Die Gartenlaube (1862)/Heft 15
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No. 15. | 1862. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Ein Amnestirter.
„Plötzlich höre ich,“ fuhr der alte Schiffer in seiner Erzählung fort, „über mir ein leises Weinen und Wehklagen. Sehen konnte ich nichts, die Nacht war rabenschwarz. Das leise Weinen schnitt mir um so schärfer in das Herz hinein, zumal wenn die Stimme unter dem Weinen und unter dem Schluchzen rief: „O Du gerechter, Du ewiger Gott, willst und kannst Du mich denn nicht erlösen? Wie lange, wie lange soll ich es noch mit mir herum tragen? O, sey mir gnädig, sei mir barmherzig! Gieb mir den Frieden, gieb mir die ewige Ruhe!“ – Ja, Herr, so jammerte und klagte sie, und es lief mir eiskalt über den ganzen Körper. Da, da war es, beinahe in der Mitte des Klosters, nicht weit von der Zelle der blassen Schwester Walpurgis, die Sie vorhin gesehen haben. Da stand und weinte und wehklagte die arme Schwester Marcella, und – auf einmal war aus den Gewitterwolken ein Blitz gekommen, der machte die Gegend hell, die Mauer und das Fenster, und da sah ich sie in dem Fenster stehen, die Hände gerungen, die Augen gen Himmel gerichtet, von dem Gesichte die Thränen herunterlaufend, und das Gesicht noch blässer, als das der Schwester Walpurgis, die doch wahrhaftig wie eine Leiche aussieht. Aber schön war sie, Herr, groß und schön, in allem ihrem Jammer und Elend. – Der Blitz hatte auch mich beschienen; sie hatte mich gesehen. Sie war in ihrer Zelle verschwunden. Ich hörte auch nichts mehr und fuhr nach Hause. Ich sagte keinem Menschen etwas, man hätte sie sonst in die Zelle einer älteren Nonne gethan, und sie hätte nicht mehr weinen und nicht mehr Gott ihre Noth klagen können, und das war doch Alles, was sie vom Leben hatte. Aber manche Nacht zog es mich wieder unter ihr Fenster, und wenn ich hinkam, hörte ich wieder ihr leises Weinen und Wehklagen, und ich mußte mit dem armen Geschöpfe zu Gott beten, daß er sie erlösen möge.“
Der alte Mann war weich geworden, es standen ihm Thränen in den Augen. „Ob es geschehen ist? Ob sie erlöst sein mag?“ sagte er dann. Und dann hatte mehr die Weichheit, als die Ungeduld ihm das Herz geöffnet.
„Herr,“ sagte er, „wenn Sie mich nicht verrathen wollen, und Sie werden es nicht, um der armen Schwester Marcella willen nicht – und so ein fremder Herr kommt ja überall in der Welt herum, und da könnten Sie auch von ihr etwas hören, und ich erführe es vielleicht wieder – ich sagte Ihnen vorhin, daß man von der Schwester Marcella gar keine Spur mehr gefunden habe. Sie können doch noch etwas von ihr erfahren, aber Sie dürfen es keinem Menschen verrathen; die Priorin ist streng, und die braven Leute könnten noch jetzt, nach sieben Jahren, Ungemach haben. Wenn es morgen früh hell ist, dann werden Sie da oben auf dem Berge, oberhalb des Klosters, zwischen drei großen Platanen, ein kleines, einsames Haus sehen; dahin gehen Sie, dort werden Sie eine alte Frau in dem Hause finden, welche allein da mit ihrem alten, preßhaften Manne wohnt; Frau Marthe nennen Sie sie, und bringen Sie ihr einen Gruß von mir, dem alten Siedler aus Diessenhofen, und fragen Sie sie nach der Schwester Marcella und dem verwundeten Flüchtling, und sie wird Ihnen dann Mancherlei zu erzählen wissen. Aber verrathen Sie nichts, Herr; und nun, Herr, es ist längst Mitternacht vorbei, und Sie werden sich nach Ruhe sehnen. Soll ich Sie nach Hause fahren?“
„Fahrt mich nach Hause.“
Er ruderte zum Ufer, und ich ging in meinen Gasthof. Ich mochte mich wohl nach Ruhe sehnen, aber finden konnte ich sie nicht. Die unglückliche, schöne, junge, fremde Schwester Marcella stand vor mir, und mit ihr der unglückliche, junge, verwundete und verfolgte Rebellenofficier, und wie ein Blitz fuhr es mir durch den Kopf: wer konnte es nach allen über ihn laufenden Erzählungen anders sein als – Alexander Roth? Ich mußte Gewißheit haben.
Ich verließ früh am andern Morgen Diessenhofen und ging oberhalb des Klosters den Berg hinauf. Ich sah schon von weitem da oben zwischen drei Platanen ein kleines, unscheinbares, hölzernes Haus und lenkte meine Schritte dahin. Der Berg war mit dichter Waldung bedeckt, und immer durch sie hin führte der Weg nach oben, bis zu dem kleinen Hause. Das Haus lag still, versteckt da, mitten in dem Walde; die drei Platanen ragten hoch darüber hinweg; ein kleines Gärtchen umgab es. Ich traf die alte Frau, die es bewohnte, sie war noch rüstig, sie pflegte ihren Mann, der krank im Bette lag.
„Ich komme von dem alten Siedler unten aus der Stadt. Er läßt Sie grüßen.“
Sie sah mich mißtrauisch an.
„Er läßt Ihnen sagen, Frau Marthe, Sie könnten mir Alles erzählen.“
„Was sollte ich Ihnen erzählen?“
„Von dem verwundeten badischen Officier –“
„Ich kenne keinen badischen Officier.“
„Und von der Schwester Marcella.“
„Der alte Siedler ist ein Schwätzer, der nicht weiß, was er sagt.“
„Ich komme auch von dem Officier selbst, dem Herrn Roth.“
[226] Es war den Worten nach wahr, dem Sinne nach unwahr. Aber es brachte mich schnell zu meinem Ziele, wie ich der eben so einfachen, wie zähen Frau gegenüber erwartet hatte.
„Was macht der arme Herr?“ fragte sie rasch und neugierig, und vielleicht nur zum dritten Theile überrascht.
„Er hat zu leben –“
„Ja, ja.“
„Aber er ist still und traurig, wie immer.“
„Ja, ja,“ sagte sie noch einmal.
„So war er auch von Ihnen fortgegangen?“ fragte ich sie.
„Denn er war ja wohl hier bei Ihnen?“
„Er war hier bei mir. Und so ging er von hier fort. Ich mußte weinen, als wenn er mein eigener Sohn gewesen wäre.“
Sie war nur noch ganz Mitleid. Der alte Siedler war kein Schwätzer mehr. Sie erzählte mir Alles, was sie wußte, und doch für mich so wenig. Durch die Sturmglocke des Klosters war sie in jener Nacht vor sieben Jahren geweckt worden. Fast in derselben Minute hatte sie leise Stimmen und Schritte draußen an ihrem Fenster gehört. Wer konnte um Mitternacht, während es gerade unten stürmte, da oben mitten im Walde, an dem kleinen, einsamen Hause etwas zu suchen haben? Sie war aufgestanden und öffnete ein Fenster. Es war eine helle Sommernacht. Vor dem Fenster stand eine Nonne, in ihrer vollen grauen und weißen Klosterkleidung. Die alte Marthe wußte, warum auf dem Kloster die Sturmglocke läutete.
„Um Gotteswillen, was wollen Sie hier? Machen Sie, daß Sie fortkommen!“ rief sie der Nonne zu.
„Frau,“ sagte die Nonne, „bei mir ist ein Sterbender; nehmen Sie den auf, um Gottes Barmherzigkeit willen!“
Die alte Marthe war eine brave Frau. Sie war schon von dem Fenster fort; sie sprach drei Worte mit ihrem Manne, der auch damals krank war, machte die Hausthür auf und trat aus dem Hause.
Auf dem Moose, an einer der Platanen neben dem Hause, lag ein kranker Mensch. Die Nonne hatte sich über ihn gebeugt und stützte ihm das Haupt, das weiß war, wie das weiße Kopftuch der Nonne. Die Augen des Kranken waren geschlossen.
„Wasser!“ bat die Nonne. „Schnell, er stirbt sonst.“
Die Frau holte Wasser. Sie besprengten und wuschen den Kranken damit; er erwachte aus seiner tiefen Ohnmacht; aber nur auf einen Augenblick. Er sah die beiden Frauen an, die alte Marthe verwundert, dann die Nonne, als wenn er sie, wie die Alte sagte, vor Dankbarkeit verzehren wollte. Es hatte doch noch etwas Anderes, so ganz Besonderes in dem Blicke gelegen, meinte sie; aber es war ihr erst später aufgefallen, nachdem sie auch Anderes gehört und gesehen hatte. Dann aber waren dem Kranken die Augen wieder zugefallen, und er war in dem Arme der Nonne eingeschlafen.
Die Nonne hatte unterdeß der Alten erzählt. „Der arme Mensch,“ hatte sie gesagt, „kann nicht weiter. Sie werden ihn nicht verstoßen. So müssen Sie von ihm wissen, wer er ist und wie es mit ihm ist. Er hat mit drüben in der Revolution gekämpft; der Fuß wurde ihm zerschossen, und er mußte zurückbleiben und sich verbergen. Die Soldaten machten Jagd auf ihn, wie auf ein wildes Thier. Den braven Bauern, die ihn verbargen, war es endlich heute gelungen, ihn aus dem Lande zu schaffen. Aber ihr Unternehmen mußte verrathen sein. Auf dem Rheine, als sie schon nahe an dem Schweizer Ufer waren, wurden sie von Soldaten zu Schiffe verfolgt. Wie durch ein Wunder entkamen sie. Ich war dazu gekommen und konnte ihn nicht verlassen. Die Leute, die ihn gebracht hatten, mußten weiter; auch er, der Verwundete, durfte nicht dableiben. So habe ich ihn hergebracht. Die Wunde an seinem Fuße war ihm unterwegs wieder aufgegangen. Unter unsäglichen Schmerzen, unter unsäglichen Mühen ist er bis hier oben gekommen. Sie verstoßen ihn nicht, gute Frau?“
„Nein, nein,“ sagte die Alte.
„Und auch mich nicht? Ich kann nicht in das Kloster zurück. Ich kann nicht.“
„Auch Sie sollen hier bleiben. Sicher sind Sie hier oben. Es sucht Sie kein Mensch bei uns.“
Der Verwundete und die Nonne wurden in das kleine Haus geschafft. Dem Verwundeten wurde ein Lager bereitet. Die Nonne wurde sein Arzt und seine Pflegerin. Sie war ihm noch mehr, und das war sie ihm nicht erst jetzt geworden, meinte die alte Frau. Sie hatten sich schon früher gekannt; es mußte schon vor längerer Zeit gewesen sein. Sie blieben Beide, manche Wochen lang, bis der Verwundete so weit genesen war, daß er keiner fremden Hülfe weiter bedurfte. Zu dem einsamen, versteckten, kleinen Hause kam Niemand. Der verschwundenen und verfolgten Schwester Marcella war dort nicht einmal nachgefragt worden.
Die Wiedergenesung des Kranken hatte bald begonnen; unter der Pflege, die er hatte, mußte es so sein. Er hätte in der Welt keine liebevollere, treuere, sorgsamere Pflegerin finden können, als die Nonne ihm war. Sie wich bei Tage nicht von ihm, sie schlief des Nachts an der Erde zu den Füßen seines Lagers. Sie hatte ärztliche Kenntnisse und Geschicklichkeit; sie besorgte den Verband seiner Wunde, sie wußte ihm aus den Kräutern des Waldes wohlthuenden und stärkenden Trank zu bereiten. Sie hatte der alten Marthe Manches erzählt, Manches aber auch nicht, und die gutmüthige Alte hatte ihr Schweigen und ihr Geheimniß geehrt. Sie hatte auch erzählt, wie der Verwundete gerettet war. Sie selbst war seine Retterin gewesen.
Sie war nicht glücklich da unten im Kloster gewesen; sie hatte dort nicht den Frieden und die Ruhe gefunden, die sie zu finden gehofft hatte und deren ihr Herz doch so sehr bedürfen mochte. Bei Tage hatte sie den Nonnen nicht zeigen dürfen, wie unglücklich sie war; aber wenn sie des Nachts allein in ihrer Zelle war, dann konnte, dann mußte sie sich ausweinen. Der Schlaf kam nicht zu ihr; sie mußte von ihrem Lager aufstehen und dem dunklen Nachthimmel, dem Wasser, das unter ihrem Fenster vorüber rauschte, den Felsen, die vom andern Ufer her zu ihr herübersahen, ihr Leid, ihr Weh klagen.
So hatte sie auch in jener Nacht gestanden, da der Verwundete in dem kleinen Nachen von dem jenseitigen Ufer hergekommen war. Auf einmal hatte sie gesehen, wie der Nachen verfolgt wurde. Die beiden Ruderer hatten mit übermenschlichen Kräften gearbeitet, um den Verfolgern zu entkommen. Sie waren dicht an das Kloster heran, dann stromaufwärts gefahren. Da war ihr ein Gedanke der Rettung für die armen Leute gekommen, die sich selbst wohl schon für verloren hielten. Sie mußte wagen, viel, Alles, und sie that es. Sie verließ ihre Zelle und eilte zu dem Gange, der im Innern des Klosters zu der Kirche führte. Die Thür zu dem Chor der Nonnen war nur von innen verriegelt. Sie öffnete sie und kam auf das Chor. Eine verborgene Treppe führte von da hinunter zu einer Seitencapelle der Kirche. Die Capelle stieß an den Garten des Klosters. Ein Fenster der Capelle führte etwa fünf Fuß hoch in den Garten. Sie kletterte zu dem Fenster hinauf, öffnete es und sprang in den Garten. In dem Garten war ein Teich, hinten an der Mauer, durch ein Pförtchen in derselben in unmittelbarer Verbindung mit dem Rhein, der an der andern Seite der Mauer floß. Am Ufer des Teiches lag eine kleine Gondel; sie sprang hinein, löste dieselbe ab, ruderte zu dem Pförtchen, das gleichfalls nur von innen verriegelt war, und riß es auf.
Sie war gerade zur rechten Zeit gekommen. Eine halbe Minute später langten die Verfolgten an. Die Verfolger waren ihnen auf den Fersen.
„Hierher!“ rief sie.
Die gewandten Ruderer warfen den Nachen herum; das schmale Fahrzeug flog durch das Pförtchen. Die Nonne drückte die Thür hinter ihm zu. Die Verfolger draußen mußten wie vor einem plötzlichen Zauber stehen. Die Verfolgten waren gerettet.
Auch weiter. Die beiden Ruderer mußten ihr helfen, den Verwundeten zu führen; sie kehrte mit ihnen zu der Capelle zurück. Der Verwundete wurde durch das Fenster hineingeschoben. Man kam in die Kirche. Die Nonne, die Novize, die Gehülfin der Glöcknerin, wußte, wo die Schlüssel zu den Kirchthüren waren. Sie schloß eine auf. Durch Dunkel und Stille der Nacht kamen sie in’s Freie, in den Wald, zu dem kleinen, verborgenen Hause. Die beiden Ruderer hatte sie am Saume des Waldes fortgeschickt, um nicht verrathen zu werden, wohin sie ging. Das kleine Haus hatte sie vom Kloster aus oft genug gesehen.
Den fremden Kahn mußten die Nonnen in der folgenden Nacht still und heimlich in den Rhein zurückgebracht haben. Nirgends ist man verschwiegener und muß man oft verschwiegener sein, als in den Klöstern.
Die Schwester Marcella war freilich auch außerhalb des Klosters verschwiegen gewesen, und sie mochte auch wohl ihre Gründe [227] dazu gehabt haben. War doch aber auch der Verwundete verschwiegen und verschlossen gewesen. Die Beiden mußten sich schon früher gekannt haben. Sie hatten es sorgfältig zu verbergen gesucht und gewußt, wenn die alte Frau bei ihnen war. Wenn sie sich aber allein glaubten, hatten sie es desto mehr verrathen. Die alte Frau hatte ihnen nie gezeigt, daß sie etwas gehört habe, aus Gutmüthigkeit nicht, aber auch nicht aus Neugierde. Schon in den ersten Nächten hatten sie leise mit einander geflüstert. Der Kranke hatte wie bittend zu seiner schönen, jungen Pflegerin gesprochen. Die Nonne hatte ihn nur zum Schweigen ermahnt, da das Sprechen ihn angreife, ihm schade. In den Nächten darauf hatte sie seinen Bitten diese Ermahnung allein nicht mehr entgegensetzen können. Sie hatte ihn dann durch andere Vorstellungen zu beruhigen gesucht. Durch welche, das hatte die Frau nicht einmal errathen können, wie auch der Gegenstand seiner Bitten ihr immer fremd geblieben war. Sie hatten Beide zu leise mit einander gesprochen. Nur das hatte sie mehrere Male gehört, daß er sie Ida genannt hatte, und daß sie, wenn er gar nicht nachgegeben, zuletzt in fast lautes Weinen ausgebrochen war. Wenn er dann ruhig geworden und eingeschlafen war, so war sie noch lange in dem Kämmerchen umhergegangen, und die alte Frau hatte hören können, wie sie geseufzt und geweint hatte.
Später, als er auf dem entschiedenen Wege der Genesung war, hatte die Frau dann auch Mancherlei gesehen. Er hatte sich so viel als möglich im Freien aufhalten müssen; die frische Luft des Waldes, die Sonnenwärme thaten ihm wohl, stärkten ihn. Er mußte nach und nach anfangen, den verwundeten Fuß wieder zu gebrauchen. Die Nonne hatte ihn in das Gärtchen neben dem Hause geführt; auf ihren Arm gestützt, war er unter den Bäumen umhergegangen. An ihrer Seite hatte er auf einer Bank vor dem Hause, auf einem Baumstumpf unter den Bäumen ausgeruht. Dann hatten sie auch oft geglaubt, daß sie allein seien, daß keines Menschen Auge sie sehen, kein Ohr ihre Worte vernehmen könne. Sie hatten auch wohl gar nicht daran gedacht, sie hatten sich vergessen. Denn wie ein Paar, das zusammengehörte, das schon lange zusammengehört hatte, waren sie der alten Frau vorgekommen, der schöne, junge und tapfere verwundete Officier, und die schöne, junge Nonne, die nicht mehr die Nonnenkleidung trug, der die alte Frau drüben überm Rhein, damit es diesseits nicht herauskomme, weltliche Kleidung hatte kaufen müssen, und deren wunderbare Schönheit nun erst recht hervorgetreten war. Aber auch daß sie nicht zusammengehören sollten, nicht zusammengehören durften, hatte sie leicht wahrnehmen können. Wenn sie sich vergaßen – und sie vergaßen sich so oft, wie sie allein beisammen waren – dann hatten sich auch schon ihre Blicke gefunden und sie konnten lange sich nicht wieder trennen; die Augen des jungen Mannes hatten zuerst die Augen des jungen Mädchens aufgesucht; sie hatte sie noch niedergeschlagen gehalten, traurig, schmerzlich; er hatte ihr heimliche Worte zugeflüstert; ihre blassen Wangen waren von einer feinen Röthe belebt worden; sie hatte mit sich gekämpft; dann hatte sie nicht mehr widerstehen können; ihre Augen hatten auch die seinigen gefunden; sie hatten sich in einander versenkt. Wie die Augen, hatten sich die Hände gefunden. Sie hatten beisammen gesessen, wie – „wie ein Paar Brautleute,“ sagte die alte Frau, „die sich über Alles in der Welt lieb haben.“
Aber plötzlich hatten sie sich von einander losgerissen, und da war sie, das junge Mädchen, die Nonne, die Erste gewesen. Erschrocken, heftig hatte sie ihre Hände aus den seinigen gerissen, ihre Wangen waren wieder tief blaß geworden, mit ihren Augen hatte sie vor sich hingestarrt, als wenn sie das Unglück vor sich sehe und den Blick nicht davon abwenden könne. Dann hatte er sie gebeten, gefleht. „Ida!“ hatte er gerufen, daß es der horchenden alten Frau in das Herz geschnitten hatte. Aber sie hatte sich von ihm abgewendet und das Gesicht mit ihren Händen bedeckt, und zwischen den Fingern hatte man ihre Thränen herunter fließen sehen, und wenn er dann immer weiter und weiter bittend und flehend zu ihr gesprochen, dann hatte sie zuletzt laut weinend ausrufen müssen: „Alexander, Alexander!“
Sie hatte ihn dann in das Haus zurückgeführt, in sein Kämmerchen, auf sein Lager, und sie selbst war in’s Freie zurückgekehrt und in den Wald gegangen, tief hinein, wohl um sich da, fern von aller Welt, so recht ausweinen zu können. Da war sie bis zum Abend geblieben, wenn der Kranke sich schon zur Nachtruhe begeben hatte. Schon nach den ersten Tagen, da der Verwundete nicht mehr ihrer unausgesetzten Pflege und Sorge bedurfte, hatte sie des Nachts mit der alten Frau deren Kammer getheilt. Lange hatte jener Zustand des Beisammenseins der Beiden nicht mehr dauern können. Das hatte die alte Frau, das hatten die Beiden selbst eingesehen. Aber wie sollte er enden? Sie hatten auch Alle sich davor gefürchtet. Das Ende sollte bald kommen.
Sie waren bis zur sinkenden Sonne zusammen im Walde gewesen. Als sie des Nachmittags ausgingen, hatte der Verwundete zum ersten Male ganz allein, ohne ihre Hülfe wieder gehen können. Bei ihrer Rückkehr hatte er sich doch wieder auf ihren Arm stützen müssen; sie waren wohl viel und weit gegangen. Aber sie hatten auch anders ausgesehen, als sonst. Ueber seinem Gesichte lag ein seliges Glück ausgebreitet, und sie hatte, wenn sie zu ihm aufblickte, ein inniges, stilles und beglückendes Lächeln für ihn gehabt.
„Gott sei Preis und Dank, die sind endlich doch noch einig geworden!“ hatte es laut in dem Herzen der alten Frau gerufen.
Sie hatte zwar, wenn das Mädchen das Gesicht von dem Verwundeten abgewendet hielt, in ihren Augen einen so sonderbar nachdenkenden, träumenden Blick bemerkt; aber sie hatte nicht darauf geachtet. Wenn man nach so langer Zeit und nach so manchem Zögern und Bedenken zuletzt einig wird, dann kommen noch so allerlei Gedanken hinterher; das muß aber sein. So hatte die alte Frau gedacht.
Die beiden jungen Leute hatten sich zur Nacht getrennt. Sie hatten sich herzlich die Hand gedrückt.
„Gute Nacht, Ida!“ hatte er geflüstert, leise, aber doch lauter, als sonst. Er hatte sich weniger Zwang angethan. Er hatte so unendlich glücklich ausgesehen.
„Gute Nacht,“ hatte sie zurückgeflüstert.
„Sage Alexander!“ hatte er gebeten.
„Gute Nacht, Alexander!“
„Aber, Ida, Du zitterst!“ ruft er verwundert.
„Nein, nein!“ Sie reißt ihre Hand aus der seinigen. Er will sie wieder ergreifen. Sie wehrt ihn zurück.
„Du bist krank, Du bedarfst der Ruhe.“
Er geht in seine Kammer.
„Bis morgen denn!“
„Bis morgen!“
Sie muß das Haus verlassen und setzt sich auf eine Bank vor der Thür. Dort saß sie lange, bis in die Nacht hinein. Die alte Frau horchte einige Male nach ihr hin. Sie hörte sie schwer seufzen. Gegen Mitternacht ging sie zu ihr.
„Wollen Sie nicht schlafen kommen, Mamsell? Es ist schon spät.“
Sie war still aufgestanden und der Frau in das Haus gefolgt. Die Frau wollte die Hausthür verschließen.
„Lassen Sie die Thür offen,“ bat sie.
„Wozu?“
„Sie werden es erfahren.“
Sie gingen zusammen in die Kammer, die sie mit der Frau theilte. Dort suchte sie die wenigen Sachen zusammen, die sie hatte. Es waren nur ein paar Kleidungsstücke, die sie gerade nicht trug.
„Was machen Sie da, Mamsell?“ fragte die Frau.
„Still, still, Frau Marthe!“
Sie war schon fertig.
„Gehen wir vor die Thür, Frau Marthe.“
Sie gingen hinaus vor das Haus.
„Kind, Sie wollen fort!“ rief die alte Frau.
„Ich muß fort.“
„Sie wollen auch den kranken Herrn verlassen?“
„Ich muß! Ich muß ihn –!“
„Er wird den Tod davon haben!“
Sie hatte draußen heftig weinen müssen. Aber nur einen Augenblick lang, dann hatte sie sich gefaßt.
„Nein,“ antwortete sie der Frau Marthe ruhig. „Er wird nicht sterben. Er hat ein starkes Herz, und sein Herz schlägt für die Ehre. Sagen Sie ihm das, Frau Marthe. Sagen Sie es ihm, ich ließe ihn bitten, sich sein braves und starkes Herz zu bewahren und an seine edle und reine Ehre zu denken. Leben Sie wohl, Frau Marthe. Haben Sie Dank, tausend Dank für Alles. Gott sei mit Ihnen, mit ihm.“
Sie riß sich auch von der alten Frau los und wollte fortstürzen.
[228] „Trösten Sie ihn,“ sagte sie noch zurück.
„Werden Sie wieder in’s Kloster gehen?“ rief die Frau ihr noch nach.
„Nein, nein!“
Sie war in der Dunkelheit der Mitternacht und des Waldes verschwunden. „Ich habe sie nicht wiedergesehen,“ sagte die Alte.
„Und der Verwundete?“ fragte ich.
„O, Herr, verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen das erzähle! Als ich dem armen Menschen am anderen Morgen die Nachricht bringen mußte – nein, nein, das Herz will mir noch zerspringen, wenn ich daran denke. Ich meinte, es wäre auf der Stelle sein Tod gewesen. Er wollte seine Wunden wieder aufreißen, er wollte sterben. Er wollte ihr nach, über den Rhein zurück, sich dem Feinde ausliefern, damit sie ihn todtschießen möchten. In meinem Leben werde ich den Jammer nicht vergessen. Ich mußte den armen Herrn mit Gewalt bei mir zurückhalten. Dann wollte er nur Eins von mir hören, die letzten Worte, die sie mir für ihn zurückgelassen hatte. Drei Tage war er ohne Entschluß.
„Sie ist doch das edelste, das reinste Herz!“ sagte er zuletzt.
Am vierten Tage ging er von uns. Er fuhr mit der Post nach Zürich.
Wenn ich in Noth käme, sagte er beim Abschiede zu mir, oder wenn ich von der Verschwundenen wieder etwas erführe, solle ich nach Zürich an ihn schreiben lassen, an Alexander Roth; der Brief werde ihn schon finden. Er war ein braver und freigebiger Herr.“
„Sie haben von der Verschwundenen nichts wieder erfahren?“ fragte ich sie noch.
„Nein. Ich bin auch, Gott Lob, noch nicht in Noth gekommen.“ –
Das war es, was ich im Sommer 1856 über Alexander Roth erfahren hatte. Es war, wie ich schon sagte, wenig, und doch, wie viel! Er hatte nie über das Abenteuer gesprochen. Keiner von seinen Bekannten hatte jemals von ihm nur einen der Umstände erfahren, unter denen er im Jahre 1849 war gerettet worden. Ich behielt die Mittheilungen, die mir über ihn geworden waren, für mich, und gab auch ihm nicht einmal eine Andeutung davon. Sein Geheimniß, das Geheimniß des Unglücks eines braven, edlen Mannes mußte mir heilig sein. Ein anderer Zufall sollte mir einige Zeit nachher einen weiteren Blick in sein früheres Leben gewähren, keinen viel tieferen und zudem einen nicht völlig sicheren.
Ein Mord, an der Schweizer Grenze verübt, hatte, auch noch in seinen Folgen, ein ungewöhnliches Aufsehen erregt. Ein reicher Gutsbesitzer wohnte in der Nähe einer lebhaften Stadt, kaum zehn Minuten von dem Stadtthore entfernt. Der Weg von dem Thore zu seinem Gute war die ersten fünf Minuten lang die gewöhnliche Landstraße; dann zog er sich von dieser seitab zwischen Ackerfeldern weiter, von denen er meist durch Zäune und Hecken getrennt war. Der Gutsbesitzer ging jeden Tag gegen Abend zur Stadt in eine Casinogesellschaft. Er blieb dort bis um oder nach zehn Uhr, so daß er regelmäßig zwischen zehn und elf Uhr in der Nacht nach Hause zurückkehrte. Er ging zu Fuße, immer allein, ohne Waffen. Er war ein kräftiger, rüstiger Mann, der keine Furcht kannte. So war es seit Jahren gewesen. In einer Nacht kam er nicht nach Hause zurück. Die Seinigen hatten bis Mitternacht auf ihn gewartet. Er wurde dann gesucht. Man fand nur seine Leiche.
Nachdem man lange vergebens nach der Spur des Mörders geforscht, ward endlich ein Metzger verhaftet, der vor Jahren gegen den Ermordeten bei Gelegenheit eines verweigerten Darlehns laut Rache geschworen hatte und in den Tagen des Mordes verschiedene Male in der Stadt gesehen worden war, später auch ungewöhnlich viel Geld gezeigt hatte. In der Untersuchung verwickelte er sich in Widersprüche, die ihn schwer gravirten, leugnete aber fortwährend die That. Endlich wurde man von seiner Schuld überzeugt, als man noch ermittelte, daß er am Tage nach dem Morde in einem benachbarten Orte in einem Wirthshause an zwei hausirende fremde Juden eine goldene Taschenuhr verkauft hatte, die der allerdings sehr unvollständigen Beschreibung nach die des Gemordeten war. Verschiedene Zeugenaussagen sprachen außerdem gegen ihn, und die Geschwornen erklärten ihn schließlich für schuldig, und das Gericht verurtheilte ihn zum Tode. Er wurde auch wirklich hingerichtet.
Ein Vierteljahr später ergab es sich, daß er unschuldig gewesen war. Zwei Soldaten, wegen liederlichen, unverbesserlichen Lebenswandels von einem Schweizerregiment in Neapel fortgejagt, hatten sich lange vagabundirend im Lande herumgetrieben und von Diebereien und Räubereien gelebt, bis sie nach einem an einer Frau verübten Raubmorde gefangen wurden. Bei einem von ihnen wurde die Börse gefunden, die der ermordete Gutsbesitzer zur Zeit seines Todes bei sich getragen. Sie wurden über den Mord befragt; sie hatten für den Mord an der Frau ohnehin das Leben verwirkt; der Mord des Gutsbesitzers konnte ihre Strafe nicht erhöhen. Sie gestanden ihn ein. Alle Umstände, die sie angaben, stimmten; selbst die geraubte Uhr, die sie verkauft hatten, wurde wieder herbeigeschafft. Sie waren die wahren Mörder. Der Fleischer war unschuldig gewesen und unschuldig hingerichtet worden.
Es wurde überall von dem entsetzlichen Unglücke gesprochen. Ein Justizmord, der durch eine Sorglosigkeit der Gerichte oder auch durch einen Zufall herbeigeführt ist, wird überall und zu allen Zeiten von dem Volke für das beklagenswertheste Unglück angesehen. Die Haare sträuben sich einem davor. Er kann Jeden von uns treffen, Niemand kann sich vor ihm retten. An absichtliche, geflissentliche Justizmorde wird das Volk von despotischen Machthabern und schlechten Richtern mitunter gewöhnt.
Da, wo die Vereinigten Staaten in ihrer nördlichen Ausdehnung an Canada stoßen, wird die Grenze durch eine Kette von ausgedehnten, mit einander verbundenen Landseen gebildet, welche sich bis in völlig wildes, nur von wenigen, halb verkommenen Indianerstämmen bewohntes Land hinauf erstrecken und deren Verbindung durch einzelne Forts beherrscht wird. Im Sommer, wenn diese azurblauen Wasserflächen durch Fahrzeuge aller Art, vom sturmfesten Dampfschiffe bis zum Segelboote herab, belebt sind, wenn die grünen Ufer mit ihren mannigfachen sonnenbestrahlten Scenerien sich wie ein glänzender Gürtel darum her ziehen, bieten sich überall die entzückendsten Bilder; im Winter jedoch, wenn sich die Eisdecke oft Hunderte von (englischen) Meilen über das ruhige Wasser ausbreitet, wenn der fallende Schnee das gleiche weiße Leichentuch über Land und See legt, kann es, besonders in der nördlicheren Hälfte dieses Seegebiets, kaum ein trostloseres Bild völliger Oede geben. Die Schifffahrt, welche fast die einzige Verbindung zwischen den Uferplätzen sowohl, als den zerstreuten nördlichen Ansiedelungen und der bewohnten Welt bildet, ist gänzlich unterbrochen, alles äußere Leben hat sich in die kleinen versteckten Punkte, die Jedes seine Heimath nennt, zurückgezogen, und selbst der Indianer mag nur selten seine halb in die Erde gegrabene Winterhütte verlassen, in welcher er neben seinem Feuer und dem aufgehäuften Vorrath von Lebensmitteln die Zeit des Schnees und der Stürme verbringt.
Und da, wo im Norden diese Einsamkeit, diese Abgeschlossenheit von allem Leben in ihrer ganzen Traurigkeit hervortritt, stehen einzelne Forts mit ihrer kleinen Besatzung, welche den langen Winter über vollkommen abgeschnitten von der übrigen Welt sein würden, wenn nicht eine eben so eigenthümliche als gefahrreiche Verbindung mit den bewohnten Plätzen durch die Ver. Staaten Hundepost geschaffen worden wäre. Diese besteht meist aus zwei leichten Schlitten, von je zwei oder drei kräftigen Hunden gezogen, wofür eine Art Abkömmlinge der Eskimo-Hunde die gesuchtesten sind, und den beiden Postläufern – oft ein Weißer und ein Indianer, oft auch nur zwei zuverlässige Männer der rothen Race. Es bedarf des ganzen angeborenen Scharfsinns und der Ausdauer dieser Halbwilden, verbunden mit dem Instinct der Hunde, um ohne Irren den Weg über die endlose Schnee- und Eiswüste zu finden und den plötzlich hereinbrechenden, oft kaum erst geahnten Gefahren einer solchen Reise zu begegnen.
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Ein kleiner Vorrath von trockenen Lebensmitteln, das Gewehr mit der nöthigen Munition und die Axt bilden die ganze Ausrüstung des Postläufers, welche ihren Platz auf dem Schlitten neben dem Briefsacke findet – der Weiße, welcher sich dem Geschäfte unterzieht, trägt wohl außerdem einen Taschencompaß bei sich – die Hunde haben eine derbe Mahlzeit von rohem Fleische erhalten, und so treten die beiden Männer, nur zum Nöthigsten gegen die Kälte verwahrt, ihren oft 200 engl. Meilen langen Marsch über das Eis des Sees an. –
Unbewölkt spannt sich der Himmel über die endlose weiße Fläche, die Hunde traben mit ihrer nachgezogenen Last lustig über den zu einer harten Kruste gefrorenen Schnee, drei Tage sind die Reisenden bereits unterwegs und haben sich bis jetzt immer soweit in der Nähe des Ufers gehalten, als es das durch frühere Stürme gebrochene und zu ganzen Klippenbergen über einander geschobene Eis gestattet; die Nächte sind im Schutze eines Fichtengebüsches, auf einer dicken Lage abgehauener junger Nadeläste zwischen zwei nachhaltigen Feuern verbracht worden; jetzt aber trennt sie eine weite, tief in’s Land gehende Bai vom Ufer, und sie bedürfen eines vollen Tagemarsches, um die erste wieder herantretende Landspitze zu erreichen. Der Weiße zieht seinen Compaß, um die genaue Richtung aufzunehmen, und nach einer Stunde umgiebt sie nichts, als die ebene unabsehbare Eisfläche und der helle Himmel, welchen der Indianer jetzt mit zusammengezogenen Augenbrauen zu mustern beginnt. Es liegt etwas in der Luft und in der Färbung des Horizonts, das ihm nicht gefällt. „Müssen große Schritte machen, wenn wir auf geradem Wege bleiben sollen!“ sagt er nach einer Weile der Beobachtung. – „So halten wir uns dazu, soviel wir können!“ erwidert der Andere nach einem halben Kopfschütteln; er kann nirgends ein übeles Zeichen für eine Aenderung des Wetters entdecken, aber er kennt seinen Mann, und schweigend, mit erweiterten Schritten geht die Reise weiter.
Am Mittage hat sich das helle Blau des Himmels in ein fahles Grau verwandelt, in welchem die Sonne wie von einem dicken Nebel umzogen steht; der Indianer geht jetzt mit beschleunigten Schritten vor dem Kopfe des ersten Hundes, der dicht an seinen Fersen bleibt, und läßt das besorgte Auge nicht von dem sich mehr und mehr verdüsternden Horizonte; der Weiße hinter ihm zieht alle Viertelstunden seinen Compaß zu Rathe, aber die Richtung des Voraneilenden ist so wandellos schnurgerade, wie die des abgeschossenen Pfeils. Eine neue Stunde ist vergangen, und von der Sonne ist nichts mehr zu entdecken; ein leiser, kaum bemerkbarer Luftzug hat sich erhoben, und plötzlich bleibt der Indianer stehen, seinem Gefährten die Hand hinstreckend – eine feine Schneeflocke sitzt darauf. Mit einem bedeutungsvollen Kopfnicken nimmt er seinen Weg wieder auf und verfällt bald in einen eigenthümlichen, den Indianern eigenen Trab, die Hunde folgen so willig, als sage ihnen bereits der Instinct das Kommende, und der Weiße beschleunigt seinen Gang in gleicher Weise; Beide wissen jetzt, was ihnen bevorsteht, aber kein Wort fällt weiter darüber.
[230] Und von Viertelstunde zu Viertelstunde nimmt das Tageslicht mehr ab; obgleich der Anbruch des Abends noch fern ist, fällt der Schnee dichter, zieht die Luft stärker, bis endlich der Wind sich zu einem brausenden Sturm verwandelt, der Schnee in wirbelnden Massen die nur noch mühsam vorwärts eilenden Wanderer umtobt, ihnen das Sehen fast unmöglich macht und die ängstlich arbeitenden Hunde mit ihren Schlitten zu begraben droht; eine Richtung festzuhalten ist nicht mehr möglich, die Luft scheint in einem einzigen, sinnebetäubenden Schneewirbel zu bestehen, die Kräfte ermatten in diesem fortwährenden Kampfe gegen die wildgewordenen Elemente, der trotzdem nur noch schrittweise ein Vorrücken ermöglicht – und dennoch liegt in einem ungeschwächten Vorwärts die einzige Aussicht auf Rettung; ein Schneesturm währt in ungeschwächter Kraft oft tagelang. Da hält der Indianer plötzlich seinen Gang an. „Ich weiß keine Richtung mehr!“ ruft er mit Anstrengung seinem kaum der Sinne noch mächtigen Begleiter zu; „die Hunde allein vermögen noch einen Weg zu finden; schlingt eine Leine an den Schlitten und dann mit ihnen!“ Der Weiße hat mehr errathen, als gehört, um was es sich handelt, und fast nur instinctmäßig folgt er dem Rathe; kaum findet sich aber der vorderste Leithund sich selbst überlassen, als er dem Sturm den Rücken dreht und so rasch, als es das Toben um ihn her gestattet, kräftig von seinen Nachfolgern unterstützt, mit dem Schlitten davon trabt; ihm nach eilt das andere Gespann, und von dem rückwärts stehenden Winde getrieben, folgen die Postläufer an der gefaßten Leine; ein eigenes Urtheil ist ihnen nicht mehr möglich, nur mechanisch thun die Beine ihre Schuldigkeit, Hören und Sehen hat in dem Brausen und den Schneewirbeln um sie her ein Ende genommen; aber sie fühlen nach langer Weile endlich, wie der Boden unter ihren Füßen Hindernisse bietet, sie fühlen an der Leine in ihrer Hand, wie der Schlitten Sprünge macht, die nur das zähe Hickoryholz auszuhalten vermag, und erkennen, daß sie sich auf dem gebrochenen, zu Klippen neu vereinigten Eise in der Ufernähe befinden müssen; die neuerwachte Hoffnung giebt ihnen neue Kraft, den Schwierigkeiten ihres Weges Rechenschaft zu tragen; noch sehen die geblendeten Augen nichts als halbdunkele Nacht um sich – da hält plötzlich der Schlitten, und zu gleicher Zeit scheint der Sturm in ihrer unmittelbaren Nähe nachzulassen. Nur mühsam aber und erst nach geraumer Weile nehmen die Augen die äußern Eindrücke wieder auf; vor sich erkennen sie endlich ein vom Sturme gepeitschtes Fichtengebüsch, in dessen Schutze die Hunde schnaufend, mit heraushängenden Zungen liegen, und die Männer wissen, daß ihr Leben für den Augenblick gerettet ist. Die treuen Thiere werden mit dem letzten Reste der Kraft ausgeschirrt, die Schlitten unter das dichte Nadeldach geschoben, und dann folgt eine Zeit der nothwendigsten Rast. Aber wie auch die Erschöpfung fast unbesieglich zum Schlafe drängt, sie muß überwunden werden, wenn nicht auf’s Neue der Tod mit sicherer Hand nach seinen kaum entronnenen Opfern greifen soll. Ein kleiner Raum innerhalb des Gebüsches wird von den jungen Fichtenstämmen gesäubert und mit den Zweigen derselben eine Art rings umlaufende Wand hergestellt, sowie ein dichtes Lager auf dem beschneiten Boden gebildet. Ein Feuer anzuzünden ist bei diesem Sturme unmöglich, und so werden die Hunde in das wohlverwahrte Versteck gerufen, um das Lager der Männer zu theilen und zur allgemeinen Erwärmung beizutragen. Bald beginnt es in dem geschützten, vom Sturme umtosten Raume behaglich zu werden, und Mensch wie Thier überläßt sich der nothwendigen Ruhe.
Aber fast drei Tage hat der Sturm gewährt, die Lebensmittel sind zum größten Theile aufgezehrt, ein drei Fuß tiefes Loch hat in das Eis des Sees gehauen werden müssen, um das nothwendige Wasser zu erlangen, ehe das sich aufklärende Wetter die Weiterreise erlaubt; erst als nach langem fruchtlosem Umherstreifen sich einige wilde Kaninchen als Jagdbeute gezeigt haben und damit der eingetretene Mangel ersetzt worden ist, wird der Weitermarsch aufgenommen.
Glücklich mögen nun trotz aller Gefahr die Postläufer sein, wenn der Schneesturm sie nur in dieser einfachen Gestalt überrascht, denn fast unausweichbar tritt ihnen der Tod entgegen, sobald eine milde Luft sich als Vorbote des Sturms einstellt. Dann beginnt sich plötzlich der See gegen die ihm aufgedrungene Eisfessel zu empören. Mit donnerähnlichem, weit über die Fläche hin hörbarem Krachen beginnt das Eis an den Ufern zu bersten und das Wasser in riesigen Spring- und Sturzwellen zu Tage zu lassen, allem Lebenden, das sich nicht bei Zeiten auf das feste Land gerettet, den Weg nach dem Ufer abschneidend. Immer weiter hinaus geräth die Eisdecke in Bewegung, den drängenden Wassern weichend; erst knallend und prasselnd in einzelne gewaltige Flächen zerreißend und dann in kleinere an einander zerschellende Stücke zerbröckelnd; mit der Schnelle des Vogels scheint nach dem ersten Signalschuß ein Theil des Sees es dem andern mitzutheilen, und nach Stunden ist die bis hierher unbewegliche todte Ebene ein wildes Chaos von Sturm, empörten Wogen und prasselnd gegeneinander schmetternden Eisschollen. Hier rettet den Postläufer nur die Nähe einer der wenigen Inseln, falls er diese noch vor gänzlichem Bruch des Eises erreichen kann; aber selbst wenn er das nackte Leben gerettet, ist er oft nicht im Stande, es sich auf dem unwirthlichen kleinen, oft von keinem lebenden Wesen bewohnten Terrain zu erhalten. Indessen gehen dem eintretenden Thauwetter stets so untrügliche Anzeichen voraus, daß der Indianer sich nie darin irren kann und fast stets noch Zeit behält, dem drohenden Untergange auszuweichen.
Von Carl Vogt in Genf.
Meine Herren!
Ein ungeheueres, meist geflügeltes Heer, dessen wechselnde Lebenszustände gewissermaßen beständig mit dem Herrn der Schöpfung im Kriege leben, soll uns in dieser und den folgenden Vorlesungen beschäftigen. Meist verhältnißmäßig klein und unscheinbar werden sie uns nicht sowohl als Individuen, denn als Massen gefährlich, und liefern eine neue Bestätigung des Satzes, daß der Einfluß der Thiere auf die tellurischen sowohl, wie auf die ökonomischen Verhältnisse der Erdoberfläche im Allgemeinen um so größer ist, je kleiner die Art selbst. Die mikroskopischen Infusionstierchen, die winzigen Wurzelfüßer, die unscheinbaren Polypen haben ganze Berge aufgebaut, während die gewaltigen Elephanten und Nashörner nur einige Knochen hinterlassen haben. Ganz so verhält es sich hier. Der Wildschaden, den Eber und Hirsche veranlassen, steht durchaus in keinem Verhältnisse zu den ungeheueren Verheerungen, welche Raupen, Fliegenmaden, Heuschrecken und ähnliches unscheinbares Gewürm dem Menschen zufügen können.
Unter Insecten verstehen wir heutzutage Gliederthiere mit drei wohlgesonderten Hauptabschnitten des Körpers: Kopf, Brust und Hinterleib, von denen jeder wieder aus mehreren Ringen zusammengesetzt ist und ganz besondere Functionen zeigt. Der Kopf trägt unter allen Umständen, bei dem ausgebildeten Insecte wenigstens, ein Paar Fühlhörner von mannigfaltiger Form und Größe, welche sowohl zum Tasten, als auch zum Riechen und vielleicht selbst zum Hören geeignet sind. Ferner finden sich am Kopfe die gewöhnlich zusammengesetzten Augen, die nur wenig ausgebildeten Insecten, wohl aber vielen Larven fehlen, und zu welchen sich häufig noch einzelne Punktaugen gesellen. Endlich sind an der Unterseite des Kopfes die in außerordentlicher Mannigfaltigkeit gestalteten Mundwerkzeuge aufgehängt, deren wir noch weiter zu gedenken haben werden.
Die Brust trägt die Bewegungswerkzeuge: auf der oberen Fläche ein oder zwei Paar Flügel, die auf den beiden hintern Brustringen befestigt sind; auf der unteren Fläche drei Paar Füße, nie mehr und nie weniger, deren Bau zu mannigfaltigen Unterscheidungsmerkmalen Veranlassung giebt.
[231] Im Hinterleibe endlich, der gewöhnlich aus neun Ringen zusammengesetzt erscheint, finden sich hauptsächlich die Organe des vegetativen Lebens: der Darmcanal, das Herz, die Absonderungs- und Geschlechtswerkzeuge. Der Hinterleib trägt keine gegliederten Anhänge, wie die beiden vorderen Körperabtheilungen, die zur Bewegung bestimmt sind, wohl aber häufig solche, die mit dem Fortpflanzungsgeschäfte in Verbindung stehen.
Es wäre sonach leicht, ein Insect von den beiden anderen großen Gruppen der Gliederthiere, den Krustern und den Spinnen, zu unterscheiden. Ist das Thier geflügelt, so ist es jedenfalls ein Insect; ist es ungeflügelt, so genügen die sechs Beine zur Unterscheidung von den Spinnen, welche deren acht besitzen, und der anhanglose Hinterleib und das Vorhandensein von Luftöffnungen, die zu einem verzweigten Luftröhrensysteme im Innern des Körpers führen, zur Unterscheidung von den Krustern.
Wir haben bisher nur von dem vollkommenen Insecte, dem Bilde (imago) oder der Fliege gesprochen, und in der That treten auch nur bei diesem die Unterscheidungszeichen in aller Schärfe hervor. Alle Insecten durchlaufen aber, ehe sie zu diesem Zustande der Vollkommenheit gelangen, verschiedene Zustände, die uns hier um so wichtiger sein müssen, als einige dieser Zustände es gerade sind, welche uns den meisten Schaden zufügen, und andere vorzugsweise zur Vertilgung der Art geeignet erscheinen. Bevor wir indessen diese Zustände näher in’s Auge fassen, möge es uns gestattet sein, noch einige Augenblicke bei dem Zustande des vollkommenen Insectes zu verweilen.
Bei der ungeheueren Mehrzahl der Insecten dauert dieser Zustand, in welchem allein das Fortpflanzungsgeschäft vorgenommen werden kann, verhältnißmäßig nur kurze Zeit; ja man könnte fast als allgemeines Gesetz aufstellen, daß das Insectenmännchen nur so lange lebt, bis es die Begattung vollzogen, das Weibchen, bis es für die Brut gesorgt hat. Ungemein viele Männchen nehmen während der kurzen Dauer ihres vollkommenen Zustandes gar keine Nahrung zu sich und erhalten ihr Leben einzig auf Kosten des während ihres Larvenzustandes angesammelten Stoffes; ja es giebt einige, deren Mundöffnung gänzlich verschlossen ist und keinerlei Aufnahme von Nahrungsmitteln gestattet. Wenn die Weibchen länger leben, wie z. B. das Bienenweibchen oder die Königin drei Jahre, so liegt der Grund eben darin, daß die Sorge für die Brut, das Ablegen von Eiern, erst mit diesem Zeitpunkte beendet ist. Im Ganzen aber sind diese Fälle nur seltene Ausnahmen, und bei dem großen Heere der Insecten gilt die Regel, daß ihre Erscheinungszeit auf wenige Tage oder Wochen, im höchsten Falle auf die Dauer eines Jahres beschränkt und deshalb auch in Folge der Ablaufszeit der verschiedenen Verwandlungszustände an gewisse Jahreszeiten gebunden ist.
Gewöhnlich erscheint das vollkommene Insect nur einmal während eines Jahres zu bestimmter Zeit, die nicht mehr wechselt, als die Erscheinungszeit der Knospen und Blüthen; in andern Fällen giebt es aber mehrfache Generationen innerhalb eines und desselben Jahres. Regel für die große Mehrzahl ist, daß der Entwickelungscyklus für alle verschiedenen Verwandlungszustände sich während der Dauer eines einzigen Jahres abspinnt. Häufig aber findet man auch, daß ein mehrjähriger Cyklus zur Abspinnung dieser Verwandlungen gehört. Nehmen wir ein Beispiel an dem allbekannten Maikäfer. Das vollkommene Insect erscheint nur einmal im Jahre, je nach der Strenge des Winters und dem Auftreten des Frühjahres oft schon im April, gewöhnlich erst im Mai. Das Männchen lebt nur wenige Tage, das Weibchen etwa vierzehn Tage, bis es für seine Eier gesorgt hat. Da aber nicht alle Maikäfer zu gleicher Zeit auskriechen, so zieht sich die Flugzeit über sechs Wochen, ja manchmal über zwei Monate hinaus. Der Maikäfer entwickelt sich aber nicht innerhalb eines Jahres; er lebt mehrere Jahre hindurch als Engerling unter der Erde, so daß z. B. die Nachkommen der Maikäfer, welche im Mai 1861 schwärmen, erst im Mai 1864 als Maikäfer wieder auf der Oberfläche erscheinen. Es stellt sich also ein Entwickelungscyklus von wenigstens drei Jahren heraus, und wenn im Jahre 1861 ein bedeutendes Flugjahr sein sollte, so ist es wahrscheinlich, daß im Jahre 1864 ebenfalls große Maikäferschaaren erscheinen werden; während die dazwischen liegenden Jahre durch weit geringere Schwärme sich kennzeichnen würden.
Das vollkommene Insect allein trägt Flügel, mit denen es sich in die Lüfte erheben kann, ein oder zwei Paare, je nach der Organisation der Ordnung, der es angehört. Doch finden sich auch hier Ausnahmen. Es giebt Insecten, welche ihrer ganzen übrigen Organisation nach zu geflügelten Ordnungen gehören, aber dennoch ihr ganzes Leben hindurch vollkommen ungeflügelt bleiben. Die Bettwanzen gehören unzweifelhaft zu der Ordnung der mit vier Flügeln versehenen Wanzen, und doch erhalten sie niemals und unter keinen Umständen, in keiner Periode ihres Lebens Flügel; die stets ungeflügelt bleibenden Flöhe gehören nicht minder, allen Zügen ihrer Organisation zufolge, zu den zweiflügeligen Mücken.
Auch unter den Geschlechtern herrschen Verschiedenheiten hinsichtlich der Anwesenheit der Flügel. Das Männchen besitzt stets die ausgebildeteren Bewegungswerkzeuge: es flattert umher, um das Weibchen aufzusuchen, das gewöhnlich schon um deswillen weit schwerfälliger erscheint, weil sein Leib mit Eiern vollgepfropft ist. Häufig fehlen dem Weibchen sogar die Flügel ganz, sodaß es einzig auf seine Füße als Bewegungsorgan angewiesen ist, während das Männchen im Gegentheile mit stattlichen Flügeln die Lüfte durchschneiden kann. So ist das bekannte Johanniswürmchen das ungeflügelte Weibchen eines kleinen Käfers; so ist das Weibchen des Forstspanners genöthigt, mit langen Stelzenbeinen die Bäume zu erklimmen, auf deren Knospen es seine Eier ablegen soll, während das Männchen vier große Schmetterlingsflügel trägt, mit denen es an kalten Herbstabenden umherflattert.
Sehen wir von diesen Anomalien und Ausnahmen ab, so bieten die Flügel nach Zahl, Form und Bildung so wesentliche Verschiedenheiten dar, daß sie füglich als wesentliches Unterscheidungsmerkmal der einzelnen Gruppen verwendet werden können, ja sogar von dem Vater der heutigen Naturgeschichte, von Linné, einzig verwendet wurden.
Nicht minder wichtig erscheinen die Mundtheile, welche von Fabricius im Gegensatze zu Linné zur Eintheilung der Insecten benutzt wurden. Es ist mir unmöglich, auf die Anordnung derselben näher einzugehen, so sehr auch der Gegenstand zu gründlicher Besprechung reizt; denn es giebt kaum ein Object der vergleichenden Naturforschung, welches so sehr wie dieses einen glänzenden Beweis für den Scharfsinn und die Beobachtungsgabe der Forscher lieferte. Es giebt Insecten mit kauenden und solche mit saugenden Mundtheilen; die Larven aller Insecten besitzen nur kauende Mundtheile, und durch die feinsten Untersuchungen ist nachgewiesen worden, in welcher Weise die kauenden Theile sich modificiren mußten, um endlich einen Saugrüssel herzustellen. In der Weise aber, in welcher die Mundorgane bei den einzelnen Insecten umgewandelt sind, liefern sie die ausgiebigsten Charaktere für die Unterscheidung der einzelnen Gruppen, der Ordnungen, Familien und Gattungen.
Die dritte und vielleicht wesentlichste Verschiedenheit findet sich endlich in der Art und Weise, wie das Insect den Umlauf seines Lebens besteht und seine Verwandlungen durchmacht. Gestatten Sie mir, auch hierauf mit einigen Worten einzugehen und mich ganz an diejenigen Erscheinungen zu halten, die einem Jeden von uns wohlbekannt sind.
Der Schmetterling legt Eier, aus welchen kleine Räupchen oder Larven ausschlüpfen. Wir wissen Alle, daß diese wurmförmig sind, nur kleine, höchst unvollkommene Füße besitzen, aber eine bedeutende Gefräßigkeit entwickeln, in Folge deren ihr Körper in überraschender Schnelligkeit zunimmt. Die Haut, welche keine große Dehnbarkeit besitzt, wird ihnen im buchstäblichen Sinne des Wortes zu wiederholten Malen zu enge, sodaß sie abgesprengt und gewechselt wird. Nach jeder Häutung erscheint die Raupe größer und sie häutet sich so oft, bis sie endlich ihre definitive Größe erreicht hat. Außer den Anlagen sämmtlicher Organe findet sich nun in dem Raupenkörper eine bedeutende Menge von Bildungsstoff abgelagert, der während der folgenden Zeiten verwendet werden soll. Denn nur während dieses ersten Larvenzustandes wächst das Insect in Wahrheit; nur während dieses Zustandes sammelt es sämmtlichen Bildungsstoff, der zur Ausbildung der Bewegungsorgane, der Geschlechtswerkzeuge, kurz aller jener Organe verwendet werden soll, die später bei dem vollkommenen Insect sich vorfinden. Es ist ein sehr allgemein verbreiteter Irrthum, daß man glaubt, die vollkommenen Insecten wüchsen noch während dieses Zustandes; kleine Fliegen seien z. B. junge Fliegen, welche mit der Zeit größer würden, und ich habe mich selbst als Knabe vergebens abgemüht, kleine unscheinbare Arten gewisser Schmetterlinge, die mir aus der Puppe geschlüpft waren, durch reichliche Fütterung mit Honig größer [232] wachsen zu machen. Vergebliche Mühe! Was als Larve nicht groß wurde, wird als vollendetes Insect den Mangel nicht nachholen.
Doch kehren wir zu unsern Schmetterlingen zurück. Sobald die Raupe das Endziel ihres Wachsthums erreicht hat, verwandelt sie sich in eine Puppe. Sie schließt sich von der Außenwelt ab; in einen festeren Panzer gehüllt, nimmt sie keine Spur von Nahrung und communicirt mit der Außenwelt nur durch ihre Athmung, die, wenn gleich in vermindertem Maße, während des ganzen Puppenzustandes fortgesetzt wird. So bleibt die Puppe oft während langer Zeit; aber während sie nach außen unveränderlich erscheint, arbeitet im Inneren die bildende Thätigkeit auf Kosten des Materials, welches die Larve aufspeicherte. Nun werden alle Organe, deren das vollkommene Insect bedarf, so angelegt und ausgebildet, daß es nur ihrer Entfaltung beim Auskriechen aus der Puppe bedarf, um sie in Thätigkeit zu versetzen. Nach längerer oder kürzerer Dauer dieses Zustandes sprengt auch in der That das vollkommene Insect die Puppenhülle und tritt aus derselben zur Fortpflanzung des Geschlechtes gerüstet hervor.
Alle Insecten, welche als Larven aus dem Ei hervorkommen und einen ruhenden Puppenzustand durchlaufen, nennen wir Insect mit vollkommener Verwandlung.
Nehmen wir für die andere große Reihe der Insecten als Beispiel eine Heuschrecke. Auch hier legt das vollkommene Insect ein Ei, und aus diesem Ei schlüpft ein Geschöpf, das mehr oder minder entfernte Aehnlichkeit mit dem vollkommenen Insecte hat, gewöhnlich indessen eine weit größere Aehnlichkeit, als bei der vorigen Reihe. Dies ist die Larve, die ebenfalls eine bedeutende Gefräßigkeit entwickelt, schnell wächst, sich mehrmals häutet. Bei jeder Häutung aber wird sie dem vollkommenen Insecte ähnlicher, indem namentlich ihre Flügel sich nach und nach entwickeln. Anfangs zeigt sich keine Spur derselben, bei der nächsten Häutung erscheinen stummelförmige Ansätze, die bei der nächsten größer werden und bei der letzten endlich als vollkommene Flügel hervortreten. Fast möchte man diese Wandlungen mit denjenigen in der Bekleidung der eidgenössischen Armee vergleichen, und gewiß, wenn Disteli, der geistreiche Carricaturenzeichner, noch lebte, so würde er wohl nicht verfehlt haben, in einigen neuen Blättern zu seinem „Leben eines Heuschreck“ diese Wandlungen bildlich darzustellen. Aermelweste, Frack oder Schwalbenschwanz und Waffenrock wiederholen etwa in der stufenweisen Entwickelung der Schöße die Entwickelung der Flügel des Heuschrecks. Während dieser ganzen Entwickelungszeit aber frißt das Thier beständig, spinnt sich niemals in einen ruhenden Zustand ein, sondern geht nur durch mehrfache Häutungen dem endlichen vollkommenen Zustande entgegen.
Wir nennen alle Insecten, welche sich in dieser Weise entwickeln, Insecten mit unvollkommener Verwandlung.
Combinirt man die Charaktere, welche aus den drei Grundzügen der Organisation der Insecten, aus der Zahl und dem Bau der Flügel, aus der Anordnung der Mundtheile und der Art der Verwandlung, hervorgehen, so hält es leicht, eine Art Schlüssel zu construiren, aus welchem man mit wenigem Untersuchen und Nachdenken sogleich die Ordnung herleiten kann, zu welcher ein Inseet, das man antrifft, gehört. Dies ist aber ohne Zweifel schon ein großer Gewinn für denjenigen, welcher, ohne tiefer eingehende naturgeschichtliche Kenntnisse zu besitzen, dennoch die Feinde kennen lernen möchte, welche ihm schädlich werden. Ich füge eine solche Tabelle hier bei, die wenigstens dazu dienen wird, die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt zu leiten.
Verwandlung. | Mundwerkzeuge. | Flügel. | Namen. | |
---|---|---|---|---|
Zahl. | Beschaffenheit. | |||
Vollkommen. | Kauend. | Vier. | Vordderflügel hornige, steife Decken – Hinterflügel häutig, doppelt zusammengelegt. | Käfer. |
Vollkommen. | Kauend mit einer rüsselförmigen Zunge. | Vier. | Häutig, mit wenigen Adern. | Hautflügler. Hymenoptera. |
Vollkommen. | Kauend. | Vier. | Häutig, netzförmig gegittert. | Netzflügler. Neuroptera. |
Vollkommen. | Saugend – weicher Rüssel aus zwei seitlichen Hälften zusammengesetzt und aufgerollt. | Vier. | Mit farbigem Staube bedeckt. | Schmetterlinge. Lepidoptera. |
Vollkommen. | Saugend – weicher Rüssel aus einem Stücke. | Zwei | Häutig, geädert. | Zweiflügler. Diptera. |
Unvollkommen | Kauend. | Vier. | Vorderflügel häutig – Hinterflügel fächerartig zusammengelegt. | Geradflügler. Orthoptera. |
Unvollkommen | Saugend – gegliederter Stechschnabel. | Vier. | Vorderflügel meist halbhornig; Hinterflügel gegittert. | Halbflügler. Hemiptera. |
Sehen wir uns nun nach den verschiedenen Zuständen der Insecten etwas näher um.
Was zunächst die Eier betrifft, so giebt es wohl nirgend, in keiner Classe des Thierreichs, so außerordentlich viele Gestalten und mannigfaltige Abänderungen der inneren Organisation, als gerade in den Eiern der Insecten. Von der vollkommensten Kugelform durch alle Eigestalten hindurch bis zum langgestreckten Cylinder, von der Linsengestalt bis zu derjenigen einer Tonne oder Birne, findet man wohl alle Gestalten, die der auf die Spitze getriebene Formensinn ausklügeln könnte, und selbst damit begnügt sich die Natur nicht. Dort schwankt das Ei auf einem unendlich langen dünnen Stiele, mittelst dessen es wie ein feiner Pilzauswuchs an die Oberfläche des Blattes geklebt ist; hier hängt es an einem langen dünnen Faden, dessen elastisches Ende einen förmlichen Knoten schlingen kann; dort zeigen sich Hörner oder flügelartige Verlängerungen, mittelst deren das Ei im flüssigen Elemente sich an der Oberfläche hält. Wer kennt nicht die ekelhaften Maden, welche in Abtritten und Dunglöchern Umherkriechen und mittelst der wurmförmigen Zusammenziehung ihres Körpers und peitschenförmigen Schwanzes an rauhen Oberflächen sogar in die Höhe zu kriechen wissen? Sie schlüpfen aus den Eiern der Dungfliege, die mit großen breiten Flügeln versehen sind, welche das Einsinken des Eies in der übelriechenden Jauche verhindern. Aehnliche und schmäler lanzettartig gestaltete Flügel besitzt das Ei der Essigfliege, welches auf die gährende Maische gelegt wird. Wunderbar sind ferner an dem Ei der Insecten die mannigfaltigen Sculpturen der äußeren Eihaut, zwischen denen sich Poren befinden, welche theils zum Luftwechsel, theils auch zum Durchgange der befruchtenden Samenfäden bestimmt sind.
Häufig werden die Eier einzeln gelegt und noch obenein an verborgene Orte in die Erde, in Risse und Furchen der Rinden, selbst in das Innere des Pflanzengewebes oder in andere Thiere, auf deren Kosten die auskriechenden Larven sich nähren sollen. Gewöhnlich sind auch die Eier sehr klein, wie sich dies bei der kleinen Statur der Insecten und der Menge von Eiern nicht anders erwarten läßt, und ihre Farbe entspricht meistens den Gegenständen, auf welchen sie angeheftet werden. Denn selten nur ist die Farbe der Eier weißlich oder graulich; häufig ist der Dotter gelb, grün, roth, braun oder selbst schwarz, so daß es meistens sehr schwer hält, die Eier aufzufinden und zu zerstören.
Freilich erleichtern viele Insecten dies indem sie die Eier haufenweise zusammenlegen und oft noch durch besonderen Leim zu einem Ganzen verkitten oder durch andere Bedeckungen auffällig machen. Das einzelne, grünlichgrau gefärbte Ei des Ringelspinners (Bombyx neustria), das vollkommen die Farbe der Zweige hat, an die es angesetzt wird, wäre gewiß äußerst schwierig zu finden; da aber das Weibchen einige hundert Eier in solcher Weise um den Zweig legt und zusammenverkittet, daß sie einen förmlichen festen Ring wie ein Armband um denselben bilden, so kann man die Ringe mit leichtester Mühe auf den Zwergbäumen sehen, sobald dieselben entblättert sind, sie absprengen und zerstören. Ebenso dürfte es schwer sein, ein einzelnes Ei des Goldafters (Bombyx chrysorrhoea) zu finden; da aber der Schmetterling sich selbst die goldrothen Haare, die seinen Hinterleib schmücken, ausreißt und damit seinen auf die Unterfläche der Blätter geklebten Eierhaufen so überzieht, daß derselbe einem zolllangen Zunderschwamme nicht unähnlich sieht, so wird auch hier die Auffindung und Zerstörung leicht. Ebenso weiß man, daß die in den Rindenrissen der Nadelholzbäume abgelegten Eier der Nonne sogar so häufig sind, daß sie scheffelweise gesammelt werden können.
[233]
Aus den deutschen Spielhöllen.
In Homburg sowohl wie in Baden-Baden sind außerdem die Directoren der Bank beflissen, eine Anzahl hübsche Pariser Loretten hinzuziehen, theils um junge reiche Leute durch diese Courtisanen an den Spieltisch zu fesseln, theils um sie an der Bank mitspielen zu lassen, wenn das Geschäft flau geht. Dabei wird die Presse auf jede mögliche Weise benutzt, und die Form, deren sich die Verwaltung bedient, ist oft so fein, daß selbst in die angesehensten Blätter Reclamen in Gestalt hübscher Reiseberichte, kleiner Novellen oder Feuilletonskizzen eingeschmuggelt werden. Die Nachricht von der Sprengung der Bank aber ist ständig und kehrt jedes Jahr wieder, ohne daß sie sich bewahrheitet. Wiesbaden ließ vor einigen Jahren eine Anzahl geistreicher Feuilletonisten von Paris kommen, bewirthete sie auf das Feinste und honorirte ihre Schilderungen der deutschen Badeherrlichkeiten in den französischen Zeitungen auf das Glänzendste.
Nachdem Alles, was die moderne Civilisation bietet, bereits angewandt war, um dem „Curhause“ von Homburg den größten Glanz zu verleihen, hat das Genie des Herrn Blanc in letzter Zeit auch die Religion in das Bereich seiner Speculation gezogen; er läßt nämlich eine englische Kirche bauen, oder bestreitet wenigstens den größten Theil der Kosten aus dem Fond der Bank; hierbei befolgt er das Beispiel des berühmten Eigenthümers der Badner Spielbank, des Herrn Bénazet, von dem ich später noch sprechen werde. Die zahlreichen Kinder Albions, welche sich jetzt in den deutschen Bädern ansiedeln, wo sie mit wenigen Unkosten eine gewisse Rolle spielen können, werden also auch in Homburg ihre Andacht nach dem Ritus ihres Vaterlandes verrichten. Es ist nur sonderbar, daß diese frommen Leute nicht daran denken, wer ihnen das Gotteshaus erbauen ließ. Und ist es nicht unbegreiflich, daß ein Geistlicher sich entschließen kann, in einer von solchen Händen dotirten Kirche das Wort Gottes zu verkünden? Vermag er doch nicht einmal die Entschuldigung anzuführen, daß hier ein reuiger Sünder seine Schuld durch ein vermeintlich gottgefälliges Werk zu sühnen versuchte; – muß er nicht denken, daß in demselben Augenblicke, wo er in der Kirche für seine Gemeinde betet: „Führe uns nicht in Versuchung, erlöse uns vom Uebel,“ die Diener desselben Mannes, der die Kirche stiftete, rufen: Messieurs, faites votre Jeu!? Wahrhaftig, es wäre spaßhaft, wenn der Teufel einem solchen Geistlichen einmal das Evangelium, das dieser in der Hand hält, zu einem Spiel Karten verwandelte und ihn in solcher Weise daran erinnerte, auf welchem Felsen die Kanzel, von der er Predigt, eigentlich errichtet ist!
Was nun sonst noch zur Organisation Homburgs gehört, die Einrichtung, die Ausgaben, die Verbindungen und Beziehungen, die Besoldungen der Angestellten etc., werde ich später besprechen, da die Hauptspielorte, wie der eben genannte, dann Wiesbaden und Baden-Baden, in vielen Punkten gleich stehen. Als besondere Einzelheit soll hier nur hervorgehoben werden, daß Homburg die einzige Hölle ist, wo den ganzen Winter hindurch gespielt wird. Zwar soll es im glücklichen Kurhessen neben Nauheim, Nenndorf, Wilhelmsbad noch eine Spelunke, Wildungen,[2] geben, wo auch im Winter Vögel gerupft werden, doch ist sie zu unbedeutend; Homburg ist bisher der einzige Sammelplatz jener Menschen, die ihr ganzes Leben nur in der Atmosphäre eines Spielsaales verbringen können. Der Einfluß auf die benachbarten Städte ist bei so fortgesetzter Agitation der verderblichste. Unter den jungen Kaufleuten war vor Kurzem noch die Spielwuth so eingerissen und es kamen so viele Veruntreuungen vor, daß die Principale in Frankfurt sich geeinigt haben, keinen Commis anzunehmen, beziehendlich jeden zu entlassen, der an einer Bank spielte. Auch die Turner haben Aehnliches erklärt. Die Zeitungen melden uns, daß der Spieler Garcia in letzter Zeit wieder eine Million Franken daselbst gewonnen habe; dagegen aber auch in dem einzigen Monate Januar drei Menschen in Folge ihres Besuches jener Hölle ihr Leben geendet haben. Der Leser wird mir wohl jeden Commentar erlassen.
Manche hoffen, daß, wenn das Ländchen an Darmstadt übergeht, auch die Spielbank enden werde; die edlen Vorsteher jenes Institutes scheinen keiner Befürchtung Raum zu geben, denn sie haben erst seit Kurzem den Neubau eines Theaters begonnen. Herr Blanc mag wohl, wie einst gegenüber dem Parlamente, in Bezug auf die angedeutete Eventualität sagen: „Meine Bank wird länger dauern als Hessen-Homburg.“ Und wer weiß, ob er nicht Recht behält? Er hat Manches erlebt und durchgesetzt. Sein Bruder ist gestorben; sein erster Compagnon, der ältere Teittler, hat im Irrenhause unter fürchterlichen Gewissensqualen geendet; der jüngere scheint auch nicht auf Rosen gestorben zu sein; sein ehemaliger Director Wellen hat ihn verlassen und ist Generaldirektor der Wiesbadener Hölle; nur seine untergeordneten Helfershelfer sind ihm treu geblieben, und wer diese Nachteulen-Gesichter erblickt hat, der ist überzeugt, daß sie noch lange keine Reue zu spüren Lust haben; Herr Blanc aber hat in letzterer Zeit sogar der französischen Regierung eine Broschüre unterbreitet, worin er einen Plan zu Tilgung der Staatsschulden des neugallischen Kaiserthums darlegt. Vielleicht speculirt er, der Generaldirector von neu zu errichtenden Pariser Spielhäusern zu werden?
Nach mehrtägigem Aufenhalte in Homburg begab ich mich nach Nauheim, um diese hessisch-kurfürstliche Schöpfung in Augenschein zu nehmen. Der Ort selbst ist noch im Werden begriffen, und die Einwohner sind noch nicht, wie die Homburger, darauf dressirt, jeden Fremden als eine Citrone zu betrachten, die man so lange preßt, als noch ein Tropfen Saft darin zu vermuthen ist. Dagegen ist das Curhaus, obwohl als Gebäude nur provisorisch, als Spielhölle bereits so vollständig organisirt, daß es einer nähern Prüfung wohl werth erscheint.
Es wurde im. Jahre 1853 oder 54 gegründet. Der Kurfürst, dessen Vater einst einer der besten Kunden der Homburger Bank war, scheint das Geld, das dieser verloren hat, dadurch zurückbringen zu wollen, daß er in jedem nur einigermaßen geeigneten Ort seines Reiches Spielbanken zu errichten erlaubt. Die Hauptunternehmer in Nauheim, d. h. diejenigen, welche die Fonds lieferten, waren ein französischer Senator C–l, ein französischer Fürst B., ein Frankfurter Rentier S–n, und einige dii minorum gentium. Als ostensibler Leiter erschienen ein Herr Viali und Herr Brigneboule; der letztere ist aber ungetreu geworden und in das Lager der Wiesbaden-Emser Gesellschaft übergegangen. Nach den ursprünglichen Contracten zu urtheilen, müssen sich die Nauheimer Bankhalter goldene Berge versprochen haben; denn sie verpflichten sich nicht nur, einen großen Cursaal und Restauration, sondern auch dem Landesherrn einen großen Palast zu bauen; dem Anscheine nach dürfte dieser in dem Jahre fertig werden, wo der Kurfürst aus eigenem Antrieb die Verfassung von 1831 wieder herstellt. Man versicherte nur, daß zur Zeit, als das Project zuerst nach Kassel gebracht wurde, gewichtige Stimmen sich dagegen erhoben, daß selbst Hassenpflug in einer Anwandlung von Anstandsgefühl es für unbillig fand, das kaum von der Bundesexecution befreite Land, statt mit irgend einer Erleichterung, mit einer Spielhölle zu beglücken; doch der souveraine Wille einerseits und das souveraine Gold der Unternehmer andererseits beseitigten alle Schwierigkeiten, und selbst Hassenpflug fand sich zuletzt veranlaßt, im Herbste 1854 das neue Institut zu besichtigen. Die Geschäfte sind bisher nichts weniger als glänzend, Homburg und Wiesbaden absorbiren noch zu viel; doch hat die Administration neuerdings einen Contract mit einem Architekten geschlossen und scheint die Concurrenz mit den beiden eben angeführten Orten durchaus nicht aufgeben zu wollen.
In dem Munde des Volkes geht die Sage, daß der große Teich dort nur zu dem Zwecke gegraben worden sei, um den unglücklichen Spielern die Gelegenheit zum Selbstmorde zu erleichtern
[234] und die ganze fatale Geschichte möglichst ohne Lärm und Pulverdampf abzumachen.
Ich hatte meinem französischen Tischnachbar aus Homburg versprochen, mit ihm an einem bestimmten Tage in Frankfurt zusammen zu treffen und dann eine gemeinschaftliche Fahrt nach Wiesbaden und Baden zu unternehmen. Bevor wir indeß nach Wiesbaden gingen, machten wir einen kleinen Ausflug nach Wilhelmsbad, von wo aus bekanntlich die kurhessische Verfassung von 1831 datirt ist, und wohin sich der jetzige Kurfürst im Jahre 1850 begab, als die Kurhessen Herrn Hassenpflug nicht als den besten und ehrenhaftesten Minister anerkennen wollten. Wilhelmsbad ist kein Bad, sondern ein einzelnes von einem Parke umgebenes, schloßartiges Gebäude, dessen Erdgeschosse zur Spielhölle eingerichtet sind. Es war ein Sonntag, an dem ich den Ort besuchte, und ich kann mich noch in der Erinnerung des Schauders nicht erwehren, den der Anblick der armen Leute, die dort spielten, in mir erweckt hat. Es waren größtenteils Kleinbürger, Handlungscommis und Fabrikarbeiter aus der Umgebung, aus Offenbach, Aschaffenburg, Frankfurt und Hanau; denn wohlgemerkt! der Kurfürst von Hessen verbietet seinen Unterthanen nicht, zu spielen, und selbst einige kurfürstliche Officiere in Uniform befanden sich unter den Kunden des Roulette-Tisches. Ein armer Portefeuille-Arbeiter aus Offenbach hatte seinen ganzen Wochenlohn verloren, und es war so herzzerreißend, seine und seiner sehr anständig aussehenden Braut Klagen anzuhören, daß selbst mein Gefährte, der blasirte Franzose, sich der Bewegung nicht erwehren konnte, und seine Meinung über manche Einrichtungen in dem „ehrlichen Deutschland“ in bitteren Worten aussprach, die ich hier nicht wiedergeben darf, auf die ich aber auch leider nichts zu entgegnen wußte. Nur die eine seiner Bemerkungen will ich hier anführen: „Wir Franzosen,“ sagte er, „sind ein corrumpirtes Volk, und wir denken überhaupt ganz anders und weniger scrupulös über manche Dinge, als die Deutschen; aber dessen könnt Ihr hier in Eurem Tugend predigenden Deutschland sicher sein: Wenn der allmächtige französische Kaiser, der Despot, oder wie Ihr ihn immer nennen mögt, die Spielhäuser wieder in Paris einführte, und wenn in einem derselben eine Scene vorkommen würde, wie die, welcher wir eben beiwohnten, so demolirten die Arbeiter die Höhle noch am selben Tage, und die Regierung – würde nichts thun können.“ Ich schwieg, und dachte Manches, was ich dem Franzosen doch nicht eingestehen wollte; wir fuhren noch denselben Abend nach Wiesbaden.
Die Hauptstadt des Herzogthums Nassau gehört bekanntlich zu den reizendst gelegenen Orten Deutschlands, und die Heilkraft ihrer Quellen ist selbst von den Skeptikern unter den Aerzten anerkannt. Der Leser wird von mir keine weitere Beschreibung der Oertlichkeit, der schönen Gegend erwarten und mir erlauben, nur von dem „Curhause“ zu sprechen. Dasselbe ist, sowie das Curhaus in Ems, Eigenthum der Domaine, der Pachtertrag derselben gehört also zu den Einkünften der Krone. Bis zum Jahre 1857 waren die beiden Spielhäuser einer geschlossenen Gesellschaft, an deren Spitze die Herren Gunz und Simon aus Straßburg standen, pachtweise überlassen und sechs Monate, vom 1. Mai bis letzten October, geöffnet. Dann traten die eigentlichen Wiesbadener Directoren mit ihrem Antheile in eine Actiengesellschaft über, die sich unter den Auspicien von Wiesbadner und Frankfurter Banquiers gebildet hatte, der Widerstand der Emser Directoren wurde beseitigt, und die neue Administration begann ihre Thätigkeit unter der Oberleitung eines Herrn v. Wellen, der früher in Homburg dieselbe Function ausgeübt hatte. Die neue Gesellschaft zahlte das Dreifache des bisherigen Pachtzinses, wofür ihr auch das Privilegium eingeräumt wurde, in Wiesbaden vom 1. April bis Ende December spielen zu lassen. Sie hat das Etablissement nach dem Muster von Homburg reorganisirt, um diesem Concurrenz zu machen, hat das halbe refait und die Roulette mit einem Zéro eingeführt, das Personale bedeutend vermehrt, bestreitet die Concerte etc. aus ihren eigenen Mitteln, hat den Park und sämmtliche Anlagen in der Umgebung des Curhauses auf’s Prachtvollste umändern lassen; und Wiesbaden, das früher ein Spielbad war, ist eine Spielhölle geworden.
Die Gesellschaft des Curhauses, die ich während meines zehntägigen Aufenthalts in Wiesbaden zu beobachten Gelegenheit hatte, war, besonders in Bezug auf die Damen, noch schlechter als die in Homburg; es ist geradezu unbegreiflich, wie in einer Residenz von 15,000 Einwohnern, dem Sitze des Regenten, eines ziemlich zahlreichen Adels, der viele alte Namen zählt, höherer Behörden, eines gebildeten Beamtenstandes, vermöglicher Bürger, in einem Ort, wo jährlich Kammern über das Wohl des Landes berathen, wie da ein solcher Zusammenfluß von Personen geduldet werden kann, die als Abhub der Gesellschaft zu bezeichnen sind. Freilich giebt es – wie ich mich überzeugt habe – auch in Baden-Baden Courtisanen genug, aber sie verschwinden wenigstens unter der Masse, müssen doch einen gewissen äußeren Anstrich wahren und entfernen sich mit dem Ende des Spieles, im October. Aber der Wiesbadner Cursaal wird von dieser Gattung Wesen durch neun Monate des Jahres förmlich beherrscht, sie sitzen am Spieltische, an den Fenstern, auf den Canapés, im Speisesaale; sie theilen sich in Gruppen oder stehen auch unter der Protektion und Aufsicht älterer „Damen“; sie knüpfen sehr oft mit glücklichen Spielern ein Gespräch an; ihnen gehört das Reich der Spielhölle, und anständige Damen müssen es vermeiden, des Abends in den Anlagen oder in dem Parke hinter dem Curhause zu lustwandeln. Daß sich unter jenem Trosse auch manche befinden, deren äußere Haltung eine gemessenere ist, solche, die über große Summen zu verfügen haben und daher die niedrigeren Verrichtungen des Handwerks verschmähen, nur mit großen und reichen Herren umgehen, nur bei Tage und oft in Equipagen nach dem Saale kommen, versteht sich wohl von selbst. Ich sah die in ihrer Art berühmte Adele Courtois[3], die vor zwei Jahren, nach vielen, vielen Abenteuern und in einem Alter, wo die Jugendblüthe schon seit einiger Zeit vergangen war, den X.’schen Gesandten in einer Weise umstrickt hatte, daß er sich nicht scheute, mit ihr öffentlich in seiner Equipage in den Champs Elysees spazieren zu fahren, und daß er sie zuletzt geheirathet hätte, wenn nicht plötzlich ein Monsieur Courtois, legitimer Gemahl der Dame, erschienen wäre. Mein Reisegefährte sprach mit einer Dame, die allgemein als die Gemahlin eines Spielers galt, aber – wenigstens dem Tone ihrer Conversation nach zu urtheilen – zu den alten Bekanntschaften meines Franzosen gehörte.
Hier fand ich auch jenen Vicomte mit dem jungen schönen Mädchen mit dem Loch im Mantillen-Aermel wieder; der Vicomte spielte noch einige Male, dann war er ruinirt, verließ Wiesbaden, und nur das Mädchen blieb zurück – täglich in dem Kreise der Courtisanen, nun wahrscheinlich selbst eine Courtisane.
Soll ich nun meine aufrichtige Meinung aussprechen? Mir erschien das Gebahren dieser nobeln Courtisanen – der Franzose bezeichnete sie mit dem furchtbaren, aber passenden Ausdrucke: die Königinnen der Schande (reines de la honte) – noch verwerflicher, als das ihrer niedriger stehenden Colleginnen, weil sie nicht einmal die Noth, den Drang der Verhältnisse oder der Leidenschaften als Entschuldigung anführen können. Und habe ich Unrecht, wenn ich nur die verurtheile, welche, nachdem das Glück sie so weit begünstigt hat, daß sie zu einem besseren oder doch wenigstens anständigeren Lebenswandel zurückkehren könnten, mit der traurigen Berühmtheit, die sie erlangt, prunken, also nicht etwa dem Impuls einer Leidenschaft oder der Verhältnisse folgen, sondern nur noch dem Eigennutze fröhnen und das Diadem der Schande zur Schau tragen? Aber gerade diese sind es ja, welche zu den begünstigtsten Bundesgenossinnen der Spielbanken gehören; ihren niedriger stehenden Colleginnen kann es passiren, daß sie als zu unanständig – und weil sie kein Geld haben – entfernt werden; jene aber geben dem Etablissement ein gewisses Relief; ihre Anwesenheit in diesem oder jenem Bade wird sogar von manchen französischen Journalen gemeldet, damit ihre Verehrer doch wissen, wohin sie ihr Geld zu tragen haben, wo sie sich in der besten Gesellschaft ruiniren können.
Unter den hervorragendsten Persönlichkeiten, welche sich während meines Aufenthaltes in Wiesbaden befanden, ist der große Garcia zu nennen, der auch hier mit dem immensen Glücke spielte, das ihn schon in Homburg begünstigt hatte, und sich auch hier ebenso wenig gentlemanlike betrug als dort; neben ihm glänzte ein deutscher Spieler, ein ehemaliger preußischer Officier, der, wie es schien, ebenfalls große Summen gewann, sich aber wirklich anständig und ruhig benahm und sich von jeder zweifelhaften Gesellschaft möglichst fern zu halten schien; endlich ein fremder Königssohn; sein Vater war früher ein alljährlicher Besucher Wiesbadens und [235] der so wohlbekannte ganz öffentliche Beschützer der Nymphen des Cursaales, daß seine eigenen Unterthanen sich laut mißbilligend darüber äußerten und die zufällig anwesenden anständigen Damen seines Landes es vermieden, von ihm bemerkt und in seine Gesellschaft gezogen zu werden. Der Sohn und Erbe folgt ganz den väterlichen Fußstapfen, man konnte ihn fast allabendlich in der gemischtesten Gesellschaft im Speisesaale des Curhauses soupiren sehen; zu seinen Gefährtinnen gehörte auch eine ehemalige Freundin seines Vaters, der man den Spitznamen „die Königin v. H–d“ beigelegt hatte[4]. Sie selbst nannte sich Vicomtesse de –; es wird mit ihrem Titel wahrscheinlich so beschaffen sein, wie mit dem aller angeschwindelten Adeligen.
Sollte man es nun glaublich finden, daß Alles dies, was ich eben beschrieben habe, unter den Augen einer in großem Maßstabe organisirten Curhaus-Behörde vorgeht? Da, wie schon gesagt, das Gebäude Eigenthum der Domaine ist, so steht das Etablissement unter der directen Beaufsichtigung der Regierung; diese hat zu dem Behufe einen Domainenrath und zwei Polizeicommissäre angestellt; selbst der Herr Oberpolizeidirector von Wiesbaden kommt manchmal in seiner Uniform, die fast der eines Generals gleicht, nach dem Curhause und hält seine Rundschau; welche Gründe mögen Wohl vorwalten, daß diese Herren dem Unwesen, das dort vorherrscht, nicht steuern? daß sie nicht auf die Entfernung jener ruinirten Spieler dringen, die, nachdem sie ihr Geld verloren haben, ohne irgend ein Subsistenzmittel, im schlechtesten, schmutzigsten Anzüge, mit hohlen Wangen und trübem Blicke, als wahre Jammerbilder in den Straßen umherwandeln und Grauen erregen? Wenn solche Menschen[5] – auf die ich später noch zu reden kommen werde – in Homburg geduldet sind, so ist es dahin zu erklären, daß dieser Ort nur eine Spielhölle sein kann und weiter nichts; aber Wiesbaden ist doch eine Residenz, die Hauptstadt eines Landes, das eine gewisse politische Rolle spielt! Die nassauische Regierung ist doch so streng auf Moral und Sittlichkeit und Religion, daß sie, als Redacteur Löwenthal ein Capitel seines Systems des Naturalismus in seinem Blatte abdrucken ließ, sofort seine Verhaftung anbefahl; die Polizei in ihrem moralischen Feuereifer ließ den besagten Redacteur mit Handschellen in’s Gefängniß führen, das Gericht verurtheilte ihn zu mehrwöchentlichem Gefängnisse. Nun möchte ich mir die Frage erlauben: Gesetzt jener Mann hätte statt des besagten Artikels einen andern veröffentlicht, worin er bewies, daß das Roulettespiel in nothwendigem Zusammenhange mit dem Naturalismus stehe, da es doch mit den göttlichen Gesetzen gewiß nichts zu schaffen habe – hätte man ihn dann auch der Gotteslästerung angeklagt? Oder umgekehrt, wenn ein Schriftsteller im Nassauischen behauptete, daß das Spiel eine gotteslästerliche Einrichtung sei, und dies aus dem Evangelium bewiese, würde die Regierung diesen moralischen Eiferer nicht vielleicht in derselben Weise behandelt haben, wie jenen atheistischen?
Ich muß hier gleich bemerken, daß der Herzog von Nassau den ganzen Pachtertrag, der ihm für den Betrieb der Curhäuser in Ems und Wiesbaden entrichtet wird, den verschiedenen Instituten der beiden Städte angewiesen hat, daß er selbst also durchaus keinen directen Gewinn davon zieht. Es ist dies ein Beweis, daß der Herzog gleich der badischen Regierung von der Ueberzeugung geleitet sein muß, daß die Curhäuser zur Wohlfahrt der Städte, vielleicht des Landes beitragen. Wir wollen diesen Punkt später beleuchten und bitten den Leser uns vorläufig nach Baden-Baden zu folgen; wir werden ihn nunmehr in die moralische Spielhölle führen.
Wenn man, von Homburg und Wiesbaden kommend, in das „maison de conversation“ von Baden tritt, so möchte man für den ersten Moment kaum glauben, daß man sich in einem Spielhause befindet; denn die äußerliche Haltung bietet einen auffallenden Contrast dessen, was man bisher zu sehen gewohnt war. Schon die geräumigen Localitäten, die vielen Säle, wo nicht gespielt wird, rechtfertigen den Titel Conversationshaus; auch ist nur eine Roulette und ein Trente- und Quarante-Tisch in Thätigkeit. Da sind auch keine galonnirten und frechblickenden Lakaien, die jeden Ankommenden messen und seine Vermögensumstände zu berechnen scheinen, sondern schwarz gekleidete, fein aussehende Diener, die sich mit Ruhe und Anstand bewegen und jeden Fremden mit zuvorkommender Höflichkeit behandeln. Da sind keine Croupiers und keine Aufseher, die sich geberden wie die Herren des Hauses. Und welche Gesellschaft! Wie im Walpurgisnachtstraum, dem Intermezzo von Goethe’s Faust: lauter elegante Leute, Tänzer, Tanzmeister, Fiedler, neugierige Reisende, Musageten, alt’ und junge Hexen, kurz „was man nur wünschen kann“, und Alles im schönsten, elegantesten dehors! Welcher Geschmack in den Toiletten! welche Grazie in den Bewegungen! welcher Anstand in der Haltung! Und an dem Spieltische, welche Noblesse im Geldverlieren! Man hört keinen Zank, man sieht keine Professionsspieler mit Plänen von Systemen um sich, man hört fast nur aristokratische Namen nennen, und die Träger derselben sind wirkliche Comtes, Vicomtes, Princes u. s. w. Die Damen du demi-monde gehören zu den auserlesensten Exemplaren ihrer Gattung. Eine Masse von Privatequipagen fahren an das Curhaus; aus ihnen steigen höchste und hohe Herrschaften, die fast alle ihre eigenen Palais in Baden-Baden besitzen; die Curliste weist eine Menge Berühmtheiten aller Art auf, aus der Diplomatie, aus den politischen Körperschaften, aus dem russischen wie dem französischen Senare, dem preußischen Herrenhause und dem österreichischen Reichsrathe, aus der französischen und deutschen Kunst- und Literaturwelt; Poeten, Musiker, Maler, Journalisten, Schauspieler und Schauspielerinnen, Alles vom besten Tone, promeniren alltäglich vor und in den Räumen dieser maison de conversation, und wahrhaftig, man sollte glauben, daß der Pächter dieses schönen Etablissements es nur halte, um die schöne Welt quasi bei sich zu empfangen, und daß er die Spieltische nur aufgestellt habe, um dem Wunsche derjenigen großen Herren, die auch dieses Vergnügen genießen wollen, einigermaßen zu entsprechen!
Und wer wollte auch bezweifeln, daß Herr Bénazet, der directeur de la maison de conversation, der Ritter des Ordens der Ehrenlegion, das Spiel nur als Nebensache betrachtet? Ungläubiger Leser, wirf einmal den Blick auf irgend ein französisches Blatt während der Sommersaison! Da wirst Du vor Allem lesen, daß Bénazet der König von Baden (le roi de Bade) ist[6] – der Regent des Landes ist nur Großherzog – Du kannst die Beschreibungen der Feste, der großen Concerte, der Bälle, der Theatervorstellungen lesen, die Bénazet alle aus seiner Tasche bezahlt. Ja, er läßt sogar Opern und Baudevilles eigens für sein Theater schreiben. Und wie prächtig sind die Säle, die er blos für die Bälle, blos für die Theatervorstellungen bauen ließ! Nur wenig Monarchen haben schönere und keiner hat geschmackvollere! Doch das Alles ist noch nichts! Bénazet hat ein Spital errichtet, er hat vor etwa vier Jahren eine große Rennbahn mit Tribünen u. s. w. bei Iffezheim, ich möchte sagen, erfunden, auf der jährlich Wettrennen stattfinden, die bereits eine europäische Berühmtheit erlangt haben, er unterhält Meuten und Jäger, veranstaltet jährlich glänzende Parforce-Jagden, er hat auch eine Kirche gestiftet, und giebt alljährlich einige Tausend Franken an die milden Anstalten Badens. Noch mehr! Bénazet ist der einzige Spielpächter, der die fictiven Zugeständnisse, welche Homburg, Wiesbaden, Nauheim den Spielern einräumten, beharrlich verweigert hat. In Baden giebt es kein halbes refait, und die Roulette spielt nach wie vor mit zwei Nullen. Wer will nun leugnen, daß Baden keine Spielhölle ist, sondern nur ein reizender Vergnügungsort, wo mitunter auch gespielt wird? Wer?
Ich!! Ja noch mehr! ich will behaupten und beweisen, daß Baden von allen Spielhöllen die gefährlichste ist – obwohl ich zu gleicher Zeit ganz im Widersprüche mit dieser Behauptung gerne gestehen will, daß sie in anständiger Gebahrung so weit über den andern steht, daß man gar keinen Vergleich anstellen kann.
Der Reiseprediger Gustav Werner.
Am Fuße der Achalm, eines der schönsten Berge der schwäbischen Alp, lagert sich die ehemalige Reichsstadt Reutlingen, umgeben von Obstgärten und Weinbergen; die letzteren haben in Folge sorgfältiger Pflege den alten Ruf des Reutlinger Weins, von dem Prinz Eugenius der edle Ritter sagte:
Lieber nähm’ ich Belgrad nochmalen ein.
Als mehr zu trinken von solch’ saurem Wein!
in neuerer Zeit glänzend widerlegt.
Am südwestlichen Ende der Stadt, hinter einem Reste alter Stadtmauern, über einen Wassergraben hinüber führt ein schmaler Steg zu fabrikartigen Gebäuden mit einigen Wohnhäusern, deren eines groß und geräumig, neu aus Backsteinen erbaut, über seinem Eingange die Inschrift „Gotteshülfe“ trägt; ihm gegenüber steht bescheiden das „Mutterhaus“; an der Fabrik liest man „Papierfabrik zum Bruderhaus“. An diese hat sich eine Maschinenwerkstätte mit Eisengießerei, Schreinerei und Wagnerei angeschlossen, im Mutterhause ist eine Schneider-, Schuster- und Buchbinder-Werkstätte eingerichtet; drunten am Flusse steht eine Gerberei und eine Mühle. Ställe mit stattlichen Reihen wohlgenährter Kühe, verschiedene Scheunen schließen das Ganze, das auf einen thätigen Besitzer hinweist, der Landwirthschaft und Gewerbe glücklich vereinigt. Deuten schon die Inschriften der Gebäude darauf hin, daß dies ein Gutsbesitzer und Fabrikherr eigener Art sein muß, so wird man darin bestärkt durch die große Anzahl von Kindern, die auf dem Hofe, in den Wohnräumen spielend, lernend, arbeitend, in allen Altersstufen dem Besucher begegnen.
Wir befinden uns in der Werner’schen Anstalt, wie sie in Reutlingen kurzweg genannt wird. Es ist dies eine große Rettungs-, Versorgungs- und Erziehungsanstalt zugleich, gegründet von einem Manne und unter seiner Leitung fortgeführt von einer Brüdergemeinschaft, wie sie, auch die Wirksamkeit des bekannten Rauhen Hauses nicht ausgenommen, in gleich großartiger Thätigkeit zum zweiten Male in Deutschland nicht existirt. In Reutlingen selbst gehören hierzu der frühere Gasthof zur Krone, in dessen unterem Stocke das Verkaufslocal der verschiedenen Erzeugnisse, im oberen der Versammlungssaal und Wohnungen sich befinden; einige hundert Schritte weiter ein großes Haus, der erste Anfang und erstes Besitzthum Werner’s in Reutlingen, in dem jetzt eine Bandweberei betrieben wird und gleichfalls Wohnungen für die zahlreichen Familienglieder sich befinden, die in Reutlingen sich auf circa 600 belaufen. Ueber das ganze Land hat der Reutlinger Stamm seine Zweige gebreitet, über 20 Zweiganstalten gehören zur Gemeinschaft, die jetzt gegen 1500 Mitglieder, etwa 600 Erwachsene und 900 Zöglinge, von 2–20 Jahren, zählen wird, einen Grundbesitz von mehr als 2000 Morgen hat, und mit Gebäuden, Fabriken und Inventar ein Vermögen von über einer Million Gulden besitzen mag, von dem freilich Schulden in sehr bedeutendem Betrage abgehen.
Der Mann nun, welcher den Grund zu all’ Diesem gelegt, das Werk von kleinen Anfängen weiter geführt hat und noch jetzt der Mittelpunkt und die Seele des Ganzen ist, heißt Gustav Werner, ist geboren am 12. März 1809, seines Standes ein württembergischer Theologe. Er stammt aus einer angesehenen Beamtenfamilie, sein Vater starb als Director eines Collegiums,
[237]seine Laufbahn machte er durch die „niederen Klöster“ und das Tübinger Stift, aus dem, wie bekannt, bedeutende Männer verschiedener Art schon hervorgegangen sind. Im Jahre 1837 war er Pfarrgehülfe in Waldorf, einem Dorfe bei Reutlingen. Schon damals wies sein Wort und sein Wirken auf die in Liebe thätige Seite des Christenthums hin: er gründete eine Kleinkinder- und Arbeitsschule aus freiwilligen Beiträgen, die seine Gemeindegenossen und auswärtigen Zuhörer, durch seine Vorträge begeistert, ihm freudig darreichten. Das war der erste Anfang. Da starb in dem Orte eine Mutter von sechs Kindern; eines mit 4 Jahren übernahm er zur Erziehung, die Lehrerin der Arbeitsschule führte ihm den Haushalt. Schon im nächsten Jahre hatte er zehn Kinder und konnte, von seinen Gemeindegenossen reichlich unterstützt, auf dem Gemeindebackhause einen eigenen Raum sich erbauen. Im Februar 1840 zog er mit seinen 10 Kindern nach Reutlingen, miethete dort ein größeres Haus, wobei er sich vornahm, seine Kinderbewahr- und Erziehanstalt höchstens bis auf 40 Zöglinge auszudehnen, – schon ein großes Ziel, wenn man bedenkt, daß Werner lediglich auf sich selbst angewiesen war; was die Arbeit der Kinder, namentlich Strickerei, einträgt und was an freiwilligen Liebesgaben in Folge seiner Vorträge, die er über Reutlingen hinaus ausdehnte, einging, mußte genügen. Ging es auch sparsam und dürftig zu, so reichte es doch, und bald konnte er eine, bald eine zweite Kuh anschaffen und einige Aecker pachten. Dazu bildete sich in Reutlingen ein Verein von Jungfrauen, die einige Stunden in der Woche für die Anstalt arbeiteten; später traten einige Jungfrauen ganz in die Anstalt ein, und wie diese gedieh, wuchs zugleich in Werner die Kraft und Zuversicht.
Die Predigten, welche Werner in der Umgegend und später in immer weiteren Kreisen, stets aber nur auf Verlangen, unter freiem Himmel, in Scheunen und sonst hielt, machten Aufsehen; mancher Pfarrer mochte sich durch den „Reiseprediger“ beunruhigt fühlen, und vielfach wurde ihm die Benutzung der Kirchen verweigert; auch forderte die oberste Kirchenbehörde ihn zu einer Erklärung auf. Sie ging dahin, daß er im Sinne des Apostels Johannes auf ein lebendiges Christenthum hinwirken wolle, seine Stellung sei dieselbe, wie früher, als er ein Kirchenamt bekleidet; die Behörde war zufrieden, es wurde dem Kirchenconvente jeder Gemeinde anheimgestellt, ob die Kirche Werner zu seinen Vorträgen überlassen werden solle.
Die freiere Bewegung der Jahre 1848 und 49 gab auch ihm freiere Bahn; allein mit dem Rückschritt auf dem staatlichen Gebiete hielt der kirchliche gleichen Schritt; es liefen Seitens der Geistlichen Beschwerden ein mit Zweifeln, ob Werner noch auf dem Boden der Landeskirche Augsburgischer Confession stehe. Die symbolischen Bücher spielen dabei bekanntlich eine große Rolle; da jedoch diese für das werkthätige Christenthum Werner’s zu eng sind und er es verschmähte, nur dem Buchstaben zu huldigen, so trat er als Geistlicher der Landeskirche aus, worauf ihm die Benutzung der Kirchen verboten wurde. Und so steht es noch heute.
Sein Werk aber gedieh trotz dieser nicht freundlichen Stellung zur Kirche fröhlich weiter. Von der richtigen Erkenntniß ausgehend, daß solche Anstalten sich selber erhalten müssen, mehrte er den Betrieb seiner Landwirthschaft; ferner richtete er mit Jungfrauen eine eigene Schule für seine Anstalt ein. Bald schlossen sich auch einige männliche Glieder der Gemeinschaft an, und nach [238] zehn Jahren zählte diese schon über 100 pflegende und gepflegte Personen.
Das Jahr 1848 mit seinen Regungen auf staatlichem, kirchlichem und socialem Gebiete eröffnete auch Wernern ein weiteres Feld; er erkannte, daß die Industrie, die Theilung und doch wieder die Gemeinsamkeit der Arbeit, statt die Kluft zwischen Capital und Arbeit, zwischen Herrn und Arbeiter immer mehr zu erweitern, und statt, wie vielfach behauptet wird, Sittenlosigkeit und Elend zu verbreiten, ganz besonders geeignet sei, auf dem Boden christlicher Liebe, Hingebung und Opferfähigkeit einer großen Anzahl der verschiedensten Kräfte nicht blos das geeignete Feld für ihre Thätigkeit und die Mittel zu einem genügenden Dasein zu geben, sondern noch weiter die Mittel zu schaffen, das Werk der Liebe immer mehr auszubreiten.
Werner spricht dies in einem seiner „Sendbriefe“ (als Handschrift für die Brüder gedruckte Mittheilungen, welche in Zwischenräumen von 6–8 Wochen seit etwa acht Jahren, so weit das persönliche Erscheinen Werner’s dies nicht thut, den Verkehr zwischen den Gliedern vermitteln) mit folgenden Worten aus: „Ich lernte die Kräfte kennen, welche im Menschen, namentlich im Weibe, für die Ausübung der Nächstenliebe verborgen liegen, ein reiches Pfund, was die katholische Kirche trefflich zu nützen weiß, während es die unsere fast ganz brach liegen läßt. Es wurde ihm klar, welch’ richtiger Gedanke der Stiftung von Klöstern zu Grunde liege, und daß unsere Kirche ähnliche ihrem Geiste entsprechende Anstalten zur Belebung und Bethätigung ihrer Grundsätze erhalten müsse. Um den Liebesdienst an den Armen recht besorgen zu können, so daß der Nächste geliebt wird wie wir selbst, müssen Personen ihn verwalten, die sich ihm mit ungeteilter Hingabe widmen. Diese Hingabe muß in voller Freiheit geschehen und bleiben, fern vom Zwange der katholischen Klöster, und muß stets zum Hauptgegenstand ihrer Thätigkeit Nutzleistungen für das Wohl der Menschen haben. Hierdurch werden die Gefahren abgewendet, die dem klösterlichen Berufe drohen, und Brennpunkte gebildet, in welchen das heilige Feuer geweckt und erhalten wird. In solchen Anstalten muß der Levitenstamm des alten Bundes, der kein Land besaß und des Herrn Eigenthum war, und dessen Dienst wieder dargestellt werden, dieses Salz und dieser Sauerteig des Volkes Gottes. Für diesen Dienst ist hauptsächlich das Weib berufen, das in der protestantischen Kirche seine volle Geltung noch nicht errungen hat und so oft müßig und verachtet am Markte steht. Ich sah im Geiste, welch großes Heil die Verwirklichung dieser Gedanken der Menschheit schaffen würde, und daß es nichts Anderes bedürfe, als daß das Wort Fleisch (die Wahrheit der Liebe Wirklichkeit) werde, um seine Herrlichkeit seine erlösende, heilende und beseligende Kraft zu schauen.“ –
Werner zögerte nicht, den Gedanken zur That zu machen; an Pfingsten 1850 kaufte er eine in Gant gerathene Papierfabrik um 40,000 Gulden. Es war ein kühner Schritt, in den Augen Vieler wohl eine Thorheit, da Werner keine Kenntniß von der Fabrication hatte, die Mittel zum Kaufe entlehnen und wohl noch ebenso viel auf die Herstellung verwenden mußte.
Er hat es, wenn auch mit Sorgen und Mühen, durchgefochten, und jetzt hat er, weil die Reutlinger Fabrik manche Nachtheile nicht bewältigen konnte, in Dettingen eine neue Papierfabrik gebaut. Der Bau ist 307 Fuß lang, 50 Fuß breit, drei Stock hoch, massiv, mit einem einstöckigen Hintergebäude von gleicher Länge und 46 Fuß Breite; der Betrieb ist auf 24 Holländer und 2 Papiermaschinen berechnet, von den ersteren sind acht, von den letzteren eine bereits im Gange; bis nächsten Sommer wird das Ganze vollendet sein. Die Thatsache einerseits, daß beinahe sämmtliche Maschinen aus der Werkstätte des Bruderhauses hervorgegangen, andererseits daß Werner, als er nach Dettingen ging, um mit dem Gemeinderathe über den Bau zu unterhandeln, kaum so viel Geld hatte, um die Zeche im Wirthshause zu bezahlen, während das Unternehmen einen Aufwand von über 200,000 Gulden erforderte, lassen der Thatkraft des Mannes und seiner Mitarbeiter, so wie der Lebensfähigkeit der Gemeinschaft überhaupt, verbunden mit einem unbesiegbaren Gottvertrauen, alle Anerkennung und Bewunderung zollen.
Der Bau dieser Fabrik kann als ein Abschluß der Thätigkeit Werner’s auf diesem Gebiete betrachtet werden, der, wenn er nicht blos äußerlich fertig, sondern auch mit seinem Betrieb und den dazu nöthigen Arbeitskräften als wesentliches Glied in die große Familien-Gemeinschaft sich einordnet und neben der Arbeit, Zucht und Ordnung für die einzelnen Glieder dem. Ganzen die Mittel zu immer freudigerem Gedeihen liefert, den Werth und die Bedeutung vollständig verdient, die Werner selbst unter den vielen Sorgen und Mühen während des Baues und jetzt, nachdem er vollendet, auf denselben legte und noch legt.
Für die Entwicklung des älteren Gebietes der landwirthschaftlichen Thätigkeit waren die Zeiten in den ersten Jahren des verflossenen Jahrzehntes besonders günstig. In dem gesegneten Schwaben nämlich traten, nachdem das Jahr 1849 so viel begraben, auch in der Natur Stillstand und Rückschritt ein; Wein, Obst und Kartoffeln geriethen nicht, Getreide nur mäßig, das Holz hatte keinen Werth mehr; die Noth stieg in manchen Gegenden des Landes, namentlich Waldgegenden, auf große Höhe; es konnte nicht fehlen, daß an Werner neben der allgemeinen noch manche besondere Aufforderung kam. Von vielen nur ein Beispiel. In Fluorn[WS 1], einem Dorfe des Schwarzwaldes, das noch außerdem mehrfach durch Hagelschaden heimgesucht worden war, wurde ein Dritttheil der Bürger vergantet; 70 Kinder sollte die Gemeinde, resp. die übrigen Glieder, die selbst nichts übrig hatten, unterhalten.
Werner brachte zunächst 20 von den Kindern bei sich und anderwärts unter; er kaufte sodann im Orte eine Mühle mit 40 Morgen Landes und verpflanzte auf dieselbe weitere 40 Kinder. Von der Mühe und der Noth, die anfangs auf dieser Ansiedlung herrschte, ließe sich ein langes Capitel erzählen, in seiner Weise so ansprechend und belehrend, als die Geschichte einer Ansiedlung im Urwald oder auf einer Insel. Jetzt besitzt diese Anstalt 300 Morgen Feld und ist in blühendem Zustande. Solcher Anfang hatte Nachfolge; billige Güterpreise auf der einen, die Noth auf der anderen Seite boten da und dort Gelegenheit und Anlaß; nicht selten gab ein bäuerliches Ehepaar, das Wernern anhänglich, Haus und Hof und seine Kräfte her zur Erziehung armer Kinder; mit einigen Kindern wird angefangen, im Laufe der Jahre wird eine Anstalt mit 60 Gliedern und eigener Schule daraus.
Hier wird in einem leer stehenden Schlößchen eine Filetstickerei eingerichtet, dort eine Ziegelei gekauft, und eine Erziehung für geistesschwache Knaben damit verbunden; bald ist es ein Wirthshaus, bald eine unbenutzte Wasserkraft, dann eine zu Grunde gegangene chemische Fabrik, die Werner erwirbt. Ueberall richtet er mit merkwürdigem Scharfblick dasjenige ein, was nach den Verhältnissen paßt; es sind, wie schon oben bemerkt, 22 Zweiganstalten, die alle, die eine mehr, die andere weniger, in gedeihlichem Fortgange sich befinden.
Fragt man nun nach dem Grund und Wesen der inneren Einrichtung dieser Gemeinschaft, so ist es eine große Familie; Werner und seine Frau sind Vater und Mutter, die anderen Kinder (eigene Kinder hat Werner nicht), große und kleine Geschwister. Keines erwirbt für sich, sondern nur für das Ganze, von dem Jedes empfängt, was es für des Lebens Nahrung und Nothdurft braucht. Man darf hierbei nicht an eine alle Verhältnisse mißachtende Gleichmacherei denken, die Unterschiede der einzelnen Glieder in der Gesellschaft finden vollständig ihr Recht. Werner steht in dieser Familien-Gemeinschaft nicht allein, es sind ihm unter seinen Kindern tüchtige Mitarbeiter und Arbeiterinnen geworden, die theilweise in Reutlingen mit ihm, hauptsächlich aber als Vorstände der verschiedenen Zweiganstalten wirken; sie bilden einen Rath der Aeltesten, hervorgegangen aus der Wahl der Hausgenossen, der mit Werner die Aufsicht und Leitung des Ganzen besorgt und monatlich einmal sich versammelt.
So weit Glieder eintreten, die Vermögen mitbringen, wird ihnen dieses gut geschrieben und bleibt ihnen, resp. ihren Kindern, vorbehalten; was sie erwerben, gehört der Gemeinschaft, die sie dagegen in gesunden und kranken Tagen vollständig versorgt. Wer ein Gewerbe hat, treibt dies fort; müßig gehen darf Niemand.
Der Austritt steht jederzeit frei, natürlich ohne Anspruch an das Vermögen der Gemeinschaft.
Der Grundgedanke einer Rettungs-, Versorgungs- und Erziehungs-Anstalt ist noch jetzt maßgebend; es sind nicht blos Waisen, die überall her, auch über die Grenzen von Württemberg hinaus, zu ihm kommen, sondern auch Manches, an dem die Zucht der eigenen Familie vergeblich gewesen, wird Wernern zugewiesen; er [239] versucht es mit Jedem, schon bei Manchem ist es gelungen, wenn gleich Viele wieder gehen.
Neben denen, die ganz zu der Gemeinschaft gehören und in die Haupt- oder eine der Zweiganstalten eintreten, giebt es noch solche, die in ihrem häuslichen Kreise und Berufe bleiben, aber die Zwecke des Vereines nach Kräften befördern, namentlich durch regelmäßige Geldbeiträge; außerdem haften beiderlei Mitglieder neben dem Vermögen der Gesammtheit noch persönlich für Anlehen, welche die Gemeinschaft aufnimmt. Einen weitern Kreis, „Verein zu gegenseitiger Hülfeleistung“, bilden solche, welche einen jährlichen Beitrag von mindestens 5 Gulden als unverzinsliches Darlehen geben. Der Geist, der durch diese Familie, resp. ihre einzelnen Kreise weht, ist kein finsterer, kopfhängerischer, wie vielleicht Mancher als mit der Frömmigkeit nothwendig verbunden meint; der Unterricht ist ein allseitiger, und neben dem Worte Gottes werden Geschichte, Erdbeschreibung etc. gelehrt. Spiele und Spaziergänge finden häufig statt; die erwachsene Jugend bildet in Reutlingen einen Turnverein und eine Abtheilung der Feuerwehr.
Werner selbst ist eine hohe, kräftige Gestalt, mit freundlich ernstem Gesichtsausdruck; seine Vorträge sind, wenn auch mannigfach in alttestamentlicher Redeweise sich bewegend, ansprechend und in Verbindung mit seiner Persönlichkeit, wie der Erfolg es zeigt, ergreifend. Es sind nicht blos Arme und Verlassene, die sonst keinen Platz in der Welt hatten, die in das Bruderhaus sich flüchteten; der Verfasser kennt mehrere Männer, welche ein blühendes Geschäft, Ansehen und Stellung hatten, die mit Weib und Kind nach Reutlingen übersiedelten und jetzt zu den tüchtigsten Mitarbeitern Werner’s zählen; noch kürzlich hat ein württembergischer Gerichtsactuar sein Amt aufgegeben, um als Anwalt in die Gemeinschaft zu treten, die allerdings für die mannigfachen Beziehungen, in denen sie zu der Welt um sie her steht, einen Rechtsverständigen gut brauchen kann.
Der Verkehr zwischen den verschiedenen zerstreuten Anstalten geschieht theils durch die schon erwähnten Sendbriefe und die Versammlungen der Aeltesten; hauptsächlich aber wird er lebendig erhalten durch die Besuche, die Werner von Zeit zu Zeit macht, und die Vorträge, die er dabei hält. Seinen Namen „Reiseprediger“ verdient er vollkommen, er leistet Erstaunliches: vier bis fünf Vorträge an einem Tage, an verschiedenen Orten, die meist drei bis vier Stunden von einander entfernt liegen, ist für ihn nichts Seltenes; das Bedürfniß des Schlafes kennt er in geringem Maße, auch ist er ein gewaltiger Fußgänger.
Alle Jahre an Pfingsten wird eine Hauptversammlung aller Glieder gehalten. Die räumliche Verbreitung der engeren und weiteren Gemeinschaft erstreckt sich über Württemberg und einen Theil der deutschen Schweiz; eine besondere kirchliche Seele bildet sie nicht; sie steht innerhalb der Landeskirche, wenn sie gleich von der evangelischen Freiheit Gebrauch macht und ihr Christenthum auf ihre eigene Weise bethätigt.
Die Schwierigkeiten und Mängel einer solchen Gemeinschaft lassen sich natürlich nicht verkennen; sie sind da, wie in der Familie jedes Einzelnen, auch des Trefflichsten, natürlich nur in vergrößertem und erhöhtem Maßstabe, da es nicht blos viele, sondern zum Theil verwahrloste Kinder sind. Die Stellung der einzelnen Familien in der Familie sodann dürfte einer der schwierigsten Punkte sein; sie haben zwar eigene Wohngelasse für sich und die Kinder, der übrige Haushalt aber ist gemeinsam, in Reutlingen speisen z. B. sämmtliche Erwachsene, ledige und verheirathete, aus einer Küche in einem Saale, die Kinder desgleichen. Ob hierin nicht Widersprüche liegen, in wie weit überschüssige Kraft und Liebe über die eigene Familie hinaus für die Gemeinschaft noch übrig bleibt, kann zweifelhaft werden. Die Opferfähigkeit des Weibes, die Werner ganz richtig als ein Hauptmittel für sein gemeinnütziges Wirken erkannte, findet in der Liebe zu Mann und Kindern ihre naturgemäße Befriedigung. Werner kann, wenn er es sich auch nicht eingesteht, das Heirathen unter den Gliedern seiner Gemeinschaft nicht begünstigen, da sie dann jedenfalls nicht mehr ganz mit allen ihren Kräften derselben gehören, während gerade in der Gemeinschaft die Lust zu Ehebündnissen Anlaß findet.
Die Ordnung der Vermögensverhältnisse des Vereines wird gleichfalls noch manche Schwierigkeit zu überwinden haben; ob die ganze Schöpfung ihren Gründer überleben wird, ist noch die Frage, zur Zeit jedoch eine müßige, da Werner noch in guten Jahren einer trefflichen Gesundheit sich erfreut. Ein Züricher Pfarrer schließt seine Schilderung von Werner’s Wirken mit folgendem Urtheile, dem Jeder, er mag auf einem Standpunkte stehen, auf welchem er will, beistimmen kann: „Sicherlich läßt sich an dem Wirken Werner’s Vieles tadeln und aussetzen. Der Grundgedanke aber, daß es Viele giebt und Mehrere, als man oft meint, welche Beruf, Trieb und Fähigkeit haben, sich nur dadurch recht zu leben, daß sie ganz für die hilfsbedürftigen Nächsten leben und sich aufopfern, der ist ewig wahr; und daß immer diejenigen wieder aufstehen, die diesen Gedanken verwirklichen, das ist ein ehrendes Zeugniß für die Gottbegabung der menschlichen Natur. Bei aller menschlichen Unvollkommenheit ist das Wirken Werner’s ein solch köstliches Zeugniß für der Menschheit göttliche Würde, und Er – ein großer Mann, Einer der Edelsten und Tüchtigsten unseres Jahrhunderts!“
Geschrieben soll Vorstehendes sein nicht zu persönlichem Ruhme des Mannes, den er selber am wenigsten begehrt, wohl aber als eine Mahnung an Jeden, in seinem Kreise und nach seinen Kräften das Gleiche zu thun, – es kann in der verschiedensten Weise geschehen, – zu sorgen, daß es nicht blos ihm selbst und den Seinen, sondern auch dem Nächsten wirklich und wahrhaftig wohlergehe auf Erden. Kommt aber Einer oder Eine der geneigten Leser und Leserinnen einmal ins Schwabenland, so mögen sie einen Besuch im Bruderhause zu Reutlingen nicht versäumen; wirkliche Theilnahme findet jederzeit eine freundliche Ausnahme.
Blätter und Blüthen.
Schnellklärung trüber Flüssigkeiten. Klarheit ist für fast alle Flüssigkeiten, mögen sie zum Genuß oder für technische Zwecke bestimmt sein, ein nothwendiges Erforderniß. Man bietet deshalb Alles auf, dieselben in möglichster Reinheit darzustellen, und sucht solche, wenn durch natürliche Ablagerung die Beseitigung des Trüben nicht erreicht oder zu lange Zeit dazu erfordert wird, durch mechanische Abscheidung oder durch chemisch wirkende Mittel zu erzielen. Gewohnheit und Bequemlichkeit haben bisher die Anwendung des chemischen Klärverfahrens bevorzugt, obgleich dasselbe zum Nachtheil des Gehaltes der Getränke geübt wird und in gar vielen Fällen unzulänglich erscheint, während die erstere Methode, wie dies die Arbeiten in den chemischen Laboratorien und die Natur im selbst geläuterten Quellwasser beweisen, richtiger, billiger, rascher und sicherer ist.
Man klärt oder schönt z. B. Wein, Bier, Cider, Essig etc. mit Hausenblase, Eiweiß, Blut und andern Substanzen, welche eine Verbindung mit dem in den Flüssigkeiten enthaltenen Gerbestoff eingehen, als solche eine Gallerte bilden und so die trübenden Theile niederschlagen. Der Gerbestoff, welcher in der Klärungsverbindung (der sogenannten Schönung) mit fortgenommen wird, ist aber ein sehr nothwendiger Bestandtheil für jene Getränke, als Bedingniß ihrer Haltbarkeit und Vervollkommnung ihres Wohlgeschmacks. Seine Verminderung kann daher nur von Nachtheil sein, aus welchem Grunde auch z. B. alte, erfahrene Weinküfer nur ungern an’s Schönen der Weine gehen, indem sie behaupten, „mit jeder Schönung würde dem Wein ein Kleid ausgezogen“. Oftmals erweist sich die chemische Klärung ganz wirkungslos, weil entweder zu wenig oder zu viel des Stoffes, der sich mit der Schönung verbinden muß, in der Flüssigkeit enthalten ist, oder weil noch andere Stoffe eine Gegenwirkung ausüben. Nur lange Praxis giebt in ersteren Fällen an, was man zuzusetzen oder vorher auf andere Weise zu vermindern hat; in letzterem Falle ist vielfach die älteste Erfahrung am Ende.
Solchen Nachtheilen und Uebelständen gegenüber ist es daher von
hoher Wichtigkeit, daß man in der Neuzeit auch auf diesem Gebiete Verbesserungen
angestrebt hat. Die Benutzung der plastischen Kohle und die
Mitanwendung der Luftpumpe bei der Filtration waren anerkennenswerte
Versuche, wenn auch beide Methoden, weil sie mangelhaft und unzulänglich
sind, in der Praxis kaum weitere Anwendung finden können. Ein
größerer Fortschritt von bedeutenderer Tragweite ist neuerdings durch die
Auffindung und Zubereitung eines fast für alle Flüssigkeiten anzuwendenden
mechanischen Klärmittels und durch Darstellung der dazu nöthigen
praktischen Apparate gemacht. In der Steingutfabrik der Gebr. Möller
zu Unterlöditz bei Königsee in Thüringen werden aus einer glasirten, steinartigen
Masse, welche durch Säuren und andere Schärfen nicht angegriffen
wird, Apparate angefertigt, welche den Anforderungen vollkommen genügen
und nicht sowohl befriedigende, als höchst überraschende Resultate
gewähren. Ein solcher Apparat ist mit der größten Leichtigkeit durch
Einlage des Klärmittels hergerichtet, die trübe Flüssigkeit wird hineingeleitet
und fließt sofort glanzklar aus dem Mittel heraus, wobei es sich
[240] gleich bleibt, ob man die Abklärung durch Abfluß nach unten, oder mittelst
hydrostatischen Druckes nach oben zu erreichen sucht. Die Klärung
geht so schnell vor sich, daß der geregelte Zufluß der trüben Flüssigkeit den
unverweilten Abfluß der geklärten bedingt. – Der Werth dieses Fortschritts
ist um so mehr unschätzbar, als man ja den größern Maßstab anlegen
kann und das Klärmittel sich fast gar nicht abnutzt und immer wieder,
auch von einer Art Flüssigkeit zur andern, zu brauchen ist. Apparate
dieser Art, welche in der Stunde 30–60 Quart klären, kosten 5 Thaler.
Sie können für Wasser, Wein, Cider, Bier, Essig, Spirituosen, Säfte etc.
benutzt werden, weshalb die Sache von größtem Interesse für Geschäftsleute
aller Branchen und für jede Haushaltung ist. R.
Crinoline von unten und oben. Bei der rastlos fortschreitenden
Cultur-Entwicklung der Menschheit in allem Guten und Schönen, in
Militär- und Armensteuer-Budgets, durfte auch das weibliche Geschlecht,
„der Unterrock in der Weltgeschichte“, wie Wehl einst schrieb, nicht zurückbleiben:
die schöne Crinolinen-Glocke muß auch ’ne schöne „Knuppe“
haben. Auch über Kopf und Büste muß Crinoline getragen werden; nicht
Crinoline von Stoffen, aus denen Hufeisen und Grobschmiedehämmer gemacht
werden, das Stück von zehn Silbergroschen an und doch weit genug
für zehn starke Dragoner; nein, Kopf-, Wangen-, Nacken-, Hals und
Busen-Crinoline von den feinsten Stoffen à 20 Guineen oder beinahe
anderthalbhundert Thalern, dann aber echt.
Diese feine, vollkommenste aller Crinolinen von oben ist neueste, fashionabelste, bezauberndste, kostspieligste Mode in Paris, besonders aber in London, wo sich die Damen höchsten Ranges ohnehin besonders dazu eignen. Die Crinoline von oben schließt ganz eng an und ist zugleich eine Art den ganzen sichtbaren Oberkörper bedeckende, idealisirende Maske mit ungemein wohlthätig wirkenden Eigenschaften für Moral, Manieren und majestätische Junonik (womit wir die berühmte Haltung der Göttin Juno bezeichnen). Doch lernen wir sie kennen und würdigen auf demselben Wege, der den Verfasser dieses Aufsatzes in das Geheimniß einweihte, durch eine in London öffentlich verhandelte Schuldklage.
Die einundzwanzigjährige Professorin der Emaillir-, Glasir- oder Schmelzkunst auf weiblichen Oberhälften, Madame Levison, Directorin des betreffenden Ateliers in New-Bondstreet, der aristokratischen Einkaufsstraße, steht vor Gericht, angeklagt, gewisse Rechnungen nicht bezahlen zu können. Oder nein. Es war vielmehr ein Bankerott-Proceß. Madame Rachel Levison (Firma: „Rachel, Emaillirerin von Damengesichtern“) hatte sich selbst für bankerott erklärt und gebeten, daß das Gericht ihre finanziellen Angelegenheiten und vielen Forderungen an Damen, die sich auf Credit à 20 Guineen von ihr Gesichter hatten machen lassen, in Richtigkeit bringe. Dabei stellte es sich denn klar heraus, wie in Madame Rachel’s „Schönheitstempel“ die crinolinirten Reize der untergeordneten schönen Hälften durch Emaillirung der obern erhöht werden. Wir bewundern Stirnen von Alabaster, glänzende Fülle des Haares, die Milch der Unschuld um die Rosen der Wangen, Schwanenhälse und reizende Rundung, und empfängliche Jünglinge jagen nicht selten hinter solchen erscheinenden Wundern her mit Liebeserklärung- oder wohl gar Heirathsgedanken.
Halt, tollkühner Liebes-Nimrod oder Heirathscandidat! Gebiete Deinen beflügelten Freiersfüßen Umkehr, wie Stahl der preußischen Wissenschaft, ehe es zu spät ist! Willst Du Wickeln von Watte und Baumwolle, eingenähten Stahlreifen, gekauftem oder geborgtem Haar und einem emaillirten, gefärbten, dünnen, ungemein zerbrechlichen, aufgeschmolzenen Puppenkopfe, hinter welchem ungeahnte Schrecken lauern mögen, Dein Herz ausschütten? Auch wenn ein Herz dahinter schlägt, es darf Dir nicht schlagen; auch wenn reizende Wangengrübchen unter dem Aufgusse lauern, sie darf nicht lachen; auch wenn sie sich in reizender Wendung nach Dir umsehen will, sie darf den Kopf nicht wenden; auch wenn sie in Leid und Schmerz an Deinem Halse weinen möchte, sie darf keine Thräne vergießen. Jede Gemüthsbewegung ist lebensgefährlich für den reizenden Ueberguß, die Maske, die Büsten-Crinoline.
Die Sache ist, daß sich in der Gesichts-Emaillir-Professorin Rachel die feinsten Ergebnisse der Chemie und Färbekunst, des Anstreichens, Tünchens und Lackirens vereinigt haben, um den vernachlässigten Büsten des schönen Geschlechts über der hohlen Aufgeblasenheit der Crinoline wieder Reiz und Schönheit zu geben, daß sie von ihren hohen Kundinnen und Beschützerinnen oft noch durch Extravergütigungen bestochen ward, um der einen vor der andern in Ueberlackirung des Kopfes, Halses, Nackens und Busens à 20 Guineen den Vorzug zu geben.
Die Meinungen über den moralischen und ästhetischen Werth dieser kosmetischen Kunst sind sehr getheilt. Die Tugendhaften und Verehrer ungeschminkter Schönheit sprechen von Ehrlichkeit und Offenheit und erklären sich mit Entrüstung gegen diese Lackir-Waare. Modernere und höher gebildete, künstlerische Naturen stellen den Schein des Schönen über unscheinbare, oft häßliche Wirklichkeit. Die überlackirten, unten crinolinirten Damen müssen als Kunstwerke gewürdigt werden, als Bilder in Fett, statt in Oel, als lebendiger Alabaster, als athmende, organische Bildhauerkunstschöpfungen. Kunstwerke haben einen hohen Preis: jedes lackirte Gesicht kostet 20 Guineen. Kunstwerke steigen, wie Wein, mit dem Alter: nur ältere Jungfrauen und Damen lassen sich wegen der Falten und Flecke übertünchen. Die jungen und ärmeren begnügen sich mit Natur und Waschwasser. Kunstwerke werden in der Regel desto höher geschätzt, je zerbrechlicher und vergänglicher sie sind: die lackirten lebendigen Büsten sind sehr zerbrechlich und bekommen ungemein leicht „Risse“. Die zartesten Meißner, Sèvres- oder Peking-Porcellanwaaren erfordern kaum eine zartere Behandlung, als die lebendigen, gerachelten Büsten, in deren Nacken bei der geringsten Wendung Risse oder Sprünge kommen, so daß sie gehen müssen, als litten sie am „Hexenschuß“. Die von Madame Rachel fabricirten Damen müssen vor Staub und Gefühlen, vor Leidenschaft und äußerer, wie innerer Bewegung sorgfältig geschützt und nach jedem Gebrauche in Gesellschaft oder zum Spazierfahren fein säuberlich abgestäubt und aufbewahrt werden, weil die zu oft wiederholte Ausbesserung oder Erneuerung des Ueberzugs mit Deckfarben auch dem Reichen auf die Dauer zu kostspielig werden würde. Die Wirkungen in moralischer Beziehung sind entschieden wohlthätig. So eine überlackirte Dame ist sanft und ruhig. Lachen würde ihre Wangen brechen, eine salzige Thräne sie furchen, ein Zank und Streit das ganze Kunstwerk zerstören. Sie ist conservativ, ewig jung und schön. Wir werden verschont mit dem Anblick der Vergänglichkeit alles Irdischen. Reparaturen in der untern Etage der weiblichen Architektur besorgt billig der Faßbinder oder Grobschmied, in der obern bald jeder Anstreicher, Stubenmaler oder Lackirer von Lederzeug.
Der Krankheit Fessel um die starken Glieder
Liegt dort der Dichter, ein gefang’ner Aar:
Das Aug’ zur Sonne, mit gelähmter Schwinge,
Seit manchem langen, schweren Prüfungsjahr.
Und wieder Lenz, mit Duft und Blüthenschnee,
Zieh’n weg den Vorhang, ach! und schau’n dahinter,
Bei’m Kommen wie bei’m Geh’n, das alte Weh.
Wohl fordert’s Kraft, ein solches Loos zu tragen,
Indem er Engel ihm zur Seite sendet,
Zu stärken ihn in hartbedrängter Zeit.
Gethsemane war nicht die einz’ge Stätte,
Vom Flügelschlag der Engel mild umweht –
Schon sechszehn Jahr ein Engel Wache steht!
Der fliegt auf seinen Wink nach allen Winden,
Am Morgen, Abend, und wenn’s wieder tagt;
Er ist ihm Arzt und Priester, Stab und Stütze,
Flicht ihm um’s Haupt des Lenzes Blumenglocken –
Speist, sorgsam waltend, täglich Seel’ und Leib –
Und schirmt ihn vor des Winters eis’gen Flocken:
Es ist des deutschen Dichters deutsches Weib.
Und Erde, Luft und Meer – sie jauchzten auf!
Und was da athmet, was da lebt und webet,
Es regte sich und gab ihm Antwort drauf.
Doch hatt’ die volle Lösung er nicht funden
Seit welcher Jahr auf Jahr, zu allen Stunden,
Sein Engel offenbart, was Liebe ist.
A. L. ∞ in Berlin. Ueber Ihren „offenen Brief“ möchten wir Ihnen direct schreiben. Ueber den inliegenden Thaler ist unten quittirt.
Für W. Bauer’s „deutsches Taucherwerk“ sind bis 31. März eingegangen: Vom Gewerbeverein zu Waldheim 5 Thlr., von Gutsbesitzer Weyl auf Paulshofs bei Angerburg 1 Thlr., ein Leser der Gartenl. 3 Sgr., Pf. u. SuP. Stern in Marggrabow (Ostpreußen) 1 Thlr., Frl. Lina Schäfer am Theater zu Mannheim 2 Thlr., G. R. daselbst 3 Sgr., H. Ohm zu Hochwald b. Gottesberg 2 Thlr., Rasch 1 Thlr., A. L. ∞ in Berlin 1 Thlr., Dr. Asch in Breslau 1 Thl., A. K. in Bamberg 2 Thlr., Schwabbaner in Kuhnsdorf „G. m. n.“ 1 Thlr., E. E. Bock in Leipzig 2 Thlr, Findeisen in Korpitsch 15 Sgr., durch W. H. in Schwarzwald (Posen) 1 Thlr., vom Comite für Kunst und Wissenschaft zu Ottersberg 2 Thlr. 15 Sgr., von Past. Dr. Spiegel in Osnabrück 1 Thlr., durch Gebr. Nübling in Ulm von A. R. W. 1 Thlr. 10 Sgr., G. N. 1 Thlr., A. N. D. 20 Sgr., F. in L. 1 Thlr., durch die Pfeffer’sche Buchhdlg. in Calbe v. F. H. S. 3 Thlr., durch F. Beyme zu Rudnik bei Buk (Posen) von Mitgl. des deutschen Nationalvereins 10 Thlr., durch Carl Fromme (Tendler u. C.) in Wien von Mitgl. des österr. Ingenieur-Vereins 10 fl. 90 Xr., von einem Leser d. Gartenl. 30 Xr., von neun Lesern der Gartenl. 1 fl. 80 Xr., von A. B. in Pforte 1 Thlr., durch M. in Cosw. v. Lesern d. Gartenl. 2 Thlr., von einigen Deutschen in Petersburg die noch Deutsche sind, 1/2 Imperial, durch Posterp. H. Hinrichs in Berka a. d. Ilm 20 Sgr., von S. u. W. 1 Thlr. 10 Sgr., aus Lucka bei Altenburg 1 Thlr. 15 Sgr., 13 Thlr. 7 1/2 Rgr., gesammelt beim Rechnungsschmause des Bürgervereins in Leipzig, abgeliefert durch Herrn Hausen.
P. R. u. K. D. in O. Das Quittiren für die Beisteuern zu W. Bauer’s Taucherwerk kann durch uns nur in der Gartenlaube, nicht zugleich in der Weserzeitung oder im Courier geschehen.
H. O. und viele Andere. Viele unserer Leser und Correspondenten sprechen die Ansicht aus, daß ein Aufschlag der Gartenl. um 2–3 Sgr. der kürzeste Weg sei zur Sicherung des W. Bauer’schen Unternehmens. Dagegen ist ein für allemal zu erwidern, daß nur die freie Gabe den Mann ehrt und die Gartenlaube ihre Freunde viel zu hoch achtet, um sich gegen sie bei solcher Gelegenheit den geringsten Zwang zu erlauben, auch wenn sie sich ein Recht dazu anmaßen dürfte.
Expedition des A. Kreisblatts. Sie irren; die Redaction d. Gartenl. hat durchaus nicht erklärt, Beiträge für W. Bauer’s Taucherwerk nur bis Ende März d. J. anzunehmen Im Gegentheil: die Beiträge sollen nun, so hoffen wir, erst recht in Fluß kommen. Der Schluß der Sammlung wird öffentlich durch das Central-Comité erklärt, sobald sie vollendet ist.
- ↑ Siehe Jahrgang 1861, Nr. 36 und 37.
- ↑ Der verdienstvolle Gründer ist ein Herr von H., Verwandter der größten Banquierfamilie Europa’s.
- ↑ Name und Geschichte sind so sehr bekannt, in französischen Journalen so oft angeführt worden, daß ich hier durchaus keine Indiskretion begehe.
- ↑ Ich erzähle hier so allbekannte Dinge, daß von einer Indiscretion, von einem Aufdecken nur mir bekannter Thatsachen gar nicht die Rede sein kann.
- ↑ Erlauben Sie, Herr v. S –g, wäre es nicht praktischer, wenn man die größern –, welche vielleicht keine schmutzige Wäsche tragen, aber an der Spitze dieser Höllen stehen, zuerst aus der anständigen Gesellschaft entfernte und in Correctionshäuser unterbrächte? D. Red.
- ↑ Das stand schwarz auf weiß in der Indépendance vor zwei oder drei Jahren. Sollte man mich der Unwahrheit zeihen wollen, so bin ich bereit, die Nummer ausfindig zu machen.
- ↑ „Offenbarung der Liebe“, von Mosen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Fluern