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Die Gartenlaube (1862)/Heft 14

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[209]

No. 14.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ein Amnestirter.

Erzählung von J. D. H. Temme.


Amnestie!

Das Wort war lange ein Zauberwort für uns. Das Leben des Flüchtlings ist ein schweres, bitteres, trauriges. Das Vaterland ist ihm verschlossen, die Heimath bleibt ihm immer und immer fern. Er kann nicht an sie denken, ohne daß zugleich Zuchthaus und Todesurtheil vor ihm stehen.

Es ist so schön in der Schweiz, so wunderschön in Zürich. Wir lebten so frei hier, so sicher vor den Zuchthäusern und Todesurtheilen der Heimath, ein Kreis braver, trauter und treuer Freunde. Aber wenn wir auf hohem Berge standen, vor uns und neben uns und rund um uns her, wohin und so weit das Auge reichte, die erhabensten, die wundervollsten Schönheiten der Natur: das Auge flog über sie alle hinweg, es suchte nur eine Richtung, es suchte den Norden; nach Norden schweifte es in die weiteste, in die dunkelste Ferne; dort suchte es das Vaterland, die Heimath, Deutschland, und es konnte sich nicht abwenden, bis dort über die Mitternacht sich die Mitternacht legte und Alles in ihr tiefes, undurchdringliches Dunkel einhüllte. Das Vaterland hatte sich uns verschlossen, die Heimath hatte uns ausgestoßen, Deutschland sollte für uns nicht mehr da sein. Wir halten nur einen Gedanken, nur eine Sehnsucht: Vaterland, Heimath, Deutschland.

Manchen brachte die Sehnsucht in das frühe Grab, und wenn wir Anderen an dem Grabe weinten – die Sehnsucht wurde in uns nur um so mächtiger, schmerzlicher, glühender. Manchem, dem das Herz nicht brechen konnte, wurde es zu schwer. Die Sehnsucht trieb ihn zurück in die Heimath. Lieber das Zuchthaus, lieber den Tod! Aber hier in der Fremde kann und kann ich es nicht mehr aushalten! Sie kehrten zurück, sie fanden den Kerker! Die Armen! Die Geduld hatte sie verlassen. Sie hätten die Enttäuschung wohlfeiler haben können.

Die Amnestie kam. Nur noch nicht nach Sachsen. Aber von Sachsen erzähle ich hier nicht. Von Sachsen habe ich anderswo eine Geschichte erzählt, auch von einem armen Flüchtlinge, der das schöne Zürich verließ, um nur auf eine einzige Stunde die Heimath seiner Kinder wieder zu sehen, von denen er seit so vielen Jahren nichts gehört hatte. Das Wiedersehen hatte ihm nicht nur das Herz gebrochen, es hatte ihm auch den Geist zerrüttet.

Die Amnestie kam. Das Vaterland stand uns wieder offen. Wir durften in die Heimath zurückkehren. Wir waren wieder Deutsche. Nahm uns das Vaterland wieder auf? Das war die Frage, oder vielmehr es war nicht einmal die Frage.

Wir blieben in der freien Schweiz und sind noch da. Und wenn wir auf den hohen Bergen stehen und der Blick nach allen Seiten in die unbegrenzte Ferne schweifen kann – ja, unsere Augen und unsere Herzen suchen auch jetzt noch das theure deutsche Vaterland auf, aber nicht mit Sehnsucht, sondern voll von Schmerz, daß wir uns nicht nach ihm sehnen können, und daß es noch so lange dauern wird, daß wir es nicht mehr erleben werden, bis ein freies deutsches Herz sich wieder nach Deutschland hin sehnen kann.

Einzelne waren gegangen, nur Wenige. Sie kehrten nach wenigen Tagen, nach wenigen Wochen zurück. Das Vaterland hatte sie nicht wieder annehmen, die Freunde hatten sie nicht mehr kennen wollen, das Volk – ach, das Volk, das deutsche Volk ist immer brav und edel, aber wenn denen, die seine Führer sein wollen, der Muth oder gar noch mehr abhanden gekommen ist, dann werfe man keinen Stein auf das Volk. Seine bessere Zeit wird schon kommen.

Mit den Wenigen war Einer gegangen, den meine allerherzlichsten Glückwünsche begleitet hatten. Er war von Allen, die zurückkamen, der Unglücklichste. Von ihm will ich hier erzählen.

Es war ein stiller, milder, blasser junger Mann. Er konnte im Anfange der dreißiger Jahre stehen und war einige Monate nach der badischen Revolution nach Zürich gekommen, nachdem schon längst die Trümmer des badischen Revolutionsheeres die schweizerische Grenze überschritten und in der Schweiz eine Zufluchtsstätte gefunden hatten.

Seine Cameraden hatten ihn für todt gehalten. In einem der letzten Gefechte hatten sie ihn fallen sehen. Er hatte an der Spitze seiner Compagnie gekämpft, wie jung er auch damals noch war; er hatte damals kaum zwanzig Jahre zählen können. Er und seine Leute waren immer und überall die Ersten gewesen, wo die Gefahr am größten war. Eine Gewehrkugel hatte ihm in dem Gefechte das Bein zerschmettert. Er war niedergesunken und hatte sich nicht aufrichten können; einige von seinen Leuten hatten ihn aufgehoben und aus dem Gefechte getragen, hinter eine Hecke. Sie hatten auf seinen Befehl in den Kampf zurückkehren, ihn verlassen müssen. Seitdem hatte man nichts mehr von ihm gesehen, nichts mehr von ihm gehört.

Seine Cameraden hatten ihn alle als todt betrauert. Sie hatten ihn nur kurze Zeit gekannt, aber in der kurzen Zeit als den muthigsten und tapfersten Soldaten achten, als den bravsten und treuesten Cameraden lieben gelernt. Er war mitten in den Revolutionskrieg hineingekommen, aus einem anderen deutschen Lande, das seine Heimath war, und in dieser Heimath aus dem Gefängnisse, in das man den Jüngling eingesperrt hatte, weil die Gerichte seiner Heimath ihn als Hochverräther verurtheilt hatten. Er hatte sich aus dem Kerker befreit; wie, das wußte man nicht. Man wollte nur im Allgemeinen von einer fast wunderbaren Errettung, von großen [210] Gefahren und noch größerem Muthe gehört haben. Er selbst hatte nie darüber gesprochen. Er war überhaupt schweigsam, verschlossen. Ein Schmerz, ein Gram schien ihm das Herz zu erfüllen, die Lippen zu verschließen. So wußte man auch sonst nichts aus seinem früheren Leben.

Er kam in Zürich an. Wie er befreit und gerettet wurde, das wußte man auch jetzt nicht. Arme Leute hätten ihn gepflegt und verborgen gehalten, bis er wieder habe gehen können; das Glück habe ihn über die Grenze und in Sicherheit gebracht. Das war Alles, was er mittheilte, und auch nur, wenn er gefragt wurde. Weiter dann mit Fragen in ihn zu dringen, dazu hatte Keiner das Herz. Er kam elend, krank zurück und mußte sich beim Gehen auf eine Krücke stützen. Konnte er auch später die Krücke fortlegen, krank und schwach blieb er lange, und bleich war er immer, und ein tiefer Schmerz konnte nicht aus seiner Brust weichen und ein schwerer Gram nicht von seinem ganzen Wesen. So war er still, für sich allein, die Menschen meidend, auch seine früheren Cameraden.

Aber wo man ihn traf, war er stets milde, freundlich, theilnehmend, selbst manchmal mittheilsam. Nur über sich, über sein Leben, über seine Schicksale sprach er nie ein Wort. Nicht einmal seiner Heimath erwähnte er. Eins erfuhren wir von ihm, daß er zu leben hatte, daß er keiner fremden Unterstützung bedurfte. Er war immer gern und zuerst dabei, wenn irgend ein armer Flüchtling gegen die Noth und die Sorge des Lebens unterstützt werden mußte. Und wie oft mußte das geschehen! Wie und woher er seine Gelder erhielt, auch davon wurde nichts bekannt.

Seine Cameraden aus dem badischen Feldzuge hatten sämmtlich im Laufe der ersten paar Jahre Zürich verlassen. Man sah ihn seitdem nur noch seltener. Ich begegnete ihm nur auf einsamen Spaziergängen. Sein zerschossener Fuß war geheilt; er war nur lahm geblieben. Er war immer, blos still grüßend, an mir vorübergegangen; um so mehr war ich verwundert, als er nach längerer Zeit eines Tages mich besuchte. Indeß nur eine Geschäftssache hatte ihn zu mir geführt.

Er hatte in der Heimath einen alten Oheim, der, selbst kinderlos, den größeren Theil seines nicht unbedeutenden Vermögens ihm zuwenden wollte, jedoch in Verlegenheit war, wie dies einzurichten sei, damit die heimathliche Regierung das Geld nicht in Beschlag nehme. Er bat mich um meinen juristischen Rath. In der Heimath wagte man nicht, sich einem Gerichte oder Advocaten anzuvertrauen. Die Justiz war damals in vielen deutschen Ländern allerdings danach. Ich gab ihm meinen Rath. Die Sache war danach eingeleitet und mit Erfolg. Er theilte mir die Nachricht mit und hatte in der Sache mehrmals mit mir conferiren müssen. Ich hatte dabei mehr und mehr sein wahrhaft klares, edles Herz kennen gelernt; aber über sein früheres Leben, über seine Schicksale erfuhr ich dennoch nichts mehr, als was wir Alle schon wußten. Nicht einmal den Namen seiner Heimath sprach er, auch jetzt nicht, aus, nicht den Namen seines Onkels oder anderer Verwandten.

Er selbst nannte sich Alexander Roth, so hatte er sich auch in der badischen Armee genannt. Ob es sein rechter Name war, wußte Niemand. Einer seiner früheren Cameraden hatte daran zweifeln wollen. Ein Soldat in der Compagnie hatte behauptet, den Hauptmann Roth vor einem Jahre in einer großen deutschen Residenz unter sehr vornehmen jungen Herren gesehen, nachher aber Allerlei von einer sonderbaren, geheimnißvollen Vergiftungsgeschichte gehört zu haben. Der Mensch war aber als ein Abenteurer und Aufschneider bekannt gewesen, und er konnte sich auch geirrt haben.

Ein Zufall sollte mich später – es war im Sommer 1856 – auf eine Spur – nur auf eine Spur und auch nur auf die einer einzigen Begebenheit, eines einzelnen Abenteuers aus seinem früheren Leben führen. Freilich, auf wie viel Anderes war daraus zu schließen!

Ich hatte – ganz allein – eine kleine Reise zum Rheinfall bei Schaffhausen gemacht. Ich machte die Rückreise nach Zürich zu Fuße bis Constanz am, oder wie das alte Volkslied sagt, „im“ Bodensee, an beiden Ufern des Rheins entlang. Durch reizende Thäler, über anmuthige, mit Wald bedeckte Anhöhen war ich von Schaffhausen nach dem Städtchen Diessenhofen gekommen. Das einfache Städtchen interessirte mich nicht, aber das Nonnenkloster Diessenhofen zu Ende des Orts. Es ist auch einfach. Aber es liegt so lang und grau und still an dem klaren, hellen, munteren Rhein, und es war ein stiller Sommerabend, da ich ankam, und als die letzten Wolken der Abendröthe verschwunden waren, ging der Mond am Himmel auf, und in seinem blassen Scheine mußte das Kloster noch trauriger daliegen mit seinen langen, grauen, stillen Mauern und allen den armen, trauernden, weinenden, brechenden – oder schon gebrochenen Frauenherzen darin.

Ich hatte mir Kloster, Klosterhof und Klosterkirche angesehen. Aber nicht Alles von allen Seiten. Das Kloster Diessenhofen liegt mit der ganzen Länge seiner Rückseite unmittelbar am Rhein. Die Mauern stehen in dem Wasser. Ich mußte auch diese Seite sehen. Ich ging zu der Schifflände des Orts und ließ mich in einem Nachen auf den Rhein hinausfahren; nach dem Kloster hin, sagte ich zu dem Schiffer, der mich fuhr, an dem ganzen Gebäude entlang; zuerst auf der Mitte des Stroms, dann näher zu den Mauern hin, unmittelbar an sie heran. Er fuhr mich so. Das Licht des Vollmonds fiel gerade von dieser Seite, vom Wasser her auf die Mauern. Sie lagen so regelmäßig lang da, nicht grau in dem weißen Mondlichte, aber weiß, so gespenstisch weiß; die Fenster – sie waren nicht schmal und niedrig, sondern hoch und breit, und schwere eiserne Gitterstangen zogen sich vor ihnen kreuz und quer; so lagen sie in langen, langen Reihen da, neben einander und über einander, alle dunkel und schwarz und melancholisch und schaurig.

„Sind die Zellen der Nonnen auf dieser Seite?“ fragte ich den Schiffer.

„Ja, Herr. Und die Nonnen können hier alle Tage die Dampfschiffe sehen, die vorüber fahren, hin und her.“

Hinter den schweren, festen, eisernen Gittern konnten sie die Dampfschiffe sehen, mit den lustigen Wimpeln, den fröhlichen Menschen, dem lustigen Leben, frisch, frei daher ziehend, auf dem frischen freien Strom, aufwärts, abwärts, sie selbst einsam, von der Welt abgeschnitten, von dem Leben ausgestoßen, eingeschlossen wie im Grabe, bleich und traurig, verwelkend, verwelkt, nach dem Leben, nach der Freiheit, nach Menschen und nach Liebe sich sehnend, vergebens sich sehnend, bis das Grab in der Erde die armen, müden Herzen noch enger und für immer einschließt.

Ich war näher an die Mauern herangekommen. Der Nachen war keine sechs Schritt von ihnen entfernt. Ich hörte, wie die leichten Wellen des ruhigen Wassers an den Steinen plätschernd vorüber eilten. Ich sah an den Fenstern, unter denen wir vorüber fuhren, hinauf. In einem der dunklen, schwarzen Fenster zeigte sich eine weiße Gestalt. Es war schon spät, nahe an Mitternacht. Die Gestalt stand mitten in dem Fenster, hinter den dichten Gittern; hoch, fast in ganzer Figur, ganz weiß, Kleidung, Kopfbedeckung, Gesicht; auch das Gesicht, es war weißer als das weiße Nonnenkleid, als das schneeweiße Kopftuch.

„Eine Nonne!“ flüsterte der Schiffer mir zu.

Wohin mochte sie vorher geblickt, wonach mochte sie bis in die Mitternacht hinein ausgeschaut haben? Nach den freien Wellen zu ihren Füßen, nach dem grünen, waldigen Ufer drüben? Nach Liebe, nach Leben? Wir waren vorüber gefahren.

„Das dürfte die Frau Priorin auch nicht wissen,“ sagte der Schiffer.

„Was nicht?“ fragte ich ihn.

„Daß die Schwester in so später Nacht an dem offenen Fenster steht.“

„Und warum nicht?“

„Hm, Herr, sie ist noch jung, die Schwester Walpurgis, und da kann allerlei passiren, was nicht in Ordnung ist, und die Frau Priorin, die jetzt da ist, versteht keinen Spaß. Und doch mußte sie vor einigen Jahren den großen Verdruß erleben.“

„Was für ein Verdruß war es?“ fragte ich.

„Hm, eine Nonne ging ihr durch, eigentlich erst eine Novize. Aber es war doch schlimm genug, und eine curiose Geschichte war es gewiß.“

„Erzählt sie.“ Ich war anfangs nur neugierig gewesen, wie man eben auf Geschichten von entführten oder sonst entflohenen Nonnen neugierig ist. Bald sollte jedes seiner Worte meine Aufmerksamkeit spannen und fesseln.

„Es war vor sechs oder sieben Jahren,“ begann er. „Die Revolution war damals drüben in Deutschland. Der Krieg hatte schon aufgehört. Es war freilich ein sonderbarer Krieg. Nur der eine Theil wollte sich als ehrliche Soldaten gelten lassen, und wenn sie auch vor den Anderen recht ordentlich gelaufen waren, nachher aber wieder Sieger wurden, so ließen sie die Besiegten, die sie eingefangen hatten, als Rebellen vor den Kopf schießen. Wir [211] Schweizer hatten das in unserem Sonderbundskriege nicht gethan. So war denn auch, nachdem der Krieg schon zu Ende war, noch wochenlang eine förmliche Jagd auf die armen Menschen, die, verwundet oder sonst krank, nur den Anderen nicht auf Schweizer Gebiet hatten übertreten können, und alle Tage hörten wir hier von drüben die Musketenschüsse, die hinter einem Felsen oder hinter einer Hecke auf Commando fielen. Es waren so schöne Sommertage, und die Sonne schien den Unglücklichen so hell und so warm zu ihrem letzten schweren Gange.

An einem Abend – es war schon ein paar Tage still gewesen, und wir hatten hier gemeint, sie hätten dort endlich aufgeräumt – war ich, schon spät, wach geworden. Mein kleines Haus liegt dicht am Ufer des Rheins, nicht weit von der Schifflände. Ein ungewöhnliches Geräusch auf dem Wasser hatte mich geweckt. Ich horchte im Bett und meinte, fremde Stimmen ganz nahe unter meinem Fenster zu hören. Ich stand auf, um aus dem Fenster nachzusehen, was es sei. Es war Alles wieder still, und ich konnte draußen nichts sehen. Aber gerade unter meinem Fenster stehen dichte, niedrige Weiden, die weit in das Wasser hineinreichen, und in den Weiden mußte das sein, was ich gehört hatte. Ich mußte wissen, was es war. Ich verließ das Haus und ging an die Weiden; da sah ich zwei Nachen, die sich unter ihnen verborgen hielten. Sie lagen still da und waren voll fremder Soldaten, die auf etwas warteten. Wie ich sie sah, hatten sie auch mich gesehen, und ein halbes Dutzend Gewehrläufe in dem nächsten Schiffe waren auf mich gerichtet. Einer von den Soldaten aber rief mir mit leiser Stimme zu: wenn ich die Zunge oder ein anderes Glied rühre, so sei ich des Todes.

Da wußte ich auch, was sie vorhatten. Es galt wieder einem armen Rebellen, der ihnen entkommen, der in der Nacht heimlich nach der Schweiz herüber gebracht werden sollte, den sie auf dem Wasser abfangen wollten. Sie waren auf Schweizer Gebiet und hatten da nichts zu thun. Es war ein Verrath, daß sie da waren, und der Verrath sollte einem Unglücklichen das Leben kosten. Aber was wollte ich machen? Man hat zuerst das eigene Leben lieb. Ich durfte mich nicht rühren, nicht rufen. Was ich mir gedacht hatte, sollte bald eintreffen.

Von der anderen, von der badischen Seite her kam plötzlich ein kleiner, schmaler Nachen heran. Zwei Menschen ruderten ihn. Sonst sah man Niemanden darin. Aber in der Mitte glaubte man etwas am Boden liegen zu sehen. Die beiden Männer ruderten mit aller Anstrengung ihrer Kräfte. Das kleine, spitze Fahrzeug glitt schnell über das Wasser weg, und eben so still. Man hörte durch die Nacht kaum die Ruder. Die Soldaten in den beiden Nachen waren lebendiger geworden. Aber sie flüsterten nur unter einander. Der Nachen mit den zwei Männern hatte die Mitte des Stromes erreicht. Er war gerades Weges auf die Weiden zugefahren. Er bog nach links, stromaufwärts.

„Jetzt?“ fragte einer von den Soldaten.

„Nein!“ sagte kurz ein Anderer, der der Anführer sein mußte.

Er konnte seiner Sache sicher sein. Die Flüchtlinge in dem kleinen Nachen konnten ihm nicht mehr entgehen. Aber es war nur ein Flüchtling, wie wir nachher erfuhren, ein Officier von den Rebellen, der hatte zurückbleiben müssen. Er war schwer verwundet; das Bein war ihm zerschossen. So hatten ihn Bauern aus der Nachbarschaft gefunden; er war beinahe am Sterben gewesen. Sie hatten ihn mitgenommen, gepflegt, verborgen, und vierzehn Tage lang war ihnen das geglückt. Da war er den Soldaten verrathen. Wenn er gefunden wurde, so wurde er erschossen. Der arme Mensch – er war noch ein ganz junges Blut - war noch krank, elend; er konnte nicht allein stehen, viel weniger gehen. Die Bauern flüchteten mit ihm. Sie mußten ihn tragen. Sicher war er nur in der Schweiz. Aber wie ihn über den Strom, der immer bewacht war, dahin schaffen? Sie hatten doch Schlupfwinkel in den Felsen am Wasser, die nur sie kannten. Sie hatten unbemerkt den kleinen Nachen dahin zu schaffen gewußt. Sie hatten den Verwundeten hineinbringen, in dem Dunkel der Nacht unbemerkt vom Lande abstoßen, die Mitte des Stroms gewinnen können.

Aber die Soldaten hatten Alles berechnet. Sie hatten mit zwei Nachen heimlich das Versteck unter den Weiden aufgesucht und konnten von da aus weit nach beiden Seiten hin das Schweizer Ufer wahren. Vielleicht waren oberhalb wie unterhalb in gleicher Weise ihrer noch mehrere versteckt. Der arme, verwundete Flüchtling war ihnen sicher. Mit dem einen ihrer Kähne brauchten sie nur rechts, mit dem anderen links zu fahren, so hatten sie den kleinen Nachen in der Mitte, lange bevor er das freie Schweizerufer erreichen konnte. Sie ließen den Nachen näher kommen.

„Jetzt!“ rief der Anführer.

Sie flogen in den Strom hinein. Jetzt erst gewahrten die beiden Ruderer sie. Sie hatten mit keinem Gedanken ihrer Seele daran gedacht, daß von dem Ufer der Schweiz her ihnen ein Verfolger kommen könne. Auf einmal sahen sie zwanzig Soldaten hinter sich. Es waren ein paar tüchtige Burschen, die beiden Männer an den Rudern. Sie hatten nach der Schifflände beim Kloster zugesteuert. Dort war der bequemste Landungsplatz. Sie konnten nicht mehr hinkommen, der eine der verfolgenden Nachen hatte ihnen schon den Weg verlegt. Sie konnten aber auch nicht zurück, denn der andere Nachen war ihnen im Rücken. Sie faßten sich dennoch schnell. Sie steuerten und ruderten mit Leibeskräften auf das Kloster zu. Es war dunkler dicht unter den Mauern, die Strömung, der sie entgegenfahren mußten, war dort schwächer; mit ihrem leichten, schmalen Fahrzeuge konnten sie daher schneller vorwärts kommen, als die schweren, breiten Nachen der Verfolger. Aber das Kloster ist lang; an die Mauer des Klosters schließt sich nach oben hin eine noch längere Gartenmauer an, die auch noch im Wasser steht, und der Mensch wird vom langen und schweren Arbeiten müde, und die Kräfte lassen ihm nach.

Die Soldaten kamen den Verfolgten immer näher. Der arme, verwundete, kranke Flüchtling war verloren. Mir schnitt es in das Herz. Ich hatte laut zu Hülfe gerufen, als die Soldaten fort ruderten. Aber mein Häuschen liegt allein am Wasser. Die Häuser der Stadt stehen weiter zurück. Es war beinahe mitten in der Nacht. Der ganze Ort schlief. Kein Mensch hatte mich gehört; Niemand kam. Ich mußte zu der Stadt, zu den nächsten Häusern rennen.

„Zu Hülfe!“ rief ich. „Heraus, ihr Leute! Fremde Soldaten kommen an’s Land. Zum Kloster, zum Kloster!“

Die Leute stürzten aus den Häusern. Ich eilte mit ihnen zum Wasser zurück, nach dem Kloster zu. Wir wollten einen Angriff auf die Soldaten machen; wir waren in unserem Rechte; sie hatten auf freiem Schweizer Gebiete nichts zu schaffen. Es waren viele Menschen gekommen. Wir wollten uns vertheilen, aber als wir ankamen, sahen wir nichts mehr. An dem ganzen Kloster entlang, an der ganzen langen Mauer des Klostergartens hinauf war kein Schiff, kein Mensch mehr zu sehen. Alle drei Nachen waren fort, mit Verfolgern, mit Verfolgten. Wir sahen uns verwundert an. Wo waren sie geblieben? wo konnten sie geblieben sein? Wenn die Mauern des Klosters sich hätten aufthun, Schiffe und Menschen hätten aufnehmen und sich dann wieder hätten verschließen können, dann hatten wir ein Wunder, aber dann hätten wir auch gewußt, woran wir waren. Wir sahen und hörten nichts auf dem Wasser, keine Bewegung, keinen Laut. Ich riß den ersten, besten der Kähne los, die am Ufer lagen, und sprang hinein.

„Ich muß wissen, was das ist!“ rief ich. „Wer fährt mit mir?“

Ein halbes Dutzend Burschen sprangen mir nach. Wir ruderten in den Strom hinein, nach der anderen Seite hin. Da sahen wir bald, was uns am Ufer die Dunkelheit der Nacht verborgen hatte. Zwei Nachen ruderten vor uns her, gleichfalls nach dem jenseitigen Ufer hin. Sie hatten es schon bald erreicht. Es waren die beiden Nachen der Soldaten. Wo war der dritte? – Waren sie seiner habhaft geworden? Oder was war aus den armen Menschen sonst geworden? Wo waren sie geblieben? Wo konnten sie geblieben sein, da man nichts von ihnen sah? Wir sprachen noch darüber.

Auf einmal schlug hinter uns die Sturmglocke auf dem Klosterthurme an. Wir blickten uns um. Wir sahen nichts, kein Feuer, keine Flamme, keinen Rauch. Aber die Glocke hörte nicht auf und stürmte wilder und wilder. Was war das wieder? Wir hörten die Leute am Ufer durch einander rennen. Sie eilten zum Kloster. Wir wandten unseren Nachen und fuhren zum Ufer zurück. Die Leute raunten noch. Das Kloster lag still und dunkel da, wie ein Grab. Nur die Sturmglocke heulte noch immer durch die Nacht.

„Was ist geschehen?“ riefen wir den Leuten zu. „Was bedeutet das Läuten?“

Sie wußten es nicht. Einer kam vom Kloster zurück.

„Die Schwester Marcella ist fort!“

Wir eilten mit zum Kloster: Es war, wie der Mann gesagt [212] hatte. Eine Nonne war fort, verschwunden, die Schwester Marcella; eigentlich erst eine Novize, wie ich schon sagte. Die Sturmglocke sollte das Volk zusammenrufen, um ihr nachzusetzen, sie zurückzubringen. Man hatte sie vor einer Viertelstunde erst vermißt.

Die Schwester Marcella war die jüngste Novize im Kloster. Sie war erst seit sechs Wochen da und hatte das Läuten der Mitternachtshora zu besorgen. Die Novizen müssen sich an das Schwerste gewöhnen. Die Glöcknerin mußte sie dazu wecken und sie hinführen. Zehn Minuten vor Mitternacht war die Glöcknerin zu ihrer Zelle hinaufgegangen. Sie hatte die Thür der Zelle offen, nur angelehnt gefunden. Es fiel ihr auf. Es war verboten, und die Schwester Marcella hatte immer ihre Thür fest verschlossen gehalten. Sie ging in die Zelle; sie rief hinein, nach dem Lager hin: „Schwester Marcella, es ist Zeit!“ Sie erhielt keine Antwort. Sie trat zu dem Lager, es war leer und unberührt geblieben. Sie sah sich in der Zelle um, sie war leer, wie das Lager. Sie eilte zu der Priorin und machte dieser Anzeige. Es werden andere Nonnen geweckt; sie durchsuchen die Zelle nochmals; sie ist und bleibt leer. Sie durchsuchen die Gänge, die Treppen, die Fluren, das ganze Kloster ist auf den Beinen; Schwester Marcella bleibt verschwunden, und kein Mensch weiß von ihr, Keiner hat etwas von ihr gehört oder gesehen. Wo mag sie sein? Wie mag sie entkommen sein? Das Gitter vor dem Fenster ihrer Zelle war unversehrt. An keinem andern Gitter war nur eine Stange los. Alle Thüren, die aus dem Kloster führen konnten, waren verschlossen.

Doch eine wurde zuletzt unverschlossen gefunden, die, die aus dem Kloster in die Kirche führte. Schwester Marcella war fromm, sehr fromm; man hatte sie schon vorher manchmal zu ungewöhnlicher Zeit in Thränen an den Stufen des Altars liegend gefunden. War sie wieder in der Kirche? Man drang hinein. Aber sie war auch da nicht. Man läutete die Sturmglocke, um der Entflohenen nachsetzen zu lassen; denn entflohen war sie. Es wurde ihr nachgesetzt, von allem Volke, vergeblich. Man fand nicht einmal eine Spur von ihr, auch später nicht, bis auf den heutigen Tag nicht.“ –

Der alte Schiffer sprach die letzten Worte mit einem eigenthümlichen, stillen, zufriedenen, geheimnißvollen Lächeln. Ich sah es durch die Nacht. Er mochte sich unbemerkt glauben, – seine Augen flogen zugleich über das Kloster hinweg, stromaufwärts in die Berge hinein. Er wußte etwas, wahrscheinlich mehr, als die Anderen, und durfte es nicht verrathen. Aber ich mußte es wissen. Ich hatte schon so Vieles errathen; ich mußte Alles wissen. Wie konnte ich ihm sein Geheimniß entlocken? Ich dachte darüber nach. Ich durfte nicht auf einmal an ihn herantreten.

„Auch der Verfolgte ist nicht wieder zum Vorschein gekommen?“ fragte ich ihn.

„Auch er nicht.“

„Man hat auch nichts von ihm gehört?“

„Kein Wort. Hm, freilich weil die Beiden, der Verwundete und die Nonne, so zu gleicher Zeit und so geheimnißvoll verschwunden waren, so wollten die Leute Allerlei munkeln.“

Er lächelte wieder zufrieden und geheimnißvoll vor sich hin.

„Die Leute hatten aber wohl das Unrechte getroffen?“ fragte ich ihn rasch.

„Sie sprachen ja von Dingen, von denen sie nichts wußten.“

„Und was hatten sie gemunkelt?“

„Eben das, was sie nicht wußten.“

Er war gerieben, der alte Schiffer. Zu überraschen war er nicht. Aber er gehörte zu den Leuten, die gern plaudern und daher plaudern müssen und zuletzt ihre Geheimnisse nicht mehr für sich behalten können. Man muß sie nur ungeduldig zu machen wissen.

„Woher wußten Sie,“ fragte ich ihn, „daß der Verfolgte ein verwundeter Officier war?“

„Die Leute von drüben sagten es.“

„Die ihn gefahren hatten?“

„Nein, Andere – nachher.“

„Wo waren jene, die beiden Ruderer, geblieben?“

„Gott weiß es. Sie hatten sich erst nach einem Vierteljahre, als die Soldaten das Land verlassen, nach Hause zurück gewagt.“

„Mit ihrem Nachen?“

„Hm, mit dem Nachen war es erst recht eine eigene Sache gewesen. Der trieb am zweiten Morgen nachher frei und leer auf dem Wasser herum. Kein Mensch wußte, wo er hergekommen war.“

„Erzählten die beiden Ruderer nach ihrer Rückkehr nichts?“

„Gar nichts.“

„Nicht, wie der Verwundete befreit worden, wie sie selbst entkommen seien, wo sie sich die Zeit über aufgehalten hätten?“

„Von Allem nichts. Sie sagten nur, sie hätten in der Schweiz gearbeitet, bis sie hätten in ihre Heimath zurückkommen dürfen.“

„Es war also ein Geheimniß bei der Sache?“

„Es mußte wohl so sein.“

„Die Schwester oder die Novize Marcella war erst seit sechs Wochen im Kloster gewesen, sagtet Ihr?“

„Gerade seit sechs Wochen.“

„Woher war sie gekommen?“

„Das wußte man nicht.“

„Man hat auch später nichts darüber erfahren?“

„Man hat nachher gar nichts mehr von ihr gehört. Alles, was man von ihr gehört, Alles, was man von ihr wußte und auch noch nur von ihr weiß, ist Folgendes: An einem Abende im Frühsommer war noch spät eine fremde, große, schöne und junge Frauensperson an die Klosterpforte gekommen, hatte Einlaß begehrt und gebeten, noch in der Nacht die Frau Priorin sprechen zu dürfen. Die Priorin hatte sie vor sich gelassen. Die Fremde hatte um Aufnahme als Nonne, als Novize gebeten. Sie könne in der Welt nicht mehr leben. Sie könne nur noch Ruhe finden im Gebete zu Gott und im Umgange mit den frommen Schwestern. Sie hatte die Priorin weinend, knieend gebeten, sie nicht zurückzuweisen, sie nicht wieder in die Welt zu verstoßen. Sie hatte nur die eine Bedingung aufgestellt, daß man sie nie nach ihrem bisherigen Leben, nach ihren früheren Schicksalen fragen möge. Die Priorin ist eine strenge, aber wahrhaft gottesfürchtige und brave Frau. Sie nahm die Fremde auf und fragte sie nicht einmal nach ihrem Namen, nach dem Lande, aus dem sie komme. Sie mußte weit hergekommen sein; man hörte es an ihrer Sprache; sie redete das Deutsche, wie man es im Norden von Deutschland zu sprechen pflegt. Sie erhielt den Klosternamen Marcella; unter dem hat man sie nur gekannt. Sie war in den sechs Wochen, die sie da war, immer eine musterhafte Novize gewesen, fromm, wie nur eine der Nonnen, und unverdrossen in allen Diensten, die von ihr verlangt wurden. Nur über Eins hatten die übrigen Nonnen geklagt, daß sie niemals mit ihnen ein anderes Wort gesprochen habe, als was zum Dienst und zur Tageszeit gehörte. Sie war fromm und fleißig, aber auch immer eben so still gewesen. Des Nachts freilich war sie nicht immer so still,“ setzte der alte Schiffer hinzu, und er lachte dabei nicht.

„Wie so?“ fragte ich ihn.

„Hm, Herr, sie mußte wohl eine recht unglückliche Person sein. Ich habe es oft gesehen und gehört. Schon gleich wenige Tage nachher, da sie gekommen war. Es war eine dunkle Gewitternacht, ich hatte mich beim Fischen verspätet und fuhr allein in meinem Nachen nach Hause zurück. Als ich am Kloster ankam, hielt ich mich dicht an den Mauern; der Wind konnte mich da nicht fassen.“


(Fortsetzung folgt.)


Wintervergnügen auf der Newa.

Von G. C. Heigel.

Goethe hat einmal gesagt, daß man im Winter hinter dem Ofen die schönsten Frühlingslieder dichte. Es mag dies wahr sein, denn man besingt stets das am besten, was man momentan entbehrt. Wir nun entbehren den Winter durchaus nicht und sind, nachdem wir fast acht Monate von Schnee und Eis umgeben waren, viel zu vernünftig, uns nach dem Winter zurückzusehnen, wenn uns

[213]

Rennthier-Schlittenfahrt auf der Newa.
Nach der Natur aufgenommen von F. Teichel in St. Petersburg.

[214] nach einem Uebergange von nur wenigen Tagen die Sonne in einen großen Schweißtropfen aufzulösen droht. Deshalb vielleicht existiren hier so wenige Gedichte, die den Winter besingen, und doch ist es eben dieser strenge Gast, der dem Petersburger Leben Schwung und Poesie verleiht, soweit letztere hier überhaupt zu finden ist.

Wo früher der finnische Fischer mitten im Sumpfe seine Hütte hatte, in der er ein kümmerliches Dasein fristete, da sprach Er: „Es werde eine Stadt,“ und Petropolis ward; so sagt Puschkin, und wahrlich, welche Vorwürfe man Peter dem Großen bezüglich der Gründung von Petersburg machen mag, bewundernswerth bleibt die gigantische Kraft, die aus dem Chaos der Newa-Sümpfe die kolossale Stadt heraufbeschwor, die sich jetzt in den Fluthen des bis dahin jungfräulichen Stromes spiegelt, und stolz blickt auch heute noch der eherne Czar von seinem Granitblocke nieder auf die grünen Wogen, die er in Fesseln schlug.

Aus der langen Reihe unsrer Wintertage nehme ich einen heraus, um den Leser zu einem Spaziergang einzuladen. Wolkenlos wölbt sich der blaue Himmel, über unserm Haupte, und die Sonne, die zwar nicht hoch genug steigt, um uns viel sichtbar zu werden, vergoldet die Kuppeln der Kirchen und kleidet die oberen Stockwerke der Häuser in freundliche Tinten. Kerzengerade steigt der Rauch aus Tausenden von Schornsteinen, aber schon in unmerklicher Höhe in Reif verwandelt, bildet er bald einen Niederschlag, der sich auf Alles setzt, was in sein Bereich kommt. Die Pferde sind alle mindestens Grauschimmel, denn unter der Reifdecke ist ihre Farbe verschwunden, die meist bärtigen Iswostschiks[1] erscheinen mir als eben so viele ehrwürdige Greise, und wir selbst, wenn wir nach einem kurzen Spaziergange an einem Spiegel vorbeikommen und uns wohlwollend anblicken, sind versucht, den Hut abzuziehen und zu grüßen, so väterlich sehen wir aus. – Wir gehen über den Newsky-Prospect. Nur mühsam drängen wir uns durch die Tausende von Spazierenden, die das schöne Wetter in’s Freie gelockt hat. Es ist eben zwei Uhr; die Parade ist aus. In Schlitten und Wagen fliegen die Generale, die derselben beigewohnt haben, an uns vorüber. Ein kleiner einspänniger Schlitten hat uns überholt. Alles salutirt und grüßt; es war der Kaiser, den wir in so einfachem Fuhrwerke freilich nicht vermuthet hätten. Wir kommen zum Ende des Newsky-Prospects und auf den Admiralitätsplatz. Zu unserer Rechten dehnt sich das Generalstabsgebäude aus, zur Linken sehen wir die vergoldeten Kuppeln der Isaakskirche, weiter sehen wir den Sitzungspalast des Senates und der heiligen Synode. Vor uns etwas links haben wir die Admiralität mit ihrer goldnen Spitze, etwas rechts haben wir das Winterpalais und die damit zusammengebaute Eremitage, den Lieblingsaufenthalt der Kaiserin Katharina der Großen, der aber unter den letzten Regierungen zum Kunsttempel umgeschaffen worden ist. In der Mitte des Platzes zwischen Winterpalais und Generalstab ragt die berühmte Alexandersäule empor, die einen deutlichen Beweis von der Rauhheit des Petersburger Klima ablegt, denn wir sehen an ihr, daß selbst der Granit demselben nicht widerstehen kann. Es zeigen sich in ihr bedeutende Risse und Sprünge, und die Commission von Sachverständigen, die darüber zu rapportiren hatte, hat ihr ein Bestehen von nur höchstens 30 Jahren versprochen. Das Boulevard zwischen Winterpalais und Admiralität verfolgend, kommen wir zur Matuschka[2] Newa, wie sie der Russe nennt. – Vor uns breitet sich eine weite Eismasse aus; in kleiner Entfernung sehen wir das schöne Ufer von Wasilii-Ostrow[3]; die Rostra vor der Börse, diese selbst, die Sternwarte, die Universität, die Akademie der schönen Künste und Wissenschaften bieten einen imposanten Anblick. Das Panorama wird von der schönen Nicolaibrücke würdig abgeschlossen.

Betreten wir die Newa vom Landungsplätze neben der Admiralität, so fällt uns zuvörderst etwas links eine compacte Menschenmenge auf. Wir treten näher und sehen, daß die Samojeden der Anziehungspunkt für diesen Zuschauerkreis sind.

Es giebt bekanntlich verschiedene samojedische Stämme, die an den Ufern des nördlichen Eismeeres leben; die wir hier vor uns sehen, kommen aus dem Gouvernement Archangelsk. Ihr Wohnort liegt jenseits des 65. Grad nördlicher Breite. Die Tundren oder Einöden, die sie bewohnen, sind unwirthbar; außer dem in seinen Ansprüchen so bescheidenen Rennthiere und dem Hunde, den die Vorsehung uns in allen Zonen zum Freunde und Wächter zugetheilt hat, existirt fast kein Thierleben. Trotz alledem liebt der Samojede in seiner Art gut zu essen und noch mehr zu trinken; nach diesen beiden Neigungen kommt die dritte, der Schlaf. Von der Trunksucht der Samojeden wird viel erzählt, und wie weit sie gehen muß, beweist der Umstand, daß sie oft eine gefahrvolle Fahrt von 100 Werst und mehr nicht scheuen, um einige Schluck Branntwein zu erlangen. Es ist natürlich, daß bei Menschen, die größtentheils durch weite Wüsteneien von ihres Gleichen entfernt sind, bei denen der Boden culturunfähig ist und folglich auch die Civilisation durchaus keinen Eingang finden kann, alle thierischen Bedürfnisse die Oberhand haben müssen. Die Mesenschen Samojeden bewohnen die östliche Hälfte des Gouvernements Archangelsk, einen Raum von 11,600 Quadratmeilen. Die ganze Bevölkerung jenes kolossalen Landstriches besteht aus 4,900 Individuen, von denen nur ein sehr kleiner Theil feste Wohnsitze hat. Die Uebrigen wohnen in Zelten, die sie bald da, bald dort aufschlagen, je nach den Bedürfnissen ihrer Rennthierheerden, die sich oft auf 10 – 20,000 Stück belaufen. Ein solches Zelt (Tschum) besteht aus einigen in den Boden gesteckten Stangen, um die eine doppelte oder dreifache Lage von Rennthierhäuten einzig Schutz gegen die Unbilden des dortigen Klimas gewährt. Innen ist der Fußboden mit einem Geflechte von Zweigen belegt, über das abermals eine Decke von Rennthierfellen gebreitet ist. In der Mitte ist eine Erhöhung, auf der ein kümmerliches Feuer mehr raucht, als brennt. An den unteren Enden der Zeltstangen hängen die wenigen Kochgeschirre. Ein solches Zelt ist dem anderen bis auf die Raumverhältnisse stets durchaus gleich. Wenn man bedenkt, daß die Samojeden in diesem stinkenden Winkel ihre neun Wintermonate fast ununterbrochen zubringen, so muß man sich über die Zähigkeit der Menschennatur wundern. Der Wechsel vom Winter zum Sommer ist fast ohne irgend einen Uebergang, und nach wenigen Tagen sieht man da, wo vorher Schnee und Eis die unermeßliche Fläche bedeckte, plötzlich bunte, theils mit Moos, theils mit Gras bewachsene, von zahlreichen Seen und Flüssen bewässerte Fluren. Die Freude ist aber nur kurz, denn schon nach 10–11 Wochen gewinnt der Frost wieder die Oberhand, und ein weiter Schneemantel bedeckt wieder die kümmerliche Vegetation, die sich kaum zu entfalten schien. Während des Sommers beschäftigt sich der Samojede mit Jagd und Fischfang, und es ist unglaublich, mit welcher Waghalsigkeit er sich auf seinem gebrechlichen Fahrzeuge oft weit in die hohe See wagt.

Doch ich versprach eine Beschreibung der Wintervergnügungen auf der Newa und halte eine Vorlesung über Völkerkunde. Der Leser vergebe mir, ich werde um so kürzer sein, um für die vorhergehende Länge zu entschädigen. Die Samojeden, die wir hier vor uns sehen, gehören zu dem eben beschriebenen Stamme der Mesenschen. Der Unternehmungsgeist, der sich auf Alles erstreckt, hat sich ihrer bemächtigt. Für wenige Kopeken fahren uns diese Söhne des Polarkreises von der Palast- bis zur Nicolaibrücke, und wir haben Gelegenheit, uns de facto von der Schnelligkeit der Rennthiere zu überzeugen, denn die bedeutende Strecke, die wir durchfahren, wird hin und zurück in wenigen Minuten zurückgelegt. Der Schlitten, den wir vor uns sehen, und aus dem die Samojeden Sommers und Winters fahren, könnte in Anbetracht ihres Wohnortes gar nicht praktischer sein. Zwei weit auseinander stehende Kufen tragen auf Sprossen, die sich nach oben nähern, den Sitz, der leiterartig und mit Rennthierfell überzogen ist. Am Vordertheil des Fuhrwerks befinden sich kleine Klötzchen mit Löchern, durch die die Zugstränge gezogen werden; an diesen letzteren sind Gurte, die dem Thiere einfach über den Hals geworfen werden, und die Bespannung ist fertig. Die Leine, denn es ist nur eine vorhanden, mögen noch so viele Thiere vorgespannt sein, wird an das Geweih des links gehenden Rennthieres befestigt. Außerdem bedient sich der Samojede zur Lenkung seines langen Stockes, an dessen einem Ende sich eine Eisenspitze, am anderen ein Knopf befindet. Der Anzug der Samojeden, ganz aus Thierfellen bestehend, ist durchaus nicht unkleidsam. Ein Hemd aus Rennthierfellen, bei dem die Haare nach innen, die Haut nach außen gekehrt sind, und das sie „Malitza“ nennen, bildet den Haupttheil derselben. Außerdem Strümpfe und Stiefel ebenfalls von Fellen, die letzteren aus verschiedenfarbenen Streifen zusammengenäht. Die [215] Mütze, wenn überhaupt, was selten, eine vorhanden, ist vom Felle junger Rennthiere. Das Hemd der Frauen, „Jandy“, ist anschließender und weit bunter, gewöhnlich mit verschiedenen Pelzstreifen und farbigen, meist rothen Tuchlappen und Streifen verziert; außerdem tragen die Weiber meist eine Kapuze von Zobel und anderen kostbaren Fellen. Ich würde den Leser gern in das Innere des auf unserem Bilde befindlichen Tschum führen, um ihn mit einer samojedischen Schönheit bekannt zu machen, aber der erste Versuch, den ich in dieser Beziehung machte, war so unglücklich, daß ich von dieser Absicht abstehe; wir kennen das Innere des Zeltes bereits aus obiger Schilderung und sehen nicht viel daran, mich aber machte der darin herrschende üble Geruch auf mehrere Tage unwohl, und die Reize dieser nordischen Venus sind von einer so gediegenen Schmutzkruste verhüllt, daß die beste venetianische Halbmaske ein wahres Kinderspiel dagegen ist, denn Wasser an seine Physiognomie zu bringen, ist dem Samojeden ein Gräuel, höchstens reibt er sich hie und da das Gesicht mit ein wenig Birkenbast, ein Reinigungsmittel, das den damit erzielten Erfolgen nach wohl nicht sehr probat ist. – Betrachten wir nun noch die Rennthiere. Sie haben die größte Aehnlichkeit mit unserem Hirsche. Die Farbe ist schmutzig weiß.. Das Auge ist groß, schwarz und deutet Intelligenz an; das Bein ist weit stärker als das unseres Hirsches, die breiten Hufe erinnern an die der Kuh. Das Geweih scheint bei ihm gar keine Norm zu haben, da ich hier nur Abnormitäten sehe. An Größe steht das Rennthier dem Hirsche bedeutend nach, und seine Haltung ist bei weitem nicht so edel, wie die des Letzteren, denn ruhend beugt es den Kopf weit nach vorn und auch im Laufe wirft es ihn weit weniger stolz zurück. Aber gesegnet seist Du, armes Thier, das du nach einem Leben der Arbeit und Entbehrung Tausenden von Menschen noch Nahrung, Kleidung und Obdach giebst.

Ein Industriezweig zieht immer den andern nach sich. So sehen wir bei dem Samojedenzelte eine Art von Roulette, bei dem man mit Kopeken sein Glück versuchen kann. Bärtige Muschiken[4] umstehen den grünen Tisch, und auch der zäheste wagt, nach entsprechendem Kratzen hinter dem Ohre, ohne das der gemeine Russe nie einen wichtigen Entschluß faßt, einen Satz, bei dem es aber dann leider nicht immer bleibt. Unterdessen gehen Verkäufer verschiedener Art umher und suchen ihre Waaren anzubringen. Hier empfiehlt ein Mensch mit einem Samowar[5] auf dem Rücken seinen heißen Thee, dort ruft ein Anderer mit heiserer Stimme sein Gefrornes aus, denn trotz der grimmigen Kälte wird auch dieses genossen. Je nach ihren allopathischen und homöopathischen Ansichten wählen die Umstehenden dieses oder jenes, während sich Andere mit dem Leibgenuß der Russen, Haselnüssen und anderen ähnlichen Delicatessen regaliren; wir aber müssen jetzt nach der anderen Seite der Winterpalaisbrücke, um uns das Wettrennen anzusehen.

In weitem Kreise umstehen Tausende von Zuschauern den auf dem Flusse zwischen dem Schloßquai und der Petersburger Seite abgesteckten Rennplatz. Zu Seiten des Balcons, auf dem die Preisrichter ihre Plätze haben, sind Tribünen angebracht, auf denen aber nur eine sehr geringe Zahl von Schaulustigen Platz findet. Wir sehen hier die Löwen und Löwinnen der Petersburger Gesellschaft. Denn trotz Paris haben auch wir unsere elegante Menagerie, und die schmachtenden Blicke unserer „biches“ stehen vielleicht denen, die Dich in Longchamps, im Bois de Boulogne etc. treffen, nicht nach. – Geschäftig laufen die Budotschniki[6] hin und her, um Ordnung zu halten, können aber doch nicht verhindern, daß in den Pausen da und dort Gruppen von Zuschauern die Barrieren überschreiten, in der Hoffnung, auf der anderen Seite der Rennbahn einen besseren Platz zu finden. Die Besitzer der gegenüberliegenden Vorderplätze jagen die Eindringlinge zurück; daher Stöße, Schelten, Schreien, Gelächter, Fallen auf dem Eise, humoristische und ernste Vermahnungen der Polizeisoldaten – da erschallt die Glocke zum Zeichen der Abfahrt, und wie durch Magie herrscht überall die musterhafteste Ordnung. Beim dritten Zeichen beginnt das wilde Jagen der Rennschlitten. Die Bahn hat drei Werst im Umfange, was, da sie je zwei Mal umfahren werden muß, also sechs Werst, d. i. 6/7 einer deutschen Meile ausmacht. In wenigen Minuten wird diese Strecke durchfahren, und je nachdem sie an den Zuschauern vorüberfliegen, wird der Sieger mit Jubel und Hurrahrufen, der Besiegte mit Gelächter empfangen. Die Rennschlitten sind von der leichtesten Construction, der Kutscher, der die Zügel führt, steht darin aufrecht; ihn begleitet für den Fall eines Unglückes stets ein anderer Kutscher, der den Sitz des Schlittens einnimmt. Es rennen immer nur je zwei und zwei Schlitten. Die Sieger rennen unter sich von Neuem, bis endlich einer sieggekrönt aus dem Kampfe hervorgeht. Die Preise bestehen in Geld, in werthvollen goldnen Medaillen und Silbergeräthschaften, die theils vom Kaiser, theils von einer zu diesem Zwecke bestehenden Gesellschaft ertheilt werden. Natürlich finden auch hier, wie in England, Privatwetten statt, und wie dort, so auch hier, hat sich schon mancher Crösus auf der Rennbahn ruinirt. Zwischen den einspännigen Schlitten ist der Kampf beendet, und sogleich beginnt das Rennen der Troiken.[7] – Wir sehen drei wirklich prachtvolle Troiken, wovon die des Fürsten S… entschieden die ansehnlichste ist. Dieser selbst betrachtet schon halb siegesbewußt mit ironischem Lächeln die Gespanne der Mitkämpfer. Fast erstaunt sind wir, als man uns noch eine vierte Troika von schmutzigweißen, hageren, finnischen Pferden als Mitbewerberin um den Preis des Tages bezeichnet. Entweder gehört sehr viel Bewußtsein oder grenzenlose Unverschämtheit dazu, mit diesen Kleppern gegen die Prachtpferde, aus denen die übrigen Troiken zusammengesetzt sind, ankämpfen zu wollen. Die Glocke erschallt, die Troiken, die das Loos bestimmte, zusammenzufahren, treten in die Schranken. Das dritte Zeichen, und die beiden Schlitten setzen sich unter Jubelruf in Bewegung. In athemloser Eile stiegen sie dahin. Der finnische Rosselenker bleibt mit seinem Gespann fast eine halbe Bahnlänge zurück. Lautes Jauchzen begrüßt die augenscheinlich siegende Troika des Gegners, als sie zum ersten Male am Ziel vorüberfliegt. Bald folgt auch der armselige Dreispann des Finnen unter dem Hohngelächter der Menge. Aber schon sind sie unseren Augen entschwunden. Nach einigen Minuten bemerken wir am Drängen am unteren Theile der Bahn, daß sie herankommen, und siehe, plötzlich erscheinen beide Troiken auf gleicher Linie; mit Windeseile schießen sie heran – einige Secunden athemloser Spannung, dann ein lautes Hurrah! – der Finne ist zuerst am Ziele angekommen!

Nun beginnt das Rennen der beiden anderen Troiken; die des Fürsten S. bleibt Siegerin. Den Pferden wird eine halbstündige Rast gegönnt, während welcher Fürst S., der noch immer ironisch lächelt, in der Bahn auf- und abgehend, einige Freunde bittet, ihm den Punkt anzugeben, wo seine Troika die des Finnen überholen soll. – Wir betrachten uns mittlerweile die uns im Rücken liegende Festung mit dem kühn himmelanstrebenden Glockenthurme der Kathedrale Peter und Paul. – Schon erschallt wieder das Signal. Beim ersten Tone des dritten Zeichens pfeift die Knute[8] des Finnen durch die Luft; im wilden Laufe stürzen die Pferde davon; ehe noch der fürstl. S.’sche Kutscher sich in Bewegung setzen konnte, hatte er schon einen bedeutenden Vorsprung und blieb, trotz aller Anstrengungen des Gegners, Sieger. Fürst S. war verschwunden. Ob er wohl noch ironisch lächelte?

Aber mittlerweile ist es kalt geworden, schon hüllt sich unsere Umgebung in abendliche Nebel. Wir werden gut daran thun, die erstarrten Glieder in irgend einem warmen Raume aufzuthauen; der Fluß ist öde geworden, auch wir gehen. – Eilt nicht dort nach der Festung zu eine lange Reihe von Schlitten? – Sie liefert uns den Beweis, daß es heute unseren außerstädtischen Vergnügungsorten Chrestofsky, Petrowsky etc. nicht an Besuchern mangeln wird. – Sollte es Herrn Keil angenehm sein, so fahren wir wohl einmal mit einander auch dorthin. Bis dahin auf Wiedersehen – und besten Gruß an die deutsche[WS 1] Heimath!



[216]

Der Buckel (Knickung der Wirbelsäule) und seine Verhütung.

Von Dr. Schildbach in Leipzig.

„Ich möchte Sie meines Kindes wegen um Rath fragen, welches anfängt, einen krummen Rücken zu bekommen.“ Mit diesen Worten führte sich vor Kurzem ein Herr aus der Provinz bei mir ein. Ich fragte ihn, da er das Kind nicht mit hatte, ob die Krümmung sich über den ganzen Rücken erstrecke. „Nein, es sind nur 2 oder 3 Wirbel.“ Nur! als wenn in der geringen Zahl eine Beruhigung läge. Leider mußte ich dem Manne sagen, daß es sich dieser Beschreibung nach bei seinem Kinde um die schlimmste Form der Rückgratsverkrümmung handele, weil ihr eine Knochenkrankheit zu Grunde liege.

Es ist dies eine der verderblichsten Krankheiten, welche dem Orthopäden vor Augen kommt, denn sie führt in ihrem weitern Verlaufe zu den bedeutendsten Entstellungen, welche nicht nur die Wohlgestalt, sondern auch das Wohlsein und die Leistungsfähigkeit der davon Betroffenen außerordentlich beeinträchtigen, ja sie kann sogar das Leben gefährden. Sie hat ihren Sitz in dem Körper (d. i. dem vorderen dicken Stück) meist eines, selten mehrerer Rückenwirbel. Diese Wirbelkörper sind derart auf einander geschichtet, daß sie gleichsam eine Säule bilden, durch welche der Brustkorb, so wie die Arme und der Kopf getragen werden. Bei jener Krankheit nun, welche in ihrem weitern Verlauf die Erscheinungen des Knochenfraßes zeigt, wird der von ihr befallene Wirbelkörper in der Weise verändert, daß er nicht mehr die nöthige Festigkeit besitzt, um das auf ihm ruhende Gewicht des Oberkörpers zu stützen; wenn dasselbe daher fortfährt, auf ihm zu lasten, wird er allmählich zusammengedrückt, und es erleidet die Wirbelsäule eine Knickung. Der dadurch gebildete Winkel ist allemal nach hinten und meist ein wenig nach einer Seite gerichtet, da gewöhnlich beide Seiten des Wirbelkörpers nicht in gleichem Grade betheiligt sind.

Aus diesem Vorgange ergiebt sich für die ärztliche Behandlung die sehr einfache Aufgabe, dem Oberkörper statt der Wirbelsäule eine andere Stütze zu geben. Diese Aufgabe aber kann dem behandelnden Arzte nicht eher zum Bewußtsein kommen, als bis er weiß, daß ein Wirbel krank ist – und zu diesem Wissen gelangt er oft erst dann, wenn die Knickung bereits begonnen hat und sich im Vortreten einiger Wirbel bemerklich macht; denn die Krankheit entbehrt in ihrem Beginn aller auffälligen Symptome; schleichend und heimtückisch ist ihr Auftreten, und ihre ersten Erscheinungen sind höchstens dem sorgsamen, stets wachen Mutterauge, nicht dem gelegentlich hinzugerufenen Arzt bemerkbar. Soll daher der einzige, zu wirksamem Eingreifen zu Gebote stehende Zeitraum nicht unbenutzt verstreichen, so wird die Anregung dazu meist von der Umgebung des Kranken ausgehen müssen; und deren Aufmerksamkeit wach zu rufen, ist der Zweck dieser Zeilen.

Wenn ein Kind unter neun Jahren eine erschöpfende Krankheit von längerer Dauer überstanden hat, so ist allemal Achtsamkeit nothwendig. Die in Frage stehende Wirbelkrankheit tritt nämlich sehr selten in späterem Alter und fast stets nach schwächenden Einflüssen auf. Einen Fall oder Stoß, dem gewöhnlich die Schuld beigemessen wird, habe ich nur ein einziges Mal als wirkliche Ursache erkennen müssen. Unter den angegebenen Umständen nun bemerkt man zuweilen eine Unlust des Kindes zu lebhaften Bewegungen, eine sonst dem Kindesalter so fern liegende Schlaffheit und Trübseligkeit; es ermüdet leicht bei aufrechter Haltung und besonders beim Gehen, stützt sich gern mit den Armen auf irgend einen festen Gegenstand oder auch auf die eigenen Oberschenkel und läßt auch sonst in der Haltung das Bestreben erkennen, die Wirbelsäule vorn oder auf einer Seite zu entlasten. Ein seitliches Neigen des Kopfes oder der Schultern, ein auffallendes Zurückdrängen, der Arme ist darauf zu beziehen. Sorgfältig wird jede Erschütterung, besonders das Springen vermieden und selbst festes Auftreten möglichst umgangen. Auffallend ist in vorgerückterem Zeitraume des Leidens die Art, wie der Patient Gegenstände vom Fußboden aufhebt; er beugt sich nämlich nicht vorn über, sondern kauert mit senkrecht gehaltenem Oberkörper nieder.

Aeußerlich wahrnehmbare Formveränderungen sind im ersten Zeitraume der Erkrankung nicht vorhanden, höchstens eine geringe seitliche Ausbiegung der Wirbelsäule als Gewohnheitshaltung. Da auch Schmerzen (in den Beinen oder einer Rumpfseite, seltner am Sitz der Krankheit) erst später aufzutreten pflegen, verdienen die angegebenen Veränderungen im Benehmen und der Bewegungsweise des Kindes um so sorgfältigere Berücksichtigung.

Der Arzt, welcher nach solchen Wahrnehmungen hoffentlich immer sofort zugezogen werden wird, kann nach Sicherstellung der Erkenntnißfrage nicht umhin, das Kind zum steten Liegen zu verurtheilen. Nun ist es abermals die Mutter, welcher, wie bei der Erkenntniß, so auch bei der Cur die Hauptaufgabe zufällt. Sie muß es sich zum strengsten Gesetz machen, während der ganzen Dauer der Horizontallage – und dieselbe ist oft viele Monate lang erforderlich – dem Patienten nie, auch nicht für einen einzigen Augenblick, die aufrechte Haltung zu gestatten. Entschuldigungen, wie: „Das Kind sei nicht im Liegen zu erhalten,“ „die Sache sei nicht durchzuführen,“ und dergl., können gar keine Geltung beanspruchen. So lange es gilt, die Knickung der Wirbelsäule zu verhüten, ist ein unterbrochenes Liegen so gut wie gar keines; der kranke Wirbel soll eben niemals einem Drucke ausgesetzt werden. Und wenn, was bei aller Sorgfalt nicht immer zu vermeiden ist, einige Wirbel beginnen sich deutlicher zu markiren, so möge dies als eindringliche Mahnung beachtet und die Horizontallage um so sorgsamer bewahrt werden.

Für Kinder, die sich selbst beschäftigen können, ist die Bauchlage eine große Annehmlichkeit; doch ist es nicht nothwendig, wie es mehrfach geschieht, dieselbe ununterbrochen beizubehalten, denn auch die Rückenlage erfüllt den Zweck.

Zwar wird es nicht in jedem Falle gelingen, die Wirbelsäule in völlig unversehrter Richtung zu erhalten; es wird aber entschieden durch die Horizontallage der möglichst günstige Ausgang gesichert. Der Werth derselben ist aber mit der Verhütung von Entstellung nicht erschöpft; sie trägt zugleich wesentlich dazu bei, das Grundleiden der Heilung zuzuführen, und zwar durch die Ruhe, welche sie der kranken Stelle gewährt. Bei jedem erhöhten Reizzustand, wie er auch hier in dem kranken Wirbel vorhanden ist, ist natürlich Fernhaltung jeden Reizes erste Bedingung der Heilung. Man pflegt daher bei Gelenkentzündungen das betreffende Glied außer Gebrauch zu setzen und horizontal zu lagern. In neuerer Zeit jedoch hat man diesen Weg noch weiter verfolgt und fügt zur Herbeiführung absoluter Ruhe noch einen Verband von Kleister oder Gyps hinzu, welcher das ganze Glied umschließt und nach seiner Erstarrung jede Bewegung desselben hindert. Die ausgezeichneten Erfolge dieser Behandlungsweise haben dahin geführt, sie auch bei der Wirbelvereiterung anzuwenden, und auch hier sind die Erfolge die gewünschten. Wenn nämlich die Horizontallage auch durch Fernhaltung allen Druckes vom Wirbel dessen Schwund verhütet und die Heilung begünstigt, so verhindert sie doch nicht alle Rumpfbewegungen, deren jede für die ergriffene Stelle ein neuer Reiz ist und die Heilung erschwert. Um auch diese Bewegungen unmöglich zu machen, legen einige der heutigen Orthopäden solchen Kranken einen Rückenpanzer an, der vorher über einem Gypsmodell aus einem Klebeverband gefertigt worden ist. Ich selbst, ohne diese Form der Ausführung verwerfen zu wollen, ziehe es vor, den Panzer aus einer Guttapercha-Platte zu formen. Uebrigens fällt diese ganze Frage der Entscheidung des Arztes anheim, wie auch die Bestimmung über etwa anzuwendende innere Mittel.

In sehr vielen Fällen aber ist leider der Buckel in größerer oder geringerer Ausbildung schon vorhanden, bevor zu irgend welchen Maßregeln geschritten wird. Dann ist freilich die Hoffnung auf Besserwerden in sehr enge Grenzen zu beschränken. Ist der Vereiterungsproceß noch nicht völlig abgelaufen – und diese Frage ist die vor allen Dingen zu entscheidende –, so müssen dieselben Maßregeln getroffen werden, wie sie als für den Beginn des Leidens geeignet oben bezeichnet wurden. Man wird selten die Freude haben, eine bemerkenswerte Abnahme des Buckels zu erreichen, aber man verhindert wenigstens die Zunahme desselben, deren Grenze sich im Voraus sonst gar nicht bestimmen läßt, und beschleunigt das Wiederfestwerden der Wirbel.

Hat man es nach völlig abgelaufenem Krankheitsproceß blos mit dem Formfehler zu thun, so hat die gymnastisch-orthopädische Behandlung in Wirksamkeit zu treten. Auch sie aber kann nur mäßigen Ansprüchen, keinen hochgespannten Forderungen genügen. Die erste Aufgabe ist Verhütung neuer Anfälle des Leidens, welche [217] so häufig das vorher mühsam Erhaltene wieder in Frage stellen. Als vollkommen gesichert davor kann man den Körper erst dann betrachten, wenn es gelungen ist, ihm seine volle Kraft und Lebensfrische zurückzugeben. Dies erreicht man einzig durch zweckmäßige Lebensweise und zwar um so schneller, wenn man Gymnastik hinzufügt.

Die geringe Streckung, deren die Verkrümmung fähig ist, so wie eine Verbesserung der meist sehr verdorbenen Haltung ist ebenfalls durch Gymnastik anzubahnen. Das Hauptgewicht aber muß auf alle Hang-Uebungen gelegt werden, bei welchen der Körper durch seine eigene Schwere eine ganz ansehnliche Dehnung erfährt.

Diese Verlängerung ist zwar zunächst keine bleibende, kann aber durch häufige Wiederholung und längere Dauer des Hanges teilweise zur bleibenden werden. Um nun den Hang auf längere Zeit möglich zu machen, als es die eigene Kraft des Kranken vermag, wendet man besondere mechanische Vorrichtungen an, deren einfachere Form, die Glisson’sche Schwebe, sich auch zum Gebrauch in Privatwohnungen eignet, während die in orthopädischen Anstalten gebräuchliche Kunde’sche Gehmaschine für den Privatgebrauch zu umfänglich und kostspielig ist.

Hat die Verkrümmung bereits eine gewisse Grenze überschritten, so ist außerdem, während der Kranke in aufrechter Haltung verweilt, ein Stützapparat von ihm zu tragen, durch welchen der Wirbelsäule ein Theil der Last, welcher auf ihr ruht, abgenommen wird; andernfalls ist ein immer weiteres Zusammensinken des Körpers unausbleiblich. Auch mit Stützapparat darf der Kranke nicht anhaltend gehen, stehen und sitzen, sondern muß täglich mehrmals die Wirbelsäule durch Einnehmen der Horizontallage entlasten.

Sind Schmerzen in der Seite oder den Beinen, Athmungs- und Verdauungsbeschwerden vorhanden, die regelmäßigen Begleiter höherer Grade dieser Verkrümmung, so gelingt es auf diesem Wege meist, sie zu beseitigen. Der Kranke selbst weiß am besten, was das zu bedeuten hat, und wird diesen Gewinn sicher nicht gering achten, obgleich er den Formfehler behält.

Alles in Allem betrachtet aber sind es doch ziemlich bescheidene Erfolge, auf welche die Orthopädie bei Behandlung dieser Form der Rückgratsverkrümmung rechnen kann. Nur in seinen ersten Anfängen kann dem Leiden wirksam begegnet werden; und es ist, wie bereits bemerkt, der Zweck vorstehender Zeilen, diesen Anfangserscheinungen eine größere Aufmerksamkeit zuzuwenden, als sie bis jetzt gefunden zu haben scheinen. Gelingt mir dies, so wird der Orthopäd künftig doch nicht mehr gar so oft in den Fall kommen, mit schwerem Herzen sagen zu müssen: „Es ist zu spät; die Verkrümmung ist nicht mehr zu beseitigen.“





Aus den deutschen Spielhöllen.

Von E. v. S–g.
Nr. 1. Homburg.
Der Spanier Garcia und sein Ruf – Die Stadt Homburg – Im Spielsaale – Eine Spielerfamilie – Die Spielsysteme – Gräfin H. und ein
ruinirter Diplomat – Garcia’s Persönlichkeit – Die Gebrüder Blanc, Gründer des Spielhauses – Der Aufschwung Homburgs.

Ich war, von Paris kommend, in Frankfurt a. M. im Hotel de Ruffie abgestiegen und speiste an der table d’hôte um 5 Uhr. In meiner Nähe saßen mehrere Mitglieder der fremden, in der freien Reichsstadt residirenden Gesandtschaften. Sie sprachen zuerst von einer Bundestagssitzung, worin die holsteinsche Frage verhandelt worden war, moquirten sich ganz laut über die langen Protokolle, über die immer wiederkehrenden Phrasen, über die großen Anläufe und kleinen Sprünge des Bundestags, und ein französischer Diplomat, der den Ton am Tische anzugeben schien und sich in Reden und Anspielungen gefiel, die ich zum ersten Male an einem Tische, wo Damen saßen, aus dem Munde eines der „höhern Gesellschaft“ angehörigen Mannes vernahm, meinte ganz laut: Die Verhandlungen des Bundestags glichen der Cur des Bandwurms, wo man immer Glieder des Leibes, aber keinen Kopf zu sehen bekommt. Plötzlich veränderte sich die Conversation und wurde ernst: man sprach vom Spiele und von dem glücklichen Spanier Garcia, der seit einigen Tagen wieder in Homburg angekommen war. Er hatte in der verflossenen Saison fast anderthalb Millionen Franken gewonnen, und es schien als ob ihn das Glück neuerdings begünstigen wollte. Die verschiedensten Erläuterungen über die Art seines Spieles wurden vorgebracht. Jeder der am Gespräch Betheiligten wollte die genauesten Beobachtungen über das „System“, welches jener große Mann befolgte, angestellt haben. Eine wichtige politische Angelegenheit, die römische Frage, ein neuer Krieg in Italien, die Stellung des Kaisers Napoleon zu Oesterreich konnte nicht mit größerem Ernste besprochen und nach allen Richtungen hin erörtert werden, als das Spiel des Herrn Garcia, die Summen, die er bisher gewonnen hatte, und die Frage, ob er seine großen Gewinnste der Verfolgung eines voraus entworfenen Planes, eines „Systems“, oder blos dem glücklichen, ihn immer begünstigenden Zufalle verdanke. Die Herren gingen zuletzt zu mathematischen Berechnungen über, nahmen Papier und Bleistift zur Hand und entwarfen die Figuren, nach denen man am sichersten gewinnen könnte. Das Diner war zu Ende, der Kaffee wurde herumgereicht, die meisten Gäste verließen den Saal, auch ich entfernte mich, nur die Herrn Diplomaten blieben zurück, im ernstesten Gespräche über die obenerwähnte Angelegenheit vertieft.

Ich ging ins Theater, man gab ein Lustspiel; als ich eintrat, fiel gerade der Vorhang; der erste Act war zu Ende. Ich begab mich ins Büffet: dort wurde von Homburg, Wiesbaden und von Monsieur Garcia gesprochen; ich flüchtete auf die Straße, gegenüber dem Theatergebäude befindet sich ein Kaffeehaus, ich ließ mir eine Tasse Eis reichen und nahm das „Intelligenz-Blatt der freien Stadt Frankfurt“ zur Hand: die erste Localnotiz, auf die mein Auge fiel, handelte von Homburg und Garcia; das nächst vor mir liegende Blatt war der französische Figaro: der Leitartikel war ein Brief des M. de Villemessaut über die deutschen Bäder, über Garcia und andere Spieler. Alle Frankfurter Blätter waren überdies noch gefüllt mit Ankündigungen von Bällen, Concerten, Festivals in den Spielbänken und den Vortheilen, welche diese oder jene Bank den Spielern gewährt; das System der Anlockung war so vollständig organisirt, daß ich mich entschloß, es in der unmittelbaren Nähe, so zu sagen an der Quelle, zu prüfen. Ich war zwar nicht das erste Mal an jenen Orten, hatte aber immer nur einige Tage in dem einen oder dem anderen verbracht. Ohne Zweck und Ziel für die nächsten Wochen nahm ich mir vor, endlich den Wünschen des Herausgebers der Gartenlaube nachzugeben, diese Spielorte behufs einer ausführlichen Schilderung nach einander zu besuchen, und den Kelch ihrer Genüsse bis auf die Neige zu leeren.

Ich fuhr zuerst nach Homburg. Der Ort bietet an und für sich, d. h. als Landaufenthalt, nicht den mindesten Reiz. Er besteht aus einer langen Gasse; jedes Haus ist entweder ein Gasthof oder ein Hotel garni; kein einziges – factisch– wird von seinem Eigenthümer allein bewohnt. Hinter dem „Curhause“ sind jetzt einige neue Häuser gebaut worden, die den Anfang einer schönen Straße bilden. Gegen das Ende der Hauptstraße tauchen einige von Handwerkern und Kleinbürgern bewohnte Nebengäßchen auf; sie führen nach dem landgräflichen Schlosse, dessen langweiliger und von den Fremden fast nie besuchter Garten der einzige nahe Spaziergang ist; jeder andere liegt schon in solcher Entfernung, daß er einen längern Ausflug fordert. Das ganze gesellschaftliche Leben Homburgs ist also in dem Curhause concentrirt, und dieses ist auch mit einer Pracht gebaut und ausgestattet, daß zehn Landgrafen von Homburg, wenn sie es auf ihre Kosten herstellen wollten, sich daran arm gebaut hätten.

Sie werden mir wohl die Beschreibung der großen und kleinen Säle, der Lesezimmer, der Buffets und des Kaffeehauses erlassen und mir erlauben, gleich auf die Beobachtungen, die ich am wichtigsten Orte angestellt habe, überzugehen. Es waren zwei Trente- und Quarante-Tische und zwei Rouletten im Gange, und alle derartig besetzt, daß man nur mit großer Mühe als Spieler daran [218] gelangen, als Zuseher aber fast gar nicht verweilen konnte. Rings umher standen Bedienten in Livree, die jeden Ankommenden mit prüfenden Blicken maßen; mir mußten sie gleich angesehen haben, daß ich keine Goldfüchse mitbrachte, denn sie nahmen gar keine Notiz von mir, während sie sich beeilten, anderen Herren, die mit mir eingetreten waren, Hut und Stock abzunehmen. Eine Menge Damen, deren Aeußeres weit mehr auffallend als schön war, gingen hin und her; ich hatte manche derselben in Paris auf öffentlichen Bällen und in Gärten gesehen, wo sie eine weit untergeordnetere Rolle spielten, als nunmehr, wo sie alle sehr elegant gekleidet waren und sich theilweise in Begleitung von sehr eleganten jungen Leuten befanden, die natürlich alle hoch spielten. Einer dieser Letzteren war mir von Paris bekannt, wir begrüßten uns, ich bat ihn, mir Hrn. Garcia zu zeigen. „Der große Mann ist noch nicht da,“ antwortete mir Jener, „aber in einer halben Stunde wird er ankommen, und Sie können ihn leicht erkennen, er sitzt immer gegenüber dem Tailleur[9] und spielt immer den höchsten Satz von 12,000 Francs (über 3000 Thaler), Einstweilen lenke ich Ihre Aufmerksamkeit auf einen andern interessanten Spieler, der eben mit seiner Escorte ankommt.“ Ich wandte meine Blicke nach der bezeichneten Richtung und sah eine in ihrer Art einzige Gruppe. Voran ging ein junger Mann von etwa achtundzwanzig Jahren mit einem ganz jungen, fast unschuldig aussehenden schönen Mädchen; die Beiden hielten sich an den Händen und wiegten sie in idyllischer Weise hin und her, wie etwa ein junges Ehepaar, das allein im eigenen Garten lustwandelt; unmittelbar hinter ihnen kamen zwei Männer, deren Gesichter eine unverkennbare Familienähnlichkeit mit dem des jungen Mädchens zeigten; den Schluß der Escorte bildete ein kleiner Mann mit einer ausgeprägten orientalischen Physiognomie, und endlich ein hochgewachsener blonder, den man für einen Engländer halten mochte. Der Führer der Dame war ein Vicomte de L–y, der im Vereine mit dem zuletzt Bezeichneten, einem Baron *– der Name ist mir nicht mehr gegenwärtig – ein Spielsystem erproben wollte. Beide waren Belgier, gehörten zu den besten und reichsten Familien des Landes, waren aber Beide um ihres wüsten Lebenswandels willen mit einer Art von Interdict belegt, vermöge dessen sie nur über einen Theil ihrer Einkünfte schalten konnten. Das Mädchen war die Tochter eines Coiffeurs aus einer kleinen Provinzialstadt, die beiden Männer, die dicht hinter ihr folgten, waren – – – ihr Vater und Bruder, der kleine Orientale fungirte als Secretair der Cavaliere.

Von der ganzen Gesellschaft zeigte nur der Blonde ein einigermaßen anständig zu nennendes Aeußere. Der Vicomte sah nicht blos erschreckend abgelebt aus, sein Blick war fast unheimlich, sondern auch die ganze äußere Erscheinung ließ auf alles Andere eher schließen, als daß er den bessern Ständen angehörte. Sein Anzug befand sich in einem derartig verwahrlosten Zustande, daß ein ordentlicher Handwerker sich schämen würde, so mit seinem Mädchen an einem öffentlichen Orte zu erscheinen, und daß auch ein ordentliches Mädchen seine Begleitung nicht annehmen würde. Das Hemd war schmutzig, die Manschetten zerfasert und fast schwarz; Hände und Nägel des edlen Vicomte schienen von der Seife und der Bürste seit mehreren Tagen nicht berührt worden zu sein. Was seine Begleiterin betraf, so konnte man nicht einen Augenblick zweifeln, daß sie zu ihm paßte; wohl nie gab es eine lebendigere Illustration des Sprüchwortes: Gleich und gleich gesellt sich gern, als dieses Liebespaar; hier hatte sich nickt Herz zu Herz, sondern Schmutz zu Schmutz gefunden; die Hände der jungen Dame schienen noch seifebedürftiger, als die des Vicomte, ihr Haar war kaum gekämmt zu nennen, und in dem einen Aermel ihrer noch neuen Seidenmantille erblickte ich ein ziemlich großes Loch, das augenscheinlich eingebrannt war, und auf welches ich des Lesers Aufmerksamkeit lenke, weil dasselbe noch später eine Rolle spielen wird. Der Vater dieses unglücklichen jungen Geschöpfes, dessen Jugend und Schönheit ein besseres Loos verdient hätte, besaß eine der ausgeprägtesten Gaunerphysiognomien, die mir je vorgekommen, und so sehr ich mir Mühe gab, mich zu überreden, daß meine Meinung eine vorgefaßte sei und daß der Mann an einem anderen Orte auch als ein ganz Anderer erscheinen würde, so konnte ich mich doch des widerlichsten Eindruckes, den sein Gesicht, so wie sein ebenfalls unsauberes Aeußeres, das rauhe gemeine Organ und sein lauerndes Wesen in mir hervorbrachten, nie erwehren. Sein Sohn verhielt sich ganz passiv; es schien, als ob er der Einzige wäre, der noch ein dunkles Gefühl für die Erniedrigung befaß, in der seine Schwester und die Familie lebte, denn er ließ sich möglichst wenig sehen. Der kleine Secretair hatte einen Anflug von Reinlichkeit in seinem Erscheinen; der blonde Baron konnte sogar Anspruch erheben, daß er wie ein anständiger Mensch aussah; er war der Einzige, der Handschuhe trug.

Die beiden Cavaliere traten mit der Dame an den Spieltisch und begannen gleich mit dem Einsätze einer Summe, von der eine anständige Bürgerfamilie ein Jahr hindurch bequem leben konnte. Sie waren in auffallender Weise vom Glücke begünstigt, und hatten in kurzer Zeit einen Gewinnst von etwa zehntausend Thalern erzielt. Man erzählte mir, daß sie schon seit mehreren Tagen mit dem gleichen Erfolge spielten, und ich bitte den Leser, diesen Umstand im Gedächtnisse zu behalten, da ich ihm die eben beschriebene Gesellschaft später noch einmal vorführen werde.

Da der Löwe des Tages, Herr Garcia, noch immer nicht angelangt war, trat ich an einen der Roulette-Tische, wo die kleineren Spieler saßen, die über geringere Summen disponiren. Fast ein Jeder von ihnen hatte irgend ein bemaltes oder bezeichnetes Papier vor sich liegen, ein unfehlbares System, nach welchem er spielte. Einer derselben hatte eine kleine Maschine, die wie eine Miniatur-Drehorgel aussah, vor sich stehen, bewegte sie hin und her, stach mit einer Nadel wiederholt in die darin angebrachten Tabellen und flüsterte seinem Nachbar und Compagnon die Weisung zu, wohin er setzen sollte. Während der fünf Tage, die ich in Homburg verbrachte, sah ich mehrere dieser Unfehlbaren ihr Geld bis auf den letzten Heller verspielen. Andere setzten nur auf Nummern, und bei der Masse von Spielern, die oft auf dieselben Nummern spielten, kam es sehr häufig vor, daß der Eine den Andern den Gewinn streitig machte und behauptete, er allein habe auf die Nummer gesetzt; der Streit wurde selbstverständlich immer in leidenschaftlicher Hitze und daher nicht in den gewähltesten Worten geführt; mitunter kam es aber auch vor, daß zwei Streitende sich in einer Weise apostrophirten, daß man sie in keiner Kneipe geduldet und unfehlbar hinausgeworfen hätte. In dem eleganten Homburg aber, das in allen Zeitungen seine Pracht und seinen Comfort ankündigt, werden derartige Vorgänge fast ignorirt, vorausgesetzt, daß die Streitenden noch Geld haben; die Croupiers sehen eine Weile zu – sie sind an solche Zwischenspiele eben schon gewöhnt – dann rufen sie: „Messieurs, faites votre jeu“ und dieses Commandowort lenkt wieder die allgemeine Aufmerksamkeit nach den rollenden Kügelchen.

Auch viele Frauen spielen an der Roulette; unter ihnen erblickte ich die Gräfin H–ff, die Gemahlin eines Mannes, der in einem großen Reiche einen hohen Posten bekleidet; sie lebt schon seit Jahren getrennt von ihm, meistens in Homburg und in andern Bädern. Einst besaß sie ein sehr großes Vermögen und so viele Häuser in Homburg, daß eine Straße nach ihr benannt war, sie spielte nur mit Gold; jetzt sind die Häuser Eigenthum der Bank, und die Dame spielt mit einzelnen Silbergulden. Man erzählte mir, daß sie Alles aufgewandt hätte, um sich von der unglückseligen Leidenschaft zu retten, daß sie sogar nach Rom zum heiligen Vater gewandert war, um von seinem Segensspruche Heilung zu erbitten, doch vergebens! Es wird der Armen zuletzt wohl ergehen, wie es einem ihrer Landsleute erging. Dieser Mann, der allgemein als einer der tüchtigsten Diplomaten, ja, in mancher Hinsicht als ein Genie anerkannt, zu den wichtigsten Missionen verwandt worden war, die er immer mit dem größten Erfolge durchführte, dem eine der glänzendsten Carrièren bevorstand, und der nur noch wenige Sprossen der Leiter zu erklimmen hatte, um auf einen sehr hohen Platz zu gelangen, war zu seinem Unglücke nach Süddeutschland in die Nähe der Spielbäder gesendet worden; er, der früher immer in geregelter Weise gelebt hatte, verfiel der Leidenschaft des Spieles, verlor sein ganzes Vermögen und gerieth in die unangenehmste Lage; seine Regierung, eingedenk seiner Dienste und eminenten Fähigkeiten, befreite ihn mehrere Male aus der Verlegenheit; doch immer auf’s Neue führte ihn die unbezwingbare Leidenschaft an den Spieltisch, und jetzt – lebt er, des Dienstes entlassen, wie ein Flüchtling, versteckt in einer Stadt an der italienischen Grenze.

Ich war eben daran, mein Glück zu versuchen, um nicht immer als ein müßiger Zuschauer da zu stehen, als plötzlich eine Bewegung im Saale entstand und viele Leute nach einem Trente- und Quarante-Tisch drängten; ich hörte von allen Seiten die [219] Worte rufen: Voici Garcia! und beeilte mich, den großen Mann von Angesicht zu Angesicht zu schauen.

Ich hatte erwartet, daß die äußere Erscheinung dieses glücklichen Spielers einiges Interessante bieten würde; denn wilde große Leidenschaften verleihen doch gewöhnlich der Physiognomie ein eigenthümliches Gepräge; und wenn ein Mensch seine ganze geistige Thätigkeit auf einen Punkt concentrirt, und wenn er einen Kampf gegen die Maschine, welche zuletzt auch den härtesten Widerstand bezwingt und jedes Vermögen vernichtet, bereits eine geraume Zeit lang mit so großem Glücke besteht, daß selbst die Kraft dieser Maschine geschwächt erscheinen mochte: so konnte man wohl voraussetzen, daß in jenen Zügen irgend eine hervortretende Eigenthümlichkeit zu entdecken sein würde, etwa düstere Energie, oder kalter, durch nichts zu erschütternder Gleichmuth. Doch dieser Herr Garcia sah aus, wie hundert andere Spieler aussehen. Er war gekleidet wie ein Parvenü; er trug – in der Morgenzeit – ein gesticktes Hemd, wie die Hauptstutzer es gewöhnlich nur auf den Bällen tragen, und wo nur Brillanten anzubringen gewesen, da hatte er sie angebracht, an den Fingern, an der Uhrkettte, als Hemdknöpfe; ja selbst an seinem Rocke bemerkte ich ein kleines Diamantenkreuz, das ich im Anfang für einen Orden hielt, später aber ebenfalls nur als einen Phantasieschmuck erkannte. Er war von ebenso zahlreichem Gefolge umgeben, als jener obenerwähnte belgische Spieler; seine Begleiterin war eine Deutsche; ihre Schwester schien als Gesellschaftsdame zu fungiren. Das Benehmen dieses Herrn Garcia zeigte weder von Energie noch von kaltem Gleichmuthe. Er spielte zwar immer mit demselben Satze von 12,000 Franken und bewährte ziemlich viel Ruhe, so lange er gewann; als er aber zufällig gegen Ende einer Taille verlor – und zwar nur, was er vorher gewonnen – da wurde er eben so unwirsch, als irgend ein Handwerksmann es sein würde, der im Wirthshause seinen Wochenlohn verspielte. Er sprang vom Tische auf, schob seinen Stuhl so heftig weg, daß er den hinter ihm stehenden Zuschauer fast umstieß, und lief fort.

Bei Tische machte ich die Bekanntschaft eines französischen Rentiers, der viele Jahre Consul seines Vaterlandes in Südamerika gewesen war und das Leben nach allen Richtungen so sehr genossen hatte, daß ihm, dem eigenen Geständnisse zufolge, nur noch das Spiel eine Anregung bot. Er hielt sich alljährlich einige Zeit in den Bädern, vorzugsweise in Baden-Baden, auf, brachte eine gewisse Summe mit, die er fast regelmäßig am grünen Tische zurückließ, und amüsirte sich in seiner Weise. Er war ein sehr geistreicher Mann, der mit Menschen aller Gattungen viel verkehrt und zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte und über die Spielhöllen sehr klar dachte. Ganz offen sprach er sich dahin aus, daß Jeder, der noch irgend einer höhern Anregung zugänglich sei, und sich dem Spiele ergebe, unrettbar verloren sei, weil keine Leidenschaft den Menschen so ganz und gar zu jeder anderen Beschäftigung unfähig mache. Denn selbst die Trunkenheit, meinte er, steht über der Leidenschaft der Spieler; erstens kommt sie bei Menschen, die einige Erziehung genossen haben, nur in den seltensten Fällen vor; zweitens kann der Trunkenbold, wenn er kein Geld hat, nicht mehr in’s Weinhaus gehen, während dem unglücklichen Spieler der Eintritt in die Hölle noch unverwehrt ist, wo er noch immer die Massen Goldes vor seinen Augen hin- und herwogen sieht, und wo sein von Tantalus-Qualen gefolterter Geist nachdenken kann, wie er sich neue Mittel schaffen könne, um nochmals sein Glück zu versuchen.

Nach Tische begaben wir uns in die Spielsäle, und mein neuer Bekannter zeigte mir noch andere hervorragende Persönlichkeiten und unterrichtete mich über den Ursprung sowie über die Organisation dieser renommirten Hölle; und wie ich mich später nach genauern weitern Forschungen überzeugte, waren alle seine Mittheilungen durchaus wahrheitsgetreu.

Die Gründer des Spielhauses waren die Gebrüder Blanc, von denen nur noch einer am Leben ist. Bevor sie als die Directoren des sauberen Instituts auftraten, waren sie in Paris und andern Orten, wie z. B. Nizza, Monaco etc., übel berüchtigt als Leute, die kein Mittel zum Gewinn scheuten, und namentlich auch in Gesellschaftsspielen eine so eigenthümliche Geschicklichkeit entwickelten, daß sie zuletzt in keiner anständigen Gesellschaft mehr geduldet wurden und ihre Augen auf das jungfräuliche Deutschland warfen, das ihnen als ein neu zu bebauendes Terrain erschien. Sie entwarfen den Plan, in der Nähe von Frankfurt ein Spielhaus zu errichten, fanden einige Leute, denen dieser Plan ein gewinnverheißender schien, wie z. B. die beiden Gebrüder Teittler, und auch bald Gelegenheit zur Ausführung desselben. Der alte Landgraf von Hessen mochte wohl von dem Gedanken entzückt sein, daß seine Residenz, die bisher ein armseliges Dorf war, zu einem eleganten Badeorte umgewandelt würde, und daß er dafür nicht nur keinen Heller zu verausgaben brauchte, sondern vielmehr eine ganz schöne Summe jährlich in seine Tasche stecken konnte; er gab seine Einwilligung, und im Beginn der vierziger Jahre blühte schon Homburg in einer Weise, daß es alle Bäder Deutschlands – mit Ausnahme von Baden-Baden – verdunkelte.

Die Gebrüder Blanc waren aber auch die einzigen Spielunternehmer, die es verstanden, die damals noch weniger bekannten und benutzten Hebel der Verlockung in Bewegung zu setzen. Sie hatten ihre Studien in den nunmehr geschlossenen Pariser Spielhäusern gemacht, und wandten dieselben bei der Organisation der Homburger Hölle an; dabei führten sie aber auch Neuerungen ein, die ihrem erfinderischen Geiste alle Ehre machten und sie quasi als Genie erscheinen ließen. Sie hoben das refrait,[10] legten trente und quarante zuerst ganz auf und führten erst später das halbe refrait, ein, was bei dem Umstande, daß noch kein anderes „Etablissement“ sich zu dieser Concession verstehen wollte, alle Systemspieler bewog, nach Homburg zu wandern. Sie waren auch die Allerersten, welche Concerte auf Administrations-Unkosten veranstalteten und die Künstler bezahlten, während diese in anderen Ländern noch immer auf ihr eigenes Risico concertirten; daß die Gattung von Damen, mit welchen Müßiggänger und sonstiges elegantes Gesindel am liebsten umgeht, in Homburg die freundlichste Aufnahme fand, versteht sich von selbst.

Der große Aufschwung Homburgs datirt von der Zeit nach 1848. Das deutsche Parlament decretirte die Aufhebung der Spielbank, und der Homburger Cursaal wurde durch abgesandte Bundestruppen und Commissaire geschlossen. Die Mitgründer der Bank und Besitzer von Actien hielten sich für ruinirte Leute. Der geniale Blanc (der jetzt lebende) benutzte diesen Umstand zu seinem Vortheile. Er sah voraus, daß die Beschlüsse des deutschen Parlamentes von keiner nachhaltigen Wirkung sein würden; er sprach die denkwürdigen Worte: „Meine Bank wird länger dauern, als Euer Parlament,“ und kaufte fast alle Actien zu einem Spottpreise. So wurde er der Herr des Hauses, und ein Franzose Namens Minard und die Teittler’s nebst einigen ganz unbedeutenden kleinen Besitzern von Actien, die in Blanc’s Genie unbedingtes Vertrauen setzten und daher ihre Papiere behielten, blieben Mitunternehmer, begnügten sich aber mit der bescheidenen Rolle von Trabanten der großen Hauptplaneten. Und sie hatten Recht! Als die ersten großen Reden im Parlamente verhallt waren, versuchten die Homburger Bankhalter, das Geschäftchen, wenn auch nur verborgen und in kleinerem Maßstabe, wieder in Gang zu bringen, und siehe da! es gelang besser, als sie gedacht hatten; zu den eifrigsten Besuchern der geheimen, zuerst bei verschlossenen Thüren gehaltenen Sitzungen gehörten – einige hochgeborene Mitglieder des Parlamentes. Als das Jahr 1849 die bekannten Katastrophen herbeiführte, als zuletzt das Parlament sich auflöste und die Revolution in Baden den Spielort dieses Landes unzugänglich machte, öffnete Homburg seine gastlichen Hallen wieder und entfaltete sich glänzender denn je.

Seit der Errichtung des Eisenbahnnetzes, das nun Frankfurt mit allen großen Städten verbindet, ist die Organisation der Homburger Spielbank zu ihrer höchsten Vollendung gediehen. Da die Presse in neuester Zeit doch auch eine Macht, wenigstens in socialer Beziehung, geworden ist, so wurde ihr von Herrn Blanc eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Es ist eine ganz bekannte Thatsache, daß Hauptredacteure der einflußreichsten Localblätter Frankfurts mit der Bank auf sehr gutem Fuße stehen; die Indêpendance belge enthält unter ihren Annoncen immer eine, die fast den dritten Theil einer Seite dieses großen Blattes einnimmt, worin die vielen Vorzüge Homburgs gepriesen werden. Auch die österreichischen großen Blätter enthalten seit einem Jahre solche Ankündigungen, [220] und selbst die tugendhafte Augsburger Allgemeine Zeitung, verschmäht es nicht, die beträchtlichen Insertionsgebühren anzunehmen, die ihr von der Homburger Bank gezahlt werden.

Seit einigen Jahren – da Wiesbaden als Concurrent aufgetreten ist – läßt Herr Blanc eine französische Theatergesellschaft den Winter hindurch spielen. Die weiblichen Mitglieder derselben üben eine besondere Anziehungskraft auf manche junge Frankfurter Banquiers aus, und es gab eine Zeit, wo die Damen selbst nach der freien Reichsstadt kamen, um daselbst an den von mehreren der erwähnten Herren veranstalteten „soirées parisiennes“ Theil zu nehmen. Wahrscheinlich mußte der Director des Theaters gefunden haben, daß die Gastrollen der Damen von den „Soiréen“ ihre Leistungen am Theater beeinträchtigten, denn sie wurden angewiesen, ihre Thätigkeit auf Homburg zu beschränken.


(Fortsetzung folgt.)



Der Präsident einer deutschen Kammer.

Der Kampf des kurhessischen Volkes um seine Verfassung von 1831 erregt nun schon in’s zwölfte Jahr die Aufmerksamkeit und Theilnahme der ganzen civilisirten Welt. Die Wichtigkeit der Frage hat längst die ursprüngliche Bedeutung der Verfassung überflügelt, denn jetzt liegt ihr Schwerpunkt in der Entscheidung, ob überhaupt ein zwischen Fürst und Volk vereinbartes, vertragsmäßig feststehendes Verfassungsrecht wirklich ein solches, oder ob dasselbe willkürlich, einseitig, durch einen Machtspruch wieder beseitigt werden kann, sobald dasselbe nicht mehr genehm ist. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, ist die Theilnahme von ganz Deutschland an diesem Kampfe durch die Presse wie durch die Kammerverhandlungen eine ganz besonders berechtigte.

Um einen solchen Kampf zum Austrag zu bringen, dazu konnte die Vorsehung keinen besseren Volksstamm des ganzen deutschen Vaterlandes auserwählen, als den hessischen. Die lange Leidensgeschichte, die vieljährigen Kämpfe desselben mit seiner Regierung, während welcher diese bestrebt war, das gute Recht des Volkes zu verkümmern, haben sein Rechtsbewußtsein gestählt und Männer auf dem parlamentarischen Schlachtfelde herangebildet, die in Zeiten der Gefahr das Panier, welches die Inschrift führt: „Die Verfassung von 1831 muß eine Wahrheit werden!“ in feste, sichere Hand nahmen. Der Kern des kurhessischen Volkes, der eigentliche Bürgerstand, ist dabei im höchsten Grade vorsichtig, ja, man könnte sagen, mißtrauisch. Er wirft sich so leicht keinem Agitator in die Arme, er hat auch nach dieser Richtung hin zu reiche Erfahrungen gemacht. Von Schritt zu Schritt werden die Männer, die nach Volksgunst buhlen, verfolgt, mit Argusaugen bewacht und einer unbarmherzigen Kritik unterzogen, die weder Rücksicht noch Gnade kennt, wenn die entfernteste Spur einer falschen Fährte sich zeigen sollte. Das haben Viele von denen zu erfahren Gelegenheit gehabt, die seit 1830 auf der politischen oder socialen Bühne in Kurhessen aufgetreten sind.

Wir mußten dieses vorausschicken, wenn wir unseren Lesern die Situation klar und den von unsern Gegnern behaupteten Einwand, als sei die Aufregung in Kurhessen für das Verfassungsrecht von 1831 nur durch einige wenige ehrgeizige oder sonstigen Zweck verfolgende Agitatoren hervorgerufen worden und würde von denselben genährt und erhalten, zu Nichte machen wollen.

Aus dieser Schule ist auch Friedrich Nebelthau hervorgegangen, der unerschütterliche Rechtsheld, welcher von den drei hinter einander aufgelösten sogenannten zweiten Kammern stets wieder zum Präsidenten, gewählt worden ist. Nebelthau wurde, nachdem er das landstandsfähige Alter von 30 Jahren erreicht hatte (er ist geboren am 22. Januar 1806), von der Stadt Hersfeld als Abgeordneter in die Ständeversammlung gewählt und hat bis zu dem verhängnißvollen Jahre 1850 abwechselnd die Städte Hersfeld, Melsungen, Kassel und zuletzt den Bezirk Eschwege vertreten. Als Abgeordneter der Stadt Kassel auf dem Landtage von 1845–46 ward er zum ersten Male Präsident der Ständeversammlung, während er auf den Landtagen von 1847 und 1849 als Vicepräsident, neben den Präsidenten von Trott und Schwarzenberg, fungirte. Obgleich die damalige demokratische Partei auf dem Landtage von 1850, der sogenannten steuerverweigernden Ständeversammlung, nach dem Auftreten Hassenpflug’s in der Mehrheit war und Professor Bayrhoffer zum Präsidenten und Obergerichtsanwalt Cöster zum Vicepräsidenten gewählt wurden, nahm dennoch Nebelthau eine hervorragende Stellung in dieser Versammlung dadurch ein, daß er als Mitglied und Referent der wichtigeren Ausschüsse für Verfassungs-, Rechts- und Budgets-Angelegenheiten die Mehrzahl der gediegenen Berichte verfaßte, welche die bekannten Beschlüsse zur Folge hatten. Die Ständeversammlung ward aufgelöst, die Bundesexecution erfolgte, und die in anerkannter Wirksamkeit zwanzig Jahre lang bestandene Verfassung ward von der siegestrunkenen Reaction umgestürzt. Die Verfassung vom 13. April 1852 ward publicirt, das Zweikammersystem eingeführt und gleichzeitig ein Wahlgesetz erlassen, durch welches eine solche Wahlbeschränkung eintrat, daß alle Intelligenz von den Verhandlungen der zweiten Kammer ausgeschlossen blieb. Die alte constitutionelle Partei, die in den verhängnißvollen Tagen im März 1848 den Thron gerettet und gestützt, sie ward zur Seite geschoben und war anscheinend todt. Aber sie feierte nicht, sie arbeitete fort und wartete nur den günstigen Zeitpunkt ab, um mit aller Entschiedenheit für die Rechte des Landes hervorzutreten.

Nebelthau wirkte von da an durch Schrift und Wort an der Herbeiführung eines neuen Umschwungs. Von der Stadt Kassel nach dem Erscheinen der Verfassung vom 30. Mai 1860, unter Rechtsverwahrung für die Verfassung von 1831, als zweiter Abgeordneter neben dem Oberbürgermeister Hartwig in die sogenannte zweite Kammer gewählt, nahm er freudig die Wahl an mit dem bestimmten Vorsatze, für das gute Recht einzustehen. Die Kammer wählte ihn unter derselben Rechtsverwahrung, am 16. November 1860 mit 45 gegen 2 Stimmen zum Präsidenten. In der ersten öffentlichen Sitzung, am 29. November 1860, sprach Nebelthau offen und unumwunden aus: „Nie habe ich mit meiner Ueberzeugung zurückgehalten, stets habe ich sie offen ausgesprochen, und so bekenne ich denn auch jetzt nicht nur, daß ich ein strenger Anhänger der Verfassung von 1831 bin, sondern auch, daß ich am fortdauernden Rechtsbestand aller der Grundgesetze festhalte, welche seit dem Herbste 1850 auf eine mit dem älteren Verfassungsrecht unvereinbare Weise außer Wirksamkeit gesetzt sind. Unsere Lage ist eine sehr eigenthümliche. Um unsern Zweck, die Herstellung des älteren Verfassungsrechts, zu erreichen, fügen wir uns äußerlich der neuen Ordnung der Dinge. Begreiflicherweise kann das nur unter den äußersten Vorsichtsmaßregeln geschehen, unter Rechtsverwahrungen, welche eine Verschiebung unseres Standpunktes verhüten sollen. Unter Protest werden wir zu Landtagsabgeordneten gewählt, unter Protest haben wir angenommen, eben so verfuhren wir bei der Wahl des Präsidiums und des Büreaus, und auch heute vor der Ableistung des Eides in die Hände des mit der Eröffnung des Landtags betrauten Herrn Commissars habe ich in gleicher Weise zu verfahren mich gedrungen gesehen. Meiner schriftlich bei kurf. Landtagscommission eingelegten Verwahrung gegen jede über den klaren Wortsinn der Eidesformel hinausgehende Deutung haben sich außer dem Herrn Vicepräsidenten Ziegler noch 37 von Ihnen angeschlossen. Ich wünsche von ganzem Herzen, daß wir uns – ohne dem Rechte des Landes etwas zu vergeben – recht bald von dem ängstlichen Boden der Rechtsverwahrungen und Cautelen losmachen können.“ Dieser aufrichtig gemeinte Wunsch ist bis heute noch nicht in Erfüllung gegangen!

Der 8. December 1860 war herangekommen, an welchem zum ersten Male die Entscheidung erfolgen sollte, ob die Kammer sich für incompetent zur Vornahme landständischer Geschäfte erklären würde, oder nicht. Die Spannung war groß. Zum ersten Male seit 1850 waren die Tribünen wieder überfüllt. Die Debatte begann, und ohne sich in dieselbe einzumischen, leitete sie der Präsident, nach rechts und links, nach oben und nach unten wahrend und einschreitend, mit musterhaftem Takte durch, indem er sogar, als dieselbe drohte, das richtige Gleise zu verlassen, rechtzeitig einschritt. Die Kammer erhob die Anträge des Verfassungsausschusses zum Beschlusse, die Auflösung derselben erfolgte sofort. Der Präsident erhob sich von seinem Sitze mit den Worten: „So gehen wir denn in Frieden nach Haus und setzen unser Hoffen auf eine andere Zeit.“ Diese wenigen Worte, die aber den Charakter und die Zähigkeit des Redners bekunden, gingen [221] damals von Mund zu Mund und gaben die Parole für die ganze Volkspartei ab; diese Worte waren nicht blos zu den Abgeordneten, sondern auch zu dem versammelten Volke gesprochen, und dieses verstand sie.

Friedrich Nebelthau.
Nach einer Photographie.

Das Frühjahr 1861 kam heran, und wenn die Minister auch nur den Schein retten wollten, daß sie nach verfassungsmäßigen Bestimmungen zu regieren strebten, so mußten neue Wahlen angeordnet werden. Mit der gleichzeitigen Anordnung derselben fanden es aber auch die Räthe der Krone für angemessen, den Fürsten persönlich in den Kampf zu verwickeln, wie es neuerdings auch anderwärts beliebt worden ist. Es erschien die landesherrliche Verkündigung, durch welche das Volk aufgefordert ward, nur Männer zu wählen, welche die wahre Stimmung des Landes repräsentiren. Das Volk ließ mit der Antwort nicht auf sich warten. Die zur Wahl berufenen Wähler wählten mit einer an Einstimmigkeit grenzenden Majorität unter Protest die Wahlmänner, und diese wählten, wiederum unter Protest, zu Abgeordneten abermals fast ganz dieselben Männer, welche Mitglieder der aufgelösten Kammer gewesen waren.

Die Residenzstadt Kassel war mit dem Beispiel vorangegangen. Sie hatte ihre seitherigen Abgeordneten, Hartwig und Nebelthau, wieder gewählt.

Am 11. Juni 1861 fand die Wahl des Bureaus der Kammern statt. Ehe sie zu diesem Acte schritt, legte sie eine Rechtsverwahrung für das Verfassungsrecht von 1831 ein. Der Landtagscommissar von Dehn-Rothfelser erklärte: die Mitglieder der Kammern seien gewählt, berufen und erschienen in Gemäßheit der Verfassung und des Wahlgesetzes vom 30. Mai 1860; die hiermit in Widerspruch stehenden Proteste und Vorbehalte könnten von der Regierung nicht anders als unstatthaft und wirkungslos betrachtet werden. Auf diese Erklärung hin warf Nebelthau die Frage auf: ob die Regierung überhaupt noch eine Thätigkeit von Seiten der Abgeordneten erwarte, oder ein für allemal darauf Verzicht leiste? Auf die Antwort des Landtagscommissars, daß die Regierung der Thätigkeit der Versammlung nicht in den Weg treten wolle, äußerte Nebelthau, daß dann die Regierung auch erwarten müsse, daß Alles, was die Versammlung thue, in dem von derselben bekundeten Sinne geschähe.

Man schritt zur Wahl des Präsidenten, und von 48 Abstimmenden erhielt Nebelthau 47 Stimmen. Er dankte der Versammlung, indem er sich dahin aussprach, daß ihm dadurch insonderheit die Sorge und die Verantwortung zufalle, daß durch keine Handlung der Versammlung dem Rechte des Landes das Geringste vergeben werde. „Wohlbekannt mit Ihrem Willen,“ sagte er, „werde ich darüber wachen, daß nirgends auch nur ein Schein Ihres Verzichts auf das ältere Verfassungsrecht von 1831 oder eine Anerkennung des neuen von 1860 aufkomme. Schon einmal, im vorigen Winter, vertrauten die Meisten von Ihnen die Leitung meinen Händen an; verlassen Sie sich darauf, soviel an mir liegt, wollen wir diesmal nicht mit geringerer Ehre aus dem Kampfe scheiden.“ Und er hielt Wort.

Am 1. Juli 1861 fand die öffentliche Sitzung der Kammer statt, zur Berathung des Berichts des Verfassungsausschusses, erstattet von dem Abgeordneten Hartwig über den Antrag des Vicepräsidenten Ziegler, die Incompetenz-Erklärung der Kammer und Erlaß einer Adresse an den Kurfürsten betreffend. Die Tribünen waren wieder überfüllt. Der Landtagscommissar bot alle Mittel auf, um die Versammlung zu bewegen, sich mit der Regierung in Unterhandlungen über eine Revision der Verfassung von 1860 einzulassen. Nach langer heftiger Debatte schloß der Präsident dieselbe mit den Worten: „Meine Herren! Man hat uns die Wahl [222] leicht gemacht. Was man nach der, wie ich bedauere, in Abwesenheit sämmtlicher Minister, durch die Herrn Landtagscommissare abgegebenen Erklärung von uns verlangt, ist nichts Geringeres, als daß wir den festen Boden des Rechts aufgeben, unsern Widersachern uns auf Gnade und Ungnade überliefern sollen. Dagegen gehen die Vorschläge des Verfassungsausschusses davon aus, daß Se. königl. Hoheit der Kurfürst ein souveräner Fürst ist; nach den Vorschlägen des Verfassungsausschusses sollen wir Allerhöchstdenselben in einer Adresse bitten, den allgemeinen Widerwillen im Lande gegen die Verfassung von 1860 als Thatsache aufzufassen und aus Liebe zum Frieden, aus Liebe zum Lande, aus landesherrlicher Machtvollkommenheit sich für Rückkehr zur Verfassung von 1831 zu entscheiden, damit ein allen gerechten Forderungen und allen billigen Rücksichten entsprechender Rechtszustand auf verfassungsmäßigem Wege hergestellt werde.“

Der Antrag des Verfassungsausschusses wurde einstimmig angenommen durch 45 Stimmen, indem 2 Abgeordnete, Jordan und Nuhn, vor der Abstimmung den Saal verlassen hatten.

Auf Ersuchen des Landtagscommissars wurde die Gegenprobe gemacht; es erhob sich Niemand!

Hierauf wurde die Kammer aufgelöst.

Zum dritten Male rief die Regierung die Wähler zur Wahl, aber auch zum dritten Male wiederholte sich der seither vom Volke eingeschlagene Weg. Von Stufe zu Stufe ward unser Protest vorgeschritten, und die Wahl traf abermals fast dieselben Männer. Zur selben Zeit, als der Landtag wieder eröffnet werden sollte, ward eine Monstreadresse vom Volke im Gegensatze zu der sogen. Loyalitäts-Adresse des neuen Treubundes, genannt „Hessenverein“, verbreitet und erhielt trotz aller dagegen aufgebotenen Polizeigewaltmaßregeln über 16,000 Unterschriften. Am 3. Januar 1862 schritt die Versammlung der Abgeordneten zur zweiten Kammer zur Wahl des Präsidiums und zwar ebenfalls unter Protest. Nebelthau ward wieder gewählt, nachdem die Landtagscommission mit der ganzen Regierungspartei, bestehend aus den Abgeordneten Nuhn und Stroh, den Saal verlassen hatte, da ihre drohende Erklärung, die Stände seien entweder Stände in Folge der Verfassung von 1860 oder gar nichts, die Männer nicht dazu vermocht hatte, die niedergelegte Rechtswahrung zurückzunehmen. Nebelthau hielt nach vollzogener Wahl eine Ansprache an die Versammlung, in welcher es heißt: „Das ganze Land weiß, daß ich Gut und Blut für die Herstellung der Verfassung von 1831 hinzugeben bereit sein würde. Ihre Wahl hat daher eine um so größere Bedeutung, als die Herren Minister neuerdings jede Meinungsäußerung, welche ihnen unangenehm ist, durch Polizeimaßregeln und Disciplinarklagen unterdrücken. Schon zweimal gaben fast dieselben Männer, welche heute hier versammelt sind, über die große Angelegenheit unserers Landes ihren Wahrspruch ab. Nur die Herren Minister wollten darin die Stimme des Landes nicht erkennen. Als aber eine in demselben Sinne an Seine Königl. Hoheit den Kurfüsten gerichtete Vorstellung binnen wenigen Tagen mit mehr als fünfzehntausend Unterschriften sich bedeckte, da ließ die bewaffnete Macht danach fahnden und überall, wo man ihrer habhaft werden konnte, die Adressen wegnehmen. Ich will nicht der Wahlhindernisse, nicht des heutigen Benehmens der Landtags-Commission für jetzt gedenken. Sie sehen schon, meine Herren, es handelt sich darum, die Stimmen der Wahrheit ein für allemal zu ersticken; das letzte Recht eines Volkes, das Petitionsrecht, wird mit Füßen getreten. Wenn Sie nun thun, was dem Lande sonst ganz unmöglich sein würde, wenn Sie den Herren Ministern zeigen, wie Sie über deren Treiben und Gebahren urtheilen, so würde ich mit Freuden mich an Ihre Spitze stellen.“

So standen die Dinge, als am 8. Januar, am Jahrestage der feierlichen Verkündigung und Beschwörung der Verfassung von 1831, die Versammlung der Abgeordneten zur zweiten Kammer, wie man sich regierungsseitig ausdrückte, nachdem dieselbe die Erklärung abgegeben hatte, den Protest nicht zurücknehmen zu wollen, aufgelöst ward, ohne noch als Kammer constituirt gewesen zu sein.

Unsere Aufgabe war es nicht, ein Bild unseres ganzen Verfassungskampfes zu geben, wie sich derselbe namentlich in dem Auftreten der Abgeordneten zur sogen. zweiten Kammer, manifestirt, sonst hätten wir all die Ehrenmänner mit schildern müssen, welche dreimal so glänzend das in sie gesetzte Vertrauen des Volkes gerechtgefertigt haben. Wir wollten dem deutschen Volke nur den Präsidenten der drei aufgelösten Versammlungen in dieser Eigenschaft zu schildern versuchen, und übergehen für heute die übrigen hervorragenden Mitglieder dieser Kammer, indem wir unserer Darstellung im Allgemeinen nur noch hinzufügen, daß Nebelthau nicht blos ein talentvoller kluger Mann ist, sondern auch stets ein Glanzpunkt in allen parlamentarischen Verhandlungen war, und das vermöge seiner Gewandtheit, seiner langjährigen parlamentarischen Erfahrung und seines tiefen Wissens, namentlich seiner Kenntniß des ganzen kurhessischen Staatshaushaltes. Der Leitung eines solchen Mannes, der keinen Einflüssen weder von rechts noch links zugänglich ist, bedarf aber auch das kurhessische Volk, um sein Ziel, die Wiederherstellung seines Verfassungsrechts von 1831, nicht nur endlich zu erringen, sondern aus dem langen und schweren Kampfe des Verfassungsrechts und der Eidtreue gegen die Machinationen der Verfassungsfeinde siegreich hervorzugehen.

S. H.




Ein schwäbisches Dichterleben.


Es war Abends fünf Uhr. Wir traten, wie gewohnt, in das so Vielen lieb gewordene Häuschen des Dichters ein, das am nordöstlichen Ende der Stadt Weinsberg, an der alten Heerstraße, die von Heilbronn über Oehringen nach Nürnberg führt, in reizender Umgebung liegt. Wir fanden Justinus Kerner auf dem Sopha neben dem Fenster sitzen, von Raritäten aller Art, langsam schreitenden Schildkröten, wichtigthuenden Laubfröschen, riesigen Gurken, buntscheckigem, großkörnigem Welschkorn in schuhlangen Kolben, glänzenden Granatäpfeln, Kuckuk rufenden Schwarzwälder Uhren, hellklingenden Spieluhren – umgeben, ein kleines Tischchen vor sich und mit köstlicher Behaglichkeit seinen weißen „Lindelberger“ schlürfend, sein weißes Brödchen essend. Das Zimmer ist mit Portraits reich behängt. Hier sind alte und neue Familienbilder, dort ist Herzog Max von Baiern, der Virtuos auf der Bergcither, neben ihm die Kaiserin mit dem tiefschwärmerischen, liebesuchenden Blick, gegenüber ihre Schwester, die Heldin von Gaeta, Edelsinn und Entschlossenheit in den schönen Zügen, neben ihr Lenau mit dem dunklen Auge, mit dem er so manches Herz dämonisirte, bis ihn selbst die Dämonen faßten. Die kleine Büste dort stellt Breslau vor, König Ludwig’s trefflichen Leibarzt, der mit Kerner in Tübingen studirte und als sein Jugendfreund es vermittelte, daß der König mit dem Sänger ging. Im Nebenzimmer sind die Bilder der württembergischen und baierischen Königsfamilie, darunter das des Prinzen Adalbert, der so oft und so gerne bei seinem „väterlichen Freunde“ in diesen Räumen weilte. An einem besonderen Plätzchen sehen wir die Seherin von Prevorst, stille, himmlische Züge im Antlitz. In einem niedlichen Kästchen sind Geschenke aller Art ausgestellt, Trinkgläser von verschiedenem Caliber, groß genug, um auch den berechtigsten Durst bis auf den Grund zu stillen. Im Hintergrund steht auf hohem Postament ein Marienbild in Stein gehauen, von dem kunstsinnigen Dichter aus einer alten Rumpelkammer hervorgezogen und dem Verderben entrissen.

In dieser Umgebung, unter Gewürm, das auf der Erde kriecht, unter vegetabilischen Ornamenten, unter Lebenden und Todten, unter Töchtern aus der Bauernhütte und aus der Königsburg trafen wir Justinus Kerner. Das ist immer noch eine imposante Gestalt, trotz der mehr als 70 Jahre, die auf seine Schultern drücken, groß und stark, zu einem kräftigen, gebietenden Wirken, scheint es, wie geschaffen, wenn nicht der Zug um den Mund das Weibliche in seinem Wesen verriethe, alle Gesichtszüge stark hervortretend, schöne, hohe Stirn, lange, weiße Locken, und diese ganze Figur in einem braunen, mönchartigen Gewand mit kurzem Kragen über die Schultern, eine Schnur um die Hüfte geschlungen. Es ist eine von den verschiedenen Eigenheiten Kerner’s, daß er in der Kleidung sich stets als einen Feind der Mode zeigte, und diese Eigenheit ist so tief eingewurzelt, daß wir sie bis zu seinem Confirmationstag verfolgen können. Als er im Jahre 1800 in seiner [223] Vaterstadt Ludwigsburg confirmirt wurde, ging er, obgleich der gute Ton den armen Confirmanden einen Frack vorschrieb, trotz aller Vorstellung der Seinigen, zum Entsetzen aller frommen Seelen, im Ueberrock in die Kirche und zum Altar. Das war ein schlechtes Prognostikon für seine Kirchlichkeit, für seine Orthodoxie. Und in der That war dieses Ueberröckchen des 14jährigen „Christian“, wie man ihn zu Hause nannte, nichts weniger als gleichgültig. Es war ein Protest gegen die Form, in die man sein religiöses Bewußtsein, die Art seines Cultus einzwängen wollte, und die steife Orthodoxie sorgt bekanntlich sehr dafür, daß solche Proteste sich erneuern müssen. Ein Mann, der mit Dr. David Friedrich Strauß, dem Verfasser des Lebens Jesu, so freundlich verkehrte, der von hervorragenden Jesuiten und Mitgliedern der katholischen Missionen besucht wurde und im friedlichsten religiösen Gespräch sich mit ihnen erging, der sein Zimmer zu einer Capelle für den indischen Missionär und den schwäbischen evangelischen Reiseprediger Hebich mit seinem widerlichen Hokuspokus machte, konnte unmöglich ein gut lutherischer Orthodoxer in des Wortes verwegener Bedeutung sein. Specielle theologische Fragen und Dogmen hielt er sich ebenso sehr vom Leibe wie politische. Er wollte Freiheit in allen Gebieten des menschlichen Lebens, aber vor Allem wollte er Ruhe und Frieden, haßte jeden Streit, jede persönliche Erhitzung und bildete sich seine eigene Religion, die, wenn sie auch nichts specifisch Christliches zur Schau trug, doch auch nichts Unchristliches enthielt und die Idee der Liebe zur Grundlage hatte. „Eine Liebe hat mich entstehen lassen, eine Liebe hat mich als Kind auf den Armen getragen, hat mich durch das ganze Leben geleitet, eine Liebe wird mich auch nach diesem Leben in ihre Mutterarme nehmen.“ In diesen wenigen Sätzen concentrirt sich des Dichters religiöse Anschauung. Sie ist weit genug, um die ganze Menschheit, alle Religions- und Confessionsformen darin unterzubringen, tief genug, um den Dichter zu warmen, lebendigen Gebilden zu begeistern, weich genug, um die Frauen, die er alle so innig liebte, magnetisch anzuziehen. „Wir sehen uns wohl in diesem Leben nimmer,“ sagte ein scheidender Freund zu Kerner. – „Nun, wir werden uns ja wiedersehen,“ entgegnete dieser in scherzender Manier, „entweder Parterre oder Beletage oder im oberen Stockwerk.“ – „Wenn wir uns nur wiedersehen, gleichviel wo!“ versetzte der Freund und wollte das Zimmer verlassen. Aber Kerner hielt ihn zurück, trat vor ihn, sah ihm lange in’s Auge, sprach in wehmuthsvollem Tone leise seinen Namen und küßte ihn noch einmal.

Es lag ganz in der schwäbischen Offenheit und Herzlichkeit Kerner’s, so mit seinen Freunden zu verkehren, und mehr als als eine Frau brachte er dadurch in einige Verlegenheit. So ist ja sein Verhalten gegenüber einer hohen Dame an einem deutschen Hofe bekannt. Kerner war zu derselben auf Besuch geladen und äußerte unter anderem sein Bedauern, daß er bei seinem schwachen Augenlicht die edlen Züge der Prinzessin nicht bewundern könne. „Kommen Sie nur näher, Sie dürfen mich wohl genau ansehen.“ Kerner ging mit ihr an’s Fenster, faßte sie mit beiden Händen am Kopf und sah in ihr wirklich ausdrucksvolles Auge, in dieses reine, blendend weiße Antlitz. Die Prinzessin verwies ihm dieses seltene tête à tête nicht, aber der ganze Hof erstaunte über diesen kühnen Griff eines deutschen Dichters.

Auch eine andere Eigenthümlichkeit seines Charakters finden wir schon sehr frühe bei ihm. Varnhagen, welcher zu gleicher Zeit, im Jahre 1808, mit ihm in Tübingen studirte, ja in einem Haus mit ihm zusammenwohnte und viel in Kerner’s und Uhland’s Gesellschaft kam, schildert ihn schon damals als einen Jüngling von sonderbaren Ansichten und auffallendem Wesen, als einen Menschen, jetzt tief in sich gekehrt, sinnend und träumerisch wie ein Alpensee, dann plötzlich aufspringend, auflachend, mit den Freunden herumtanzend, bald wild dämonisch den Wahnsinn nachahmend, daß es den Freunden schaudernd durch die Nerven fährt, bald Schwänke ersinnend darstellend, daß sie sich vor Lachen den Bauch halten mußten. Und so war Kerner noch in den letzten Jahren, wenngleich die Form schon durch das Alter gemäßigter war.

Nehmen wir dazu eine andere Aeußerung Varnhagen’s aus der gleichen Zeit, wo er es an einem Jüngling unbegreiflich findet, zu meinen, „es sei so wenig Freude in der Welt, daß man nur eben etwas – gleichviel was – thun müsse, damit die Zeit verstreiche und so das ganze Leben,“ so liegt das Wesen Kerner’s in seinen Grundzügen vor uns: einerseits ein tiefes Gefühl Schwermuth, der Nichtbefriedigung bei diesen menschlichen Verhältnissen, der Sehnsucht nach der wahren Heimath des Geistes, andererseits ein übersprudelnder Humor, eine unübertreffliche Gabe der Darstellung komischer Scenen, eine feine Auffassung der Lächerlichkeit in Verhältnissen und Personen.

Um mit dem Letzten anzufangen, so sind unter seinen Schriften vor allem die „Reiseschatten von dem Schattenspieler Lux, 1811“ und das „Bilderbuch aus meiner Knabenzeit, 1849“ zu erwähnen. Enthält auch das Erstere Manches, was vor der jetzigen Kritik nicht Stand halten kann, manches Phantastische, das eine fast übermenschliche Flugkraft voraussetzt, so enthält es doch auch Scenen, die zu den gelungensten Producten deutschen Humors gehören.

Gehen wir zu den erstgenannten Charakterzügen Kerner’s über, dem Gefühl der Schwermuth, des Schmerzes, der Nichtbefriedigung, der Sehnsucht nach höheren Zuständen, woraus alles Andere – Liebe zur Natur, zu früheren Zuständen, Geisterseherei – als aus seiner natürlichen Quelle entspringt, so ist allerdings nicht zu verkennen, daß Kerner seinen Schmerz, seine Todessehnsucht zu dick und zu oft aufträgt, jedoch beizusetzen, daß er nicht jenen Weltschmerz, jenen Kainstempel hat, der immer nur sich als vom Blitzstrahl getroffen ansieht, sondern daß er diesen Schmerzenszug in der ganzen Menschheit sieht. Aus dem Elend dieses Erdenlebens hinauszukommen, in einem höhern Geisterleben die rechte Befriedigung zu finden, ist das Thema, das in vielen Variationen besungen wird.

Daß der Dichter bei dieser Gesinnung sich um so inniger an die ewig gleiche, von ihm beseelte und vergeistige Natur anschließt, daß er, wie Uhland, das Ritterleben glücklich preisen zu können meint und, wie die edlen Ritter, der süßen Minne pflegt und all’ seine Liebe in zarte weibliche Herzen legt, vor allem in das seiner 1854 verstorbenen Gattin (vergl. die an Zartheit ihres Gleichen suchenden Gedichte „An Sie“ in den „Winterblüthen“), die, wenn sie auch glücklicherweise seinem schwärmenden Gefühl den ordnenden Verstand entgegenhielt, doch Gefühl und Poesie genug hatte, um ihn zu verstehen und mit ihm zu empfinden, und so sein Haus zum anmuthigsten, liebenswürdigsten Sitze machte – das Alles sind nur Consequenzen aus unsern obigen Prämissen.

Nicht minder hängt auch Kerner’s Geisterseherei mit diesem Grundzug seines Wesens zusammen. Wem die Erde, das Körperliche so wenig, so nichts ist, der strebt mit vollen Segeln nach dem Geistigen und sucht, zumal wenn mit so viel Phantasie begabt, das Geisterleben, zu dem er sich noch nicht emporschwingen kann, zu sich herabzuziehen. Schon Strauß in seinen „friedlichen Blättern“, 1839, sagt: „Ueberhaupt ist Kerner der Magnetiseur und Geisterfreund nur aus dem Dichter zu begreifen.“ Ohne uns übrigens in dieses mystische Halbdunkel weiter hineinzuwagen, glauben wir bei aller Achtung vor Kerner’s Streben, ein Buch mit sieben Siegeln öffnen zu wollen, die Bemerkung nicht unterdrücken zu dürfen, daß hier, den ganzen Gemüthszustand des Dichters im Auge behalten, sehr viel Täuschung nothwendig mit unterlaufen mußte. Auch ist es sehr auffallend, daß, seitdem sich Kerner nicht mehr auf Geister legte, es auch keine mehr in Weinsberg gab.

Daß ein so gearteter Dichter, der noch dazu selbst sagt: „alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte; denn nur aus Veranlassungen aus meinem und meiner Freunde Leben habe ich sie gedichtet,“ sich in Romanzen und Balladen nicht so erging, als der mehr verständige, männliche Uhland, ist nicht zu verwundern. Doch gehören Kerner’s „Kaiser Rudolph’s Ritt zum Grab“, „der reichste Fürst“ und „der Geigner zu Gmünd“ zu den besten Dichtungen dieser Art. Dagegen zeichnen sich viele seiner Lieder durch den Charakter der Singbarkeit aus, wie ja auch mehrere („Schwarzes Band, o Du mein Leben!“ „ Dort unten in der Mühle“, „Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein“, „Preisend mit viel schönen Reden“) in allen Kreisen gesungen werden. Den Ton des Volkslieds versteht Kerner auf’s Beste zu treffen, und bekannt ist, daß sein Lied eines Handwerkburschen: „Mir träumt’, ich flög’ gar bange“ für ein altes Volkslied gehalten und als solches von Armin und Brentano in „des Knaben Wunderhorn“ aufgenommen wurde.

Bei einer Persönlichkeit von so ausgezeichneter Begabung, von so scharf ausgeprägten Eigenthümlichkeiten, bei einem Manne, der so durch und durch Original war, daß man sagen muß, einen Menschen wie Kerner trifft man in ganz Europa nicht, konnte es nicht fehlen, daß er bald die Aufmerksamkeit Deutschlands auf sich zog, daß sein Ruf die Grenzen Deutschlands überschritt. Hier ist daher [224] der Ort, einzelne Momente aus seinem Weinsberger Leben hervorzuheben, nachdem wir erst einige biographische Andeutungen über ihn gegeben haben.

Andreas Justinus Christian Kerner wurde am 18. Sept. 1786 zu Ludwigsburg, das er in den „Reiseschatten“ unter dem Namen Grasburg aufführt, als der Sohn des dortigen Oberamtmanns geboren. Im Jahre 1795 zog die Familie in das alte Cisterzienserkloster zu Maulbronn, wohin der Vater als Oberamtmann versetzt wurde. Nach dem im Jahre 1799 erfolgten Tode seines Vaters zog die Familie wieder nach Ludwigsburg, und hier erhielt nun Kerner regelmäßigern Schulunterricht; besonders nahm der dortige Diakonus und Dichter Philipp Conz sich seiner an. Nach seiner Confirmation kam er in die herzogliche Tuchfabrik in Ludwigsburg, und während sein lebhafter Geist für Poesie und Naturwissenschaften glühte, sollte er Geschmack daran finden, Tuchsäcke und Musterkarten zu machen und Indigofässer auszuklopfen. Das konnte auf die Länge nicht gehen. Er wurde diesem qualvollen Zustand besonders durch Vermittelung des inzwischen nach Tübingen beförderten Conz entrissen und bezog im Herbst 1804 diese Universität, um Naturwissenschaften und Medicin zu studiren. Im Jahre 1808 erwarb er sich den Doctortitel, verließ darauf die Universität und begab sich im Jahre 1809 auf Reisen nach Hamburg, Berlin und Wien. Bald nach seiner Rückkehr ließ er sich als Badearzt in Wildbad nieder. Eine Frucht dieses Aufenthaltes ist seine 1813 erschienene Beschreibung dieses besonders in neuerer Zeit berühmt gewordenen Schwarzwaldbades. Nachdem er einige Jahre in Gaildorf als Oberamtsarzt zugebracht hatte, wurde er 1819 in gleicher Eigenschaft nach Weinsberg berufen, und damit fing die glänzende Stellung, die er im Leben einnahm, an, damit seine für ihn selbst ebensowohl ehrenvolle, als für Weinsberg rühmliche und nützliche Thätigkeit.

Als Kerner nach Weinsberg kam, war man nahe daran, die schönen Quadersteine der Burg vollends zu Weinbergmauern zu verwenden, und ein elender Weinberg wurde im Innern derselben angepflanzt. Kerner’s Verdienst ist es, der Wiederhersteller der jetzt schön hergerichteten Burgruine zu sein. Er stiftete einen Weibertreuverein, veranstaltete in allen ihm zugänglichen Kreisen Sammlungen, klopfte an mancher hohen Pforte an und kehrte mit vollem Beutel davon zurück und ließ mit diesem Geld dem weitern Einsturze des Mauerwerkes vorbeugen, Wege und Gartenanlagen herrichten und in dem nordöstlichen Thurme, auf dem man eine so prachtvolle Fernsicht hat, Aeolsharfen anbringen.

Am Fuße der Weibertreu baute sich Kerner eine hübsche Wohnung und ließ an der Hinterwand eine Art Schweizerhaus erbauen, an welchem ein großes Christusbild am Kreuze hängt mit der Ueberschrift: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ An dieses Schweizerhaus stößt ein Blumengarten mit hübscher Laube und hohen weitästigen Zierbäumen. Er ist begrenzt von der alten Stadtmauer und von dem von der Gemeinde dem Dichter geschenkten Thurme, der unter dem Namen Geisterthurm bekannt ist. In der Mitte des Thurmes befindet sich das „Geisterzimmer“, das vollständig meublirt, mit zwei lebensgroßen Mönchsstatuen versehen und mit Glasmalereien geziert ist. Es ist im heißen Sommer zur Erweckung der schlaffen Geister ein sehr angenehmer, kühler Sitz. Von da geht man an einem steinernen Zwerg vorbei auf einer hölzernen Treppe auf die Plattform des Thurmes, über welcher ein Zeltdach sich erhebt. Hier hatte Kerner, als der Griechensänger Wilhelm Müller 1827 vor seiner Reise nach Griechenland, den Tod schon im Herzen, zu ihm kam, ihm zu Ehren eine Fahne mit den griechischen Nationalfarben aufgepflanzt. Hier saß Kerner mit „edlen Polensöhnen“, aus einem Becher mit ihnen trinkend, Freiheitslieder mit ihnen singend, mit ihnen weinend und hoffend für’s verlorene Vaterland.

Gegenüber vor seinem Wohnhaus, nur durch die Straße getrennt, hatte sich Kerner einen Garten von ein paar Morgen angekauft, der hauptsächlich für Obst- und Gemüsebau verwendet wurde. In der Mitte desselben befindet sich ein Gartenhäuschen, das drei niedliche Zimmerchen enthält und in denselben schon manchen interessanten Gast beherbergt hat. Einige Wochen lang wohnte hier der polnische General Rybinski, Monate lang Nikolaus Lenau, und wie oft hörte man um Mitternacht, wenn der ermattete Arzt und Dichter an der Seite seines „Rickele“ schon behaglich schnarchte, die verzweifelten Töne der Lenau’schen Geige, sei es in einem Zigeunertanz, sei es in einer Todtenklage, wilde und wehmütige Gefühlte austobend!

Es war eine schöne Zeit für Kerner, besonders die dreißiger Jahre. Er hatte sich durch seine Kunst als Arzt und Dichter nicht blos Ruhm und Achtung verschafft, sondern nach und nach auch irdische Güter erworben und eine behagliche Existenz sich gegründet. Seine „lyrischen Gedichte“ waren bei Cotta erschienen und erlebten mehrere Auflagen, die „Seherin von Prevorst“ war 1829 ausgegeben worden (der „letzte Blüthenstrauß“ 1853, die „Winterblüthen“ 1859), es war kaum ein Dichter in ganz Deutschland, der so viel Liebe genoß, so viel Interesse einflößte, so viele Verbindungen hatte. Kerner saß in Weinsberg wie ein Fürst mit einem kleinen Hofe. Er war damals ein rüstiger Vierziger, seine nächsten Freunde alle im besten Mannesalter. Das Dichterhaus in Weinsberg war nicht blos für die Jünger der schwäbischen Schule ein Sammelplatz, sondern für Personen aller Art, vom Fürsten bis zum armen Dorfschullehrer, von der Prinzessin bis zur geisteskranken Schuhmachersfrau, ein zweites Mekka. Da kam der ritterliche Graf Alexander von Württemberg auf feurigem Rosse angesprengt, hielt Nachtrast in dem gastlichen Hause, still seufzend an des Freundes Brust über den Druck, der auf ihm lag, und ritt am frühen Morgen mit verwegenem Reitermuth auf dem nur etwa sechs Fuß breiten Kranz des Thurmes auf der Weibertreu herum. Da gingen die anderen schwäbischen Dichter ab und zu, da kehrten Freiligrath, Geibel und wie sie alle heißen, wie in einer Zunftherberge ein. Es kamen kunstsinnige Prinzen, geheimnißvolle Diplomaten, stoffbedürftige Literaten, begeisterte Studenten, Liederkränze und Turner mit ihren frischen, fröhlichen Gesängen. Ohne Zahl aber kamen die zartfühlenden Frauen, die vor allen Dichtern einen Sänger liebten, der die Frauen so hoch hielt, der mit solcher Innigkeit die zartesten Gefühle des Herzens sang, der mit so feiner Hand über kaum vernarbte Wunden hinstrich, der mit jenem Selbstbekenntniß, das an dem Thurme auf der Weibertreu angeschrieben ist, ihnen so sehr schmeichelte. Es lautet:

„Getragen hat mein Weib mich nicht,
Aber ertragen;
Das war ein schwereres Gewicht,
Als ich mag sagen.“

Wie glücklich waren diese Frauen, wenn Kerner ihnen einen alten oder neuen Vers in ihr Album schrieb, wenn er in seiner freundlichen, wohlwollenden Manier sie in seinen Gärten herumführte, wenn er Nachts bei ausgelöschten Lichtern auf der Maultrommel spielte, der er so geisterhafte Töne zu entlocken wußte! Aber nicht blos in der Blüthezeit seines Lebens, auch noch in den letzten Jahren, wo er, vom Alter schon gedrückt, nur mit Mühe gehen konnte, sah man jeden Sommer Fremde aus den verschiedensten Ländern bei ihm: aus Irland, Spanien, Italien, der Türkei, Rußland, Preußen, Oesterreich, Lübeck, Hamburg.

Das ist offenbar ein Leben, wie es Wenige haben, ein schönes, reiches, volles Leben. Aber Alles hat seine Grenzen. Im Verlauf des letzten Winters nahmen seine körperlichen und geistigen Kräfte auffallend ab, und am 21. Februar 1862 trug ihn ein schmerzloser Tod unbewußt in das ersehnte Geisterreich.

Die Beerdigung fand statt am 24. Februar Vormittags 9 Uhr. Bürger der Stadt Weinsberg, der es so viel Gutes erwiesen, die er aus einem unbedeutenden Orte zu einer Stadt von europäischem Rufe erhoben hatte, trugen seinen Sarg. Es folgte eine große Schaar Freunde, manche ruhmvolle Häupter Schwabens, aus der Nähe und Ferne.

Als im Herbst 1858 auf die Nachricht, daß die Heilbronn-Haller Eisenbahn über Weinsberg geführt werden solle, in dem für diese Bahnrichtung sehr interessirten Heilbronn ein Bankett veranstaltet und Kerner dazu eingeladen wurde, schickte er, da er der Einladung nicht Folge leisten konnte, ein Gedicht an seine Heilbronner Freunde („Winterblüthen“ S. 135), dessen letzte Strophe lautet:

„Auf Weinsbergs Friedhof hebet sich mein Grab,
Wann mit dem Dampfroß ihr vorüberflieget,
Dann ruft, ihr Lieben: „Grüß Dich Gott!“ mir zu,
„Mein Geist fliegt mit euch, nicht vom Tod besieget.“

Wilhelm Müller.

  1. Analog mit unseren Droschkenkutschern.
  2. Mütterchen. Verkleinerung von matj, die Mutter.
  3. Wilhelms-Insel, die, von der großen und kleinen Newa umflossen, einen eigenen Stadttheil bildet.
  4. Eigentlich Bauer, verächtlich gesprochen, wird aber auf Alle, die den niederen Volksclassen angehören, angewandt.
  5. Wörtlich Selbstkocher, die Theemaschine, die bei dem Russen das wichtigste Hausmöbel ist. Es wird mit Wasser gefüllt, das ein in der Mitte befindlicher, mit glühenden Kohlen gefüllter Cylinder schnell zum Kochen bringt.
  6. Schutzmänner. Der Name ist abgeleitet von ihren Wachthäusern, die man Budka nennt.
  7. Dreispann.
  8. Peitsche, ein kurzer Holzstiel mit einem kurzen Riemchen.
  9. So heißt im Trente und Quarante der Croupier, der die Karten handhabt und die Points ankündigt
  10. Wenn die Karten für die schwarze wie für die rothe Farbe gleichmäßig einunddreißig Points zählen, so verlieren die Spieler beider Farben die Hälfte ihres Einsatzes; in Homburg, und in neuester Zeit auch in Wiesbaden und Nauheim, hat man den Spielern den „Vortheil“ eingeräumt, daß dieses refait nur gilt, wenn die letztfallende Karte eine schwarze – Trefle oder Pique – ist, sonst aber nur als ein nicht zählender Abzug betrachtet wird. Baden und Ems sind der alten Tradition getreu geblieben.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: deutschen