Die Gartenlaube (1856)/Heft 16
Nach einer halben Stunde trat Lambert in’s Comptoir. Soltau war nach der Börse gegangen.
„Herr Lambert,“ sagte der alte Kassirer Lorenz, „Madame Soltau will Sie sprechen.“
„Mich?“ fragte verwundert der Commis.
„Sie hat Auftrag gegeben, Sie sogleich zu ihr zu schicken, sobald Sie zurückkämen.“
Gehorsam ließ sich der Commis bei der Gattin seinen Chefs melden. Er ward sogleich vorgelassen. Henriette, in einer reizenden Toilette, trat ihm lächelnd entgegen.
„Mein Mann hat Sie dem jungen Mädchen nachgeschickt, das diesen Morgen in unserm Comptoir war?“ fragte sie.
Der arme Commis gerieth in eine peinliche Verlegenheit; er war der Meinung, die eifersüchtige Gattin suche ihn auszuforschen.
Der Gedanke, er könne den Samen eines unglücklichen Zerwürfnisses zwischen die beiden Gatten säen, aber auch der Gedanke daran, daß Soltau die Eifersucht seiner Frau auf Kosten der Ehre Sophie’s rege gemacht, ließ ihn zittern. Die Inquisition kam ihm so unerwartet, daß er außer Stande war, zu antworten.
Henriette begriff die Verlegenheit den jungen Mannes.
„Indem Sie den Auftrag Ihres Prinzipals ausführten, sind Sie dem meinigen nachgekommen,“ fuhr sie fort. „Sophie Saller interessirt mich, und deshalb möchte ich ihre Wohnung kennen lernen. Mein Mann kommt heute spät nach Hause – er hat mir aufgetragen, Ihre Nachricht in Empfang zu nehmen.“
Die Worte der Herrin vom Hause durfte er nicht bezweifeln.
„Madame, ich bedauere, Ihnen melden zu müssen, daß meine Bemühungen fruchtlos gewesen sind. Das junge Mädchen verschwand mir in dem Gewühle, und ich habe es, trotz aller Anstrengungen, nicht wieder erblicken können. Ich glaube die Bemerkung gemacht zu haben, daß Sophie Saller unerkannt bleiben will.“
„Wo kam sie Ihnen aus den Augen?“
Der Commis, der in seinem Rechte zu sein glaubte, nahm keinen Anstand, die Lüge auszusprechen:
„In dem Menschengedränge in der Bergstraße. Sie muß dort in ein Haus geschlüpft sein.“
Die junge Frau dankte und entließ den Commis, der nun an sein Bureau zurückkehrte, um noch eine Stunde zu arbeiten.
„Das ist seltsam!“ flüsterte Henriette. „Ich muß klar sehen in der Sache, und möge es kosten, was es wolle.“
In diesem Augenblicke trat die Kammerfrau ein.
„Was giebt es?“
„Draußen steht eine alte Frau, die Madame Soltau zu sprechen verlangt.“
„Vielleicht eine Bettlerin?“ fragte Henriette, indem sie nach ihrer Börse griff.
„Ihre schlechte Kleidung spricht dafür; aber sie dringt beharrlich darauf, mit Ihnen zu sprechen.“
Es war nicht das erste Mal, daß arme Leute in großer Bedrängniß sich an die Gattin des reichen Banquiers, die als wohlthätig bekannt war, wandten. Henriette linderte gern die Noth Anderer.
„Führen Sie die Frau zu mir!“
Die Kammerfrau entfernte sich, um nach einigen Augenblicken eine alte Frau eintreten zu lassen, deren gelbes Gesicht, gebogene Nase, schwarzes Haar und unsaubere Kleidung die hamburger Jüdin vom reinsten Wasser verriethen. Ihr widrig-freundliches Lächeln zeigte einen fast zahnlosen Mund. Ihren Kleidern entströmte der eigenthümliche Duft, den man nur in den Wohnungen der gemeinen Handelsjuden findet.
„Madame Soltau wollte ich sprechen!“ sagte die Jüdin.
Henriette trat unwillkürlich zurück vor der widerlichen Gestalt.
„Ich habe Sie eintreten lassen, um Sie anzuhören, liebe Frau!“
„Aber ich bin gekommen, um allein mit Madame Soltau zu sprechen.“
Auf einen Wink der Herrin, die den lästigen Besuch so rasch als möglich abfertigen wollte, entfernte sich die Kammerfrau.
„Liebe Madame,“ begann die Jüdin, „ich möchte ein Geschäftchen mit Ihnen abschließen. Wir sind doch ganz allein?“
„Ganz allein!“ antwortete die verwunderte Henriette.
„Vor einer Stunde kam ein alter Mann zu mir und sagte: Kochelorum, wollt Ihr ein Händelchen machen? Warum nicht, ich lebe von Handelchens! – Da gab er mir diesen Brief – die Alte holte ein Papier unter ihrem schmutzigen Umschlagetuche hervor – und sagte: gebt diesen Brief in die Hände Madame Soltau’s, ohne daß es ein Mensch sieht, und Madame Soltau wird Euch einen Louisd’or dafür zahlen. – Ich dachte, die Mühe ist gering, es kommt auf den Versuch an. Hier ist der Brief, liebe Madame!“
Die Alte streckte grinsend die gelbe, fleischige Hand mit dem Papiere aus.
Die erschreckte Henriette trat zurück.
„Kennen Sie den Mann, der die Kühnheit hat, Sie zu mir zu schicken?“
[210] „Nein, liebe Madame, ich habe ihn im Leben nur ein einziges Mal gesehen, und zwar vor ungefähr einer Stunde. Wäre er jung und schön gewesen, ich würde es nicht gewagt haben, seinen Auftrag anzunehmen; aber er war ein alter Mann mit eisgrauem Haar, der so ehrwürdig aussah, daß ich ihm alles Gute zutraue.“
„Gleichviel; geben Sie ihm den Brief zurück!“
„Das wird unmöglich sein, meine liebe Madame.“
„Warum?“
„Weil ich nicht weiß, wo ich den alten Mann antreffen soll. Als ich ihn fragte, was wird, wenn Madame Soltau den Brief nicht annimmt? Was wird, wenn ich von Ihnen meinen Botenlohn erhalten muß? Da antwortete er: ich habe nicht Zeit, Eure Rückkehr zu erwarten, Kochelorum aber zeigt nur Madame Soltau die Aufschrift, und sie wird Euch gern einen Louisd’or geben.“
Das Judenweib trat näher und streckte den Arm wieder aus.
Die junge Frau konnte sich nicht enthalten, einen Blick auf die Adresse zu werfen. Da zuckte sie plötzlich zusammen, riß der Alten den Brief aus der Hand, und starrte die scharfen Schriftzüge an. Dann zerbrach sie hastig das Siegel und überflog die Zeilen. Wie bestürzt legte sie das Papier auf den Schreibtisch, ergriff ihre Börse, holte ein Goldstück heraus, und gab es der Jüdin.
„Der Mann mit eisgrauem Haare hat Recht, sagte sie in gewaltsamer Fassung; hier ist der Botenlohn, den er Ihnen versprochen. Sollten Sie ihn zufällig wiedersehen, so sagen Sie ihm, ich würde meinen Mann von dem in Kenntniß setzen, was mir sein lange erwarteter Brief mittheilt.“
„O ich wußte es wohl,“ rief froh das Judenweib; „ein so alter, würdiger Mann konnte sich keinen Spaß mit mir erlauben. Gott grüße Sie, liebe Madame Soltau! Werde Ihren Auftrag ausrichten, wenn ich den Mann wiedersehe!“
Das Goldstück betrachtend, verließ die Alte das Zimmer.
Kaum hatte sie sich entfernt, als Henriette die Thür schloß, den Brief wieder ergriff und zu lesen begann. In ihrem schönen Gesichte malten sich zuerst Bestürzung, dann Ueberraschung und endlich ein wehmüthiger Schmerz – sie brach in Thränen aus. Drei, vier Mal las sie den Brief, dann verbrannte sie ihn über der Flamme eines Wachsstocks, den sie mit bebender Hand angezündet, und warf die Asche durch das offene Fenster, daß der Wind sie zerstreute. Nachdem sie einige Minuten auf und abgegangen, um sich zu sammeln, erschloß sie die Thür wieder und setzte sich ruhig an ihren Stickrahmen. Als Soltau eine Stunde später eintrat, zeigte ihr schönes Gesicht keine Spur mehr von der heftigen Gemüthsbewegung.
Es war im November, in der Zeit, wo Hamburg in Regen und Nebel eingehüllt ist. Soltau hatte unerhörtes Glück in allen seinen Unternehmungen gehabt; es schien, als ob ein besonderer Schutzgeist über seinem Bankhause wachte. Die sich immer noch häufenden Geschäfte hatten eine Vermehrung des Comptoirpersonals nöthig gemacht: statt drei Commis sah man jetzt neun an eleganten Bureaux arbeiten. Ludwig Lambert, der seit dem ersten Tage des Bestehens der Firma dem Hause angehörte, nahm die geachtetste Stellung ein, ihn, und dem alten Kassirer Lorenz überließ Soltau die Leitung des Comptoirs, wenn ihn die großen Unternehmungen in andere Kreise zogen. Die Zeit des schnell reich gewordenen Banquiers war dergestalt in Anspruch genommen, daß nothwendig eine Aenderung in dem häuslichen Leben der beiden Gatten vorgehen mußte. Soltau sah seine Gattin nur des Mittags bei Tische und selten des Abends, denn er war gezwungen, die Cirkel seiner zahlreichen Geschäftsfreunde zu besuchen, die ihn mit Einladungen bestürmten. Henriette war intelligent genug, um die Nothwendigkeit dieser Veränderung einzusehen; sie zürnte deshalb nicht, sie schien vielmehr ihre Zärtlichkeiten zu verdoppeln, um einen Ersatz für die Beschränkung der Zeit zu haben.
Franz wiederholte ihr fast täglich: „Ich arbeite nur für Dich, Henriette, damit Du wie eine Fürstin geehrt werdest.“
„Ehrt man Deine Frau nicht schon genug?“ fragte sie einst. „Bedürfen wir noch mehr des Reichthums, um in unserer Liebe glücklich zu sein?“
„Ich habe mir vorgenommen, Dein Vermögen zu verzehnfachen,“ antwortete er. „Gönne mir den Stolz, einige Jahre an der Börse geherrscht zu haben.“
Das Glück, das Soltau in dem Besitze seiner reizenden Gattin fand, war seit der Zeit der Verheirathung nur ein einziges Mal getrübt worden: ein neidischer Speculant hatte in gewissen Kreisen das Gerücht verbreitet, Soltau verdanke sein Vermögen nicht seinem Geschäftsfleiße, sondern seiner schönen Frau, und diese habe es durch hohe Protektion theuer erkauft. Franz hatte diese Verleumdung dadurch gerächt, daß er den verleumderischen Speculanten mittelst eines geschickten Börsenmanövers zum Fallissement gezwungen. Der Banquier besaß den richtigen Takt, diese Angelegenheit und ihre Folgen, die das eheliche Glück würde getrübt haben, seiner Frau zu verschweigen; dafür suchte er aber als Banquier zu glänzen und seinem Ehrgeize durch große Unternehmungen zu genügen. Franz betete seine Frau an, und liebte seine kaufmännische Ehre.
Ein großer Schiffsrheder, der durch den Transport von Auswanderern ein enormes Vermögen erworben hatte, gab um diese Zeit einen Ball. Franz und Henriette waren dazu geladen. Der Schiffsrheder bewohnte eins jener palastähnlichen Häuser, die nach dem großen Brande entstanden sind. Seine Säle waren mit seidenen Tapeten und Gold verziert; der Ball sollte sie den Gästen bei glänzender Beleuchtung zeigen.
Um neun Uhr erschien der Banquier mit seiner Gattin. Man beneidete das schöne, glückliche Paar. Henriette war in weiße Seide gekleidet; ein kostbarer Diamantschmuck erglänzte an ihrem Alabasterhalse, und eine einfache rothe Rose schmückte das volle braune Haar. Auch Franz hatte eine reiche elegante Toilette gemacht, denn er war noch Liebhaber und wollte seiner Frau gefallen. Beide hatten sich nicht für die Welt, sie hatten sich nur für sich selbst geschmückt.
Während Franz eifrig von den Männern begrüßt ward, führte die Frau vom Hause, eine schon bejahrte Dame, die strahlende Henriette zu einem Kreise junger Frauen und Mädchen. Die Musik begann, und die Tänzer erschienen, um die harrenden Tänzerinnen zu engagiren. Selbst die Hausfrau ward von einem Schiffskapitain in die Reihe gezogen.
Da trat ein junger Mann zu Henrietten, und bat um ihre Hand zum Tanze.
„Ich tanze nie, mein Herr,“ antwortete artig die junge Frau; „es sei denn, daß mein Mann mich zu einem langsamen Walzer führt, der keine anstrengende Bewegung erfordert. Mehr als einen Tanz hat mir der Arzt nicht erlaubt, und ich glaube, daß ich Sie nicht kränke, wenn ich zu diesem einen Tanze meinem Mann die Hand reiche.“
„Ah, Madame ist verheirathet!“ sagte pikirt der Tänzer.
„Und doch versicherte man mir neulich das Gegentheil.“
„So hat man sich über meine Person getäuscht, oder man hat Ihnen absichtlich eine Unwahrheit gesagt.“
Henriette sah den blonden Modemann erstaunt an.
„Sie erinnern sich wohl meiner nicht mehr?“ fragte er mit einem impertinenten Lächeln.
„Ich wüßte nicht, daß ich Sie schon früher gesehen hätte.“
„Sie waren vorgestern Abends acht Uhr in einem Hause der Polstraße. An meiner Hand erstiegen Sie die Treppen zum vierten Stocke. Als Sie eine Stunde später zurückkehrten, fanden Sie mich an der Thür, und ich hatte das Vergnügen, einen Fiaker für Sie herbeizurufen. War Ihr schönes Gesicht auch in einen schwarzen Regenhut gehüllt, so habe ich mir die Züge desselben doch so tief eingeprägt, daß ich sie selbst unter dem Diademe einer Königin wiedererkennen würde.“
Entrüstet erhob sich Henriette; mit stolzen, verachtenden Blicken sah sie den jungen Mann an.
„Ich wiederhole noch einmal, daß Sie sich täuschen, wenn Sie nicht die Absicht haben, mich zu beleidigen.“
„Verzeihung, Madame, dann würde ein kostbarer Diamantring, der sich beim Einsteigen in den Wagen von dem zarten Finger der Dame streifte, in meinen Händen bleiben müssen. Ich glaubte schon so glücklich zu sein, die Gelegenheit gefunden zu haben, das werthvolle Kleinod der Eigenthümerin zurückzustellen.“
Henriette zuckte leicht zusammen; sie fächelte sich mit ihrem Fächer Luft zu, um eine schnell aufsteigende Röthe zu verbergen. In diesem Augenblicke erhob sich ein Gast, der gedankenvoll auf [211] einem Stuhle neben dem Kamine gesessen und das Gespräch unbemerkt belauscht hatte. Sein Gesicht war bleich und von einem vollen, schwarzen Barte eingerahmt: Er trug elegante schwarze Ballkleidung. Geräuschvoll ging er hinter dem Rücken des jungen Mannes vorüber und verschwand in dem Gewühle der Tänzer, die ihre Damen zu den Plätzen zurückführten.
Der lästige Ballgast verneigte sich und verließ Henrietten, die von bekannten Damen umringt ward.
Um zehn Uhr reichte man den Gästen Erfrischungen. Soltau nahm den Arm seiner Frau und führte sie durch die Säle, wo er bald hier, bald dort Bekannte traf. In einem der prachtvollen Nebenzimmer saß ein kleiner Kreis Herren und Damen. Auch Philipps, der Agent, befand sich unter ihnen; er zog Franz und Henrietten in die Gesellschaft und forderte sie auf, hier die Erfrischungen einzunehmen. Die Damen, unter denen Soltau’s Gattin einige Bekannte traf, gruppirten sich um den Thee, die Männer um eine Bowle Ananaspunsch.
Plötzlich zog der Banquier seinen Freund in eine Fenstervertiefung, von wo aus sie den Kreis der trinkenden und plaudernden Damen übersehen konnten.
„Philipps,“ flüsterte er aufgeregt, „kennst Du alle diese Damen?“
„Ich glaube.“
„Wer ist das junge Mädchen in dem blauen Kleide mit schwarzen Spitzen?“
„Wo?“
„Sie spricht jetzt mit meiner Frau.“
Philipps lächelte, indem er leise ausrief: „Sollte diese Fee auch Dich bezaubern, da Du eine so schöne Frau besitzest, um die man Dich allgemein beneidet?“
„Laß den Scherz, und sage mir, was Du von ihr weißt.“
„Sie und jene alte Dame in dem schwarzen Oberrocke, die neben ihr sitzt, sind die beiden einzigen Personen, von denen ich Dir weiter nichts sagen kann, als daß ich sie hier vorgefunden habe, und daß das junge Mädchen mir, wie aller Welt, den Kopf verdreht.“
„Das ist seltsam!“ murmelte der Banquier.
„Franz, fast bereue ich, Dich hier aufgehalten zu haben!“
„Hast Du ihren Namen gehört?“
„Nein!“
Die beiden Männer beobachteten einige Augenblicke das reizende Geschöpf, das sich lächelnd mit Madame Soltau unterhielt. Die Unbekannte glich einer zarten, halb entfalteten Knospe; Henriette einer kaum erblühten Rose, die frisch im Morgenthaue duftet.
„Ich muß Gewißheit haben!“ murmelte Soltau, wie im Selbstgespräche.
„Worüber, Franz, worüber?“
Der Banquier ging zu seiner Frau.
„Verzeihung, meine Damen,“ sagte er, „wenn ich einen Augenblick störe. Henriette,“ wandte er sich zu seiner Gattin, ohne die Blicke von der Unbekannten abzuwenden, „ziehst Du ein Glas Limonade dem Thee vor?“
Seine Absicht war, sich bemerkbar zu machen, und den Eindruck seines Erscheinens zu beobachten. Das junge Mädchen sah ihn an, und blieb ruhig.
„Ich danke, Franz, für Deine Aufmerksamkeit!“ antwortete Henriette. „Willst Du mir aber eine besondere Gefälligkeit erzeigen, so trage Sorge, daß wir mit diesen beiden Damen bei der Tafel zusammensitzen.“
„Wir nehmen an, daß wir nicht lästig fallen!“ fügte das junge Mädchen hinzu.
Franz verneigte sich, und zog sich zurück.
„Das ist ihre weiche, wohlklingende Stimme, das sind ihre schönen Augen, ihre schwarzen Haare – mit einem Worte, es ist das Madonnengesicht Sophie’s!“ dachte er überrascht, indem er das Zimmer verließ, um den Herrn vom Hause aufzusuchen.
,Heute soll sie mir nicht spurlos verschwinden!“
Franz traf den Festgeber in dem Speisesaale, wo er mit dem Arrangement der Tafel beschäftigt war. Der Banquier trug dem Schiffsrheder seine Bitte vor.
„Nennen Sie mir die Namen der beiden Damen, neben denen Ihre Frau Gemahlin zu sitzen wünscht, und ich werde sofort die Einrichtung danach treffen.“
„Wenn ich die Namen wüßte, mein lieber Freund!“ rief
Franz, indem er seine Verlegenheit unter einem Lächeln verbarg.
„Ich hoffe, sie von Ihnen zu erfahren.“
„Wo befinden sich die Damen?“
„Folgen Sie mir, ich werde sie Ihnen zeigen!“
Die beiden Männer, anscheinend in einem gleichgültigen Gespräche, traten Arm in Arm in die Thür des Seitenkabinets. Die Gesellschaft unterhielt sich, so daß sie die Angekommenen nicht bemerkte.
„Sehen Sie neben meiner Frau die junge Dame im blauen Kleide?“
„Ich sehe sie!“
„Nun diese und ihre Nachbarin meine ich!“
Der Schiffsrheder war ein jovialer Mann; er sah seinen Freund lächelnd an, dann flüsterte er ihm in’s Ohr:
„Miß Belling scheint selbst den Männern, die schöne Frauen haben, den Kopf zu verdrehen! Ihre Gattin, mein Bester, macht eine gefährliche Bekanntschaft!“
„Ich habe Gründe, etwas Näheres über diese Dame zu erfahren. Ehe ich meiner Frau gestatte, sich ihr anzuschließen, möchte ich wissen, wer sie ist.“
„Miß Belling ist eine Amerikanerin von guter Familie,“ antwortete der Rheder, indem er mit dem Banquier aus der Thür zurücktrat, um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft nicht zu erregen. Die alte Dame ist Madame Lay, eine Freundin meiner Frau, von der auch die Einladung zum Balle ergangen ist.“
„Und in welcher Beziehung steht Miß Belling zu Madame Lay?“
„Darüber kann ich Ihnen keinen Aufschluß geben, weil ich mich nicht darum gekümmert habe. Aber jedenfalls sind beide Damen respektable Personen, meine Frau würde sie sonst nicht zu unserm Feste gezogen haben.
Ein Diener rief den Hausherrn ab.
„Miß Belling wird neben Madame Soltau sitzen!“ sagte er lächelnd, indem er sich entfernte.
Der Banquier wußte jetzt nicht um ein Haar mehr, als zuvor. Er trat in die Thür und betrachtete Miß Belling: sie war Zug für Zug Sophie Saller. Soltau hätte sein ganzes Vermögen gegen einen Schilling verwettet, daß Miß Belling und Sophie eine Person seien. In diesem Augenblicke blieb ihm Nichts weiter, als sie für die von dem Hausherrn bezeichnete Amerikanerin zu nehmen. Das geheimnißvolle Dunkel, das die schöne Rentenbezieherin umgab, ward immer dichter, und Soltau’s Neugierde natürlich immer größer.
Man ging zur Tafel. Soltau führte seine Gattin. Miß Belling und ihre Begleiterin erschienen am Arme eines schwarz gekleideten Mannes. Die Ordnung der Plätze war, wie sie der Banquier gewünscht hatte: die Unbekannte saß zwischen Madame Soltau und der alten Dame, neben Letzterer nahm der Herr im schwarzen Fracke seinen Platz.
„Philipps,“ flüsterte Soltau seinem Freunde zu, der neben ihm saß, „mir ist, als ob ich den Mann, der Deine Schöne geführt hat, heute nicht zum ersten Male sähe. Kennst Du ihn?“
„Nein; aber ich hoffe, ihn diese Nacht noch kennen zu lernen.“
„Er erinnert mich an den Verkäufer der Lebenspolice.“
„Wahrlich nein! Jener war jünger und hatte braunes Haar – dieser ist schwarz wie ein Italiener. Wir werden ja sehen – in einer Stunde weiß ich mehr.“
Das Souper ging unter gleichgültigen Gesprächen vorüber, und der Ball begann wieder. Soltau tanzte mit seiner Frau einen Walzer. Die Unbekannte erschien am Arme des jungen Agenten Philipps. Man bewunderte allgemein das reizende Geschöpf.
„Henriette,“ flüsterte der Banquier, als er mit seiner Gattin ruhete, „Du hast Dich mit Miß Belling lange unterhalten –“
„Wer ist Miß Belling?“ fragte verwundert die junge Frau.
„Sie war Deine Nachbarin bei Tische.“
„Ach so! Die junge Dame meinst Du. Nun?“
„Was glaubst Du, wer sie ist?“
„Aus der Unterhaltung habe ich sie als eine geistreiche, liebenswürdige Person kennen gelernt. Mehr zu erfahren, war unmöglich, ohne den Anstand zu verletzen. Du kennst ihren Namen, Franz?“
„Ich erfuhr ihn, als ich die Plätze besorgte.“
„Den Interesse an ihr ist eben so groß, als sie schön ist!“
„Du wirst es erklärlich finden, wenn ich Dir sage, daß ich [212] sie für Sophie Saller halte. Ist sie es nicht, so haben beide Personen eine wunderbare Ähnlichkeit.“
„Deine Mündel ist eine mir gefährliche Person, Franz!“
„Fürchte nichts, Henriette; für mich ist meine Gattin das schönste Weib auf der Erde. Mein Interesse für jene Dame ist ein rein geschäftliches. Ich verwalte ja ihr Vermögen.“
Beide Gatten drückten sich zärtlich die Hände wie Liebende, die sich zum ersten Male ein Geständniß gemacht haben. Franz war glücklich, das Gefühl der Eifersucht in seiner Frau, die er anbetete, rege zu finden. Kaum hatte er das reizende Weib nach dem Tanze auf ihren Platz geleitet, als der blonde Elegant, dem Henriette den Tanz versagt, sich ihm näherte, und ihn um eine kurze Unterredung bat. Beide traten in ein Nebenzimmer.
„Sie kennen mich, Herr Soltau?“
„Wenn ich nicht irre, so giebt mir der Herr Advokat Eberhardi die Ehre –“
„Ganz recht, Eberhardi ist mein Name.“
„Und worin kann ich dienen, Herr Advokat?“
„Sie sind Banquier, ich brauche Geld – vielleicht können wir ein Geschäft machen. Der Ballsaal ist zwar nicht die Börse, aber ich möchte die heutige Gelegenheit benutzen, um zu erfahren, ob Sie geneigt sind, mit mir in Verbindung zu treten.“
„Es kommt auf die Natur der Geschäfte an, die Sie mir proponiren werden.“
„Das heißt, auf die Bürgschaft, die ich zu stellen vermag? O, die Sache ist einfach und kurz. Ich glaube, Diamanten haben einen größern Werth als Papiere.“
Soltau sah lächelnd den jungen Mann an.
„Mein Herr, ich bin der Chef eines soliden Bankhauses, und nicht eines credit mobilier oder einer Leihanstalt. Wenn Ihre Diamanten gut und echt sind, so kann es Ihnen nicht schwer werden –“
Verzeihung, der Werth solcher Dinge ist imaginär, die Anschauung des Liebhabers erhöht ihn. Jeder Andere, außer Ihnen, würde mir auf mein Pfand eine sehr geringe Summe bieten. Ich kann mich nur an Kenner wenden – –“
„Glauben Sie denn, daß ich Kenner bin?“ rief Soltau lachend.
Der Advokat zeigte dem Banquier einen Ring, dessen Diamanten er im Kerzenlichte spielen ließ.
„Vielleicht für dieses Kleinod?“ fragte er mit einem höhnenden Lächeln. „Sehen Sie sich ihn näher an, und machen Sie Ihr Gebot.“
Dann drückte er ihm den Ring in die Hand. In diesem Augenblicke trat der schwarz gekleidete Herr, der Miß Belling zu Tische geführt hatte, hastig den beiden Männern näher; aber er kam dennoch zu spät, um zu verhindern, daß der Ring aus der Hand des Advokaten in die des Banquiers überging.
„Mein Herr, Sie sind ein Schurke!“ zischte er Eberhardi in das Ohr. „Und Sie, Herr Soltau, zweifeln Sie nicht an der Schurkerei dieses Elenden, dem kein Mittel zu schlecht ist, um Geld zu erpressen. Genügt Ihnen meine Versicherung nicht, die Versicherung eines Unbekannten, so urtheilen Sie nicht vorschnell, man wird Ihnen Beweise liefern.“
Nachdem er dem erbleichenden Advokaten einen furchtbaren Blick zugeschleudert, verließ er hastig das Zimmer, in dem sich zufällig keine andern Gäste befanden. Soltau war überrascht einige Schritte zurückgetreten, den Ring in der Hand haltend. Seine Ueberraschung ging in Bestürzung über, als er einen Blick auf das flimmernde Juwel warf: er erkannte den Ring, den er am letzten Geburtstage seiner Frau geschenkt hatte. Er glaubte zu träumen – um sich zu vergewissern, trat er einer Kerze näher: auf der von Steinen umgebenen Platte standen die Buchstaben F. S. Der Ring war nach seiner eigenen Zeichnung von dem Juwelier verfertigt, es konnte also kein Zweifel obwalten. Er wollte sich zu dem Advokaten wenden – der junge Mann war verschwunden.
„Was ist das? Was ist das?“ fragte er sich. „O der Unbekannte hat Recht, er muß Recht haben: Henriette hat diesen Ring verloren, der Advokat hat ihn gefunden, und sucht einen möglichst hohen Finderlohn zu erhalten. Wie aber hat der Fremde diesen Schlich erfahren? Warum war er so erbittert auf den Advokaten?“
Er ging einige Augenblicke durch das Zimmer, um seine Fassung wiederzuerlangen, dann trat er in den Saal. Eberhardi ging rasch an ihm vorüber. Der Banquier eilte ihm nach. In dem Vorsaal traf er den Advokaten, der seinen Mantel und Hut genommen hatte.
„Mein Herr, wenn ich den Worten des Fremden nicht glauben soll, so geben Sie mir Aufklärung! Es ist Ihre Pflicht, daß Sie mir sagen, wie dieser Ring in Ihre Hand gekommen.“
Indem der Advokat sich in seinen Pelzmantel hüllte, gab er kalt zur Antwort:
„Ich habe das Eigenthum, das mir nicht gebührt, zurückgegeben – das Uebrige ist die Sache Ihrer Frau. Was die mir zugefügte Beleidigung anbetrifft, so werde ich meine Maßregeln zu ergreifen wissen.“
„Wo ist der Fremde?“
„Wenden Sie sich an Madame Soltau; sie ist ohne Zweifel besser unterrichtet, als ich!“
Der Advokat grüßte flüchtig, verließ den Vorsaal, und eilte die Treppe hinab. Auf der Straße bestieg er einen der Fiaker, die sich vor dem Hause des Schiffsrheders in langer Reihe aufgestellt hatten.
Der arme Banquier lernte zum ersten Male die Qualen der Eifersucht kennen, dieser gräßlichen Leidenschaft, die Alles in den schwärzesten Farben malt. Er suchte sich zwar zu überreden, daß eine so schöne Frau wie Henriette nicht ohne Anfechtung bleiben könne, und daß diese ganze Intrigue ohne ihr Vorwissen eingeleitet sein könne; aber der Funke des Argwohns war einmal entzündet, und er ließ sich nicht sofort wieder löschen. Franz besaß zu viel Takt, und er liebte zu aufrichtig, als daß er seine Gattin durch die Aeußerung eines Verdachtes kränken sollte, den aller Wahrscheinlichkeit nach zufällig entstandene Verhältnisse angeregt hatten. Wie er ihr die vor einigen Jahren erlittene Verleumdung verschwiegen, so nahm er sich vor, auch den Vorfall dieses Abends so lange geheim zu halten, bis sich ihm durch sorgfältiges Forschen eine Begründung bieten würde. Und dies konnte ihm ja nicht schwer werden, da er im Besitze des verhängnißvollen Ringes war. Anscheinend ruhig durchstreifte er nun die Säle, um den Unbekannten aufzusuchen. Weder er, noch Miß Belling und ihre Begleiterin waren zu sehen. Als er durch das Zimmer kam, in dem sich die Familie des Hausherrn befand, trat ihm Henriette entgegen.
„Franz, Du bist so blaß,“ sagte sie besorgt. „Dein Aussehen fiel mir auf, als Du eintratest; bist Du krank geworden?“ fragte sie mit zärtlicher Aengstlichkeit.
„Mir ist wirklich nicht recht wohl; der Wein und das Ballgewühl –“
„So fahren wir nach Hause, Franz!“ unterbrach sie ihn rasch. „Du weißt ja, daß ich nur Deinetwegen diese Festlichkeit besuche. Auch ist es zwei Uhr vorüber,“ fügte sie hinzu, indem sie nach der Pendule auf dem Kamine sah – „unser Wagen muß angekommen sein.“
„Gut, so fahren wir nach Hause!“
Soltau ließ sich durch einen Diener nach seinem Wagen erkundigen. Er war angekommen. Trotz des Zuredens zu bleiben, verließen die beiden Gatten die Gesellschaft. Sie hüllten sich in ihre Pelze, bestiegen den bequemen Wagen und fuhren ab.
Ich hatte geraume Zeit vorher alle meine freie Zeit benützt, um Goethe’s Leben und Werke mit offenen freudigen Sinnen wieder einmal zu genießen und kam nun, voll dieses Hochgenusses, den Schauplatz eines so großen Meisterlebens und Wirkens mit verehrendem Auge zu sehen.
Es dunkelte schon stark, als ich Weimar erreichte; nichts destoweniger [213] ließ ich bis auf den Goetheplatz vorfahren, stieg hier aus und schickte den Wagen nach einem Gasthofe weiter.
Da stand ich denn vor dem langfrontigen, ziemlich vornehm aussehenden Hause, welches den großen Mann vom Jahre 1782 bis zu seinem Tode 1832 beherbergte! Freude und Wehmuth, Bilder seines Lebens und Gestalten seiner mannigfaltigen Werke erfüllten drängend meine Seele. Ich nahm es fast übel, daß die
ab und zu spazierenden Weimaraner kein Auge zu haben schienen für die denkwürdige Stelle, für die Tempelhalle eines so großen deutschen Dichterlebens.
Der Abend rückte indessen vor und ich beschloß, nach dem Gasthofe zu gehen und den nächsten Morgen (Freitag), an welchem das Goethe-Haus den Fremden geöffnet wird, ruhig abzuwarten.
Um aber wenigstens den anregendsten Weg zu gehen, nahm ich meine Richtung nach der Marienstraße zu und bog dann links nach der Ackerwand ein.
Hier kam ich an der Mauer von Goethe’s Hausgarten vorüber und konnte die Fenster des berühmt gewordenen Arbeitszimmers des Dichters sehen. Gern hätte ich auch einen Blick in den Garten selbst gethan, allein die Mauer ist ziemlich hoch und ich konnte trotzdem, daß ich auf einige Treppenstufen des gegenüber befindlichen
Hauses stieg, nur wenig von der innern Beschaffenheit des Gartens sehen.
Ich ging also weiter und begnügte mich mit dem Andenken an einige Scenen, welche von Verehrern und Freunden des großen Mannes der Nachwelt überliefert worden sind. In diesem Hausgarten war es auch, wo unter Anderm der getreue Eckermann einst mit dem 75-jährigen Goethe einen Baschkirenbogen zu Schießübungen benutzte. „Goethe stand da, wie der Apoll, mit unverwüstlicher innerer Jugend“ – ich dachte an die Verse:
„Läßt mich das Alter im Stich?
Bin ich wieder ein Kind?“
Eckermann schoß zuletzt und zwar in den Fensterladen von Goethe’s Arbeitszimmer; der Pfeil saß so tief im weichen Holze, daß es nicht gelang, ihn wieder herauszubringen. „Lassen Sie ihn stecken,“ sagte Goethe, „er soll mir einige Tage als eine Erinnerung an unsere Späße dienen.“ Dann gingen Beide im Garten auf und ab, sprachen über den Bogen des Odysseus, über die Helden des Homer, dann über die griechischen Tragiker und endlich über die vielverbreitete Meinung, daß das griechische Theater durch Euripides in Verfall gerathen.
Ich war am nächsten Morgen, wie sich denken läßt, nicht der Letzte, welcher die Stunden von neun bis zwölf Uhr benutzte, um das Innere des Goethe-Hauses zu sehen.
Mit einiger Verwunderung vermißte ich über dem Thore des Hauses jede an den großen Dichter erinnernde Ueberschrift und ich gestehe, daß es mir wohlgethan hätte, wenigstens „Goethe-Haus“ oder „Hier wohnte Goethe“ zu lesen.
Besser gefiel mir schon die untere Flur des Hauses. Hier sprechen verschiedene an der Treppe stehende Abgüsse antiker Statuen, wer des Hauses Gebieter einst gewesen. Der gute Eindruck wächst, wenn man, die Treppe hinaufschreitend, von Gypsabgüssen und anderen Kunstgegenständen umgeben bleibt, und im ersten Stocke über einem hellen Treppenraume an der Decke eine gemalte Aurora von Goethe’s vielgenanntem Freunde, H. Meyer, erblickt.
Ich blieb hier nicht lange allein der stille Beschauer; bald stellten sich Fremde und Heimische einzeln und in Gruppen ein, die nach den sehenswerthen Zimmern drängten. Links vom Treppenraume gelangt man zu einem Saale, der die Mitte des Hauses ihrer ganzen Länge nach einnimmt. Salve! heißt es über dessen Eingänge, der gegenwärtig knapp zugemessenen und erschwertes Zugänglichkeit der innern Hausräume ziemlich widersprechend.
An den Saal stoßen zu beiden Seiten mehrere Zimmer.
In denen rechter Hand befinden sich Goethe’s eingerahmte Handzeichnungen und Kupferstiche, wie überhaupt einzelne Abtheilungen in Anticaglien, Medaillen, Münzen, Majoliken, Autographen u. s. w.; linker Hand stößt an den Mittelsaal das Empfangs- und Gesellschaftszimmer, in welchem jetzt Goethe’s Kunstsammlungen ausgestellt sind.
Es bedarf wohl nur der Erwähnung, daß der Katalog der [214] zeichnenden Kunst allein vierthalbhundert Seiten enthält, um den bedeutenden Umfang der Goethe’schen Sammlungen anzudeuten; darum wird der Leser dieser wenigen Zeilen auch kein näheres Eingehen auf diese mannigfaltigen Schätze hier erwarten.
Goethe selbst gesteht seinem treuen Eckermann einmal, was ihn seine Studien, die er stets durch Ankauf bezüglicher Gegenstände der Kunst und Wissenschaft zu unterstützen suchte, bis in seine alten Tage gekostet haben. ,Eine halbe Million meines Privatvermögens ist durch meine Hände gegangen, um das zu lernen, was ich jetzt weiß; nicht allein das ganze Vermögen meines Vaters, sondern auch mein Gehalt und mein bedeutendes literarisches Einkommen seit mehr als fünfzig Jahren.“
Gewiß ist, daß es in Deutschland viele weit bedeutendere Kunstsammlungen giebt als diese, aber keine von diesem speciellen und charakteristischen Interesse. Denn man darf von vornherein nicht außer Acht lassen, daß Goethe Vieles gekauft hat, um daran zu lernen, und an mangelhaften Kunstgegenständen sich die Grade der Vollkommenheit eines wahren Kunstwerks recht anschaulich zu machen. Wer daher über manches Stück der Goethe’schen Sammlungen bedenklich werden wollte, muß die Worte beherzigen, welche Herr Sekretair Schuchardt seiner Beschreibung der Goethe’schen Sammlungen vorausschickt.
„Für Goethe,“ sagt er, „war der geistreiche Gedanke, die Art und Weise der Auffassung und Darstellung desselben die Hauptsache. Diesen zu erkennen, genügte ihm auch eine weniger gute Nachbildung, ein minder guter Nachdruck, ja selbst das Fragment eines bedeutenden Werkes. Goethe sammelte und sah das Gesammelte eben als Dichter, als schaffender Künstler.“
Ein Brief des Dichters an seinen sehr geschätzten Kunstgenossen Heinrich Meyer sagt dies noch deutlicher mit folgenden Worten:
„Zur wahren Erkenntniß braucht man eigentlich nur Trümmer. Diese guten, vortrefflichen, aber höchst beschädigten, diese schwachen, ausgedruckten, diese ungeschickt ausgestochenen, kopirten und in so manchem Sinne versehrten und zerfetzten Blätter haben gerade meine kritische Fähigkeit aufgeregt und mir in einsamen Stunden sehr große Freude gemacht. Wie sehr Recht haben Sie nicht, daß es zur wahren Kenntniß nur wenig bedürfe; wie sehr Recht hätten Sie nicht, wenn es nicht eines großen Umweges bedurfte, zu diesem Wenigen zu gelangen.“
Freilich dürfen wir nicht vergessen, daß dieses ein Mann geschrieben, dessen Kunstgeschmack durch unzählige bedächtige Anschauungen vollendeter Meisterwerke bereits sicher stand, der also bei Betrachtungen mangelhafter Stücke die ganze Zwischenstufe bis zu ihrer vollkommenen Ausführung leicht schöpferisch zu ergänzen verstand. War Goethe dann mit einem bedeutenden Gegenstände oder mit einer Kunstrichtung in’s Reine gekommen, so stellte er seine Gedanken in klarer Ordnung zusammen und überlieferte sie in fruchtbaren Aufsätzen denjenigen, welche solche Geistesresultate zu würdigen verstehen.
Mit Recht bemerkt Adolf Stahr in seinem Tagebuche: „Weimar und Jena,“ daß in diesen Sammlungen Goethe’s Studien, seine Werke und sein ganzes Leben den ergänzenden, erklärenden Kommentar erhalten. „Diese Reliquien verkommen, diese Sammlungen verzetteln lassen,“ fügt er dann hinzu, „wäre eine That der Barbarei, welche allein hinreichen würde, den letzten Rest des Nimbus zu zerstören, mit welchem das Volk von Denkern und Dichtern sich zu umgeben liebt.“
Hoffentlich wird es trotz des mißlungenen ersten Versuches doch nicht gelingen, Goethe’s Haus und Sammlungen so zum Eigenthum der deutschen Nation zu machen, wie Schiller’s Haus ein Eigenthum der Stadt Weimar ist; es würde dann auch der bittere Umstand wegfallen, daß Fremde, oft sehr weit hergekommene Reisende, entweder gar nicht oder unter erschwerenden Umständen und nur theilweise das Haus und die Sammlungen des großen Gelehrten und Dichters sehen können.
Wer Goethe’s Haus besucht, wird natürlich besonders nach speciellen Reliquien des großen Mannes Verlangen tragen, und mit Begierde nach dem Hefte suchen, welches die eigenhändigen Zeichnungen Goethe’s enthält.
Es ist ein Heft von zweiundzwanzig Stücken, die im Jahre 1810 während eines Aufenthaltes in Jena entstanden sind. Goethe hatte sich dahin begeben, um den zweiten Band seiner Farbenlehre abzuschließen, und wurde dort von dem Verlangen überfallen: „was von Zeichnungsfähigkeit in ihm läge, noch einmal zu versuchen.“
„Dies geschah nun auf diese Weise (erklärt er selbst), daß ich bei einsamen Spaziergängen mir gewisse Gegenstände so fest als möglich einprägte, und nachher zu Hause mit der Feder auf’s Papier fixirte, auch wohl an der Natur selbst Umrisse versuchte oder nach Erzählungen mir Gegenden vorbildete – – und so entstanden denn nachstehende zweiundzwanzig Blätter, die ich mit eben so wunderbarer Aufmerksamkeit aufzog, umrahmte und mehr oder weniger ausführte. Da mit dem August sich diese gewissermaßen angestrengte Neigung völlig verlor, auch von mir nachher derart wenig hervorgebracht wurde, und selbst, wenn ich es versuchen wollte, nicht gelang, so habe ich diese Zeichnungen sämmtlich zusammengehalten, keine fremde Hand, wie ich sonst bei Skizzen gern that, darin walten lassen, und so dieser eigenen Lebens- und Kunstepoche ein Denkmal zu erhalten gesucht; wie ich sie denn auch gegenwärtig in einem Bande gesammelt, um sie für ein Ganzes zu erklären, woraus Fähigkeit sowohl als Unfähigkeit beurtheilt werden könne.“ –
Doch wir kehren zu den denkwürdigen Räumlichkeiten des berühmten Dichterhauses zurück.
Den obenerwähnten Saal und die Zimmer mit den Kunstsammlungen haben wir erreicht, indem wir uns vom äußeren Treppenraume aus links wandten; rechts davon gelangt man in die besonderen Gelasse des Goethe’schen Bibliotheks-, Arbeits- und Schlafzimmern.
Die Anzahl von Büchern in dem Bibliothekszimmer ist ansehnlich; die Aufstellung derselben ganz übereinstimmend mit der Goethe eigenthümlichen schmucklosen Einfachheit. Von besonderem Interesse jedoch sind hier die gesammelten Briefe und Tagebuchhefte des Dichters und der mit Smaragden gezierte goldene Lorbeerkranz, welchen die Vaterstadt Frankfurt ihren, großen Sohne zum 79jährigen Geburtstag geschickt hat.
Denkwürdiger, wenn auch den Charakter der strengsten Einfachheit ebenfalls beibehaltend, ist das Goethe’sche Arbeitszimmer. Hier befindet sich an der Vorderseite zwischen zwei Fenstern ein unansehnlicher Spiegeltisch, darauf eine Uhr und ein Weinglas stehen. Ein eichener Tisch von länglich runder Form nimmt die Zimmermitte ein, davor steht ein einfacher Stuhl. Von den Fenstern rechts an der Wand befindet sich ein anderer Tisch von Birnbaumholz, er ist oben mit Randfächern versehen, in welchen Handbücher u. dergl. ausgestellt sind, der untere Theil des Tisches ist für die Aufnahme von großen Heften, Atlanten, eingerichtet. Ueber diesem Tische hängt ein Gypsmedaillon des von Goethe so sehr und oft bewunderten Napoleon’s I. mit der Umschrift: Scilicet immenso superest ex nomine multum. Nicht weit davon steht ein Behältniß mit Dichterwerken, welche Goethe als Geschenke verehrt worden sind. Da Goethe besonders in seinen spätern Jahren seine Arbeiten fast nur zu diktiren pflegte, wobei er mit über den Rücken gelegten Armen gewöhnlich auf und abging, so dürfte es nicht sonderlich wundern, wenn man einen für den alten Herrn gemäßen Schreibtisch in dem Arbeitszimmer ganz vermißte. Aber er hatte ja Briefe zu schreiben, seinen Namen zu unterfertigen und manche Notiz zu verzeichnen, daher denn auch links an der Wand ein langes Stehpult von weichem Holze angebracht ist, auf welchem Goethe das Nothwendigste eigenhändig schrieb. Hier steht auch jene kleine Napoleonsbüste aus Milchglas, welche, gegen das Licht gehalten, feurig in’s Bläuliche schimmert und von Goethe als für die Theorie seiner Farbenlehre brauchbar, besonders geschätzt war. Neben dem letztgenannten Stehpulte befindet sich eine Thüre, welche in das Schlafgemach des Dichters führt. An derselben ist ein Papierbogen mit Anmerkungen zur neuern Zeitgeschichte befestigt, dahinter Tabellen schematischer Begriffe zur Musik und Geologie.
Das Schlafgemach, oder besser, die Schlafkammer Goethe’s entspricht eben nur einem bescheidenen Sinne; es hat nur ein Fenster und Raum für ein schmuckloses Bett, vor welchem ein grüngepolsterter Lehnstuhl steht. – Ein Vorfall, der sich an dieses Zimmer knüpft, und den Goethe’s Diener eines Tages erzählte, hat immer einen seltsamen, fast dämonischen Eindruck auf mich gemacht; er stehe denn auch hier als eine der merkwürdigsten Erinnerungen aus dem Leben eines so wunderbaren Mannes.
„Einst – so erzählt der Diener – klingelte Goethe mitten in der Nacht, und als ich zu ihm in die Kammer trete, hat er sein eisernes Rollbette vom untersten Ende der Kammer herauf bis an’s Fenster gerollt und liegt und beobachtet den Himmel.
[215] „Hast Du nichts am Himmel gesehen?“ fragte er mich, und als ich dies verneinte, sagte er: „So lauf einmal nach der Wache und frage den Posten, ob er nichts gesehen.“
Ich lief hin, der Posten hatte aber nichts gesehen, welches ich meinem Herrn meldete, der noch eben so lag und den Himmel unverwandt beobachtete.
„Höre,“ sagte er dann zu mir, „wir sind in einem bedeutenden Moment, entweder wir haben in diesem Augenblicke ein Erdbeben oder wir bekommen eins.“
Und nun mußte ich mich zu ihm aufs Bett setzen, und er demonstrirte mir, aus welchen Merkmalen er das abnehme.
Am nächsten Tage erzählte mein Herr seine Beobachtungen bei Hofe, wobei eine Dame ihrer Nachbarin in’s Ohr flüsterte:
„Höre, Goethe schwärmt!“
Der Herzog aber und die übrigen Männer glaubten an Goethe, und es wies sich auch bald aus, daß er recht gesehen; denn nach einigen Wochen kam die Nachricht, daß in derselben Nacht ein Theil von Messina durch ein Erdbeben zerstört worden.
In diesem Schlafzimmer starb auch Goethe am 22. März 1832 im 83. Jahre seines reichen herrlichen Lebens.
Als ich das Goethe-Haus verließ, waren es weniger die eben gesehenen Gegenstände als die mancherlei Bilder aus Goethe’s Leben, welche mich beschäftigten. Die wundersame persönliche Erscheinung des Dichters, die Art und Weise seines Verkehrs mit Menschen fast jedes Standes und Faches, und überhaupt die unvergleichliche Menge seiner in diesem Hause entstandenen Schöpfungen und wissenschaftlichen Arbeiten sind auch wohl geeignet, unsere Vorstellungen ganz einzunehmen. Dreiunddreißig Jahre war der geniale Mann alt, da er das eben geschilderte Haus bezog, und im dreiundachtzigsten Jahre seines Lebens starb er darin. Rechnet man auch die vielen und andauernden Reisen nach Italien, in die Schweiz und in die verschiedenen Bäder, sowie die häufigen Aufenthalte in Jena, Ilmenau u. s. w. ab, so bleibt doch noch ein hübsches Menschenalter übrig, welches der große Dichter ständig in diesem Hause zugebracht hat. Und in welchen mannigfaltigen Gestalten, trotzdem er stets derselbe blieb, erschien er nicht im Laufe einer solchen Zeit! Anfangs noch manchmal vom Dämon seiner Jugend ergriffen, gewaltig dahinbrausend; nach und nach von Maß und Form beherrschte ruhig, gelassen, strenge und milde zugleich, aber selbst innerhalb dieser allgemeinen Umrisse seiner Erscheinung wieder oft und oft ein Anderer! Was geben nur die Tagebücher und Aufzeichnungen seiner Lieben und Vertrauten selbst in seinem hohen Alter noch für Metamorphosen seiner Erscheinung! Heute empfängt er z. B. seinen Eckermann im blauen Oberrocke und in Schuhen, eine erhabene Gestalt; das Gesicht ist kräftig und braun, voller Falten, in Allem zeigt sich Biederkeit und Festigkeit, Ruhe und Größe – Goethe spricht langsam und bequem, wie man sich einen bejahrten Monarchen denkt; – morgen ist er ganz ein Anderer, in allen Dingen rasch und entschieden wie ein Jüngling. Ein andermal ist großer Thee beim alten Herrn; alle Zimmer flammen von hellen Lichtern, und eine zahlreiche auserwählte Versammlung von Gästen bewegt sich durch die Räume: da erscheint er wieder – auf dem schwarzen Anzug der Stern, „welcher ihn so wohl kleidet“ und ist sehr heiter. Nun aber sitzt er gleich des andern Tages wieder als behäbiger Familienvater am Mittagstische, tranchirt Geflügel mit Geschick und schenkt dabei gelegentlich seinen Gästen ein. Man könnte sagen, daß Goethe’s äußere Erscheinung, so sehr sie im Ganzen dieselbe blieb, doch immer die vorwiegend charakteristische Farbe von dem Geiste erhielt, der ihn eben besonders beherrschte. Denn ich glaube nicht zu irren, daß der schöpferische Dichter in ihm das erste Wort führte, wenn er eines Abends sehr aufgeweckten Geistes gefunden wird, seine Augen im Widerschein des Lichten funkeln, sein ganzer Ausdruck Heiterkeit, Kraft und Jugend bezeugt; – daß ein andermal die schwer gebändigte Thatkraft eines Helden in ihm die Vorhand hat, wenn er von Napoleon I. mit Begeisterung spricht, und dröhnenden Schrittes hin und wieder schreitet; – daß er endlich gewiß vorwiegend den trockenen mathematischen Gesetzen der Natur nachsinnt, wenn er dasitzt: ruhig, klar, gemessen, alle Dinge, die zur Sprache kommen, mit den wenigsten und besten Worten scharf bezeichnend. Selbst sein Herz hat noch in seinem hohen Alter ein gewisses Recht auf seine äußere Erscheinung, und so wird er eines Abends an seinem Arbeitstische gefunden „in wunderbar sanfter Stimmung, wie Einer, der von himmlischem Frieden ganz erfüllt ist, oder wie Einer, der an ein süßes Glück denkt;“ – freilich, hatte er doch kurz zuvor sein liebliches Abenteuer im böhmischen Bade erlebt, in dessen Folge sein neuestes liebstes Gedicht: „Elegie von Marienbad,“ erstanden war.
„Es erben sich Gesetze und Rechte wie eine ewige Krankheit fort,“ sagt Goethe mit dem inhaltschwer die Erben anklagenden Zusatze: „Weh’ Dir, daß Du ein Enkel bist!“ Wir fühlen es in jedem civilisirten Land, daß die im Wesentlichen alle aus frühern Jahrhunderten, von längst untergegangenen Nationen vererbten Gesetze, wie z. B. das römische Recht in Deutschlands Gesetzbüchern, mit unsern Rechtsbedürfnissen, mit unsern humanen Ansichten, mit unserer bessern physiologischen Erkenntniß der menschlichen Natur zum Theil im entsetzlichsten Widerspruche stehen. Auch die neuere und neueste Gesetzgebung hat oft mit dem, was der gesunde, parteilose, gebildete Mensch [216] für recht und billig hält, nichts zu thun. Ja, der strenge, erfahrene, praktische Richter unserer Zeit selbst muß erst aus unabsehbaren Labyrinthen von Rechts- und Gesetzparagraphen und Anmerkungen und Erläuterungen dazu eine Stelle heraus speculiren, um über einen vorliegenden Fall begangenen Unrechts zu entscheiden. Das Rechtsgefühl, selbst das gebildete Rechtsbewußtsein des edeln Richters wird nicht gefragt. Dieses entscheidet oft, ja, in der Regel ganz anders, als das alte, wie eine ewige Krankheit fortgeerbte Gesetzbuch, und der unparteiische, noble Mensch urtheilt immer anders und besser, wo der Parteiische sagt: „Es ist ihm schon Recht.“
Hier eröffnet sich ein weites Feld für Geltendmachung der Humanität, physiologischer und socialer Einsicht, welche den Verbrecher und jedes Vergehen immer viel richtiger und milder beurtheilt als das Gesetz und selbst als das unmittelbare Rechtsgefühl. Die sociale Einsicht in die Quellen der Verbrechen reicht allein hin, uns demüthigend milde zu stimmen, wenn wir Gefängniß, Zuchthaus, Schaffot und Galgen vor uns haben. Fast durchweg läßt sich in jedem Verbrechen als Quelle der Schuld die bestehende sociale und politische ungesunde Construction des Lebens nachweisen, was Bettina überraschend richtig in ihrem „Königsbuche“ nachweist und in den Satz zuspitzt: „Der Verbrecher ist des Staates eigenstes Verbrechen.“
Mehr oder weniger fühlen dies auch die Staaten bereits, die Gesetzgeber, die Richter, die Regenten, und haben, die Mängel ihres Rechts in einzelnen Fällen wieder gut zu machen, verschiedene Hülfsmittel; aber diese beschränken sich bis jetzt blos auf einzelne Fälle, die nur in England, wo der Widerspruch zwischen Gesetz und Humanität am Schreiendsten ist, bis zu förmlichen Institutionen und Gebräuchen ausgebildet wurden. In deutschen Staaten haben wir blos eine Spur, einen Keim davon in dem Begnadigungsrecht der Krone, in Amnestien bei einzelnen feierlichen Gelegenheiten.
In England wird erstens das Begnadigungsrecht der Krone sehr häufig von den Richtern und Geschwornen unterstützt und dann selten verweigert. Auch die Presse thut das Ihrige, wiewohl diese in letzterer Zeit, seit unter Palmerston die bureaukratischen Tendenzen mehr hervortraten, nicht selten abgewiesen ward, wenn sie der „Gerechtigkeit“ und dem ekelhaften Galgen einen armen Sünder streitig zu machen suchte. Seit dem Juli 1854 ist aber das Begnadigungsrecht der Krone eine Rechtsinstitution, ein gesetzlicher Akt, ein Privilegium in den Händen von Rechts- und Gefängnißbehörden, und dieses Begnadigungsrecht der Krone als eine Correctur des Gesetzes auf die Verwalter des Gesetzes selbst ausgedehnt worden. Man nennt diese damals angenommene Parlamentsakte in England das „ticket-of-leave-system,“ d. h. das System, verurtheilte Verbrecher durch Entlassungsscheine (tickets of leave) vor Ablauf ihrer Strafzeit wieder frei zu geben. Die so Entlassenen spielen seitdem in der socialen und kriminalistischen Sphäre Londons als „ticket-of-leave-men“ eine nicht unbedeutende Rolle. Wurden doch im vorigen Jahre allein nicht weniger als 4612 Verbrecher auf diese Weise begnadigt und entlassen. Das Gesetz beschränkt diese Begnadigung durch folgende Bedingungen: nur zur Transportation auf höchstens zehn Jahre verurtheilte Verbrecher sind der Entlassung vor Ablauf dieser Zeit fähig und werden deshalb gar nicht mehr transportirt. Die, welche zu längerer Transportation verurtheilt wurden, müssen nach wie vor in West-Australien, auf Bermuda oder in Gibraltar ihre Verbrechen büßen, wo sie freilich auch unter Umständen noch begnadigt werden. Die gar nicht mehr Transportirten müssen eine strenge Vorschule zu ihrer Entlassung durchmachen, da es von vorn herein gefährlich erschien, die etwa 5000 Verurtheilten, welche innerhalb der Parlamentsakte vom Juli 1854 fielen, auf einmal mit einem bedingten Entlassungsschein frei zu geben. Sie müssen deshalb zunächst im Muster-Gefängniß zu Pentonville (London) eine neunmonatliche strenge Einsamkeits- und Schweigsamkeitshaft durchmachen, so strenge, daß Niemand während der Zeit ein menschliches Angesicht zu sehen bekommt und kein Wort sprechen darf, wenn nicht einsam von einem Vorgesetzten gefragt und aufgefordert.
So oft die Gefangenen in der Kirche oder während der Stunde ihres Luftschöpfens in Berührung gebracht werden, trägt Jeder eine Maske und wandelt Jeder stumm inmitten stummer, unkenntlicher, geheimnißvoller Gestalten, unter denen nicht selten Freunde, Verwandte, Vater und Sohn, Bruder und Bruder ahnungslos neben einander schreiten oder sitzen. Jeder Gefangene muß hier ein Handwerk oder eine bestimmte Beschäftigung mechanischer Art erlernen. Von dem Ertrage dieser Art werden ihm je nach seinem Fleiße wöchentlich 4 bis 8 Pence (3 bis 7 Sgr.) gut geschrieben. Nach einsamer Durchschweigung dieser neun Monate wird er in den Regierungsdocks zu Woolwich oder Portsmouth beschäftigt, darf bei fortgesetzt gutem Betragen Briefe und Verwandte empfangen (aber blos einmal jeden zweiten Monat) und über die 3 Pence, die er wöchentlich erhält, verfügen. Hat er diese zweite Station glücklich und gut bestanden, wird er in die dritte erhoben mit 6 Pence wöchentlich, Thee statt Grütze zum Abendbrot und einem halben Nösel Bier zum Sonntagsessen. Die vierte Station bringt 9 Pence wöchentlich, Licht in die Zelle und einen neuen Streifen an der Jacke (die „Stationen“ werden durch solche „Streifen“, wie durch eine Art von Orden, öffentlich zur Schau getragen). Das gut geschriebene Geld wird im Ganzen nur den Entlassenen zur Verfügung gestellt, während der Strafzeit dürfen sie nur in ganz außerordentlich günstigen Fällen etwas verbrauchen. Es variirt von 5 bis 20 Pfund (30 bis 150 Thaler). Summen über 5 Pfund werden nur in bestimmten Terminen gezahlt, um der Versuchung, daß der Entlassene es auf einmal durchbringe, zu begegnen, wodurch freilich auch der Redlichwollende verhindert wird, mit einem kleinen Kapitale irgend ein selbstständiges Geschäft anzufangen. Außerdem hängen die spätern Zahlungen von dem Moralitätszeugniß des Geistlichen oder des Magistrats, wo sich der Entlassene aufhält, ab.
Die Moral des Entlassenen hängt wieder von der pharisäischen Moralität der Gesellschaft ab, in welche er mit dem Entlassungsschein, dem Kainsstempel für die Leute, welche beten: „Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute“ hinausgestoßen wird. Die Polizei läßt ihn nicht aus den Augen, die tugendhafte Gesellschaft nicht vor ihre Augen. Findet ja Jemand einen Arbeitgeber, macht ihm die Polizei sofort ihre Aufwartung, und warnt den Mann vor dem „ticket-of-leave-man“, der dann in der Regel auch eiligst entlassen wird. Der Staat hat den Entlassenen vorher erzogen und gebessert, ein paar Jahre an ihm gedoktert und ihm dann ein Zeugniß gegeben, daß er der geschenkten Freiheit würdig sei. Gleichwohl hetzt er die Polizei nach, welche sagen muß: es ist nicht wahr, der Mann ist nicht gebessert, er verdient kein Vertrauen. Dieser unsinnige Widerspruch wird durch die tugendhafte Gesellschaft noch schlimmer. Gewarnt von der Polizei vor dem Zögling der staatlichen Gefängnißbesserung, glaubt sie in um so größerem Rechte zu sein, sich in sittlicher Entrüstung vor einem solchen Entlassenen steif in die Höhe und zurückzuziehen und das Mißtrauen in den gefallenen Mitmenschen zu einer ehernen Mauer zu machen, die ihn für immer von der guten Gesellschaft ausschließt. Im Allgemeinen heißt es dann auch, dieses ticket-of-leave-system habe den Erwartungen nicht entsprochen. Die tugendhafte Oeffentlichkeit, die tugendhafte Presse, tugendhafte Geistliche und Magistrate, welche alles Mögliche gethan, um die in Gnade Entlassenen wieder unter die Verbrecher zurückzuhetzen, fühlen sich beleidigt, daß man nicht mehr Respekt vor ihrer Tugend und vor ihrem „Eigenthum“ gezeigt habe. Sie schreien fortwährend, daß, wer einmal ein Verbrechen begangen, sei und bleibe ein Verbrecher, und so fielen auch die frühzeitig Entlassenen immer wieder in ihr „altes Gewerbe“ zurück. So schreit die Tugend den Thatsachen in’s Gesicht. So halb die Maßregel auch war, war sie doch eine halbe Wendung zum Guten, zur höheren Gerechtigkeit gegen das Recht. So sehr sich Tugend, Moral und Polizei auch bemühten, die einmal Gefallenen, die von der Gesellschaft Verwahrlosten in ihre Verwahrlosung zurückzustoßen und von aller Ehre und Ehrlichkeit fern zu halten, stellte sich doch heraus, daß die Rückfälligkeit der Verbrecher im Allgemeinen 35 Procent betrage, unter den ticket-of-leave-men aber noch nicht zehn Procent.
Diese statistische Ermittelung läßt auf größere, heroischere Tugend unter den Verbrechern schließen, als unter den gewohnheitlich Tugendhaften. Es ist weit leichter, in guten Verhältnissen unter ordentlichen Leuten gut und ordentlich zu bleiben, als im Kampfe gegen die zurückstoßende ordentliche Gesellschaft aus dem Sumpfe der Verwahrlosung, der Noth und Entbehrung heraufzusteigen, und festen Fuß zu fassen gegen neue Versuchung. Wie schwer das ist, davon haben wir ordentlichen Leute kaum eine Ahnung. Wir müssen uns in ihre Lage und Umgebung, in ihr umnachtetes Innere hineinfühlen, um sie richtig und menschlich beurtheilen zu lernen; wir [217] müssen, da uns dazu Zeit, Lust und Heroismus abgeht, wenigstens Die hören, welche diese Höllenfahrt wirklich machten, wie der große Verbrechers-, Arbeits- und Armenforscher in London, Mr. Mayhew.
Mr. Mayhew hat das genaue, praktische und persönliche Studium der londoner Arbeiter-, Armen- und Verbrecherzustände zu der Aufgabe seines Lebens gemacht. Ein vielbändiges Werk: „Arbeit und Armuth in London“ („London Labour and London Poor“) enthält die genauesten Forschungen und persönlichen Erfahrungen des Verfassers aus allen Schichten der ausgestoßenen und verwahrlosten Klassen, des dicken, faulen Niederschlags aus der ungesunden Mischung und Gährung der gesellschaftlichen Zustände Englands. Die gute Gesellschaft und die freie Presse Londons erstaunten über die Enthüllungen in diesem Werke, als wäre von den fernsten und fremdesten Zuständen der Antipoden die Rede.
Die „anständige“ Presse ging gar so weit, die Thatsachen, die in Namen, Zahlen, Hausnummern, Individuen u. s. w. bestimmt dargestellt und nachgewiesen waren, zu läugnen. Aber damit wurden die Thatsachen nicht beseitigt, zumal da Mr. Mayhew seitdem ununterbrochen fortfuhr, mit neuen Truppen von Erfahrungen und Forschungen auf den Markt der Oeffentlichkeit zu treten. Er rief neuerdings verschiedene Armen- und Verbrecherklassen zu öffentlichen Versammlungen, und gab ihnen Gelegenheit, ihre Verhältnisse und Leiden persönlich und öffentlich in Gegenwart von Berichterstattern für Zeitungen auszusprechen. Er scheute sich sogar nicht, die Legionen von Prostituirten Londons theilweise in solchen Meetings zu vereinigen und sie zu Geständnissen zu veranlassen. Letzteres thaten sie aber bezeichnender Weise nur, nachdem auf ihr Gesuch das blendende Gaslicht des Saales so weit verdunkelt worden war, daß die Rednerinnen in ihren Gesichtszügen nicht mehr deutlich unterschieden werden konnten.
Neuerdings hat sich Mr. Mayhew besonders der ticket-of-leave-men angenommen, um die Halbheit der Humanität in der Parlamentsakte vom Juli 1854 zu ergänzen und zwischen dem tugendhaften Pharisäismus der guten Gesellschaft und der emporstrebenden Entlassenen ein verständigeres, humaneres Verhältniß herzustellen. Er that dies durch Zusammenberufung der ticket-of-leave-men zu einer öffentlichen Versammlung, wobei die Polizei ganz ausgeschlossen war. Dieses Meeting von Verbrechern aller Art im März d. J. ward als ein Ereigniß behandelt. Die Presse gab zum Theil die ausführlichsten Berichte über die Geständnisse und Enthüllungen der einzelnen Unglücklichen, und Bilderzeitungen ließen die ganze Versammlung in Holz schneiden, um ihre Spalten damit zu zieren. Mr. Mayhew selbst ließ drei charakteristische ticket-of-leave-men photographisch aufnehmen, um sie in seinem neuesten Werke: „Die große Welt Londons“ mit zu veröffentlichen. Der jüngste von ihnen, 19 Jahre alt und neunundzwanzig Mal im Gefängnisse gewesen, wurde durch sein Redner- und Darstellungstalent der Hauptheld des mayhew’schen Meetings. Zuletzt zu sieben Jahren Transportation verurtheilt, sei er kraft des neuen Gesetzes in’s Gefängniß gekommen, um schneidern zu lernen, und alle Bücher, deren er habhaft werden konnte, zu verschlingen, ja, selbst etwas Algebra zu versuchen. Dann habe er in Portsmouth ein Jahr lang täglich von früh bis zum Abend Karre geschoben, und von Geistlichen, denen er seine Befürchtungen wegen seiner gebranntmarkten Zukunft in der Freiheit mitgetheilt, die Antwort erhalten, daß er nur fleißig die vorgeschriebenen Andachtsübungen exerciren möge. Mit 6 Pfund Verdienst entlassen und von einem Gefängnißbeamten nach Southampton begleitet, habe ihm letzterer etwas Branntwein zu kosten gegeben, von dem er vier Jahre lang nichts gerochen. Die ungewohnte Belebung, die er gefühlt, habe ihn zu etwas mehr auf eigene Rechnung, zur Trunkenheit, zu lustiger Gesellschaft, zu vollständiger Leerheit seiner Taschen und sofort wieder in Polizeihaft geführt. Entlassen, ohne einen Pfennig in der Tasche, kam er nach London, wo er drei Monate lang Pflaster trat und Beschäftigung suchte, ehe er wieder über’s Herz bringen konnte, zu stehlen. Später blieb ihm nichts Anderes übrig, und die Leute seien selbst Schuld, da sie ihm drei Monate lang verwehrt hätten, ehrlich sein saures Brot zu verdienen, wenn er nur einen Gefallen daran gefunden, als Dieb wöchentlich 5 bis 6 Pfund (über 40 Thaler) aus einem Compagniegeschäft zu ernten. Natürlich sei ein so lohnendes, unsicheres Geschäft nicht von Dauer gewesen, sondern Veranlassung zu einem neuen vierzehnmonatlichen Gefängnißleben. Aus diesem sei er erst vor einigen Tagen zurückgekehrt und von der Polizei und dem Publikum gleich wieder umher gehetzt und von jedem Versuche, einen ehrlichen Broterwerb zu treiben, zurückgestoßen worden. „Ich bin fest entschlossen,“ so schloß er, „meine Hand nie wieder zu einer unehrlichen Handlung auszustrecken, aber bis jetzt weiß ich nicht, wie ich meine nächste Mahlzeit bekommen soll, wenn ich sie nicht stehle.“
Man sehe sich den frischen, derben Bengel an, ob er nicht im Stande wäre, mit seinen jungen kräftigen Gliedern, mit seiner Lernlust, mit ein Bischen Schneidekunst, ja mit etwas selbsterlernter Algebra im Kopfe sich überall nützlich und angenehm zu machen, wenn man ihm mit Vertrauen, mit Menschlichkeit, mit Arbeit und Lohn entgegenkäme? Aber dies thut die Gesellschaft nicht; es ist diese Gesellschaft, welche seine Hand wieder zu unehrlichen Handlungen ausstreckt.
Ein anderer „Redner“ nimmt das Mitleiden des physiologischen Kenners in Anspruch. Sein Kopf ist zu verbrecherischer Disposition mißgebildet. Keine Erziehung, sondern Verwahrlosung ließ ihn ohne moralische Mittel, diese Disposition zu überwinden. Wegen Raubes zu 14jähriger Transportation verurtheilt, verbüßte er einen Theil dieser Strafe in Gibraltar, „wo die fleischzerreißende, blutspritzende Peitsche täglich von Sonnenaufgang bis in die Nacht hinein geschwungen ward!“ Sein Verdienst bei Entlassung ward ihm verweigert, um seinen Rücktransport in die Freiheit Englands damit zu bezahlen.
Ein dritter Redner, von Hause aus ein Händler auf den Straßen, verwaist seit dem zehnten Jahre, mit Apfelsinen u. s. w. handelnd, ward von Dieben von Profession seines Alters zu einem Compagniegeschäft gewonnen, bekam sieben Jahre Transportation, kehrte nach Verbüßung der Strafe nach London zurück und lebte wie Hunderte vom Ein- und Wiederverkauf der Hasen- und Kaninchenfelle, aus denen die Leute das Fleisch herausgegessen. In diesem Geschäft störten ihn eines Tages zwei Policemen, welche verlangten, in seinen Sack zu gucken. Er verweigerte dies und ließ sich lieber arretiren, um vor einen Magistrat zu kommen. Aber weder der Polizei-Inspektor noch der Magistrat ließen ihn zu Worte kommen, weil er ein entlassener Sträfling sei. In verschiedenen Städten von Polizei und Publikum umher- und zurückgestoßen, gelang es ihm endlich, in London mit Hülfe eines mitleidigen Verwandten, einen neuen Straßenhandel zu beginnen, der ihn soweit und sogar seine waschende Frau ganz erträglich ernähre. Er sei nur gekommen, weil er aus Erfahrung sprechen und vielleicht etwas dazu beitragen könne, das Loos seiner viel unglücklicheren Kollegen erleichtern zu helfen.
Auch ein Maurer sprach aus demselben Grunde. Ihm gehe es gut, da er Arbeit gefunden, aber Hunderte seiner Unglücksgenossen kämpften noch zwischen Hunger und Verbrechen.
Nachdem sich eine Menge der Anwesenden offen und ohne Heuchelei über ihre Vergangenheit und ihre Schicksale ausgesprochen, schloß Mr. Mayhew die Versammlung mit einer Rede, in welcher er hervorhob, daß seine Ueberzeugung, Publikum und Polizei und die halbe Humanität des ticket-of-leave-Systems hätten mehr Schuld am Verbrechen, als die Verbrecher selbst, nur bestätigt und befestigt worden sei.
Er wolle zur Correctur dieser Halbheiten und Heucheleien beitragen, was er als einzelnes Individuum könne und Philanthropen, humane, ehrliche Männer vereinigen, welche die Bemühungen emporstrebender Gefallenen unterstützen würden, bis sie wieder auf eigenen Füßen ständen. – Eine Vereinigung dieser Art ist bereits zu Stande gekommen.
Dieser Verein giebt Geld, um die Entlassenen in den Stand zu setzen, ein selbständiges Geschäftchen, besonders einen Handel auf den Straßen, anzufangen, weil die Polizei hier die geringste Macht habe, sie zurückzustoßen und das Publikum keines Sittenzeugnisses bedürfe, um Aepfel oder Apfelsinen, Austern oder Wasserkresse, Kartoffeln oder Kraut zu kaufen.
Das ist eine schwache Correctur des halben Humanitätssystems und der tugendhaften Abgeschlossenheit des Publikums; aber England ist in dieser Sphäre doch bereits weiter, als einige andere „christliche“ Staaten, die noch nicht einmal an halbe Humanität gedacht haben.
[218]
Von J. C. Lobe.
Dritter Brief. Poesie. Kunst. Lied.
Sie wissen, daß die alten Griechen unter Musik alle schönen Künste verstanden, vorzugsweise aber Poesie und Tonkunst. Die letzteren zwei Künste erscheinen auch bei den Neueren oft verbunden, in der ganzen Gesangsmusik nämlich. Es ist daher wegen des leichteren Verständnissen meiner künftigen musikalischen Briefe nöthig, hier erst einen über Poesie und Kunst überhaupt einzuschieben.
Was ist Poesie?
Diese Frage hat einen Anschein von großer Lächerlichkeit. Welcher nur einigermaßen gebildete Mensch könnte zählen, wieviele Male in seinem Leben er dieses Wort aussprechen gehört und selbst ausgesprochen hat! Hieraus sollte man schließen dürfen, daß Jedermann wüßte, was Poesie sei!
Es kommt indessen nicht selten vor, daß von zwei Gebildeten der eine dasselbe Werk für „poetisch,“ der andere für „nicht poetisch“ erklärt. Aus solchen entgegengesetzten Urtheilen scheint also wieder hervorzugehen, daß der Begriff „Poesie“ noch zweifelhaft ist.
Wendet man sich um Belehrung darüber an diejenigen, von welchen sie am sichersten zu erwarten sein sollte, an die Kunstphilosophen, so lacht man nicht über die Frage, sondern oft über die Antworten.
Ich will Ihnen nur zwei Pröbchen geben.
Einer sagt: „Poesie ist die Indifferenz des sub- und objektiven Pols!“ Das nennen die Philosophen eine gelehrte Definition. Man versteht sie zwar nicht, aber eben darum ist sie philosophisch.
Einem Anderen zufolge ist Poesie: „die Kunst, selige Inseln voll Schönheit, Harmonie und Zweckmäßigkeit, voll schöner, großer und begeisternder Ideen, voll zarter, tiefer und heiliger Gefühle aus dem Ocean der Menschenbrust durch den Zauberstab den metrisch gebundenen und doch freien Wortes mit Schöpferkraft an’s Sonnenlicht emporzuheben, und bei ihrem Anblick eine ganze Welt in süßes, ungewohntes Staunen zu versetzen.“
Nehmen Sie aus dieser Definition die Worte „heilige Gefühle,“ halten Sie dieselben an das Lied von Goethe: „Stirbt der Fuchs, so gilt der Balg,“ und sagen Sie mir, ob darin „heilige Gefühle“ geschildert sind.
Mit Erklärungen solchen Genres könnte ich mehrere Spalten der Gartenlaube anfüllen. Sie haben aber an den gegebenen hoffentlich genug, um klar zu sehen, wie dunkel die Sache noch ist.
Wir wollen sie als Ungelehrte untersuchen.
Das Wort „Poesie“ ist griechischen Ursprungs und heißt zu deutsch: Machen.
Mit diesem Ausdrucke ist nichts anzufangen. Was wird nicht alles in der Welt gemacht!
Nehmen wir anstatt des griechischen Worts „Poesie,“ das deutsche Wort „Dichtung,“ so präsentirt sich uns ein deutlicherer Begriff. Wir wissen alsdann, daß Dinge gemeint sind, die vom Dichter rein erfunden oder nach vorhandenen Erscheinungen geschildert und uns vermittelst der Rede mitgetheilt werden. Allein nicht jede Rede gehört zur Dichtkunst. Letztere wählt vorzugsweise bildliche Ausdrücke, Gleichnisse u. s. w., weil diese anschaulichere Vorstellungen hervorrufen, die Einbildungskraft in ein lebhafteres Spiel versetzen, als abstrakte (abgezogene) Begriffe thun. Die dichterische Rede ist ferner kunstreicher geordnet als die gewöhnliche (prosaische), damit sie wohllautender in’s Gehör falle. Sie schreitet taktartig, rhythmisch, in regelmäßigem Wechsel langer und kurzer Silben, in abgemessenen Versen und Strophen (gebundener Rede) dahin. Zwar giebt es auch eine dichterische oder poetische Prosa, diese wird aber in neuerer Zeit kaum noch angewendet, und wohl mit Recht. Denn was in der gebundenen Rede einen besonderen Reiz hat, die blühende, bilderreiche Sprache, erscheint in Prosa meistentheils als Schwulst und Bombast.
Das Reich der Dichtung ist unermeßlich. Denn nicht allein was geschehen ist, auch was niemals geschehen kann, wird ihr vorzubringen erlaubt. Die Werke der Dichtkunst werden gewöhnlich in vier verschiedene Hauptklassen eingetheilt: in dramatische, epische, didaktische und lyrische.
Das dramatische Werk stellt Thaten, Charaktere, Triebfedern, Gefühle der Menschen in einer als gegenwärtig geschehenden Handlung vor. Das epische schildert dieselben Dinge in erzählender Form. Didaktische Gedichte tragen eine Lehre vor. Lyrische endlich schildern das Gefühlsleben, die Leiden und Freuden des Herzens. Alles, was dem Gefühlsleben angehört, ist des musikalischen Ausdrucks fähig. Daher das Wort „Lyrisch,“ welchen von „Lyra“ abstammt, einem uralten Instrumente, womit die Griechen ihre Gesänge begleiteten.
Zur lyrischen Dichtung nun gehört das Lied. Sein Inhalt ist ein Einzelgefühl. Es unterscheidet sich dadurch z. B. von der Arie, welche mehrere, verschiedene, wechselnde Gemüthsstimmungen vorüberführt. Es behandelt keine großen Leidenschaften, sondern meist mäßige Gefühle. Vers- und Strophenarten sind einfach, nicht künstlich verschlungen; die Verse endigen in der Regel mit Reimen.
Warum haben Gedichte diese Form? Die Natur weiß davon nichts. Der Mensch spricht seine Gedanken und Gefühle in der Wirklichkeit nicht in Versen und Reimen aus.
Diese Frage führt uns auf einen Punkt, der seit Jahrhunderten bis in unsere Zeit herein noch gäng und gäbe, nichts destoweniger aber falsch ist.
Fragen Sie: Was bedeutet das Wort „Aesthetik?“ so erhalten Sie von überall her die Antwort: „Die Lehre vom Schönen“. Fragen Sie: „Was ist Kunst?“ so heißt es: „Die Darstellung des Schönen.“ Dennoch ist diese Antwort nur zur Hälfte eine Wahrheit, zur andern Hälfte eine Lüge. Sie ist eine Lüge in Bezug auf den Stoff der Darstellung; sie ist eine Wahrheit in Bezug auf die Darstellung des Stoffs. Stoff der Darstellung, und Darstellung des Stoffs sind zwei verschiedene Dinge. Denken Sie sich eine Madonna, das ist ein schöner Gegenstand; denken Sie sich eine alte Hexe, das ist ein häßlicher Gegenstand. Agathe und Aennchen im Freischütz sind liebenswürdige Wesen, Kaspar und Samuel abscheuliche. Die Liebe Maxens zu Agathe ist ein angenehmes Gefühl, Kaspar’s böse Gedanken gegen Max bekunden schlechte Gefühle.
Nun finden Sie aber nicht blos Vergnügen beim Anblick einer gemalten Madonna, sondern auch bei dem Anblick einer gemalten alten Hexe; nicht blos wenn Sie den Ausdruck von Maxens Liebe, sondern auch Kaspar’s Racheausbruch vernehmen.
Was bewirkt denn dieses Vergnügen bei künstlerischer Darstellung von Gegenständen, welche in der Wirklichkeit unangenehm oder gehässig erscheinen? Nichts anderes kann es sein, als die erkannte Wahrheit. Wenn die Madonna, die schön sein soll, häßlich, die Hexe, welche alt und häßlich sein soll, schön vorgestellt ist, so finden wir beide Bilder unwahr. Wenn Kaspar, nachdem er Max in die verderbliche Wolfsschlucht gelockt, sich plötzlich anders besänne und sagte: „Guter Max, mache geschwind, daß Du wieder fortkommst, denn wenn Du mir Kugeln gießen hilfst, bist Du und ist Agathe für Dich verloren,“ so würde diese plötzliche Sinnesänderung, obwohl sie an sich eine schöne Empfindung ist, uns doch mißfallen, weil sie nach der Anlage dieses Charakters ganz und gar nicht wahr sein kann.
Nun fällt Einem freilich die Frage ein: wo ist die Wahrheit im Faust, wenn der Pudel hinter dem Ofen riesig anschwillt und Mephisto daraus hervortritt? Oder wenn er mit Faust auf dem Mantel durch das Fenster hinaus fliegt? Ist der Teufel selbst eine Wahrheit? Und welche Wahrheiten liegen in der ganzen Musik, in einer Symphonie zum Beispiel?
Was die letztere Kunst betrifft, so werden wir später davon zu reden haben. Für jetzt wollen wir bei der Wahrheit in der Dichtkunst stehen bleiben und sagen: diese ist nicht immer eine der Wirklichkeit entnommene, sondern zuweilen nur eine blos angenommene oder vorausgesetzte. Daß es einen Teufel gebe, der mit höheren Kräften als Menschen sie besitzen begabt sei, nimmt der Dichter an, und wir lassen’s uns gefallen. Innerhalb [219] dieser angenommenen Natur muß dann aber alles, was der Teufel thut, denkt und fühlt, zu einander stimmen. Benähme er sich in einer Scene edel, oder lief er z. B. bei dem nächtlichen Ritt am Galgen vorbei zu Fuße neben Faust her und rief keuchend: „Reite nicht so geschwind, ich komme Dir ja nicht nach!“ so fiel er mit solchen Zügen aus seiner angenommenen Natur. Was an einem Menschen natürlich, würde an ihm unnatürlich, unwahr erscheinen.
Nun wollen wir das Gesagte speciell auf das Lied anwenden. Der Gedanke: „Was ich erlitten und erlebt, habe ich in Liedern geschildert,“ kann wahr sein. Aber etwas Schönes finden wir nicht darin. Goethe drückt ihn in seinem bekannten Gedichte: „An die Günstigen,“ aus wie folgt:
„Was ich irrte, was ich strebte,
Was ich litt und was ich lebte,
Sind hier Blumen nur im Strauß;
Und das Alter wie die Jugend,
Und der Fehler wie die Tugend
Nimmt sich gut in Liedern aus.“
So dargestellt, mit den wohllautenden Versen, Gleichnissen etc. gefällt er uns, „nimmt er sich gut aus,“ wie Goethe in dem letzten Vers sagt, d. h. wird der wahre Gedanke auch schön, hat er eine poetische oder dichterische Form erhalten.
Wenn ein schlechter Kerl sagt: „Der Trunk ist meine einzige Lust auf dieser Welt,“ so ist das ein Gedanke, den ein schlechter Kerl haben kann, der in seinem Munde also wahr ist; daß es aber ein schöner Gedanke sei, wird Niemand behaupten, Jedermann ihn vielmehr für einen häßlichen erklären.
Wir hören ihn in Kaspar’s Lied im Freischütz in folgender Weise ausgedrückt:
Hier im ird’schen Jammerthal
Gäb’s doch nichts als Plack und Qual,
Trüg’ der Stock nicht Trauben;
Darum bis zum letzten Hauch
Seh’ ich auf Gott Bacchus Bauch
Meinen festen Glauben.
In dieser Form gefällt er uns, bis – auf „Bacchus Bauch“, das nicht besonders klingt. Besser hätte der Dichter gesagt: „Setz’ ich auf Gott Bacchus Schlauch.“
Der folgende Gedanke, zu einem verkannten Freunde gesprochen:
„Alle Welt verläßt Dich, ich aber bleibe Dir treu“ ist an sich edel und gut, und mag in Prosa ausgesprochen sich lesen lassen. Nun denken Sie sich diese Gesinnung in folgender Weise ausgedrückt:
„Wenn Dich alle Männer und Weiber
Und Schöpse von Kindern verkennen und
Verachten, so
Bin ich doch wirklich nicht
Solcher Art, und ich
Bleibe Dir treu, darauf kannst Du Dich verlassen.“
So erscheint der an sich edle Gedanke durch die gemeinen Ausdrücke, die unsymmetrischen Verse, kurz die miserable Form, läppisch, lächerlich, unschön.
Die folgenden Verse haben eine gefällige Form:
„Des Menschen Antlitz leuchtet schön,
Drum will ich jetzt spazieren gehn.“
Aber der Gedanke ist unsinnig.
In dem ersten Beispiel sehen Sie einen wahren und angenehmen Gedanken schön dargestellt. Im zweiten erscheint eine wahre, aber häßliche Empfindung gefällig ausgedrückt, im dritten ist ein edles Gefühl in eine schlechte Form gebracht, im vierten endlich erscheint in einer schönen Form ein dummer Gedanke. Die ersten beiden Beispiele gefallen, weil Wahrheit und Schönheit vereinigt sind. Das dritte mißfällt, weil der Gedanke wahr, aber die Darstellung unschön ist. Das vierte endlich mißfällt, weil die Form schön, aber der Inhalt dumm erscheint und nicht wahr ist.
Und hiermit, denke ich, ist klar, daß die Kunst und Poesie nicht blos die Schönheit, sondern auch und zuerst die Wahrheit darstellt; daß der Stoff schön, aber auch häßlich sein kann, wenn er nur wahr ist; daß die Form aber jederzeit schön sein muß, weil ohne sie der wahrste Gedanke keinen vollbefriedigenden Kunstgenuß verschafft.
Den Stoff zu Liedern tragen alle Menschen in sich, denn jeder Mensch hat ein Herz, das Leiden und Freuden empfindet. Jeder Mensch hat auch so viel Einbildungskraft, um sich in die Zustände anderer Menschen zu versetzen, wenn er sie auch nicht selbst durchlebt hat. Wenige Sterbliche giebt es ferner, die nicht zuweilen wenigstens bedeutende Gedanken, Ansichten u. s. w. hätten. Aber wenige Menschen, verhältnißmäßig genommen, können Lieder machen. Dazu gehört Dichtungskraft und Dichtungskunst. Es giebt besonders fein und glücklich organisirte Naturen, die nicht allein von den Ereignissen, welche sie berühren, leichter, lebhafter und stärker als viele Andre erregt werden, sondern die auch, was sie einmal gesehen, in der Einbildungskraft, was sie dabei empfunden, in dem Gemüth wieder hervorrufen (reproduciren), ja selbst, was sie niemals gesehen und empfunden haben, doch durch ihre vorstellenden Kräfte in sich entstehen lassen können. Dies ist die Dichtungskraft oder das Dichtungsvermögen. Solche haben gewöhnlich auch einen besonders starken Trieb, das Geschaute und Empfundene dichterisch auszusprechen. Haben sie sich die dazu nöthigen Regeln und Gesetze durch Studium ähnlicher Produktionen erworben und sich tüchtig geübt, so besitzen sie Dichtkunst.
So vielerlei Arten von Einzelgefühlen es giebt, so vielerlei Arten von Liedgedichten sind möglich. Die allgemeinste Eintheilung derselben ist die in geistliche und weltliche oder profane. Jene nehmen ihre Stoffe allein aus den religiösen Empfindungen, diese greifen überall hin, wo Zustände und Vorgänge des weltlichen Lebens oder Erscheinungen in der äußern Natur Gefühle erzeugen. So haben wir Liebes-, Trink-, Jagdlieder u. s. w.
So viel über das Lied, als bloßes Gedicht betrachtet. Viel kann der wirkliche Dichter damit auf den empfänglichen Leser wirken. Aber Vielen auch, was sich in den geheimnißvollern, dunklern Tiefen der Seele an wunderbaren und mannigfaltigen Regungen daneben und ineinander hinschlingt, ist dem Wort zu schildern nicht vergönnt.
„Die arme Sprache!“ haben Sie gewiß oft selbst ausgerufen, wenn irgend ein warmes Gefühl Ihre Brust erregte und Sie nach Aussprache desselben drängte! Welche Worte Sie dafür auch wählen und finden mochten, sie drückten verhältnißmäßig doch nur matt, farblos, skizzenartig das aus, was Sie innerlich als sicherlich vorhanden, aber mit Worten ungreifbar, mehr dunkel ahnend, als deutlich sehend empfanden.
Hier tritt nun an die Stelle der Dichtkunst eine andere, die Tonkunst. Dieser stehen weit reichere Mittel als jener zu Gebote, die geheimnißvollen Erscheinungen des Gemüths an’s Tageslicht und zur Wirkung zu bringen.
Da ich mich nun den größten Theil meines Lebens selbst bemüht habe, die Freuden und Leiden des Herzens in Tönen zu schildern, so kann ich Ihnen, abgesehen davon, was mir darin gelungen oder nicht gelungen sein mag, über die Mittel, welche dem Tonkünstler zu Gebote stehen, und über die Verwendung derselben behufs seiner Ausdruckszwecke aus Erfahrung Auskunft geben, und daher versuchen, das Lied in musikalischer Hinsicht zu erklären. Das macht jedoch einen Brief für sich nothwendig, den Sie bald erhalten sollen.
Eine Sklaven-Tragödie in Amerika. Obgleich eine englische Hofdame (die deshalb von der Königin entlassen ward) die Sklaverei in Amerika in einem besondern Buche als ganz gemüthlich vertheidigt und beweist, daß die Sklaven nicht frei sein wollten, daß man ihnen mit ihrer Freilassung drohe, wenn sie unartig seien, daß sie sich unter einander schimpfen: „Du bist so schlecht, wie ’n freier Nigger,“ obgleich auf diese Weise das inhaltvolle, selten verstandene, selten von hoher Obrigkeit honorirte Wort Freiheit zum Schimpfworte geworden, giebt es doch auch sogar Schwarze, welche die Freiheit lieben und sich theuer loskaufen und ein ganzes Leben dafür opfern, giebt es doch Sklavinnen, die als Mütter ihre Kinder lieber morden, statt sie in die Sklaverei zurückschleppen zu lassen.
Das Gesetz wegen flüchtiger Sklaven, welche die nicht Sklaven haltenden nördlichen Staaten verpflichtet, flüchtige Sklaven an den Süden [220] auszuliefern (wozu kann nicht Alles das Gesetz verpflichten! Was kann man nicht Alles zum Gesetze machen? –) ruft in Amerika zuweilen Scenen hervor, die der Maler einst malen, der Dichter schildern wird, um in glücklicheren Zeiten schwache Nerven damit zu erschüttern. Ein merkwürdiges Beispiel kam neulich im Staate Ohio vor, wo eine flüchtige Sklavin, Namens Margaret Garner, ihr eigenes Kind tödtete, damit es nicht wieder in die Sklaverei zurückgeschleppt werden könne. Eine Dame, Lucy Stone Blackwell, fühlte solches Mitleiden mit der wegen Kindesmord Gefangenen, daß sie offen den Wunsch aussprach, man möge ihr ein Messer zustecken, damit sie auch sich – der Zurückschleppung in die Sklaverei entziehen könne. Es war von diesem ihrem Wunsche vor dem Gericht die Rede, doch nicht so, wie sie es für richtig hielt. Deshalb nahm sie nach dem Schlusse der formellen Verhandlungen von der Erhöhung, auf welcher die Richter saßen, das Wort und sprach:
„Man hat mir die Mittheilung gemacht, daß Mr. Chambers (einer der Richter) diesen Morgen von meinem Wunsche, der Angeklagten ein Messer zuzustellen, gesprochen habe. Ich wünsche hier, am rechten Platze, zu erklären, was ich sagte und meine Beweggründe dafür.
„Ich bat den Deputirten Marshal Brown nicht um das Privilegium, ein Messer liefern zu dürfen. Wenn Mr. Brown hier wäre, würde er dies bestätigen. Ich bin außerhalb der Stadt gewesen seit Beginn dieser gerichtlichen Verhandlungen und erst gestern zurückgekommen, sonst würde ich jeden Tag hier gewesen sein, um zu versuchen, ob sich etwa etwas für meine unglückliche Schwester thun lasse. Als ich zu ihr sprach von ihrer Freiheit, blitzte ihr Auge mit dem Strahle der Verzweiflung auf, und die Thräne der höchsten Qual rann von ihrer Wange herab. Ihre Lippen zitterten in sprachloser Angst, als ich ihre Hand ergriff und mein Mitgefühl aussprach. Als ich auf ihren sprachlosen, unausdrückbaren Kummer blickte, dachte ich, daß es, wenn jemals, jetzt die rechte Zeit sei, ihr, eine Waffe zu geben, wie es damals, als es unsere Freiheit gegen England galt, die rechte Zeit war, Waffen zu nehmen und zu geben, um die Schlacht am Bunkers-Hügel zu schlagen. Wie die Patrioten damals heilig berechtigt waren, zu sagen: „Laßt uns lieber zu Gott hinauf gehen, statt zurück zur Sklaverei,“ hielt ich auch dieses Weib, welches ihr Kind lieber zu Gott gesendet hatte, statt es wieder in die Sklaverei zurückschleppen zu lassen, für berechtigt, selber lieber zu Gott zu gehen, statt zurück in die Sklaverei. So sprach ich gegen Mr. Brown den Wunsch aus, daß sie ein Messer haben sollte, sich selbst zu befreien, wie ihr Kind. Wer die Liebe einer Mutter ahnen kann, wird das Opfer, das sie gebracht, zu würdigen verstehen. Hatte sie ein Recht, ihr Kind zu befreien, hat sie es auch für sich selbst. So helfe mir der Himmel! Mit meinen eigenen Zähnen würde ich mir eher mein Leben ausreißen, ehe ich mich zur Sklavin machen ließe. Ich bat nicht um das Privilegium, ein Messer liefern zu dürfen. Ich bitte Niemanden um mein Recht. Ich hatte das Recht, einen Dolch in die Hand dieses Weibes zu liefern, dasselbe Recht, welches unsere Vorfahren zu den Waffen rief gegen eine despotische, lächerliche Steuer auf Thee. Ich hoffte, sie noch befreien zu können. Ich hoffe es noch. Ich kenne nicht die Executiven dieses Gerichtshofes. Aber ich zweifle nicht, daß er dem Schrei der Unterdrückten zugänglich sein wird. Er sollte wahr gegen sein Gewissen, wahr gegen das Recht, wahr gegen den Himmel handeln und das Opfer der Unterdrückung seinem Rechte, seiner Freiheit übergeben. Ich mache keine Entschuldigung gegen diesen Gerichtshof, gegen Niemanden für meinen Wunsch, diesem Weibe einen Dolch zu geben. Ich entschuldige mich gegen Niemanden, ich beschönige das Schöne nicht. Ich fühlte dasselbe Recht, mit welchem einst die Patrioten gegen Sklaverei für die Freiheit tödtliche Waffen vertheilten. Gott gab diesem Weibe Liebe für Freiheit und das Herz, sie zu gebrauchen. Wenn sie Freiheit in Gott der Sklaverei unter Menschen vorzieht, wenn sie für ihre Kinder den Schutz der Engel wünscht, statt die Peitsche der Knechtschaft, laßt sie’s haben und in Unsterblichkeit eine Zuflucht gegen Unrecht und Insult finden. Ich sagte Dem, der sie zurück verlangt – ich sage nicht „Besitzer,“ denn Gott hat Niemanden zum Eigenthümer eines andern Menschen gemacht, – daß dies eine geschichtliche Periode sei, daß unsere jetzigen Thaten einst die Feder des Genius beschäftigen, ihn mit Fluch beladen würden, wenn er fortfahre, ein freiheitwürdiges Wesen wieder einzusklaven, mit Ehre und Segen, wenn er ihm die Freiheit, sein Recht gäbe. Als ich in sein gutmüthiges Gesicht sah, in sein mild leuchtendes Auge, dachte ich, er habe ein großmüthiges Herz. Und so bewährte es sich. Milde sagte er, sobald er sie nach Kentucky zurück habe, wolle er ihr die Freiheit geben. Ich hoffe, er wird sein Wort erfüllen. Zugleich mache ich hier in Gegenwart der hier anwesenden Schwestern vor dem Gerichtshofe bekannt, daß wo und wie ich auch Gelegenheit finden werde, dem Gesetze wegen Auslieferung flüchtiger Sklaven zu trotzen und es unschädlich zu machen, dessen Anwendung zu vereiteln, ich es stets thun werde, was auch die Folgen sein mögen.“
So sprach die junge Amerikanerin. Wir fühlen, daß darin Beredtsamkeit, weil ein rechtes Herz, glüht. Der Zeitungs-Berichterstatter fügt hinzu, daß Miß Blackwell im schwarzen Seidenkleide erschienen sei, mit einem braunen Shawl über den Schultern, einem dunkeln Hute und grünen Schleier. Sie sprach geläufig, sicher, ohne Aufregung, ohne jemals ihre Stimme zu heben oder rednerisch zu thun. Sie sprach natürlich, wie in häuslicher Unterhaltung, aber darum um so gewaltiger und eindringlicher. – Solche edele Jungfrauen und Frauen können am Ende noch die Feigheiten und Grausamkeiten der Männer verdammen und die Erde davon befreien.
Zur Geschichte des Sundzolls. Eine geschichtliche Darstellung den Sundzolls dürfte auch den Lesern der Gartenlaube, die den politischen Verhältnissen nicht fern stehen, willkommen sein.
Der Sundzoll rührt aus dem 14. Jahrhundert, und seine Erhebung gab in den folgenden Jahrhunderten Anlaß zu hartnäckigen Kämpfen zwischen Dänemark und dem Bunde der Hansa. Seine erste diplomatische Anerkennung erhielt der Sundzoll durch den im Jahre 1544 zwischen Dänemark und Holland abgeschlossenen Vertrag. Holland verpflichtete sich hiernach, jenen Zoll zu entrichten, und von jener Zeit an erhob ihn Dänemark nach einem mehr oder weniger hohen Tarif, je nachdem die Fahrzeuge begünstigten oder nicht begünstigten Staaten angehörten. Schweden wurde im 17. Jahrhundert vom Sundzoll befreit, aber schon im folgenden Jahrhundert ihm wieder unterworfen. Auch Holland und Preußen hatten sich eine Zeit lang gegen eine jährliche Abfindungssumme der Befreiung vom Sundzolle zu erfreuen, aber diese Ausnahmen waren nur von kurzer Dauer. Der Tarif, wonach noch gegenwärtig der Sundzoll erhoben wird, ward im Jahre 1745 eingeführt. Eine kleine Anzahl verschiedenen Zöllen unterworfene Artikel ausgenommen, setzte dieser Tarif eine Abgabe von 1 Procent des Werths am Ursprungsorte für alle Erzeugnisse fest, welche auf Schiffen geladen sind, die begünstigten Nationen angehören; diese Abgabe beträgt 11/4 Procent für die Waaren an Bord solcher Schiffe, welche die Flagge von nicht begünstigten Staaten führen. Zu der Klasse der letztern gehören gegenwärtig nur noch Portugal, der Kirchenstaat und die Türkei. Die durch diesen Tarif festgesetzte Abgabe von 1 Procent war aber in der That viel höher geworden dadurch, daß der Preis der Waaren, worauf er basirt war, seit der Zeit, wo die ursprünglichen Veranschlagungen gemacht worden, bedeutend gefallen war.
Gegen dieses Mißverhältniß wurden von allen Seiten Reclamationen erhoben, und der am 4. Juni 1841 zwischen Dänemark und Großbritannien abgeschlossene Vertrag trug diesen Reklamationen Rechnung. Durch diesen Vertrag, dessen Vortheile nach und nach auch andern Staaten zu Theil wurden, ward der Zoll auf seinen anfänglichen Fuß von 1 Procent zurückgeführt. – Um die Wichtigkeit der Frage für Handel und Schifffahrt beurtheilen zu können, braucht nur bemerkt zu werden, daß im Jahre 1853 die Zahl der von der Ost- und Nordsee den Sund passirenden Schiffe sich auf 21,512 belief. Diese Zahl sank im Jahre 1854 in Folge politischer Umstände auf 16,367. Vor einem Jahrhundert, im Jahre 1750, betrug sie nur 4500. Die schwedische und englische Flagge sind in dieser Schifffahrtsbewegung am stärksten vertreten. Von den für das Jahr 1853 angeführten Schiffen kommen 5407 auf Schweden und 4668 auf Großbritannien; dann kommen Preußen mit 3472, Dänemark mit 2094 und Holland mit 1874 Fahrzeugen. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika, welche gegenwärtig bekanntlich gegen den Fortbestand des Sundzolls die Initiative ergriffen haben, haben bei der Frage nur ein untergeordnetes Interesse, da die Zahl ihrer im Jahre 1853 den Sund passirenden Schiffe nur 96 betrug. Es ist dabei jedoch zu beachten, daß die Fahrzeuge der Union gewöhnlich von starkem Tonnengehalt sind und Waaren von ziemlich hohem Werthe befördern. Dänemark zog im Jahre 1853 aus dem Sundzoll eine Einnahme von 1,600,000 Thalern, wovon mehr als zwei Drittel von England gezahlt wurden. Die Beibehaltung dieses Einkommens liegt begreiflicherweise sehr im Interesse Dänemarks, dessen Gesammteinnahme sich nur auf etwa 10 Millionen Thaler beläuft. Außer der Haupttaxe entrichten die Schiffe dem Sundzollamte noch ziemlich hohe Abgaben an Leuchtthurms-, Lootsen- und andern Gebühren. Bekanntlich verlangt das Kabinet von Washington, nachdem es sich anfänglich einer Ablösung des Sundzolls durch eine auf einmal gezahlte Entschädigung nicht abgeneigt gezeigt, jetzt die völlige Aufhebung desselben als ein Recht und hat erklärt, den Zoll für die amerikanische Flagge vom 26. April 1856 an, mit welchem Datum der 1826 zwischen den Vereinigten Staaten und Dänemark abgeschlossene Vertrag abläuft, als nicht mehr bestehend betrachten zu wollen. Die nordamerikanische Regierung hat jedoch neuerdings den Vertrag noch um zwei Monate verlängert, und andererseits weiß man auch, daß das kopenhagener Kabinet in eine Ablösung den Sundzolls einwilligt und zur Grundlage der Kapitalisirung desselben eine Erhebung von 25 Jahren und ein Interesse von 4 Procent annimmt, was eine Summe von 38 Millionen ergeben würde, welche auf alle Staaten, deren Handel von der Maßregel Nutzen ziehen würde, zu vertheilen wäre. Was England betrifft, so willigt dies zwar, wie es neuestens heißt, in die Ablösung des Sundzolls ein, aber nicht nach dem von Dänemark vorgeschlagenen System; es soll diesem System einen Gegenvorschlag entgegengestellt haben, oder auch, wie es andererseits heißt, zur Erwägung neuer Vorschläge sich bereit erklärt haben.
Das ist die Geschichte des Sundzolls und der gegenwärtige Stand desselben.
Für die Abgebrannten in Eibenstock ging bei dem Verleger der Gartenlaube ein:
Hr. F. W. Thieme in Güldengossa 7 Ngr. 5 Pf. – J. G. F. 2 Thlr. – A. H. 15 Ngr. – Eine Dame 10 Ngr. – H. in Ronneburg 1 Thlr. – Hr. Förster Uhlemann 1 Thlr. – N. E. P. in Th. 1 Thlr. – Aus Torgau. Petschaft C. F. C. 1 Thlr. – E. K. 10 Thlr. – Linna 1 Thlr. – Alfred 10 Ngr. – Gretchen und Melanie 10 Ngr.
„Aus der Fremde“ Nr. 16 enthält:
Ein Ungläubiger in der Stadt des Propheten (Schluß). – Das Leben in den Pampas. (Schluß) – Ein Bambuswald. Mit Abbildung. – Im Hause eines Kurden-Fürsten. – Aus allen Reichen: Amerikanische Briefe. – Aus Honolulu. – Ein deutscher Mörder in New-York. – Ein scandalöser Scheidungsproceß.
Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.