch gesetzliche Kraft haben, und an welche gleichwohl Niemand mehr zu denken wagt. Dies ist zugleich ein Beweis, daß Freiheit und Unfreiheit nicht durch Gesetze erzwungen werden können. Was es in England Freies giebt, ist durchweg gesetzlich verboten, aber das Freie lebt und schöpft aus dem Meere ringsum, aus dem alten germanischen Volkscharakter, und da es wirklich lebt, kann es durch pfiffige Gesetzgebung von Sonderinteressen, die England längst ruinirt haben würden, wenn es nach ihren Gesetzen ginge, nicht so leicht incommodirt, wenigstens nicht todt gemacht werden.

Die vom Bischof Wilkins gemessene und durch’s Gesetz des Parlaments in Länge, Höhe, Breite und Tonnengehalt genau bestimmte Arche Noäh steht noch wohlbehalten auf der Spitze des Berges Ararat. Dies ist wenigstens ein gesetzlicher Glaubensartikel der alten armenischen Bischöfe. Auch kann man ihn unten beim Volke als ausgemachte Sache hören. Die Engländer glaubten’s auch. Wenigstens las ich erst neulich in einem englischen Blatte, daß mehrere Besteigungen der höchsten Spitze des Ararat durch glaubwürdige Männer erwiesen hätten, die Arche Noäh sei nicht nur nicht noch wohlerhalten, sondern überhaupt gar nicht mehr da.

Ich denke bei dieser unserer abendländischen Schöpfungs-Mythologie an die morgenländische der alten Indier, die wenigstens den neuen geologischen Forschungen, nach welchen unsere Erde [204] mindestens schon ihre 25 Millionen Jahre um die Sonne herum marschirt ist, viel näher kommt. Alle Brahminen und Seher, deren Schriften auf Zeiten bis 12,000 Jahre vor Christi Geburt zurückführen, geben der von Menschen bewohnten Erde eine Zeit von 15 Millionen Jahren, die sie in 4 Perioden eintheilen. Die erste, das goldene Zeitalter, dauerte 1,728,000 Jahre. In dieser Zeit wurde Gott Brahma geboren, und die Menschen, alle von doppelter Goliathsgröße, wurden durchschnittlich 400 Jahre alt. Die zweite Periode dauerte 1,296,000 Jahre, während welcher die Rajah’s und verschiedene Laster geboren und von Menschen erzogen und gepflegt wurden, so daß sie es durchschnittlich nur noch bis auf 300 Jahre brachten. Die dritte Periode von 8,064,000jähriger Dauer brachte das Laster mehr zur Herrschaft und Größe und Tugend der Menschen, die nur noch 200 Jahre lebten, mehr in Verfall. Die letzte Periode, in der wir leben und von welcher schon 4,027,280 Jahre verflossen sind (wie wenigstens die Schüler der alten Brahma-Weisen behaupten) hat die Menschen durch Laster bis auf ein Viertel ihrer ehemaligen Größe und ihrer ursprünglichen Lebenszeit zurückgedrängt.

Der Berg Ararat.

Auf dem Berge Ararat erscheinen uns diese kolossalen indischen Perioden menschlicher und wahrscheinlicher, als unsere engherzigen Sagen, die wir von den alten Juden angenommen haben, da wir keine eigenen geltend machen konnten. Alles erscheint von hier aus dem nach keiner Seite eingeengten Blicke unendlich, und die ganze orientalische Frage mit ihren fünf Punkten unter dem Fragezeichen kaum als Fliegenkleckserei. Liegen doch hier seit Noah, selbst nach Calvisius, der in unsern Volkskalendern noch jedes Jahr genau angiebt, wie lange es her sei seit Erschaffung der Welt, wenigstens fünfzig Völker und Reiche begraben. Sie alle blühten neben und über einander empor, strahlten und thronten über die Erde und starben. Der nackte Araratgipfel sah ruhig zu, wie eins nach dem andern emporblühte um seinen Fuß herum, und sich ausbreitete, als wollt’ es die ganze Welt erobern, und wie es spurlos verschwand, ehe ihm, der nur von geologischen Jahren berührt wird, ein einziger Tag dahingegangen war. Er sah auch auf die blutigen Scenen, Donner- und Dampfwolken, die der Krieg neuerdings bis nach seinem erhabenen Haupte emporzuwirbeln suchte, unbewölkt und ungerührt herab, und um die Friedens-Konferenzen in Paris läßt er sich schon deshalb keine grauen Haare wachsen, weil er in seiner Jugend im Gram über das blutige Entstehen und Vergehen von Staaten um ihn her bereits ganz kahlköpfig geworden. Wollte er sich jetzt noch über die Diplomatie bekümmern, würden ihm allein durch den Fall von Kars alle Haare ausgefallen sein.

Nein, hier oben sind wir frei von den kleinlichen Listen und Ränken und Grausamkeiten der Civilisation und Barbarei, zwischen denen von einem so hohen Standpunkte aus gar kein Unterschied ist. Hier oben sieht man nur noch die Physiognomie der Erdoberfläche und deren Schönheitspflästerchen von Städten und Dörfern im Allgemeinen und in Totaleindrücken, nordöstlich die große Kette des Kaukasus, aus welchem sich sichtbar der Arax hervorschlängelt, die russisch-persische Grenze mit der Festung Erivan nordwestlich Gumri und Kars, ringsum Gebirgs- und Hügelwellen bald kahl, bald dicht bewaldet und überblüht, aber durchweg menschen- und kulturöde, nur daß uns das Fernrohr nach unten zuweilen einen vergoldeten, mit blauseidenen Vorhängen beschatteten, von Ochsen langsam über Stock und Stein gerumpelten Wagen zeigt, in welchem ein Stückchen Harem irgend eines blauen, weißbeturbanten Alttürken frische Luft zu schöpfen sucht.

Wir blicken noch einmal nach der russisch-persischen Grenze, wo der Gipfel des Zengui mit einem Festungsschlosse auf seiner Spitze einen um so anziehenderen Haltpunkt für das Auge bietet, als sich unten die russische Grenzfestung Erivan, alte Hauptstadt Georgiens, malerisch herumlagert. Inwendig bilden die schönsten Mädchen, die kostbarsten Perlen für türkische Harems, in ihrem eigenen und der Straßen Schmutze die pikantesten Contraste. Die Mädchen träumen von der großen Wäsche, der sie unterworfen werden, ehe sie auf den Markt kommen, und von dem Markte, auf dem sie verkauft werden, eben so süß und schwärmerisch, wie unsere holdesten Jungfrauen vom goldenen Ringe und der Haube, [205] unter welche sie sich sehnen. Zwar duldet die russische Regierung den Verkauf von Mädchen nicht, aber da die Eltern arm, die Mädchen schön, ihre Sehnsucht, verkauft zu werden, groß und der Preis, den der Agent von Trebisond, dem Ausfuhrhafen, für diese Georgerinnen, hoch ist, kann selbst das strenge russische Gesetz Geschäfte der Art nicht verhüten. Die Stadt Erivan ist ungemein schmutzig und enge, und die etwa 10,000 Einwohner leben zum Theil wahrhaft in Schmutzhaufen oder zwischen Ruinen, den Zeugen verschiedener Belagerungen und Bombardements, deren letzteres dem russischen General Godovitsch im Jahre 1808 die größere Hälfte seiner Armee kostete, ehe er auf dem Rückzüge Tiflis wieder erreichte. Die merkwürdigsten Zeugen der Vergangenheit in Erivan sind christliche Kirchen mit der Hälfte ihrer Schiffe unter der Erde, wo die ersten verfolgten Christen ihre Andacht verrichteten. Später, als das verfolgende Römerschwert und der noch grausamer verfolgende Halbmond gesunken waren, bauten die Christen auf ihren unterirdischen Andachtshöhlen offene Kirchen empor, ohne die alten Kellertempel zu zerstören. Man findet solche halb unterirdische Kirchen noch in verschiedenen andern Orten Kleinasiens, dieses Paradieses der Menschheit, wenn sie nicht immer Schwerter geschliffen hätte, um sich gegenseitig den Genuß desselben zu wehren.

Erivan mit der Bergfestung Zengui.

Kleinasien ist eine Ruine geworden, wie das Paradies der europäischen Türkei. Erst wenn der halbmondförmig gekrümmte Säbel sich vollends rundet zum schnurrenden Rade der Industrie, der Kultur, die lange Kosakenlanze sich zu Speichen einfügt und Bayonnett und Lauf sich niederlegen zur Schiene für den dampfbeschwingten Lauf des Friedens und der Einsicht, des Eintritts in den Völkerverband menschheitlicher Interessen, wenn das schmachbedeckte schöne Weib dieses Paradieses nicht mehr verkauft wird und sich nicht mehr sehnt, verkauft, sondern Herz gegen Herz, Liebe gegen Liebe, Anerkennung gegen Anerkennung des schönen, freien, gebildeten, fleißigen Menschen gewonnen zu werden, erst dann, wenn der Mann seine eigene Ehre und Würde wieder erkannt und sie verschönert in einem schönen Weibe, der Erzieherin der Zukunft, wiedergespiegelt findet, erst dann werden hier Friede und Freiheit, Lebensglück und Freudenquellen für die Menschheit sich wieder einfinden, nicht aber durch pariser Friedens-Konferenzen, wie sie auch ausfallen mögen. Die Diplomatie mit ihren Arsenalen von List und Gewalt kann wohl viel ruiniren, aber nichts schaffen. Das müssen und werden die Menschen selbst thun, wenn man sie nur nicht zu sehr für die Flinten- und Säbelpolitik ausbeutet und hinwegreißt vom Pfluge zum Fluche, vom Hause zum Zelte, vom Segen zum Degen, vom Steuer ihrer eigenen Angelegenheiten zu Steuermaschinen für unersättliche Kanonen. Hätte man die Million Menschen, die jetzt der orientalischen Frage geopfert wurden, leben gelassen, könnten sie allein durch ihren Fleiß das Kapital zur Lösung dieser Frage schaffen. Jetzt fehlt diese Million, und jetzt fehlen 100 Millionen von Geld, die es kostete, erstere todt zu machen. Der Friede aus Paris kann noch so glänzend ausfallen, er ist immer nur eine Quittung über diese vertilgten Millionen von Kapitalien und Köpfen.




Pariser Bilder und Geschichten.
Eine Stunde auf der Börse.
Anfang der Börse. – Das Chaos. – Baron von Rothschild. – Was man sich von ihm erzählt. – Der Crédit mobilier und die Gebrüder Pereire. – Beranger und die Gebrüder Pereire. – Herr Mires, die dritte Großmacht. – Die Geschichte dieses Mannes. – Wie man in Paris dritte Großmacht wird.

Die Börse fängt um ein Uhr Nachmittags an und endet um drei Uhr. Schon vor dem Beginn derselben sammeln sich die Leute in dem großen prächtigen Säulentempel der Place de la Bourse, welcher in einem nicht unbeträchtlichen Umkreis mit einem [206] Gitter umgeben ist, wodurch die Seite des Platzes zu einer Art Vorhof gebildet wird, wo sich die Haufen spielender Frauen aufhalten, denen ihres Geschlechtes wegen der Eintritt in den Raum, wo die Geschäfte gemacht werden, untersagt ist, die durch ab- und zugehende Börsenmakler (Courtiers) mit dem Geldmarkt in Verbindung gesetzt, ihre Geschäfte besorgen lassen. Werfen wir, bevor wir in das Innere des Heiligthums treten, einen Blick auf diese Schaar, die der zarteren Hälfte des Menschengeschlechtes angehört. Die Einleitung zu dem weitumfassenden Staatsspielhause kann unmöglich passender sein. Alles an diesen Weibern ist widrig, ihr Anzug ist schmutzig und vernachlässigt, die Gesichter, unschön und von der niedrigsten Leidenschaft, der Habsucht, entstellt. Nirgends eine Spur von Jugend, von Gefühl, von einer besseren Regung. Man möchte, Gott weiß, was darum geben, daß diese Geschöpfe nicht auch wie die anderen, die man bewundert oder verehrt, Frauen genannt würden. Sie sind den untern Volksklassen angehörig, gewesene Köchinnen, die gut einzukaufen verstanden, Wirthschafterinnen bei Junggesellen, die für sich gewirthschaftet oder Frauenzimmer, die ein noch viel schlimmeres Gewerbe getrieben[WS 1]. Nur hier und da sieht man auch eine elegante Frau, die in irgend einem abgelegenen Winkel verborgen lauert. Doch gehört diese Erscheinung zu den Seltenheiten; denn die Frauen in Paris, welche in höhern gesellschaftlichen Sphären sich bewegen, spielen wohl auch sehr häufig auf der Börse, allein sie vermeiden zum Mindesten die unsaubere Berührung mit diesen Kameradinnen und halten ihre Leiber, wenn schon nicht ihre Seelen, von dem unpoetischen entwürdigenden Schauplatz der Spekulation fern.

Nun steigen wir über fünfzehn Stufen einer Treppe, welche die ganze Breite der Vorderseite einnimmt, empor und gelangen an einen prachtvollen Portikus, von dem aus zwei Haupteingänge in die innere Halle führen. Wir treten in diese ein und sind überrascht von dem, was da zu hören und zu sehen ist, ob wir gleich schon zum dreißigsten oder gar fünfzigsten Mal das furchtbare Haus besuchen; wir können uns, das fühlen wir, an diese Scene unmöglich gewöhnen. Man denke sich Hunderte von Stimmen, die durcheinander brüllen und einander zu übertönen suchen, ohne daß ein Wort oder auch nur ein artikulirter Laut zu unterscheiden ist; dann Hunderte von Menschen, die umherrennen, jeden Augenblick erschüttert oder einer Erschütterung gewärtig, fortwährend gespannt und erwartungsvoll die Augen weit aufgerissen, schreiend und überschrieen, bald in Verzweiflung, bald in Siegesrausch, ohne Rücksicht für Anstand und Ziemlichkeit aller Würde, aller Gemessenheit entäußert, ohne andere Eingebung als der brutalen Leidenschaft, die losgebunden umherragt, man denke sich einen Sumpf voll Stürme und man hat eine leise Vorstellung von diesem Schauspiel.

Doch auch über dieses Chaos gibt es eine Herrschaft, auch dieser Wildheit läßt sich gebieten. Diese babylonische Verwirrung wird, wie einst die venetianische Republik von Dreien regiert. Gegen zwei Uhr sah ich einen hochgewachsenen Mann in der Halle erscheinen, seine Haare sind bereits grau und mit röthlichblonden untermischt, welche die ursprüngliche Farbe derselben anzeigen; an den Augenbrauen hat die Zeit noch nicht so arg gebleicht, als ob sie dächte: mit diesem dürftig vorhandenen Vorrath werde ich in einem Nu fertig. Unter diesem röthlichblonden Schatten zwinkern zwei verloschene in die Runde gezogene Augen von unbestimmter Farbe, die Einen so seltsam anblicken, ohne daß man in ihnen etwas gewahrt. Die Nase, von beträchtlichem Umfange, scheint im Herabfallen wie zufällig an dem Gesichte von hellem Teint hängen geblieben zu sein, und unter derselben zieht sich ein Mund mit wulstig aufgeworfenen Lippen fast durch die ganze Breite des Gesichtes. Der Kopf sitzt etwas tief in den Schultern; die Haltung des ganzen Körpers ist voller Zwang, unfrei. Der Gang nachlässig unsicher, es sind die Schritte sich selbst überlassen. Kaum war der Mann eingetreten, so wendeten sich alle Blicke nach ihm; die große wilde Bewegung gerieth auf einen Augenblick in’s Stocken. So mag der erste Eindruck gewesen sein, als Napoleon I. am 18. Brumaire in die Nationalversammlung trat; und doch wiederholt sich der Besuch des röthlich-grauen Mannes häufig. Herr Rothschild, Herr James Rothschild, der Baron Rothschild! hörte man von allen Seiten mehr oder weniger laut ausrufen. Die sich nähern Umgangs mit der Finanzhoheit erfreuen, umringten ihn rücksichtsvoll, die Anderen machten ehrerbietig Platz. Nun sprach der Börsenfürst mit seinen Vertrauten und jeder lauschte, ob ihm nicht ein Wörtchen aus seinem Munde zu hören vergönnt wäre. Einer frug den Andern, was er denn gesprochen, der Ueberlegene. Die Papierkäufer zitterten, bei dem Gedanken, daß er verkaufen, die Verkäufer, daß er kaufen, würde. Einige stellten sich in die Nähe des Barons und stierten ihn an, als wollten sie aus seinen Zügen herauslesen, ob er das Drücken oder Heben der Actien beabsichtige. Allein wie alle Gottheiten hüllt sich der Baron Rothschild in Geheimniß. Andere Spekulanten haben ihre bestimmten Agents de Changes und Courtiers (offiziell beglaubigte und unbeglaubigte Mäkler), Herr von Rothschild wechselt fortwährend die Instrumente seiner Operationen, so daß Niemand zu errathen vermag, was er ausführt und wohin er zielt; selbst vor den von ihm Beauftragten sucht er seine Absicht so gut es geht zu verbergen. Eines Tages ließ er zwei Courtiers, die Herren Paton und Dreyfuß, zu sich bestellen; sie kamen die Befehle entgegen zu nehmen. Der große Baron fragt sie, ob sie sich auf Bilder verstehen; die überraschten Mäkler erklären, daß ihnen schöne Bilder gefallen. Der Baron laßt ein prächtiges Oelgemälde in einem goldenen Rahmen herbeibringen und vor den Berufenen aufstellen. „Wie gefällt Ihnen dieses Werk, meine Herren?“ fragte er die Berufenen, die auf Alles eher, denn eine ästhetische Berathung gefaßt waren und die einander verwundert und verlegen anblicken. Sie loben, in der Voraussetzung, daß es der Mächtige so haben will. „Es werden dreißig tausend Franken dafür verlangt. Sie müssen mir helfen das Geld gewinnen, gehen Sie, und kaufen Sie ein Jeder achtzigtausend Franken Rente.“ Sie gestehen Beide, daß sie die Art und Weise der Auftragertheilung irre geführt, daß sie nicht wüßten, was sie von dem Allen denken sollten und daß sie einen so großen Auftrag nach dieser seltsamen Einleitung nicht erwartet hätten. An dergleichen diplomatischen Streichen ist das Geschäftsleben des Herrn James von Rothschild überaus reich.

Herr von Rothschild blieb, bis die Glocke das Ende der Börse ankündigte; dann verließ er mit einem Gefolge, das sich ihm freiwillig anschloß, das große Staatsspielhaus, Gruppen zurücklassend, die alle Möglichkeiten besprachen, welche den Baron hierher geführt haben konnten, obgleich dergleichen Besuche sehr häufig vorkommen. Sie unterhielten sich ferner von seinem Aussehen, von den Falten, die sich auf seinem Gesichte neu gebildet, sie zählten die Jahre seines Alters nach, zergliederten seinen Charakter und sein Wesen, sie schätzten sein Vermögen, wobei ihre Blicke von der unheimlichen Glut der Habsucht und des Neides erglänzten.

„Hundert Millionen Franken und mehr hat der eine Mann für sich allein im Vermögen,“ sagte ein alter Courtier in einer Art Begeisterung. „Mir schwindelt bei dem Gedanken, und doch geht und trägt sich der außerordentliche Mann wie andere Menschenkinder; er ist nicht stolz, er spricht mit Unsereinem, wie mit seines Gleichen und mit deutschem Accent. Das finde ich wunderschön, das finde ich erhaben.“

„Ich danke ihm nicht dafür, daß er mit Unsereinem spricht,“ sagte ein Jüngerer, mit vollem schwarzen Bart, „es ist auch keine gar so große Ehre; außerdem thut er es nur, weil es ihm Geld einträgt. Alles zielt auf Gewinn bei dem Manne, darum ist er auch so reich; er handelt, ich selbst habe die Erfahrung gemacht im sans Courtage, und wenn er einen Abzug machen kann, unterläßt er es gewiß nicht.“

„Die Laune eines großen Herrn,“ versetzte der alte Courtier; er konnte sich nun einmal nicht überreden, daß an dem Besitzer so großen Reichthums etwas zu tadeln sei. Bis vor einigen Jahren war Herr von Rothschild Alleinherrscher der pariser Börse; er glich dem alten Jupiter; wenn er die Locken seines Hauptes schüttelte, dann erbebte die Finanzwelt in ihren Grundfesten. Seither aber hat er in der französischen Kreditanstalt (Credit mobilier) eine mächtige Rivalin erhalten; ihr stehen die Brüder Emil und Isaak Pereire vor, gleichen Stammes wie Herr von Rothschild; während dieser blos der Erbe und Vermehrer des großen Reichthums ist, sind sie die Gründer des ihrigen. Die Gebrüder Pereire zeigen sich nie auf der Börse, sie sind dafür zu gebildet, zu anständig; sie haben ihre Agenten, welche auf dem Aktientummelplatz ihre Geschäfte oder vielmehr die Geschäfte der Anstalt ausführen. Sie sind Beide Anhänger des Simonismus, und als [207] solche haben sie die Geldfrage, welche doch so tief in die gesellschaftlichen Zustände eingreift, zum Gegenstand ihrer Forschung gemacht. Emil Pereire schrieb seiner Zeit finanzielle Artikel, die große Beachtung fanden; so ward er bekannt, so kam er in Berührung mit Geldleuten, so kam er empor. Ein eigenthümlicher Zug dieser großen Unternehmer ist es, daß sie sich mit der literarischen und Kunstwelt im Zusammenhang erhalten. Besonders befreundet sind sie mit dem Dichter Beranger.

Bei Gelegenheit einer großen Aktienunternehmung schickten sie dem greisen Sänger hundert Stück Aktien zu, die einen reinen Gewinn von fünfzigtausend Franken bereits abwarfen. Der Poet kam athemlos mit der Sendung gelaufen und frug, gänzlich unerfahren in solchen Dingen, was denn die Papiere zu bedeuten hätten. Herr Isaak Pereire erklärte, daß, da doch die Aktien für das Publikum bestimmt seien, man ihm auch einige zugeschickt hätte. Damit war aber die Sache noch nicht abgemacht. Herr Beranger verlangte nähere Erklärung über die Vortheile, welche man ihm durch die Betheiligung zukommen ließ, und als er von fünfzigtausend Franken Gewinn hörte, erschrak er beinahe und rief: „Was soll ich mit so viel Geld anfangen?“ Er bestand darauf, daß die Aktien zurückgenommen würden. Herr Isaak widersetzte sich dem Ansinnen, bis durch eine Ausgleichung dem Streit ein Ende gemacht wurde, die darin bestand, daß sich Herr Beranger entschloß, zehn der angebotenen Aktien anzunehmen.

Während Baron Rothschild, umgeben von seinen Getreuen, in der Halle dastand, und den Blick weithin schweifen ließ über das Gewühl, ungefähr wie ein Feldherr, der dem Gewürge einer Schlacht zusieht, bemerkte man in einem andern Theile des Saales einen Mann von kleiner Gestalt, schwarzen Haaren und Augen derselben Farbe, über die sich dunkle und dicke Brauen wölben und die klug und durchdringend blicken. Sein Anzug ist auffallend elegant, aber der Haltung fehlt die Feinheit, den Bewegungen Freiheit und Anmuth. Auch um diesen Mann war ein Häuflein gesammelt, aber freilich nicht zu vergleichen mit der Schaar um den Baron. Alle Augenblicke näherten sich ihm Courtiers mit den weißen Täfelchen, auf denen alle Schwankungen der Course verzeichnet stehen, und welche er einer raschen Uebersicht würdigte. Als nun der Ausruf: „der Baron Rothschild ist da!“ rasch sich verbreitend bis hierher dringt, verfärbt sich der kleine Mann ein wenig und beißt unmerklich in die Unterlippe, ohne ein Wort zu sagen. - Dieser Mann ist Herr Mires, die dritte Macht, oder besser gesagt, die Macht dritten Ranges auf der Börse. Ob er gleich, wie aus dieser Bezeichnung hervorgeht, keineswegs mit den beiden andern zu vergleichen ist, so bleibt doch sein maßgebender Einfluß außer allem Zweifel, und es giebt eine ganze Masse von Spekulanten, die sich nach ihm richten und die, um mich eines hier seit der letzten politischen Umwälzung sehr in Gebrauch gekommenen Ausdrucks zu bedienen, seinem Sterne folgen.

Herr Mires ist ein Parvenue im ganzen Umfang der Bedeutung des Wortes; aber gerade durch sein rasches Emporkommen steht er der Masse von Börsenspielern am nächsten, sie sieht in ihm ihre Hoffnungen verkörpert. Die Herren Pereire wurden von Talenten getragen, Herr von Rothschild hat schon auf der Höhe das Licht der Welt erblickt; aber Herr Mires ist reich geworden durch die Gunst des Zufalls, des Glückes, durch Mittel, auf die zu zählen Jeder die gleiche Berechtigung hat. Noch vor wenig Jahren redigirte Herr Mires ein unansehnliches Blättchen des Namens „l’Audience“, das die Verhandlungen in den Gerichtssälen wiedergab. Der Redakteur bot nichts dem Blatte und das Blatt nichts dem Redakteur. Für Beide war die Verbindung zu unersprießlich, als daß sie sich nicht hätten scheiden sollen. Im Jahre 1848 gelang es Herrn Mires, sich zum Bevollmächtigten mehrerer Eisenbahnaktionäre zu machen, und er wurde mit der Aufgabe betraut, die Interessen derselben gegenüber den Unternehmern zu vertreten, da die Stürme des verhängnißvollen Jahres die Aktien tief unter Pari gedrückt. Was that Herr Mires, wie erfüllte er seine Sendung? Weit mehr seinen eigenen Vortheil, als den seiner Clienten im Auge, kaufte er die fast werthlos gewordenen Papiere um niedern Preis, und verlangte von den Unternehmern die Pariauszahlung derselben; er rechnete nämlich auf den Druck, welchen seine drohende Stellung als Bevollmächtigter der Aktionäre auf die Beutel der Unternehmer ausüben würde. Er mißbrauchte mit andern Worten die ihm von den Aktionären übertragene Gewalt. Indeß erwies sich diese Quelle, mit wie viel Gewandtheit sie auch ausgebeutet wurde, nicht sehr ergiebig, und Herr Mires blieb mit seiner zahlreichen Familie in so bedrängter Lage, daß er von Manchem seiner Bekannten ein Fünffrankenstück zu borgen sich gezwungen sah, um nur dem dringendsten Bedürfniß für den Augenblick[WS 2] abzuhelfen. Erst unter der Präsidentschaft Louis Napoleon’s ward Herr Mires nach mehreren vergeblichen Versuchen, nach langem Umhertappen von einem glücklichen Gedanken auf den rechten Weg zum Glück gebracht.

In Verbindung mit Herrn Miot kaufte er ein kleinen Zeitungsblatt, das „Journal de Chemin de fer“ an sich, und aus diesem unscheinbaren, theils industriellen, theils literarischen Gebiete, das allerdings mit Umsicht bebaut wurde, schossen in wenig Jahren Millionen, viele Millionen auf. Herr Mires gehört heut zu Tage zu den reichsten, unternehmensten Leuten nicht nur von Frankreich, sondern von ganz Europa. Doch glaube man nicht etwa, daß es die Abonnentenzahl gewesen, welche das Zeitungsunternehmen in so hohem Grade gefördert; es war der gewonnene Einfluß, der sich so furchtbar an Erfolgen zeigte. Abgesehen davon, daß jede Eisenbahngesellschaft die Leiter der Eisenbahnzeitung mit gewinnbringenden Aktien bedachte, vermochten diese durch ihr Organ auf den Gang dieses Aktiengeschäftes selbst einzuwirken, eine Gewalt, die sie gehörig zu benutzen verstanden. Herr Mires ist ein Spekulant, der in Allem macht, also auch in Journalistik, die ihm als Leiter zur Höhe des Glückes gedient. Seine Eisenbahnzeitung besitzt er noch immer, außerdem aber ist er Eigenthümer der beiden bonapartistischen Organe „Pays“ und „Constitutionel“. Auch er hat mäcenatische Anwandlungen, und erweist sich unterstützend und hülfreich gegen Künstler und Literaten. So kaufte er z. B. Herrn von Lamartine, der immerfort mit Geldnoth kämpft, den „Civilisateur“, eine Vierzehntagsschrift, für 100,000 Franken ab, ob sie gleich kaum die Hälfte werth ist. Ueberhaupt thun die Geldleute in Paris gern dadurch aristokratisch, daß sie sich Künstlern und Schriftstellern gefällig zeigen. Die Mode bringt es so mit sich, und es ist zudem ein erprobtes Mittel, sich populär zu machen. Auch brauchen sie Leute von Geist und Bildung für ihre Salons, welche sonst gar zu langweilig und wahrscheinlich verödet blieben. Selbst Herr von Rothschild, der für gar nichts Sinn hat, als für Geld und Gewinn, giebt sich gern als Beschützer der Künste und Wissenschaften kund. Wie manches Tausendfrankenbillet wanderte aus dem Hotel Rothschild, Rue Lafitte, in die Tasche des kürzlich dahingeschiedenen Dichters Heinrich Heine. Doch wissen Eingeweihte, daß diese Großmuth keineswegs aus einem freien Gefühle des Herzens, sondern aus der Furcht vor dem schonungslosen beißenden Witze des berühmten Schriftstellers entsprang. Denn Herr von Rothschild ist gegen Angriffe der Presse sehr empfindlich.

Der Einfluß dieser Börsenmatadore beschränkt sich nicht nur auf die Geschäftswelt, sondern greift tief in alle Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens ein, und die Gunst dieser Herren verhilft zu Stellen und Aemtern. Wer Paris und seine Zustände kennt, wird begreifen, was hier Menschen vermögen, die Einem hunderttausend Franken durch ein Wort gewinnen machen können. Welcher Franzose widersteht einer durch solche Mittel unterstützten Fürsprache!


Blätter und Blüthen.

Eine Prairie-Scene. Wir trafen einen Freifänger, einen jener haarigen, eisernen Burschen, die bloß vom Einfangen pelzwerther Thiere leben (erzählt ein Gefährte einer Expedition zu Lande über die Breite Amerika’s nach Californien), wie er eben sein Mahl bereitete. Als er unter der Sonne in Wind und Wetter seine riesige Forelle und etwas Kartoffeln gebraten, setzte er sich auf ein Stück Feuerholz und langte zu, indem er es uns freistellte, uns auch ein Stück von der riesigen Forelle abzureißen und sagte: „Nun gesteht mal selber, ist es nicht besser, so im Freien zu speisen, statt eingeschlossen zwischen Mauern und Wänden?“ Ganz gewiß, gaben wir zu.

„Nun denn,“ entgegnete er, „so müßt Ihr auch zugeben, daß ein Mensch blos in ein Haus gehen sollte, wenn er krank ist, um zu sterben, [208] wenn er es denn doch nicht noch vorziehen sollte, dieses letzte Geschäft im Freien zu verrichten.“

Auch dies gaben wir zu, weil er ganz so aussah, als wollte er uns direct abschlachten, falls wir widersprachen.

„Gut,“ fuhr er fort, „ich weiß zwar nicht, ob Ihr mir im Ernste Recht gebt, ist mir auch ganz gleich, aber so denke ich, versteht Ihr! Zweimal schon habe ich mein Jagdleben aufgegeben und Ackerbau getrieben und in einem Hause geschlafen, aber dann wurde ich jedesmal krank und fühlte mich langweilig, so daß ich mich immer wieder mit frischer Luft kuriren mußte. Manchmal besuche ich Freunde in Häusern, die mir zur Nacht hübsche Betten zurecht machen, in welche ich mich auch lege, um sie nicht zu beleidigen. Aber wenn dann Alles schläft, nehme ich meine Decke, krieche aus dem Fenster und mache mein Schläfchen unterm ersten besten Baume. Der Mensch braucht weiter nichts zum Schlafen als eine Decke unter und einen Baum über sich, den Thau abzuhalten.“

Aber werdet Ihr niemals von wilden Thieren beunruhigt im Schlafe, ohne Zelt und Feuer? fragte Einer von uns.

„I nu, freilich, ich erinnere mich, daß ich mal von einer Kreatur aus dem Schlafe geweckt wurde. Das stumme Beest stand gerade über mir und schnaubte mich an und schnupperte, um ’rauszukriegen, was für eine Sorte von Mahlzeit ich wohl abgeben könnte, denn sehen konnten wir Beide nichts. Ich richtete und rührte mich ein Bischen, nicht in der besten Laune, sage ich Euch, aber das Wurm kriechte einen größern Schreck, wie ich schon hatte, denn es riß aus, daß es weg war, ehe ich rathen konnte, ob sein Fell werth sei, mich am Morgen nach ihm umzusehen. Es war so finster, daß vom Verfolgen keine Rede war. So legt’ ich mich wieder hin und schlief bis in die Sonne hinein.“ Wenn es nun ein Bär gewesen wäre? „Nu ja, ein Bär gehört nicht gerade zu dem Gewürm, mit dem man’s so ohne Weiteren aufnehmen kann, aber wenn man nur auf dem Rücken liegt und das Messer in der Hand lang und scharf genug ist, kriecht man ihn stille, ehe er nur im Reinen darüber ist, ob er wirklich zugreifen soll oder nicht. Einmal gegen Abend hatte ich so ’nen Bären auf einen Baum gejagt und setzte mich nieder auf eine Wurzel unten, zu warten, bis er wieder ’runter käme. Aber ich war so müde, daß ich nicht gut Wache hielt und einschlief, so daß mir die Kanaille entwischt war, wie ich wieder aufwachte. Ich sag’ Euch, die wilden Thiere sind gerade wie die zahmen Menschen. Wenn man ihnen ein festes Auge, Courage und keinen Rücken und kein Sohlenleder zeigt, denken sie, den wollen wir nicht fressen und ihm lieber zeigen, daß uns unser Pelz mehr werth ist, als dessen Fleisch. Wer kriecht, ist immer ein Wurm, wenn er auch damit renommirt, daß er Kopf und Beine habe.“




Gesunder Appetit. Zu dem in Nr. 9 der Gartenlaube abgedruckten Artikel: „Eine Mahlzeit der Esquimaux,“ wird uns noch ein Nachtrag mitgetheilt.

„Die Jacuten, zum tartarischen Stamme gehörend, und an den beiden Seiten der Lena bis zum Eismeere hin wohnend, nennen sich selbst Socha und mögen jetzt ungefähr 100,000 Köpfe zählen. Sie sind von mittlerer Größe und starkem Wuchse, haben ein glattes, mageres, hellkupferiges Gesicht, kleine Augen und wenig Haare. Man rühmt an ihnen die Tugenden der Ehrlichkeit, Menschenliebe und Gastfreundschaft etc.

„Die Nahrungsmittel der Jacuten bestehen in dem Ertrage der Viehzucht, Jagd und Fischerei, die als ihre Nahrungszweige zu betrachten sind. Pferdefleisch ist ihr liebstes Gericht. Mit heißer Begierde essen sie Pferde- und Rinderfett und Talg roh, und geben sogar den kleinen Kindern, um sie zu beschwichtigen, ganze Stücken rohen Fett in den Mund. Außerdem essen sie das Fleisch der Rennthiere und aller wilden Thiere, welche ihnen vorkommen, selbst Mäuse nicht ausgenommen, daher sich manche sibirische Bauern keine Katzen halten, weil ihre Jacutenknechte ohnedies die Mäuse, der geschicktesten Katze gleich, wegfangen. Ueber die Gefräßigkeit der Jacuten bemerkt ein neuerer Reisender: „Alles, was der Mensch kauen kann, es mag Fisch oder Fleisch sein, einerlei von welchem Thiere, es mag stinken oder nicht, das frißt der Jacut bis er genug hat, d. h bis sein Bauch ganz rund wird. Der Schlund dieses Menschen muß ganz anders gebildet sein als der unsrige; denn den heißesten Thee und die heißeste Suppe, die unsere Lippen nicht berühren konnten, vermochten sie hineinzugießen. Das Merkwürdigste dieser Gefräßigkeit ist, daß keine Krankheit darauf folgt.“

Der nämliche Reisende sah ein genäschiges Jacutenkind, das unbeschwert drei Talgkerzen, zwei Pfund gefrorne Butter und ein großes Stück Seife schmauste, und der Admiral Saritschef gedenkt einens Mannes von demselben Stamme, welcher im Laufe von 24 Stunden das Hinterviertel einen großen Ochsen sammt 20 Pfund Fett genoß, auch viel zerlassene Butter dazu trank, und er selbst bewirthete ihn einst, als jener schon gefrühstückt hatte, mit 28 Pfunden des steifsten Reisbreies, die dem Jacuten wohl bekamen. Im Sommer trinken sie gewöhnlich sauere Pferdemilch, und im Winter, wenn Branntwein, den sie über alles lieben, nicht zu haben ist, Undan, ein Getränk, das aus sauerer Milch, ungesalzener Butter und Wasser besteht. Ferner trinken alle gern geschmolzene Butter, die sie auch bei mehreren Krankheiten mit Erfolg als Arznei brauchen. A. F.




Wellington’s Kaltblütigkeit. Der verstorbene Poet und Banquier S. Rogers erzählt in seinen Tischgesprächen, daß Wellington auf einem Schiffe eines Abends, als er zu Bett gehen wollte, officiell die Meldung bekam, daß sich das Schiff schwerlich noch lange über Wasser halten und bald Alles vorbei sein werde. „Nun gut,“ antwortete Wellington, „dann werd’ ich auch meine Stiefeln nicht noch erst ausziehen.“ Das Schiff wurde hernach nur durch einen unvorhergesehenen Glücksfall gerettet.




Zur Nachahmung empfohlen. Man schreibt aus dem Badischen vom 18. März: Wir müssen auf einen Fortschritt in dem näheren Anschluß der Schule an das Leben aufmerksam machen. Nach dem Osterprogramm der höhern Töchterschule zu Pforzheim unter Oberlehrer Pflüger wurde in der dortigen Oberklasse häusliches Rechnungswesen, d. h. eine auf den Erfahrungen der Naturlehre gegründete Haushaltungskunde, außerdem, sich an die Naturkunde anschließend, eine sehr zweckmäßige Gesundheitslehre, in Verbindung mit der Lehre von den wichtigsten Lebensmitteln gelehrt. Wie viele Hausfrauen begehen aus Unkenntniß die gröbsten Fehler in der Gesundheitslehre!


Billigste Familienbibliothek.

Die unterzeichnete Verlagsbuchhandlung erlaubt sich hiermit, das Publikum, mit Bezugnahme auf den vorstehend abgedruckten Artikel: „Eine thüringer Edeltanne“, auf die elegante und außerordentlich billige

ausgewählte Sammlung der Romane und Erzählungen

aufmerksam zu machen, eines Romandichters. dessen Schriften den guten Ruf verdienen, den sie in der ganzen gebildeten Welt Deutschlands haben. Der Verfasser des „Freiknechts“, des „deutschen Leinewebers“, des „Vörwerts-Häns“ etc. bedarf einer buchhändlerischen Anpreisung nicht und so begnügt sich denn die unterzeichnete Verlagsbuchhandlung darauf hinzuweisen, daß die

Volks- und Familienausgabe

der Storch’schen Werke aus 16 bis 18 Bändchen bestehen und diejenigen Romane enthalten soll, welche sich besonders für Haus und Familie eignen. In dieser Ausgabe kostet der 12–15 Bogen starke Band, dessen Preis in der alten Auflage Einen und Einen halben Thaler betrug, nur 71/2 Ngr. oder 27 Xr. C.-Mze., der Bogen also nur 5 Pfennige oder 11/2 Xr. C.-Mze. und erscheint allmonatlich ein Band, in Ausstattung, Format und Typendruck genau den Stolle’schen Schriften angepaßt.

Wenn glänzende Phantasie, kräftige schwungvolle Sprache und eine durchweg edle Richtung einen Autor berechtigen, in jeder Familie ein gern gesehener Hausfreund zu werden, so dürfen wir auf eine weite Verbreitung der Schriften Storch’s rechnen, von dem Stolle sehr richtig sagt: das ist ein Mann, in dessen Adern kein falscher Blutstropfen rinnt, der nie das Gold der Dichtkunst zu schnödem Götzendienste gemißbraucht, ein treues Herz, reich begabt mit himmlischem Gold und Perlen – denn die Treue, die Redlichkeit und Gabe der Dichtkunst wohnen in ihm.

Der ganze Ertrag der Schriften kömmt allein dem wackern Verfasser zu Gute.

Als Gratisbeilage erhalten die geehrten Abnehmer das wohlgetroffene und sauber in Stahl gestochene Portrait des Verfassers. Die Subscribenten allein können auf den äußerst billigen Preis Anspruch machen. Einzelne Bände oder Romane werden nur zu dem dreifachen Preise abgegeben.

Den Familienvätern, die ihren Frauen und Kindern eine unterhaltende und interessante Lectüre bieten wollen, empfehlen wir diese Sammlung ganz besonders. Der 1. bis 9. Band ist bereits erschienen.

Leipzig, im April 1856.
Ernst Keil. 

„Aus der Fremde“ Nr. 15 enthält:

Das Leben in den Pampas. – Panther und wilde Katzen. – Ein Ungläubiger in der Stadt des Propheten. – Aus allen Reichen: Aus dem Sclavenleben – Von Ceylon.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gegetrieben
  2. Vorlage: Aublick