Die Gartenlaube (1866)/Heft 2
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
„Je nun,“ erwiderte der Vater mit ernstem Gesicht, „es wird mir einigermaßen schwer, Elisabeth, Dir meinen Entschluß mitzutheilen, denn ich sehe deutlich an Deinem Gesicht, daß Du das schöne, volksbelebte B. nicht um Alles in der Welt mit der Waldeinsamkeit vertauschen möchtest. Indeß, erfahren mußt Du trotzdem, daß dort auf dem Schreibtisch meine Bitte um die Stelle an den Fürsten von L. bereits couvertirt und gesiegelt liegt. … Es ist aber nicht mehr als billig, daß wir auch Deine Wünsche dabei in Erwägung ziehen, und deshalb sind wir durchaus nicht abgeneigt, Dich hier zu lassen, falls –“
„Ach nein, wenn Elsbeth nicht mitgeht, dann will ich lieber auch hier bleiben!“ unterbrach ihn der kleine Ernst, indem er sich angstvoll an die Schwester schmiegte.
„Sei Du nur ruhig, mein Herzchen,“ sagte Elisabeth lachend, „ich finde schon meinen Platz auf dem Wagen, und wenn nicht, nun, so weißt Du, ich bin muthig wie ein Soldat und kann laufen wie ein Hase. Als Compaß habe ich die Sehnsucht nach dem grünen Wald bei mir, die schon, als ich noch ein ganz, ganz kleines Kind war, einen großen Winkel in meiner Seele eingenommen hat. So geht es tapfer und bescheidentlich vorwärts auf meinen zwei eigenen Füßen, und was will dann Papa machen, wenn eines Abends ein armer, müder Wanderer mit zerrissenen Schuhen und leerer Tasche vor dem alten Schloßthor erscheint und Einlaß begehrt?“
„Freilich müßten wir aufmachen,“ rief lächelnd der Vater, „wenn wir nicht die Rache aller guten Geister, die ein muthiges Herz beschützen, auf unser morsches Dach herabbeschwören wollten! … Uebrigens wirst Du wohl an dem alten Schloß vorüberziehen und an irgend eine einsame Bauernhütte im Walde anklopfen müssen, wenn Du uns finden willst; denn in dem Trümmerhaufen wird sich schwerlich ein Asyl für uns einrichten lassen.“
„Das fürchte ich auch,“ meinte die Mutter. „Wir arbeiten uns mühsam durch Hecken und Gestrüpp, wie ehemals Dornröschens unglückliche Befreier, und finden endlich –“
„Die Poesie!“ rief Elisabeth. „Ach, dann wäre ja schon der erste Duft von unserem Waldleben abgestreift, wenn wir nicht im alten Schloß wohnen könnten! Vier feste Mauern und eine gut erhaltene Zimmerdecke werden doch wahrhaftig noch in einem Thurm oder dergleichen zu finden sein, und das Uebrige läßt sich mit Nachdenken und willigen, rüstigen Händen leicht beschaffen … Wir stopfen Moos in etwaige Mauerritzen, nageln Breter über unbequeme Thürbogen, die keinen Flügel mehr haben, und tapezieren unsere vier Wände selbst. Auf den zerbröckelten Estrichfußboden legen wir eigenhändig geflochtene Strohmatten, erklären den kleinen vierfüßigen Leckermäulern im grauen Sammetröckchen, die unseren Speiseschrank attakiren, ernstlich den Krieg und gehen mit dem Kehrbesen tapfer auf die großen Spinnen los, die, über unseren Köpfen hängend, in aller Ruhe überlegen, ob sie sich nicht häuslich darauf niederlassen sollen.“
Mit verklärten Augen, ganz versunken in ihre Träumereien von dem demnächstigen Leben im frischen, grünen Walde, trat sie dann an’s Clavier und schlug den Deckel zurück. Es war ein altes, ausgespieltes Instrument, dessen schwache, heisere Töne vollkommen harmonirten mit dem herabgekommenen Aeußeren; allein das Mendelssohn’sche Lied: „Durch den Wald, den dunkeln, geht etc.“ klang trotzdem hinreißend unter Elisabeth’s Fingern.
Die Eltern saßen lauschend auf dem Sopha. Der kleine Ernst war eingeschlafen. Draußen hatte das Toben des Sturmes aufgehört; aber an den unverhüllten Fenstern vorüber sank in wirbelnden Flocken massenhaft und lautlos der Schnee. Die gegenüberliegenden Schornsteine, die nicht mehr dampften, setzten langsam eine dicke, weiße Nachtmütze auf und blickten steif und kalt, wie das verdrießliche Alter, hinüber in die kleine Mansardenstube, die mitten im Schneegestöber hellen Frühlingsjubel in sich schloß, – denn alle ihre Insassen blickten voller Hoffnung der ihnen winkenden Zukunft entgegen.
Pfingsten! Ein Wort, das seinen Zauber auf das menschliche Gemüth üben wird, so lange noch ein Baum blüht, eine Lerche schmetternd in die Lüfte steigt und ein klarer Frühlingshimmel über uns lacht. Ein Wort, dessen Klang selbst unter der härtesten Eiskruste des Egoismus, unter dem Schnee des Alters und in dem Herzen, das in Leid und Kummer erstarrt ist, noch ein Echo von Lenzeslust erwecken kann.
Pfingsten ist vor der Thür. Ein weiches Lüftchen flattert über die Thüringer Berge und streift von ihrem Scheitel die letzten Schneereste. Sie wirbeln dampfend empor und verlassen als leuchtende Frühlingswölkchen die alte Lagerstätte, die es sich angelegen sein läßt, ihre gefurchte Stirne mit einem Geflecht von jungen Brombeerranken und röthlich blühendem Heidelbeerkraut zu schmücken. Drunten braust jauchzend der kühle Forellenbach aus dem Waldesdunkel quer über die buntgesprenkelten Thalwiesen. Die einsame Schneidemühle klappert wieder lustig, und auf ihr niedriges, graues, geflicktes Schindeldach streuen die Obstbäume ihre Blüthenflocken.
[18] Auf der Chaussee, die durch einen reizenden Thalgrund des Thüringer Waldes führt, rollte in einer bepackten Postchaise die Familie Ferber ihrer neuen Heimath zu. Es war früh am Morgen, eben verkündete das dünne, scharfe Stimmchen einer kleinen Thurmglocke in der Nähe die dritte Stunde. Deshalb hatten auch nur der alte, verdrießliche Wegweiser an der Chaussee und ein Rudel stattlicher Hirsche, das am Saum des Waldes erschien, den köstlichen Anblick eines jungen, glückselig lächelnden Menschenangesichts.
Elisabeth hatte sich weit aus dem dumpfen Wagen gebogen und sog mit tiefen Athemzügen die kräftige Waldluft ein, die, wie sie behauptete, auf der Stelle Lungen und Augen von dem Staub der verlassenen Hauptstadt reingewaschen habe. Ferber saß ihr sinnend gegenüber. Auch er erquickte sich an der Lieblichkeit und Anmuth der Gegend; noch mehr aber bewegten ihn die leuchtenden Augen seines Kindes, das den Zauber einer schönen Natur so tief empfand und das so unaussprechlich dankbar war für die neue Gestaltung der Verhältnisse … Wie hatte sie fleißig die kleinen Hände gerührt, als endlich das heißersehnte Ernennungsdecret des Fürsten von L. erschienen war! Da gab es tüchtig zu schaffen. Alle Umzugssorgen der Eltern hatte sie treulich mit auf ihre Schultern genommen. Der Fürst hatte zwar dem neuen Diener ein anständiges Reisegeld bewilligt und auch vom Försteronkel war eine Geldbeisteuer eingelaufen, allein das wollte trotz der ängstlichsten Berechnung bei weitem nicht reichen, und, deshalb beutete Elisabeth auch noch die wenigen Tagesstunden, die für ihre Erholung bestimmt waren, insofern aus, als sie Arbeiten für ein Weißwaarengeschäft übernahm; ja manche Nacht, während die Eltern arglos schon daneben im Alcoven schliefen, durchwachte sie bei der Nadel.
In all dies rege Streben und Schaffen war nur ein einziger bitterer Tropfen gefallen, der dem jungen Mädchen aber auch einige schwere Thränen entlockte; das war, als zwei Männer kamen und ihr liebes Clavier auf die Schultern luden, um es dem neuen Besitzer zu bringen. Es hatte für wenige Thaler verkauft werden müssen, weil es alt und gebrechlich war und voraussichtlich einen so weiten Transport nicht mehr aushalten konnte. Ach, das war ja immer ein so guter, alter Freund der Familie gewesen! Sein dünnes, zitterndes Stimmchen hatte Elisabeth so traut und lieb geklungen, wie die Stimme der Mutter! … Und nun fuhren vielleicht muthwillige Kinderhände gefühllos über die ehrwürdigen Tasten und quälten das alte Instrument, die schwache Stimme zu verstärken, bis es für immer schwieg. … Doch der Schmerz war jetzt auch überwunden und lag hinter ihr wie so Manches, was sie schweigend entbehrt und geleistet hatte, und wie sie so dasaß, mit den fröhlich glänzenden Augen in die Morgendämmerung hineinblickend, als steige vor ihr aus dem grauen Schleier eine Prophezeiung voll künftigen Glückes, wer hätte da an der jugendlichen Gestalt voll Lebensfrische und Elasticität auch nur eine Spur der mühevollen letzten Wochen, entdecken können?
Noch ungefähr eine halbe Stunde fuhren die Reisenden die glatte, ebene Chaussee entlang, dann bogen sie seitwärts ab in den dunkeln Wald durch den ein gutgehaltener Fahrweg lief. Die Sonne zeigte sich bereits in voller Pracht am Himmel und blickte verwundert lächelnd auf die Erde, die ohne Vorwissen ihrer hohen, leuchtenden Protectorin sich über Nacht einen prächtigen Brillantschmuck angeschafft hatte. Nach Mitternacht war ein starkes Gewitter über die Gegend gezogen; es hatte viel geregnet, noch hingen schwere Tropfen an Bäumen und Gesträuchen und fielen rauschend auf das Wagenverdeck, wenn der Postillon mit der Peitsche einen niederhängenden Ast berührte … Welch’ ein prächtiger Wald! Aus dichtem Unterholz stiegen die mächtigen Baumkolosse himmelan und verschlangen droben brüderlich ihre breiten, vollen Aeste, als gälte es, Licht und Luft wie zwei tödtliche Feinde von der stillen verschwiegenen Heimath abzuwehren. Nur manchmal schmuggelte sich ein feiner grüngefärbter Sonnenstrahl von Ast zu Ast hinab auf die gefiederten Gräser und die kleinen Erdbeerblüthen, die massenhaft, wie hingestreute Schneeflocken, den Boden bedeckten und ihre weißen Köpfchen vorwitzig an die Landstraße legten.
Nach kurzer Fahrt lichteten sich die Bäume, und bald darauf zeigte sich das mitten auf einer Waldwiese gelegene alte Jagdhaus. Der Postillon stieß in sein Horn; zugleich erhob sich wüthendes Hundegekläff und eine große Schaar Tauben verließ erschrocken und unter lautem Geräusch den gezackten Giebel des Hauses.
In der offenen Thür stand ein Mann in Jagduniform, eine wahre Hünengestalt mit einem ungeheuren Barte, der fast bis auf die Brust reichte. Er hielt die Hand über die Augen und blickte angestrengt nach dem kommenden Wagen; dann aber sprang er mit einem lauten Ausruf die Stufen herab, riß den Wagenschlag auf und zog den herausspringenden Ferber an seine Brust. … Beide Brüder hielten sich einen Augenblick schweigend in den Armen bis der Oberförster den Angekommenen leise von sich schob und, ihn an den Schultern haltend, die ganze schmale, blasse Gestalt prüfend musterte.
„Armer Adolph!“ sagte er endlich, und die tiefe Stimme klang bewegt. „So hat Dich das Schicksal zugerichtet? Na, warte nur, Du sollst mir hier gesund werden, wie ein Fisch im Wasser … noch ist Alles wieder gut zu machen. … Sei mir tausendmal willkommen! Und nun wollen wir auch zusammenhalten, bis das große Hallali geblasen wird, wo wir freilich nicht gefragt werden, ob wir beieinander bleiben wollen oder nicht.“
Er suchte seine Rührung zu beherrschen und half seiner, Schwägerin und dem kleinen Ernst, den er herzte und küßte, aus dem Wagen.
„Nun,“ sprach er, „Ihr seid früh. aufgebrochen, das muß ich sagen – passirt sonst nicht, wenn Weibsleute dabei sind.“
„Was denkst Du denn von uns, Onkel?“ rief Elisabeth. „Wir sind keine Schlafmützen und wissen recht gut, wie die Sonne aussieht, wenn sie der Erde ihren ersten Morgenbesuch macht.“
„Heisa!“ rief überrascht und laut lachend der Oberförster, „was raisonnirt denn da hinten in der Wagenecke? … Na, komm heraus, kleine Krabbe!“
„Ich klein? … Nun, Onkelchen, Du wirst Dich schön wundern, wenn ich erst aussteige, was für ein großes Mädchen ich bin!“ Mit diesen Worten sprang Elisabeth auf den Boden und stellte sich, alle Glieder möglichst streckend, auf die Zehen neben ihn. Allein, obgleich ihre schlanke, leicht aufgebaute Gestalt die Mittelgröße überschritt, so sah es dennoch in diesem Augenblicke aus, als wolle sich die zierliche Bachstelze mit dem gewaltigen Adler messen.
„Siehst Du,“ sagte sie ein wenig kleinlaut, „ich reiche doch beinahe bis an Deine Schulter und das ist für ein respectables Mädchen mehr als genug.“
Der Onkel sah, sich kerzengerade haltend, mit schalkhaftem Blick und vergnügt in sich hineinlachend, einen Augenblick seitwärts auf sie nieder; dann aber hob er sie plötzlich wie eine Feder vom Boden auf und trug sie unter dem Gelächter der Anderen auf einem Arm in das Haus, wo er mit wahrer Donnerstimme schrie:
„Sabine, Sabine, komm hierher, ich will Dir zeigen, wie in B. die Zaunkönige aussehen!“
Im Hausflur setzte er die Erschrockene sacht und vorsichtig wie ein zerbrechliches Spielzeug nieder, nahm ihren Kopf sanft zwischen seine beiden großen Hände, küßte sie wiederholt auf die Stirn und rief: „Solch’ ein Liliput, solch’ eine Mondscheinprinzessin meint so groß zu sein, wie ihr großer Onkel … Kleine Waldhexe, Du kannst freilich wissen, wie die Sonne aussieht, hast ja selbst den Kopf voll Sonnenstrahlen!“
Dem jungen Mädchen war in Folge des Sturmschrittes, den der Onkel bei der Entführung angenommen, der Hut vom Kopfe gefallen, wobei eine außergewöhnliche Fülle blonden Haares sichtbar wurde, dessen klarer Goldglanz um so mehr auffallen mußte, als ihre sehr schön gezeichneten Augenbrauen und die langen Wimpern tiefschwarz waren.
Aus einer Seitenthür war indessen eine alte Frau getreten, und oben am Treppengeländer des ersten Stockwerkes zeigten sich einige Männergesichter, die jedoch schnell wieder verschwanden, als der Oberförster hinaufblickte. „Na, lauft nur nicht davon, gesehen habe ich Euch nun schon einmal!“ rief er lachend. „Es sind meine Burschen,“ wendete er sich zu seinem Bruder, „die Kerls sind neugierig wie die Spatzen; nun, heute mag ich’s ihnen gerade nicht verdenken!“ meinte er schelmisch lächelnd mit einem heimlichen Seitenblick auf Elisabeth, die abgewendet ihre gelösten Flechten wieder um den Kopf schlang. Dann nahm er die alte Frau bei der Hand und führte sie in feierlich komischer Weise folgendermaßen vor:
„Jungfer Sabina Holzin, Minister der inneren Angelegenheiten des Hauses, hohe Polizei für Alles, was in Hof und Stall des Forsthauses sich des Lebens freut, und endlich unumschränkte [19] Herrscherin im Küchendepartement. … Bringt sie das Essen auf den Tisch, so folgt getrost ihrem Wink, denn Ihr geht einen guten Weg; läßt sie sich aber bedrohlicher Weise an, ihre Sagen und Geistergeschichten auszukramen, so lauft, was Ihr laufen könnt, denn da giebt’s kein Ende. … Und nun,“ wandte er sich zu der lachenden Alten, die eigentlich grundhäßlich war, trotzdem aber durch einen Zug von Schelmerei und Humor um Mund und Augen, durch ihren treuherzigen Blick und mittels der fleckenlosen Sauberkeit ihres Anzugs sofort Alle für sich einnahm, „bringe schnell, was Küche und Keller vermögen. Hast ja deshalb die Pfingstkuchen frühe gebacken, damit die Reisenden gleich was Frisches einzubrocken hätten.“
Damit zeigte er nach der Küche und öffnete zugleich die Thür einer geräumigen, hellen Eckstube. Alle traten ein, nur Elisabeth konnte nicht unterlassen, noch einen Blick durch die große Thür zu werfen, die nach dem Hofe führte; denn durch das weiße Staket, das den weiten, von Geflügel aller Art bevölkerten Raum auf zwei Seiten umschloß, leuchteten farbige Blumenbeete und einige spätblühende Aepfelbäume streckten ihre rosenfarbenen Zweige weit in den Hof herein. Der Garten war groß, stieg terrassenartig den Berg hinauf und nahm noch einige Vortruppen des Waldes, eine schöne Gruppe alter Buchen, mit in sein Bereich. Während Elisabeth, wie angefesselt, sinnend im Hausflur lehnte, wurde die Thür eines Seitenflügels geöffnet, und ein junges Mädchen trat heraus. Es war auffallend hübsch, wenn auch fast zu klein von Gestalt, was, wie es schien, die Natur wieder auszugleichen gesucht hatte durch die weitgeöffneten großen Augen, die wie prächtige, schwarze Sonnen flammten. Das üppige, dunkle Haar war mit unverkennbarer Koketterie aufgenestelt und ließ einige zartgekräuselte Löckchen auf die plastisch geformte, bleiche Stirn fallen. Auch der Anzug, obschon sehr einfach im Stoff, zeigte eine fast peinliche Sorgfalt im Arrangement, und der aufmerksame Beobachter konnte mit dem besten Willen nicht annehmen, daß man das Oberkleid lediglich aus Schonung des Saumes in so zierlichen Falten aufgesteckt habe; denn zwei reizend geformte Füßchen hatten eine auffallend feine Toilette gemacht, die sicher nicht bestimmt war, unter dem langen Wollkleid zu verkümmern.
Das junge Mädchen hielt eine Mulde voll Getreidekörner im Arm und warf davon eine Hand voll auf das Pflaster. Alsbald entstand ein großer Lärm; von den Dächern stürzten sich die Tauben, die Hühner verließen unter lautem Gekacker Stangen und Nester, und der Hofhund glaubte bei dem allgemeinen Aufstand sich auch mit einem lauten Gebell betheiligen zu müssen.
Elisabeth war überrascht. Der Onkel war zwar verheirathet gewesen, hatte aber nie Kinder gehabt, das wußte sie genau; wer war also das junge Mädchen, das er nie in einem seiner Briefe erwähnt hatte? … Sie ging die Stufen hinab, die nach dem Hofraum führten, und trat der jungen Fremden einige Schritte näher. „Gehören Sie auch in’s Forsthaus?“ fragte sie freundlich.
Die schwarzen Augen hefteten sich fast stechend auf die Fragerin und drückten einen Augenblick unverkennbar große Ueberraschung aus; dann erschien ein Zug von Hochmuth um die feinen Lippen, die sich noch fester aneinander zu schließen schienen als vorher; die Augenlider fielen halb über die glänzenden Augen, welche sich abwendeten, und ruhig und schweigsam, als wisse sie gar nicht, daß Jemand neben ihr stehe, fuhr sie fort, die Körner in den Hof zu werfen.
In dem Augenblick ging Sabine, das Kaffeebret auf dem Arme, an der Hofthür vorüber. Sie winkte zutraulich der tiefbetroffenen Elisabeth, und als diese näher kam, faßte sie ihre Hand und zog sie in das Haus, indem sie sagte: „Kommen Sie, Kindchen, das ist nichts für Sie.“
In dem Wohnzimmer fand Elisabeth Alle schon so gemüthlich und vertraut zusammen, als hätte man tagtäglich beieinander gesessen. Die Mutter hatte in einem bequemen Lehnstuhl Platz genommen, den ihr der Oberförster an das Fenster gerückt und von wo aus sie einen lieblichen Fernblick durch den Wald genoß. Eine große, getigerte Katze war vertraulich auf ihren Schooß gesprungen und ließ sich mit sichtbarem Behagen das Streicheln der sanften Hand gefallen. Für den kleinen Ernst aber waren die vier Wände des Zimmers eine wahre Fundgrube aller möglichen interessanten Dinge. Er kletterte von Stuhl zu Stuhl und stand eben in wortloser Bewunderung vor einem großen Glaskasten, der eine prächtige Schmetterlingssammlung enthielt. Die zwei Männer saßen auf dem Sopha, eifrig über den künftigen Wohnsitz der Familie berathschlagend, und Elisabeth hörte, wie eben der Onkel sagte: „Nun, wenn sich auf dem Berge kein Quartier für Euch einrichten läßt, so bleibt Ihr einstweilen droben in meiner Stube. Ich richte meinen Schreibtisch und meine sonstigen Habseligkeiten unten ein, und dann bombardire ich die in der Stadt so lange, bis sie mir drüben auf den Seitenflügel ein neues Stockwerk setzen lassen.“
Elisabeth legte den Reisemantel ab und war der alten Sabine behülflich, den Kaffeetisch herzurichten. Auf die Glückseligkeit, die ihr ganzes Herz erfüllte, war soeben der erste Schatten gefallen. Mit Unfreundlichkeit war man ihr noch nie begegnet. Daß sie dies dem Liebreiz ihrer Gestalt, der Reinheit und Kindlichkeit ihres Wesens verdanke, deren Einfluß sich oft die rohesten Gemüther nicht zu entziehen vermögen, davon hatte sie freilich keine Ahnung. Sie hatte das so hingenommen als eine Sache, die sich ganz von selbst verstehe, da sie es ja mit allen Menschen wohlmeine und nie sich eine Unhöflichkeit gestatte. Ihre Ueberraschung und Freude, ein junges Mädchen von gleichem Alter hier zu finden, waren zu groß gewesen, als daß ihr nun die Zurückweisung nicht doppelt wehe thun sollte. Auch hatte das schöne Gesicht der Fremden ihr lebhaftes Interesse geweckt. Das Gemachte in der Erscheinung war ihr als solches durchaus nicht aufgefallen, da sie selbst das Verlangen gar nicht kannte, ihr Aeußeres durch besondere Hülfsmittel der Toilette zu heben. Die Eltern hatten ihr stets gesagt, sie möge ihren Geist bereichern, so viel sie könne, und sich bestreben, immer besser zu werden, dann würde auch ihre äußere Erscheinung nie abstoßend sein, gleichviel welche Form die Natur ihr verliehen habe.
Das Nachdenkliche in Elisabeth’s Zügen fiel der Mutter sogleich auf. Sie rief sie zu sich, und Elisabeth wollte ihr die Begegnung erzählen, aber schon bei den ersten Worten drehte sich der Oberförster nach ihr um. Eine tiefe Falte erschien zwischen den buschigen Augenbrauen und machte das Gesicht finster und grimmig.
„So,“ sagte er, „hast Du die schon gesehen? … Nun, dann will ich Euch auch erzählen, wer und was sie ist. Ich habe sie vor mehreren Jahren in mein Haus genommen, um eine Stütze für Sabine im Hauswesen zu haben. Sie ist eine Verwandte meiner verstorbenen Frau und hat weder Eltern, noch Geschwister. Ich wollte ein gutes Werk thun und habe mir damit eine Ruthe aufgebunden, die mich züchtigt, ohne daß ich gesündigt hätte … Schon in den ersten Wochen merkte ich, daß in dem Kopf auch nicht Ein gesunder Gedanke stecke … nichts als ein Wust von überspannten Ideen und ein unglaublicher Hochmuth. Ich hatte nicht übel Lust, sie wieder dahin zu schicken, wo sie hergekommen, aber da lamentirte die Sabine und bat vor, obgleich sie am allerwenigsten Ursache dazu hatte. Denn das junge Ding machte ihr schwer zu schaffen, war naseweis und kehrte bei jeder Gelegenheit die Verwandte des Herrn gegen die alte Dienerin heraus… Ich drückte ihr den Daumen auf’s Auge, so viel ich konnte, und ließ sie tüchtig schaffen und arbeiten, um ihr den Hochmuthsteufel auszutreiben, und da ging’s auch eine Zeit lang erträglich… Da lebt aber drüben auf Lindhof – das ist die ehemals Gnadewitz’sche Besitzung, die der Universalerbe an einen Herrn von Walde verkauft hat, – seit ungefähr einem Jahre eine Baronin Lessen. Der Besitzer selbst, der weder Frau noch Kinder hat, ist so eine Art Alterthumsforscher, reist viel und läßt deshalb seine einzige unverheirathete Schwester durch die genannte Dame beschützen – Gott sei’s geklagt! denn seitdem ist Alles dort auf den Kopf gestellt. … Wenn mir früher gesagt wurde, das ist ein Frommer, da hatte ich Respect und nahm meine Kappe ab; jetzt mache ich eine Faust und möchte am liebsten die Kappe über Augen und Ohren ziehen, denn die Welt hat sich verkehrt. … Die Baronin Lessen gehört auch zu den Frommen, die vor lauter gottseligen Wandels hart, grausam und engherzig werden, die Denjenigen, der nicht immer die Augen heuchlerisch am Boden hat, sondern sie aufschlägt nach oben, wo er seinen Gott sucht, hartnäckiger verfolgen, als eine Meute das Wild… In dies Gehege ist denn nun meine vortreffliche Nichte auch gerathen; ein besseres Feld für all’ das Unkraut in ihrem Kopfe konnte es nicht geben, und da haben wir denn nun auch die allerliebste Bescheerung. Sie hatte mit einer Kammerjungfer da drüben Bekanntschaft gemacht und brachte ihre ganze freie Zeit dort zu. Anfangs hatte ich kein Arges, bis sie auf einmal mit Bekehrungsversuchen anfing... Da sollte die Sabine nicht fromm sein, weil sie nicht [20] des Tages wenigstens zehnmal die dringende Arbeit stehen ließ, um zu beten … die arme Alte, die durch Wind und Wetter, oft schwer von Rheumatismus geplagt, jeden Sonntag nach Lindhof in die Kirche geht und ein arbeitsvolles, pflichtgetreues Leben hinter sich hat, ein Pfund, das eine lebenslängliche Knierutscherei bei Nichtsthun jedenfalls zehnmal aufwiegt… Auch an mich wagte sich die Moralpredigerin; aber da kam sie an den Rechten – sie hat es bei einem Versuch bewenden lassen. Ich verbot ihr nun den Umgang mit den Leuten auf Lindhof. Das hat mir freilich wenig geholfen; denn jeden unbewachten Moment hat sie benützt, um heimlicher Weise hinüber zu schlüpfen… Von einer Dankbarkeit gegen mich, der ich für sie sorge, ist nicht die Rede; es fehlt jedes innere Band zwischen ihr und mir, und da ist es für mich doppelt schwer, sie zu hüten. Gott mag nun wissen, welche fixe Idee sie in ihrem Kopfe ausgebrütet hat, genug, seit ungefähr zwei Monaten ist sie vollständig stumm, aber nicht allein hier im Hause, sondern gegen alle Menschen. Seit der Zeit ist auch nicht ein Laut über ihre Lippen gekommen. Weder Strenge, noch ruhiges Zureden richten etwas aus. Sie verrichtet ihre Geschäfte nach wie vor, ißt und trinkt wie jeder andere gesunde Mensch und ist auch nicht um ein Jota weniger eitel, als sonst. Weil sie aber ihre rothen Backen verlor und blaß aussah, so befragte ich einen Arzt, der sie schon früher behandelt hatte. Der sagte mir, sie sei körperlich ganz gesund, scheine ihm aber eine höchst exaltirte Person zu sein, und da schon in ihrer Familie Fälle von Geistesstörungen vorgekommen seien, so möchten wir sie ruhig gewähren lassen. Sie würde mit der Zeit des Schweigens selbst überdrüssig werden und eines schönen Tages sprechen wie eine Elster… Nun meinetwegen, ich will’s drauf ankommen lassen; daß ich aber damit ein schweres Opfer bringe, das ist gewiß. Ich habe mein Lebtag keine sauertöpfische Miene um mich leiden mögen und will lieber Salz und Brod essen inmitten fröhlicher Gesichter, als die köstlichsten Leckerbissen bei Duckmäusern. … Na, kleines Goldköpfchen,“ wandte er sich an Elisabeth, in dem er mit der Hand über die Stirn strich, als wolle er alle ärgerlichen Gedanken wegwischen, „schiebe Dein Mütterlein fein säuberlich im Lehnstuhl hierher an den Tisch, binde dem kleinen Kerl da, der sich blind guckt an meinem Gewehrschrank, eine Serviette um den Hals, und nun wollen wir zusammen frühstücken. Dann mögt Ihr Rast halten und die Glieder ein wenig ruhen lassen von der langen Reise. Nach Tische aber geht’s hinauf nach Schloß Gnadeck. Es wird gut thun, wenn Ihr die Augen durch etwas Schlaf vorher stärkt, denn sie möchten Schaden leiden unter all’ dem Glanz, den wir da droben vorfinden werden.“
Nach dem Frühstück, während Vater und Mutter schliefen und der kleine Ernst in einem großen Bett von den Wunderdingen in der Forsthausstube träumte, packte Elisabeth das Nöthigste in der Oberstube aus. Sie hätte um Alles in der Welt nicht schlafen können. Immer wieder trat sie an das Fenster und blickte hinüber nach dem waldigen Berge, der hinter dem Forsthaus emporstieg. Dort oben aus den Baumwipfeln erhob sich ein feiner schwarzer Strich und zeichnete sich scharf von dem tiefblauen Himmel ab. Das war, wie ihr die alte Sabine gesagt hatte, eine uralte Eisenstange auf dem Dach des Schlosses Gnadeck, von welcher in längst versunkenen Zeiten das stolze Banner der Gnadewitze geflattert hatte… Fand sich wohl hinter jenen Bäumen das seit Jahren heißersehnte Asyl, wo die Eltern ihre müden Füße ausruhen konnten vom mühsamen Wandern auf nicht heimischer Erde?
Auch in den Hof fielen ihre suchenden Blicke; aber das stumme Mädchen ließ sich nicht mehr sehen. Sie war auch nicht beim Frühstück erschienen und schien sich vorgenommen zu haben, jede Berührung mit den Gästen zu vermeiden. Das that Elisabeth leid. Die Schilderung des Onkels hatte zwar einen sehr unerquicklichen Eindruck auf sie gemacht, allein ein junges Gemüth giebt seine Illusionen nicht so leicht auf und läßt sich lieber durch das Zerspringen seiner bunten Seifenblasen enttäuschen, als durch die weisen Erfahrungen des Alters… Das schöne Mädchen, das sein Geheimniß so beharrlich hinter den Lippen verschloß, wurde ihr nun doppelt interessant, und sie erschöpfte sich in Vermuthungen über den Grund dieses Schweigens. –
Zur Mittagszeit sah Elisabeth den Onkel aus dem Walde kommen; sie lief ihm entgegen und begrüßte ihn vor der Hausthür. Schon als Kind hatte sie eine große Sympathie für den niegesehenen Försteronkel gehabt, der, als Freunde und Verwandte von den Eltern abfielen, sich als unveränderlich bewährt und nach Kräften sich bemüht hatte, die Thränen der unglücklichen Familie zu trocknen. Nun, als sie ihn vor sich sah, diesen stattlichen, kernfesten Mann, der nicht eine Linie breit abwich von dem Weg, welcher ihm als der rechte galt, und der doch bei all dieser Festigkeit ein zärtlich weiches Gemüth besaß, wenn er es auch unter einem etwas rauh klingenden Humor zu verbergen suchte – ja gewiß, nun empfand sie erst recht eine tiefe, kindliche Verehrung für ihn.
Die Aufmerksamkeit des jungen Mädchens schien den Onkel sehr angenehm zu überraschen. Er strich liebkosend über ihren Scheitel und nannte sie sein Goldtöchterchen. Sie aber hing sich vergnügt an seinen Arm und brachte ihm drin in der Stube das Hauskäppchen, das er früh bei ihrem Empfang aufgehabt hatte.
Nach dem Essen, das in heiterster Weise verflossen war, holte Sabine eine gestopfte Pfeife vom Eckbret und brachte sie nebst einem brennenden Fidibus dem Oberförster. „Was fällt Dir ein Sabine?“ sagte er abwehrend und mit komischer Entrüstung: „Meinst Du, ich könne es über’s Herz bringen, in aller Ruhe eine Pfeife zu rauchen, während es der kleinen Else da in den Füßen kribbelt und krabbelt, den Berg hinauf zu laufen und die kleine Nase in das Zauberschloß zu stecken? Nein, jetzt meine ich, könnten wir unsere Entdeckungsreise antreten.“
Alles machte sich fertig. Der Oberförster reichte seiner Schwägerin den Arm, und fort ging es durch Hof und Garten. Draußen schloß sich ein Mann der Gesellschaft an; es war ein Maurer aus dem nächsten Dorfe, den der Oberförster bestellt hatte, um nöthigenfalls bei der Hand zu sein.
Es ging ziemlich steil bergauf durch den dichten Wald, auf einem wenig betretenen engen Wege, der sich jedoch allmählich etwas erweiterte und endlich in einen kleinen freien Platz auslief, hinter welchem sich, wie es schien, ein hoher, grauer Felsen erhob.
„Hier habe ich das Vergnügen,“ sagte der Oberförster sarkastisch lächelnd zu dem erstaunten Ferber, „Dir das Vermächtniß des hochseligen Herrn von Gnadewitz in seiner Herrlichkeit vorzustellen.“
Sie standen vor einer ungeheuren Mauer, die allerdings wie ein einziger Granitblock aussah. Von den Gebäuden, die hinter ihr lagen, konnte man schon deshalb keine Spur sehen, weil der Wald sich zu nahe herandrängte und dem Beschauer kein Zurücktreten gestattete. Der Oberförster schritt die Mauer entlang, deren Fuß dichtes Gestrüpp umwob, und machte endlich Halt vor einem mächtigen, eichenen Thor, dessen oberer Theil in ein eisernes Gitter auslief. Hier hatte er Tags zuvor das Gebüsch wegräumen lassen und zog nun einen Bund großer Schlüssel hervor, welche Frau Ferber gestern auf der Durchreise in L. in Empfang genommen hatte.
Es bedurfte bedeutender Anstrengung der drei Männer, ehe die verrosteten Schlösser und Riegel sich öffnen ließen. Endlich drehte sich das Thor krachend in den Angeln und wirbelte eine mächtige Staubwolke in die Höhe. Die Eintretenden befanden sich in einem auf drei Seiten von Gebäuden umschlossenen Hofraume. Ihnen gegenüber dehnte sich die imposante Fronte des Schlosses, zu dessen erstem Stock von außen eine breite Steintreppe mit schwerfälligem Eisengeländer führte. Längs der Seitenflügel liefen düstere Colonnaden, deren granitne Säulen und Bogen unüberwindlich der Zeit zu trotzen schienen. Inmitten des Hofes breiteten einige alte Kastanien ihre dürftigen Aeste über ein ungeheueres Becken, indessen Mitte vier steinerne Löwen mit aufgesperrten Rachen lagerten. Früher mochten hier vier starke Wasserstrahlen aus den Tiefen der Erde emporgestiegen sein und das Bassin gefüllt haben; jetzt aber floß nur noch ein schwaches Brünnlein durch die dräuenden Zähne des einen Ungeheuers, gerade stark genug, um die naseweisen Grashalme zwischen den Steinritzen des Beckens zu bespritzen und durch sein leises, melancholisches Rieseln einen schwachen Schein von Leben in die Wüstenei zu hauchen. Die äußeren Mauern der Gebäude und die Säulengänge waren das Einzige in diesem Raum, an welchem der Blick ohne Angst haften konnte. Die aller Glasscheiben beraubten Fensterhöhlen zeigten eine gräuliche Verwüstung im Innern. In einigen Zimmern waren die Decken bereits eingestürzt, in anderen bogen sich die Balken hernieder, als wollten sie bei der leisesten Berührung zusammenbrechen. Die äußere Treppe hing drohend halb in der Luft; einige schwere grünbemooste Steine hatten sich bereits gelöst und waren bis zur Mitte des Hofes gerollt.
Die Unterwerfung des kolossalsten und stärksten Thieres der Welt, des Elephanten, unter den Willen und die Herrschaft des Menschen ist gewiß nicht minder bewundernswürdig als der Umstand, daß das Riesenthier, nachdem es sich einmal unterworfen, seinem Herrn die unbedingteste Anhänglichkeit und Liebe erweiset. Nur von einem Thiere, von dem Hunde, wird er hierin übertroffen, und wenn man das Pferd auf gleiche Höhe mit diesen Beiden stellen will, so können wir uns trotz mancher Gegenbeweise doch dieser Ansicht nicht anschließen. Ausnahmen freilich giebt es überall, wir wollen jedoch, was wir behaupten, von der Allgemeinheit gesagt haben, und mag die Dressur beim Pferde auch Wunderbares leisten, die Intelligenz, den freien und guten Willen wie beim Hunde und dem Elephanten finden wir entschieden nicht; es gehorcht stets nur einem gewissen Zwange.
Schon die Art und Weise, wie sich der Mensch des in der Wildniß lebenden Riesenthieres meistens oder hauptsächlich nur durch Beihülfe gezähmter Elephanten zu bemächtigen pflegt, muß unsere Bewunderung erwecken. Pferde, in der Wildniß geboren und aufgewachsen, werden niemals säumen, bei passender Gelegenheit sich den wilden Brüdern wieder anzuschließen; ein gezähmter Elephant dagegen, mag er auch der wildeste gewesen sein, macht, nachdem er einmal Liebe und Vertrauen zu seinem Wärter oder Führer gefaßt hat, keinen Gebrauch von der ihm dargebotenen Gelegenheit zu entfliehen, er kehrt sicher zu ihm zurück, wie dies zahlreiche Fälle beweisen, in denen man das momentan aufgeregte Thier in Freiheit setzte, um zerstörenden und leidenschaftlichen Kraftäußerungen desselben aus dem Wege zu gehen. Nach einem Jahre der Gefangenschaft und Zähmung stellt der größte und stärkste Elephant bei guter Behandlung und Anleitung seine ganze körperliche und geistige Kraft willig und gern zu Gebote, um seine wilden Brüder gefangen zu nehmen.
Bekanntlich werden diese in Indien mit größter Vorsicht, mit oft Wochen hindurch dauernder Geduld und Anstrengung in größerer oder geringerer Anzahl durch Tausende von Menschen in einen von starken Palissaden umgebenen Raum getrieben und eingeschlossen. Sobald die Thiere sich gefangen sehen, stürzen sie in wilder Wuth gegen die Umzäunung, um diese zu durchbrechen. Stets zurückgeschreckt durch furchtbares Geschrei, durch Schüsse und sonstiges Lärmen [22] erkennen sie endlich das Fruchtlose ihres Sturmlaufens und ziehen sich schließlich in die Mitte des Geheges zurück. Alsbald begeben sich erfahrene Leute auf wohlabgerichteten Elephanten in dasselbe, nähern sich mit Vorsicht den Gefangenen und suchen ein einzelnes Thier von dem Trupp zu trennen. Die Unruhe desselben bemühen sich die zahmen Elephanten durch Liebkosen und Schmeicheln mit dem Rüssel zu beschwichtigen, gleichzeitig aber suchen sie Schlingen um die Hinterfüße des wilden zu legen, welche alsbald von den Elephantenfängern um einen Baum geschlungen werden, worauf dann das Thier vollständig gefesselt werden kann. Nachdem dieses mit furchtbarem Toben und Wüthen sich bemüht, seine Bande zu sprengen, erkennt es auch die Fruchtlosigkeit dieser Anstrengungen und wird nach Verlauf einiger Tage ruhiger. Hunger und Durst thun das Ihrige, um den eingetretenen Zustand der Ermattung nachhaltiger zu machen und eine gewisse Resignation herbeizuführen. Allmählich beginnt der Gefangene die ihm mit schmeichelnden Worten gereichte Nahrung zu nehmen; schlägt, er aber mit dem Rüssel nach seinem Ernährer, so werden ihm zugespitzte eiserne Stangen so entgegengehalten, daß er sich bei jedem Schlage eine Verwundung des Rüssels und in deren Folge Schmerzen bereiten muß. Er sieht bald ein, daß seine Wuthausbrüche ihm nur üble Folgen zufügen, steht daher bald davon ab, findet sich in sein Schicksal und lernt seinen Versorger kennen und ihm allmählich Folge leisten. Zu Arbeiten wird er zunächst nur unter dem Beistande abgerichteter Elephanten verwendet, doch schon nach einigen Monaten kann man derselben entbehren; das kluge Thier scheint zu dem Verständniß gekommen zu sein, daß es sich nützlich machen kann und muß. Es verrichtet nunmehr ohne Widersetzlichkeit die schwersten Arbeiten, trägt Lasten, zieht Fuhrwerke und ist in dieser Beziehung in den heißen, unwegsamen Ländern Ostindiens so unentbehrlich, daß selbst europäische Truppen sich seiner zur Fortschaffung von Bagagen, Geschützen etc. zu bedienen gezwungen sind.
Mit Unrecht hat man den in der Wildniß lebenden Elephanten für ein gefährliches und wüthendes Thier verschrieen; er ist, wenn nicht gereizt oder verwundet, durchaus scheu und furchtsam. Gleiches beobachtet man auch bei dem in Gefangenschaft gehaltenen. Mit Ausnahme der Brunstzeit, in welcher die Männchen bösartig werden, zeigt er oft eine überraschende Furchtsamkeit, wird leicht erregt und scheut vor unbekannten Dingen; er prüft, das enorme Gewicht seines Körpers (bei erwachsenen Thieren durchschnittlich achttausend Pfund) kennend, vorsichtig die von ihm zu betretenden Wege und wird durchaus ängstlich, soll er über eine Brücke, in ein Schiff oder einen Eisenbahnwaggon gehen. Im höchsten Grade folgsam, scheint er sich vollständig untreu zu werden, sobald er Angst oder Furcht empfindet, und die größten Schmeicheleien und Lockungen seiner Führer sind nicht immer im Stande, solche zu bewältigen. Daß Gewalt bei solchem Kolosse nicht anwendbar, ist leicht begreiflich; das Thier ist im Stande mit seinem Rüssel ziemlich starke Ketten zu zerreißen und drückt durch die Wucht seines Körpers Thüren und Mauern ein, wenn solche nicht von entsprechender Stärke sind. Es ist darum ein Glück, daß der Elephant für Schmeicheleien und gute Behandlung so außerordentlich empfänglich ist; er steht darin dem Hunde nicht nach, ja entwickelt mitunter eine noch größere Liebe und Anhänglichkeit nicht allein an ihm bekannte Menschen, sondern auch an Thiere.
Der Elephant unsers zoologischen Gartens in Köln theilt seine Liebe zwischen seinem Wärter und einem schwarzen Zwergpferde. Er versteht durchaus, was jener ihm sagt, antwortet sogar auf an ihn gerichtete Fragen durch einen tief aus der Brust kommenden Ton, kreischt vor Vergnügen, wenn der Wärter ihn an die kolossalen säulenartigen Vorderschenkel klopft, hebt bald den einen bald den andern, damit jeder seine Anzahl Liebesschläge empfange, macht auf Befehl natürlich alle möglichen Kunststücke und hat sich noch niemals widerspänstig oder bösartig gezeigt.
Nicht allein der Bewegung halber, sondern auch zur Unterhaltung des Publicums wird er bei guter Jahreszeit täglich im Garten geritten; eigenthümlich ist dabei, daß der Führer (Kornak) nicht auf dem Rücken des Thieres, wie bei Pferd und Esel, sondern auf dem kurzen Halse des Thieres dicht hinter den Ohren seinen Sitz einnimmt und mittelst eines eisernen Hakens die Bewegung desselben leitet. Niemals würde jedoch der Koloß seine Behausung verlassen, ginge ihm nicht sein unentbehrlicher Freund und Gefährte, das schon erwähnte Pferdchen, vorauf. Da der Weg an dem Restaurationslocal vorüberführt und auf der Terrasse vor demselben in der Regel eine große Anzahl von Besuchern verweilt, von welchen sich Mancher das Vergnügen macht, dem Elephanten eine Flasche Bier zu reichen, so bleibt das kluge Thier gern stehen, um einen derartigen Tribut in Empfang zu nehmen. So lockend und erquickend dem Elephanten nun auch ein derartiger Genuß ist, so unverkennbar ist aber doch seine Besorgniß, ob das Pferdchen auch nicht weiter geführt wird, während er solche Herzstärkung vertilgt. Die Versuchung ist jedoch groß, er geht zur Treppe, das Publicum mit seinen verhältnißmäßig kleinen Augen so freundlich anblickend, wie ein Elephant nur blicken kann, und streckt verlangend den Rüssel nach allen Seiten. Nicht fruchtlos ist sein Streben; es finden sich immer bereitwillige Geber. Die dargereichte Flasche entkorkend, faßt er sie beim Halse so, daß die Oeffnung in die Höhle des Rüssels hineinragt, kehrt sie um, damit der Inhalt in diesen laufen muß, zieht nach völliger Entleerung die Flasche zurück, schlingt den Rüssel um dieselbe, führt dessen Spitze in das Maul und spritzt in dieses den erquicklichen Trank. Behutsam entrollt sich alsdann wieder der Rüssel und reicht das entleerte Gefäß zurück.
Sind inzwischen kleine Münzen auf den Boden geworfen, so weiß das kluge Thier sehr wohl, wem diese bestimmt sind. Mit großer Geschicklichkeit versteht es auch die kleinsten aufzunehmen und reicht sie seinem Führer. Ist inzwischen das Pferdchen fortgeführt, so macht sich der Koloß mit kreischendem Geschrei davon, setzt sich in einen rasch fördernden Paß und untersucht, nachdem jenes wieder mit ihm beisammen, dasselbe liebkosend mit dem Rüssel auf das Sorgsamste, um sich zu vergewissern, daß es auch wirklich sein unentbehrlicher Gefährte ist und mit demselben keine Veränderungen vorgegangen sind.
Das zur Tränkung des Thieres nöthige Wasser wird durch ein Zweigrohr der im Garten vorhandenen Wasserleitung in das Elephantenhaus gefördert, durch Umdrehen eines Krahnes in einen Eimer gelassen und dann verabreicht. Eines Tages findet der von einem Gange zurückkehrende Wärter das Haus mit Wasser überfluthet, sein Blick fällt sofort auf den erwähnten Krahn, die Ursache der Ueberschwemmung ist leicht zu erkennen. Der Elephant hat, des längeren vergeblichen Wartens müde, sich nicht unnöthiger Entbehrung unterziehen wollen, den Krahn umgedreht und den kürzesten Weg gewählt, sich mit Wasser zu versorgen: er läßt dasselbe ganz einfach in seinen Rüssel laufen und spritzt es in das Maul während welches Actes der Quell sich ungehindert in die Räume des Gebäudes ergießen konnte. Ein solcher Grad von selbstständiger Emancipation war natürlich nicht zu gestatten, und das Thier mußte daher zur Vermeidung fernerer Ueberschwemmungen in solcher Entfernung vom Krahne angefesselt werden, daß es demselben nicht ferner beizukommen vermochte. Zur Löschung seines Durstes ist täglich nur zweimal das kleine Quantum von sechs bis acht Eimern nöthig; diese werden im Umsehen geleert und alsdann höchst zierlich am Gehänge gefaßt und zu neuer Füllung dargereicht. Bei der Reinigung und Pflege der Haut kommt das edle Thier seinem Wärter nach Kräften zu Hülfe; gern bespritzt es sich mit Wasser, bestreut sich mit Erde, verjagt mit einem Büschel Stroh oder Heu lästige Fliegen, hebt seinen Pfleger mit dem Rüssel so hoch, daß jener ohne Leiter den Rücken des Elephanten besteigen kann, ergreift sodann wohl selbst den Besen, mit welchem der Wärter das Thier abzukehren pflegt, und fegt sich zu allgemeiner Erheiterung der Zuschauer die Seiten selber ab.
Seine Stimmung scheint eine ganz vorzügliche zu sein, wenn er ein recht zahlreiches Publicum vor sich versammelt findet. Unglaubliche Quantitäten von Weißbrod werden ihm alsdann gereicht, auch das kleinste Stückchen wird nicht verschmäht; kaum ist es durch den Rüssel dem Maule zugeführt, so wird derselbe zur Einholung fernerer Bissen wieder ausgestreckt, so daß ein betriebsames altes Mütterchen ein ganz einträgliches Handelsgeschäftchen in Brod bei dem unermüdlichen Consumenten etablirt hat. Man müßte meinen, daß das Vergnügen des Publicums am Füttern des Riesenthieres für den Futter-Etat eine wesentliche Erleichterung sein müßte, indeß vertilgt der Elephant nach wie vor im Verlaufe des Tages seine achtzig Pfund Heu, der sonstigen Beigaben an Schwarzbrod, Rüben, Kartoffeln etc. nicht zu gedenken. Ein derartiger Consum in der Gefangenschaft läßt uns ahnen, wie rege der Appetit bei schwerer Arbeit und freier Bewegung in der Wildniß sein muß, welche Verwüstungen durch Heerden wilder Elephanten in der Pflanzenwelt angerichtet werden. Das Thier lebt jedoch nur da, wo der [23] Reichthum der Vegetation nicht so leicht erschöpft wird; es entwickelt überdies eine bedeutende Mannigfaltigkeit in der Wahl seiner Nahrungsmittel, es frißt das Laub der Bäume mit ziemlich starken Aesten und verspeist mit gleichem Appetite Gräser, Früchte, Getreide und Wurzeln, welche letzteren es mit seinen Stoßzähnen aus der Erde bohrt, und wird daher den Pflanzungen recht oft ein lästiger und schädlicher Besucher, den die Besitzer bei seiner kolossalen Stärke sich schwerlich vom Leibe halten könnten, wäre Furchtsamkeit nicht, wie schon erwähnt, eine Eigenschaft des mächtigen Thieres. Man kann beobachten, daß eine Heerde nur mit der äußersten Behutsamkeit und Vorsicht Streifzüge unternimmt; eines der ältesten Thiere geht stets den übrigen voraus auf Recognoscirung. Erst wenn dieses sich von der vollständigsten Ruhe und Sicherheit in der zu betretenden Gegend überzeugt hat, folgt der Trupp und dann wird im Fressen, Trinken, Baden und Zerstören geleistet, was nur möglich ist.
Man lebt gewöhnlich in großem Irrthum, wenn man meint, daß wilde Elephanten nur flache und ebene Gegenden, meist in der Nähe von Flüssen, bewohnen; der Elephant ist vielmehr ein ganz gewandter Kletterer, wie man gelegentlich auch bei gezähmten beobachten kann, und geht daher auf ziemlich unwegsame Berge, welche sich selbst sieben- bis achttausend Fuß über die Meeresfläche erheben. Gegen den Einfluß der Temperatur scheint er nicht übermäßig empfindlich zu sein, was man auch bei den in Europa gehaltenen Thieren bestätigt findet, von denen vor Begründung zoologischer Gärten die meisten mit gutem Erfolge in wandernden Menagerien gezeigt wurden, die keineswegs in der Lage sind, für gleichmäßige Temperatur zu sorgen.
Daß man vom Elephanten zwei Hauptarten unterscheidet, den indischen und den afrikanischen, dürfen wir hier, wo uns der Raum sehr spärlich zugemessen ist, nur beiläufig erwähnen. Letztere kamen zur Zeit der Römer mit dem Beginne der punischen Kriege vielfach nach Europa, während man sie, jetzt hier nur selten findet, wogegen der indische keine Seltenheit ist. Man war mit der Haltung der afrikanischen auch nicht glücklich in neuester Zeit; ob größere Weichlichkeit, Zufall oder andere Umstände das baldige Ableben dieser Thiere verschuldeten, lassen wir dahingestellt. Im Aeußern unterscheidet sich der afrikanische Elephant durch kleineren Kopf, runde, gewölbte Stirn, gleich am Anfang zugespitzteren schmalen Rüssel, größere Ohren und drei Hufe an den Hinterfüßen wesentlich von dem indischen, welcher durch stärkeren Kopf, concave Stirn, vom Ansatz an bis zur Spitze sich gleichmäßig verdünnenden Rüssel und vier Hufe an den Hinterfüßen leicht zu erkennen ist. Ob und wieweit der indische Elephant vor dem afrikanischen den Vorzug im Dienste des Menschen verdient, vermögen wir nicht zu entscheiden; daß aber der afrikanische auch gezähmt und abgerichtet werden kann, dürfen wir nicht bezweifeln, wenn wir uns erinnern, daß die Karthager und Römer sich ihrer im Kriege bedienten und sie zu Kampfspielen verwendeten; indeß verstehen die Völker Afrikas in denjenigen Theilen, wo der Elephant, vom Norden dieses Welttheiles weiter in’s Innere zurückgedrängt, noch zu finden ist, sich nicht mehr auf Fang und Abrichtung dieses edlen Thieres. Es ist ihnen, wie einzelnen europäischen Jägern oder Freibeutern, nur noch ein Gegenstand der Jagd, dem man hauptsächlich seines vortrefflichen Elfenbeines wegen nachstellt.
In der Gefangenschaft werden Elephanten wenig und nur ausnahmsweise gezüchtet. Dies ist wegen des langsamen Wachsthumes des Thieres, welches erst im Alter von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren seine vollkommene Größe erreicht, wenig lohnend; man läßt darum lieber den Elephanten in der Wildniß aufwachsen und fängt sich den Bedarf. Es ist aber auch die Paarung in der Gefangenschaft nicht ohne bedenkliche Gefahr; das Männchen ist zur Zeit der Brunst ein wüthendes, nicht zu bändigendes Thier, und zu wiederholten Malen hat man solche zur Vermeidung schrecklichen Unheils in Europa tödten müssen. Wer Elephanten halten will, giebt darum den sanfteren Weibchen den Vorzug. Die meisten Elephanten übrigens, die in der Gefangenschaft geworfen wurden, stammen von Weibchen, die man während der Tragezeit fing. Diese jungen Elephanten sind gar drollige und liebenswürdige Geschöpfe, die, ganz wie auch andere Säugethiere, nicht mit dem Rüssel, sondern dem Maule die Muttermilch zu sich nehmen. Ueber die Höhe des Alters, welches ein Elephant erreichen kann, sind die Meinungen sehr verschieden; während Einige ihm nur eine Lebensdauer von siebenzig bis achtzig Jahren zusprechen, geben ihm Andere eine solche von ein- bis zweihundert Jahren. Die Wahrheit dürfte in der Mitte liegen, doch sind selbstverständlich Lebensweise und Behandlung von dem allergrößten Einflusse.
Es sind jetzt gerade hundert Jahre her, als im Kinderzimmer des gelehrten Paul Baumer, Doctors und Professors der Arzneikunde und Weltweisheit zu Erfurt, ein Kreis von kleinen Mädchen sich um eine etwa zwölfjährige Gespielin drängte und mit Staunen und Bangen zusah, wie diese Gespielin einen Finger ihrer linken Hand über ein brennendes Licht hielt, bis derselbe tief in’s Fleisch angebrannt war. „Da seht Ihr nun, was man aushalten kann, wenn man will! Und was dem Papa sein Römer Mucius gethan hat, das kann ich auch,“ so sprach jetzt das angestaunte Kind und steckte den verbrannten Finger in den Mund. Die Zuschauenden fingen nun auf einmal an zu schreien, liefen heulend davon, verklatschten dann die soeben Angestaunte bei der strengen Mutter und – das heroische Töchterlein bekam die Ruthe. Als das Mädchen wieder vor den Gespielinnen erschien, gingen dieselben erst scheu an ihm vorbei und mochten es wohl für eine kleine Hexe halten. Bald aber sollten sie den Beweis haben, daß das sonderbare Wesen mit all seiner Kühnheit und Willensstärke doch auch nur ein armes, gebrechliches Menschenkind sei.
In einem alten Klostergange forderten sie die junge Heldin auf, von einer hohen Galerie herabzuspringen; das Kind sprang und wurde mit zerbrochenem Beinchen und zerspaltenem Köpfchen für todt nach Hause getragen. Indessen genas das Kind, doch von der Stunde seiner Genesung an hat es nie mehr derartige Dinge getrieben, war es still für sich, studirte viel und schrieb heimlich, was es Niemandem zeigte. Der Vater wollte, das merkwürdig befähigte Kind solle Medicin studiren, doch brachte ihn dessen oft bedenklich wieder aufbrechende Kopfwunde davon ab. Diese Wunde hat das Kind bis zum Tode behalten und durch sein ganzes Leben hin zogen sich jene Kinderscenen, nur in ganz anderer Art.
Kurze Zeit nach jener Mucius-That en miniature erblindete des Kindes strenge Mutter (eine geborene von Tenzel) plötzlich und vollständig; ein Jahr darauf starb der Vater, und kaum vierzehn Jahre alt, wurde unsere kleine Heldin, Sophie Baumer, die Frau des Dr. med. Albrecht. Dieser hatte als Student im Hause ihres Vaters gelebt und das seltsame Mädchen schon von dessen Kindheit an geliebt. Als eine poetische und künstlerische Natur, mit psychologischem Blick begabt, hatte er das Besondere in dem Kinde erkannt, es zu entwickeln und fortzubilden versucht und auf diese Weise auch des Mädchens Herz schon früh gewonnen. Albrecht’s Vater war Rector des Gymnasiums zu Frankfurt; Goethe schildert ihn in „Wahrheit und Dichtung“ als „eine der originellsten Figuren von der Welt“. In seiner damals sehr bedeutenden Stellung hatte Rector Albrecht vielfache und weite Verbindungen, und dadurch bekam sein Sohn im Jahre 1776 eine Stelle als Leibarzt bei dem Grafen von Manteuffel in Reval.
Bisher hatte Albrecht bei seiner jungen Frau in Erfurt gelebt, weil dieselbe die blinde Mutter nicht gern verlassen wollte. Sie hatten zusammen gedichtet, und Albrecht hatte sich schon an ein Trauerspiel gemacht: „Der unnatürliche Vater“ (später erschienen von ihm Romane, Familiengeschichten, Briefe und dramatische Werke); indessen fehlte es ihm doch an festem Heerd und Brod, Albrecht mußte jene Stelle in Reval annehmen, und Sophie begleitete ihn. In esthländischen Blättern erschienen ihre Poesien zuerst öffentlich und nahmen von da aus ihren Weg nach Deutschland. Auf vier großen Reisen zu Meer und Land, durch ganz Rußland hin, war sie die muthige und ausdauernde Gefährtin ihres Mannes, der seinen Herrn begleiten mußte; sie gebar ihm unterwegs einen Knaben und ein Mädchen. Endlich zogen Sehnsucht [24] nach dem Vaterlande sowie Liebe und Sorge für die blinde Mutter sie nach Erfurt zurück. Hier begann nun ein neuer Stern ihres Lebenshimmels aufzutauchen, eine Sehnsucht in Erfüllung zu gehen, die sie schon seit ihrem achten Jahre heftig gefühlt hatte, sie legte im Jahre 1782 als Julie in Weiße’s gleichnamigem Trauerspiel die erste Probe ihres eminenten Bühnentalentes ab, zwar nur auf einem Privattheater, aber doch schon so entscheidend, daß ihr zukünftiger Beruf mit einem Male bestimmt war. Dies um so mehr, da die blinde Mutter kurz vorher gestorben war und sie nur dieser zu Liebe nicht schon früher den längst gehegten Wunsch ausgeführt hatte.
Großmann, der halb geniale und halb verrückte, halb großartig edelherzige und halb vagabundirend schwindelnde Schauspieler, Dichter und Theaterdirector (dessen Briefe bei der „Frau Rath“ neben denen des frommen Lavater lagen), Großmann, jedenfalls ein geistreicher, künstlerischer, poetischer Mensch, wurde zunächst mit dem Talente Sophiens bekannt, und bei ihm, der damals die Theater zu Frankfurt, Mainz und Pyrmont dirigirte, betrat Sophie im Winter desselben Jahres zu Frankfurt, in der Rolle der Lanassa, zum ersten Male die öffentliche Bühne und zwar sofort mit einem bis dahin nie erlebten Erfolge. Bald darauf declamirte sie in Mainz den zweiten Gesang aus Klopstock's „Messias“ und gewann dadurch auch solche, die sich sonst der Bühne fern hielten; zugleich wurde sie eine beliebte Dichterin und in allen Kreisen der Intelligenz bewundert wegen ihres scharfen, kühnen und doch auch wieder zarten Geistes. So lernte Schiller sie kennen, als er mit Iffland, Beil und Beck zur Aufführung von „Cabale und Liebe“ nach Frankfurt kam.
Ein Irrthum ist hier zu berichtigen, der sich durch alle Biographien Schiller’s hinzieht; es heißt darin: „Vergebens suchte sie Schiller, um, wie er sagte, der Menschheit eine schöne Seele zu retten, von ihrer Lieblingsidee abzubringen, auf das Theater zu gehen; sie trat wirklich später als Schauspielerin auf“; Thatsache ist, daß sie damals schon beinahe dreiviertel Jahre lang Schauspielerin war. Vielleicht aber hat dennoch Schiller auf sie eingewirkt, denn vom Herbst 1784 bis Ostern des nächsten Jahres war sie wenigstens, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, „außer Engagement“. Von da an aber finden wir sie in Leipzig bei der Bondini’schen Gesellschaft.
Der geniale Schauspieler, der geistreiche Kopf, der außerordentlich thätige, kühne, auch oft gewaltsame Regisseur der Bondini’schen Gesellschaft, Reinecke, und der ganze Geist dieser Gesellschaft selbst, die zuerst eine nationale Kunst würdevoll durch Deutschland trug, fesselte unsere Künstlerin lange Zeit. Die Gesellschaft war im Winter in Dresden, im Sommer in Prag und während der großen Frühlings- und Herbstmessen in Leipzig. Dieses Wandern zwischen großen, gebildeten und künstlerisch gestimmten Städten sagte auch der ungestümen Natur Sophiens weit mehr zu, als das Solide und Stete eines dauernden Aufenthalts; war sie doch auch schon durch die ersten Jahre ihres Frauenlebens an das Reisen gewohnt und war ihr dasselbe durch das Wandern mit der Großmann’schen Gesellschaft fast nothwendig geworden. Anträge aus Mannheim, Wien und Berlin wies sie deshalb zurück. In Dresden, Prag und Leipzig feierte sie nun manche Jahre die seltensten Triumphe; in Leipzig erneute sich auch das Verhältniß mit Schiller, als derselbe zu Gohlis seinen „Don Carlos“ vollendete. Ihrem und ihres Freundes Reinecke Eifer gelang es auch, die Aufführung des Stückes am 14. September 1787 durchzusetzen und zwar in der Schiller’schen Jambe, nicht in der, wie in Hamburg, verlangten Umschreibung in Prosa. Sophie spielte die Eboli, und sie und Reinecke waren die Einzigen, die als der Dichtung würdig erschienen, wenn auch die schöne Wucht der Jamben ihre – an das Alexandrinermaß oder an die flache Natürlichkeit des bürgerlichen Rührstückes gewöhnten – Lippen und Zungen oft noch schwer bedrückte.
Als die Bondini’sche Gesellschaft an deren bisherigen Cassirer Seconda überging und an Reinecke’s Stelle Opitz Regisseur geworden war, fand das höhere Drama nur noch wenig Pflege und ward Sophien’s Einfluß immer geringer; ja, es kam endlich zu einem gewaltsamen Bruch mit Opitz. Sophie verlangte ihren Abschied, erhielt ihn gern, und die muntere, schalkhafte Hartwig trat an ihre Stelle. Das geschah Ende 1795, wo Sophie in ihr neununddreißigstes Lebensjahr getreten war; es war der Abschluß ihres glänzenden und der Beginn ihres traurigen Lebens.
Dr. Albrecht, der seiner Frau fast stets gefolgt, wie früher sie ihm, schrieb an Ludwig Schröder nach Hamburg um Gastrollen für seine Frau. Schröder antwortete bejahend, setzte aber hinzu: „Ob es bei einer, zwei oder drei Gastrollen bleibt, hängt von dem eigenen Willen Ihrer Gattin und dem Beifall des Publicums ab. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß nicht jedes Talent jedem Publicum gefällt und daß selten eines kleine Angewohnheiten und Manieren von der Kunst abzuziehen weiß, um ihrer ohnerachtet noch Kunst und Wahrheit anzuerkennen.“ Das war schon ein bedenklicher Passus im Munde des alten, gestrengen Herrn, gegenüber der noch vor einiger Zeit so hochgefeierten Schauspielerin. Allein der große Theaterdirector kannte sein Publicum und die Schauspieler; Sophie trat im December desselben Jahres in Hamburg als Katinka im „Mädchen von Marienburg“ auf und – mißfiel. Man fand sie nicht natürlich und warf ihr Dialekt vor. Schröder stellte es ihr frei, ob sie noch ferner spielen wollte aber sie selbst verzichtete darauf, und – sie hatte zum letzten Male auf einer großen Bühne gespielt.
Wie Sophiens ganze Erscheinung und Wesenheit ein Product der gährenden, idealen, romantisch-kühnen Sturm- und Drangperiode war, aus der Schiller’s und Goethe’s erste Werke hervorgingen, so auch die scharf ausgeprägte individuelle Eigenheit ihres Spieles und der Beifall, den dasselbe erringen mußte. Als aber nun die durch Schröder angebahnte, durch Iffland fortgesetzte und durch Kotzebue allgemein gewordene bürgerliche und spießbürgerliche Natürlichkeit die Bühne, die Schauspieler und das Publicum beherrschte, da mußte eine Erscheinung wie Sophie untergehen. Sie war für die Bühne einerseits doch nicht groß genug, andrerseits zu edel, und das, was früher bei ihr durch den Reiz der Jugend liebenswürdig und pikant erschienen war, wurde nunmehr ganz anders betrachtet. Nach dem Hamburger unglücklichen Gastspiel theils zu sehr erschreckt, um noch bei andern großen Bühnen aufzutreten, theils zu stolz, sich der Gefahr einer abschlägigen Antwort auszusetzen, zu selbstständig und ehrgeizig, um „in Rom der Zweite“ sein zu können, wandte sie sich mit ihrem Manne nach Altona und führte hier die Direction. Die Bestrebungen Beider waren edel und bedeutsam, aber „was hat das Ewige verschuldet, daß man es nebenbei nur duldet?“ diese tragischen Worte Platen’s kann man auch hier anwenden; jene Bestrebungen blieben resultatlos und waren der Beginn langen Elends. Dr. Albrecht trug dasselbe nicht lange mit, er starb. Sophie lebte nun noch eine Zeit lang von dem nachwirkenden Ertrage ihrer Schriften: Romane, Briefe und Gedichte, die in den Jahren 1785 bis 1793 bei Georg Reimer, in Berlin und bei Richter in Dresden erschienen waren. Aber auch diese, vorzugsweise einer idealsentimentalen Richtung angehörend und vom Zauber der persönlichen Erscheinung ihrer Verfasserin höher gestellt, als sie an sich selbst es verdienten, verschwanden mit der Zeit, der sie angehörten, und verloren an ihrer Wirksamkeit, als ihre Verfasserin selbst in Vergessenheit gerieth. Das von ferne dräuende Gespenst der Noth kam näher und näher, es wurde zur Wirklichkeit, es umfaßte mit seinen knöchernen Armen das einst so herrliche stolze Wesen und machte es elend und elender. Aber die Kraft und Leidenschaft und Schönheit einer idealen Seele konnte es doch nicht aus der unglücklichen Frau herauspressen. Als Beweis dafür erzählen wir aus dem Munde einer Augenzeugin – einer hochberühmten und außerordentlichen Frau – das Nachfolgende aus Sophiens, damals schon beinahe fünfzigjährigem, Leben:
„Ich habe sie nur einmal in einem sehr interessanten Augenblick gesehen; sie liebte nämlich einen jungen, schönen Schauspieler, der, wenn ich nicht irre, Thomas hieß, doch soll diese Liebe rein, edel und platonisch gewesen sein; er aber liebte eine Andere, erkrankte dann schwer an der Auszehrung, und als er nun schon ganz ohne Hoffnung und von den Aerzten aufgegeben war, holte sie ihn zu sich und pflegte ihn bis zu seinem Tode, der auch in kurzer Zeit erfolgte. Es wurde in Hamburg viel darüber gesprochen. Viele gingen hinaus, um ihn an seinem Begräbnißtage noch im Sarge zu sehen. Ich schloß mich ihnen an, weil mich doch auch die Neugierde und Theilnahme plagte, den Mann zu sehen, für den Sophie Albrecht schwärmte. Kaum waren wir im Hausflur, wo er aufgebahrt lag und schön wie ein Engel war, eingetreten, so öffnete sich eine Zimmerthür und Sophie Albrecht stürzte mit den heftigsten Tönen des Schmerzes, von mehreren Freunden, welche sie abhalten wollten, begleitet heraus und setzte der Leiche einen Blumenkranz auf’s Haupt.
[25]Das war das einzige und letzte Mal, daß ich sie gesehen; aber ich könnte sie und die ganze Scene malen; eine nicht gar große, schwächliche Frau im weißen Kleide, mit nicht gerade schönen, aber höchst interessanten Gesichtszügen. Diese Scene machte auf mich, die auch mit einer etwas schwärmerischen Gemüthsart begabt war, einen tiefen Eindruck, und ich glaubte daran; Andere wollten es für einen Theatercoup halten, ich sage aber: Besser ist, der an das Gute und Edle glaubt.“
Das wollen denn auch wir hier; die Erzählerin dieser Scene ist eine der wenigen großen Frauennaturen, die fähig und würdig sind, ein ideales Wesen wie Sophie Albrecht wahr zu verstehen.
Und mit dieser Scene sei das äußere Leben der Unglücklichen abgeschlossen. Das Elend, das nun über sie kam, war entsetzlich. Die einst Hochgefeierte lebte in Altona – von dem Verleihen ihrer einstigen Theatergarderobe, dann vom Waschen feiner Stoffe, dann als Fleckenausputzerin, zuletzt von Almosen die öffentlich für sie gesammelt wurden, bis sie im Jahre 1842 als fünf- undachtzigjährige Matrone starb. Jene merkwürdige Scene war gleichsam auch das Siegel auf den Freibrief, den die Natur in einem ihrer besonderen Augenblicke und mit verschwenderisch gütiger, vielleicht auch unbesonnener Hand diesem merkwürdigen Wesen zu seinem Glück und Unglück ausgetheilt hatte. Muth, Kühnheit und unglaubliche Standhaftigkeit ließen sie manchmal als Mann erscheinen, während eine unendliche Weichheit, Zärtlichkeit und schöne Liebenswürdigkeit sie oft zu extremer Schwärmerei führten. Jetzt munter bis zur tollen Ausgelassenheit, dann lange Zeit tief traurig und schwermüthig; aufbrausend bis zum heftigsten Zorn und dann wieder ganz Demuth, Liebe und Verzeihung. Sie konnte sich mit eigener [26] Hand zur Ader lassen und bei dem Leiden eines Menschen oder Thieres bis zur Ohnmacht gereizt werden. Sie war mit Scharfsinn begabt und wurde doch bei jeder Gelegenheit, oft sogar von den dümmsten Menschen, betrogen. Sie war klar, praktisch, streng solid in der Führung ihres Hauswesens, in der Erziehung ihrer Kinder und verschenkte mit unendlichem Leichtsinn oft das Nothwendigste an Arme und Leidende. Selig in der Natur, auf dem Lande, Tage lang durch Wiesen und Wälder schweifend saß sie wieder Wochen lang wie eingesperrt auf ihrem Zimmer. Sie floh die großen Gesellschaften, war am glücklichsten im engen Kreise Vertrauter Freunde und doch unglücklich bis zum Extrem, wenn sie eine Zeit lang nicht gefeiert wurde, nicht der Mittelpunkt großen, bewegten Lebens und ohne bedeutsame Bühnenbeschäftigung war.
Dieses seltsame Gemisch bildete das eigentliche Wesen unserer Sophie, und wir können uns daraus leicht erklären, daß sie für Swedenborg schwärmte, ihn mit vielem Geist gleichnißweise erklärte und selbst das System einer nach ihm hingehenden Seelen ausarbeiten wollte. Ihr Organ war von einer wunderbaren Melodie und Fülle; oft aber mißbrauchte sie es gewaltsam und es bekam nach und nach etwas Herbes und, wir möchten sagen, Trotziges. Ihr Körper war klein, der Wuchs außerordentlich schlank, die Taille zum Umspannen fein; dennoch wußte sie durch richtige und schöne Haltung ihrer ganzen Person den Ausdruck einer ziemlich imponirenden Mittelstatur zu geben. Ihr Kopf war eher rund als länglich, das Haar sehr schön, lang, blond und seidenweich; die Stirn ziemlich hoch und vorgebaut; die Augen herrlich blau, mit eigenthümlich erfassender, fast tragischer Schwärmerei. Die Nase nicht schön, aber geistreich geformt, der Mund etwas aufgeworfen, doch mit kühnem Trotz; das Gesicht blaß, hager, doch innerlich lebhaft bewegt; das Ganze keine graziöse Schönheit, aber frappant, fesselnd mit jedem Interesse der Intelligenz – das war die Erscheinung von Sophie Albrecht, der Freundin Schiller’s, der sie mit folgenden Worten charakterisirt: „Ein Herz, ganz zur Theilnahme geschaffen, über den Kleinigkeitsgeist der gewöhnlichen Cirkel, voll edeln und reinen Gefühles und selbst da noch verehrenswerth, wo man ihr Geschlecht sonst nicht findet, und dabei eine gefühlvolle Dichterin!“
Es war am 9. Juni 1794. Tags vorher hatte Robespierre unter ungeheurem Zusammenströmen des Volkes das Fest der „Wiedereinsetzung des höchsten Wesens“ gefeiert. Die exaltirten Mitglieder der Ausschüsse knirschten vor Wuth, sie sahen das Fest als eine Frucht der geheimen Verbindung an, sie erblickten sich einen Schritt näher dem Abgrunde. Die Stunde drängte. Vadier gab das Zeichen.
Ein furchtbares Ungewitter entlud sich über Paris. Unbekümmert um das Tosen der Elemente, schritt bei hereinbrechender Nacht ein Mann, in eine Carmagnole gekleidet, grobe Schuhe an den Füßen, das triefende Haar mit einer Wollkappe bedeckt, die Straße Fouroy entlang. Er bog in die Straße Contrescarpe, einen der ödesten, verwahrlosesten Winkel von Paris, ein und machte vor einem Hause Halt. Durch die zerborstenen Fensterladen des Erdgeschosses drangen matter Lichtschein und ekelhafter Tabaksgeruch auf die Gasse. Der nächtliche Wanderer öffnete die Thür und verschwand im Hausflur. Nach einiger Zeit kam er wieder zum Vorschein in Begleitung von zwölf bis vierzehn Männern. Im strömenden Regen wanderten Alle schweigend durch die Gasse, aber wer sie beobachtet hätte, der mußte bemerken, wie die Zahl immer geringer ward, denn in der Nähe des Hauses Nr. 4 angelangt, schlüpften Einige in die Kellervorsprünge, Andere verbargen sich in dem Flur einer alten Baracke; zuletzt war der Mann mit einem Genossen allein. Beide schritten auf die Thür des Hauses Nr. 4 zu. Der zuletzt Gebliebene hob den Klopfer. Plötzlich wandte er sich um und fragte den Begleiter: „Sie haben doch Pistolen?“
Der Gefragte bejahte.
„Es ist nasse Luft, Bürger Sénart, sehen Sie das Zündkraut nach. Ein Schuß, der versagt, kann Sie verderben.“
Sénart trat unter den Thorbogen und zog seine Pistolen. Er schlug die Pfanne zurück und prüfte das Pulver mit der Oberlippe. „Es ist Alles in Ordnung.“
„So gehen wir.“
Der Thürklopfer wurde gerührt und bald öffnete sich die Pforte kreischend in den rostigen Angeln sich drehend.
Eine finstere Halle nahm die Eintretenden auf hinter welchen sich das Thor wieder schloß.
„Wer ist da?“ fragte eine heisere Stimme.
„Ein Bruder,“ entgegnet Sénart’s Begleiter.
„Deine Hand,“ sagte die Stimme.
Es erfolgte eine Pause; offenbar suchten die beiden Brüder durch irgend ein Zeichen, einen Druck sich als Eingeweihte einander kenntlich zu machen.
„Willkommen,“ sagte die Stimme, „Dein Name, mein Bruder?“
„Briot der Psalmist. Ich bringe einen Neuen.“
„Geht die Hintertreppe hinauf. Du weißt den Weg, Bruder. Ich werde Dich melden.“
Sénart ward dann durch das Dunkel zu einer gebrechlichen Treppe geleitet, die statt des Geländers mit Stricken versehen war. Verschiedene Male stolperten Beide, bevor sie endlich, mitten in dichter Finsterniß, auf einem Absatze stehen blieben.
„Hier ist es, Bürger Sénart. Nehmen Sie sich zusammen. Zeigen Sie nicht die geringste Bewegung, bevor der entscheidende Augenblick da ist, sonst kann ich für nichts stehen.“
Sénart war ein Mitglied jener entsetzlichen Polizei des Wohlfahrts-Ausschusses, deren Beamte das furchtbare Geschäft betrieben, Opfer für die Guillotine aufzuspüren. Er sollte heut den Schlag gegen die Kinder der „Mutter Gottes“ führen und mit Briot’s, des Verräthers, Hülfe sich in den Club einführen lassen. Rings um das stille, düstere Haus lauerten die Schergen Sénart’s, bereit, auf das Zeichen des Agenten herbeizustürzen. Auf die Warnung des falschen Bruders antwortete der Polizist nicht, er war mit Schrecken und Entsetzen zu vertraut, um irgend eine Bewegung zu zeigen. Nur seinen Pistolengürtel schnallte er loser, knöpfte die Carmagnole bis an den Hals zu, untersuchte seine Tasche, in welcher der vom Wohlfahrtsausschusse verfügte, mit Barrère’s und Vadier’s Namen unterzeichnete Verhaftsbefehl steckte, und sagte dann kaltblütig: „Klopfe.“
Briot that es.
Greller Lichtschein blendete die Beiden. Er kam aus einem Vorzimmer, dessen Thür auf die Treppe hinausging und plötzlich geöffnet ward. Der Armleuchter mit sieben Kerzen wurde von einem Manne gehalten, der, in ein schneeweißes Gewand gehüllt, auf der Schwelle des Gemaches stand. Sénart sah, wie Briot und der Weiße sich Zeichen gaben, die in einem Ziehen der Hand in Kreuzesform bestanden. „Tretet ein,“ sagte der Weiße. Man ging durch zwei leere Zimmer in einen langen, öden Raum, der nichts Anderes, als ein großer Hausboden sein konnte. Rings umher standen gepolsterte Sitze. An der Hauptwand bemerkte der Agent drei Stühle. Der höchste, in der Mitte stehende war weiß, der rechts roth, der links blau überzogen. Briot gab seinem Begleiter einen Wink, in die Ecke zu treten. Der große Raum war durch sieben Kerzen, die auf einem eisernen Deckenleuchter brannten, nothdürftig erhellt. Eine Glocke tönte. Es trat eine Frau in den Saal und rief mit lauter Stimme: „Ihr Kinder Gottes, rüstet Euch, die Mutter zu empfangen.“
„Dies ist die ‚Verkünderin‘“ flüsterte Briot Sénart zu.
In demselben Augenblicke traten durch zwei Thüren eine Menge Menschen, Frauen, Männer, Jungfrauen, Greise in den Saal. Sénart’s Hals verlängerte sich, er musterte die Menge, [27] er suchte seine Opfer und hatte sie bald gefunden, denn die ihm besonders bezeichneten hatten schon ihre Sitze eingenommen. Die engelschönen Gesichter der Frau von St. Amaranthe und der Marquise von Chastenais übergoß die Flamme der Kerzen mit rothem Lichte. Sie verlieh ihnen ein überirdisches Aussehen, denn durch das Halbdunkel strahlten die schönen Augen in einer Art von Verzückung. Sénart stieß einen leisen Ruf der Genugthuung aus, er schien seiner Opfer gewiß. Quesvremont und Sartines standen hinter den Damen. Die übrigen Anwesenden, jedem Stande zugehörend, theils elegant, theils zerlumpt gekleidet, saßen auf den Sitzen oder kauerten an den Wänden umher. Neuer Glockenschlag. Ein Vorhang hinter den drei Stühlen theilt sich. Von zwei Frauen geführt erscheint Katharine Theot, die „Mutter Gottes“. Ihre Gestalt ist lang, trocken, man könnte sie durchsichtig nennen. Graues, aschfarbenes Haar hängt um ihr Haupt, ihre Augen sind blitzend, ihr Knochenbau ist stark. Einen peinlichen und zugleich grauenhaften Anblick bieten die Hände der „Mutter Gottes“, denn sie sind wie die eines Skeletes und befinden sich in fortwährender fieberhaft zitternder Bewegung.
„Kinder Gottes,“ ruft sie, „Eure Mutter ist unter Euch; ich will die Ungläubigen reinigen.“ Jetzt geht ein Jeder der Anwesenden zu ihr und küßt ihre Stirn, sie legt die Hand auf das Haupt des vor ihr Stehenden und sagt: „Freunde meines Sohnes, ich grüße Euch.“
Dom Gerle tritt in den Saal. Alle erheben sich und neigen die Häupter. Er setzt sich auf den rothen Stuhl, die „Mutter Gottes“ läßt sich auf den weißen nieder. „Freunde des Herrn, vereinigen wir uns,“ ruft Dom Gerle. Die Mutter öffnet ein großes Buch. Sénart hatte während dieser Zeit Muße genug, die beiden Führerinnen der alten Theot zu betrachten. Die Eine hieß die „Sängerin“, die Andere die „Taube“. Die Taube war eine der schönsten, jugendlichen Erscheinungen, wie sie sich eines Künstlers Phantasie nicht vollendeter gestalten konnte, ihr edles Gesicht mit den herrlichsten blauen Augen umfloß goldiges, üppiges Haar; die Figur, im schönsten Ebenmaße gebaut, zierte ein rothes Gewand, das die weißen Arme und den Nacken einer Venus erblicken ließ. Die Untersuchung hat ergeben, daß die „Taube“ von den Leitern des Bundes dazu ausersehen war, nach dem Tode der alten Mutter, durch eine geschickte Taschenspielerei, als die wiedergeborne jugendliche „Katharine Theot“ zu gelten.
Der Augenblick der Katastrophe nahte heran. Dom Gerle rief: „Es sind Profane hier. Sie sollen die Weihe empfangen. Brüder und Schwestern, helfet ihnen.“
Briot stieß den Agenten vor. „Achtung!“ flüsterte er. Sénart trat in den Kreis und stand der Mutter Gottes gegenüber. Seine Augen irrten zwischen den halbgeöffneten Wimpern umher, und da er bei verschiedenen Anwesenden Säbel oder Degen gewahrte, fuhr seine Hand unwillkürlich unter die Carmagnole und umklammerte den Schaft des Pistols.
„Sprich den Eidschwur, Mann: „Ich will mit Waffen, Wort und That den Ruhm des höchsten Wesens durch die Welt tragen,“„ rief Dom Gerle. „Hebe Deine Hand.“
Sénart hob die Hand. „Ich schwöre.“
„Gelobe Gehorsam der Mutter Gottes.“
„Ich schwöre.“
„Gelobe, Dich den Dienern des Propheten zu unterwerfen.“
„Ich schwöre.“
Nun begann die Mutter ein Capitel der Offenbarung St. Johannis, das Buch mit den sieben Siegeln, erklärend vorzulesen. „Fünf Siegel sind gehoben,“ rief sie. „Ich soll das sechste lösen. Wenn das siebente bricht, ist die Neugeburt der Erde vollendet. Alle sterben, nur die Kinder der Mutter Gottes nicht. Dieses sind die Namen der sieben Siegel: das erste ist das Wort, das zweite die Gleichheit der Stände, das dritte die Revolution, das vierte der Tod der Ungläubigen, das fünfte die Brüderschaft aller Völker, das sechste der Kampf des Erzengels, das siebente die Neugeburt aller Erwählten.“
Sénart hatte während dieser Erklärung die prüfenden Blicke Dom Gerle’s auszuhalten, er fühlte, wie gefährlich das Spiel wurde. Immer lauter tönten die dumpfen Rufe der Versammelten, es schien dem Agenten, als bereite sich eine Ekstase gleich der orientalischer Mönche, tanzender oder drehender Derwische vor. Dom Gerle führte ihn zur Mutter Gottes, die ihm mit den Worten: „Mein Sohn, ich nehme Dich auf unter die Erleuchteten, Du bist unsterblich,“ auf Stirn, Ohren, Augen, Backen und Mund Küsse drückte. Er mußte der Mutter diese Ceremonie wiederholen, dann sprach sie: „Die Gnade ist ausgegossen auf Deine Lippen,“ und als ob die Erde einstürzen sollte, erhob sich ein furchtbares Geschrei: „Die Gnade ist da! Die Gnade ist da!“ Diese Worte riefen alle Anwesenden. Dom Gerle machte mit dem Finger einige Zeichen über dem Kopfe Sénart’s, dann brachte man eine silberne Schüssel herbei und wusch die Hände des Aufgenommenen. Immer lauter ward das Geschrei, und als Sénart sich in die Reihe der Brüder setzte, erblickte er die wunderlichsten Geberden, Drehungen und Situationen. Einige lagen auf den Knieen, Andere hatten das Haupt hintenüber gebeugt und sendeten Gebete empor, dann warfen sich gewisse Schwärmer auf den Boden, wieder Andere umarmten sich und sangen. Diese Scene ward endlich geordnet durch einen Gesang, den die „Taube“ und die „Sängerin“ anstimmten und an welchem die ganze Gemeinde Theil nahm.
Sénart hielt jetzt den entscheidenden Augenblick für gekommen, er rückte immer näher einem kleinen Fenster, welches, wie er sich überzeugt hatte, auf die Straße führte.
„Du bist unruhig, neuer Bruder,“ sagte ein gelbaussehender Schwärmer.
„Ich leide noch unter dem Eindruck des Gewaltigen,“ entgegnete Sénart.
Briot kauerte sich in die Ecke, er zitterte. Sein Leben war ebenso bedroht wie Sénart’s. Dieser Agent war bis zu dem Fenster gekommen. „Eine stickende Hitze,“ sagte er. „Oeffnen wir.“ Der Sänger, dem er dies zuflüsterte, hatte keine Antwort, er war dem Irdischen abgewendet. Schnell fuhr die Hand des Agenten in die Seitentasche der Carmagnole, dann hielt er sie zum Fenster hinaus, ein Stein fiel auf das Pflaster der Gasse. Vor dem Hause ward es lebendig. Oben schwieg der Gesang. Sénart war hinter den Sitzen entlang gegangen und hatte an der Ausgangsthüre Posten gefaßt. Ein zweiter Neophyte trat in den Kreis, die Aufnahme sollte wieder beginnen. „Es sind Profane hier!“ rief wieder Dom Gerle. „Sie –“
„Sollen nicht die Weihe empfangen,“ brüllte plötzlich eine Stimme, und mit vorgehaltenen Pistolen sprang Sénart in den Kreis. Die Versammlung blieb vor Schreck und Entsetzen einen Augenblick stumm, dann rannte schreiend und heulend Alles durcheinander.
„Verrath!“ schrie es von allen Seiten. „Werft Euch auf ihn.“ Die Frauen kreischten, Katharine Theot stand auf dem Sessel und feuerte die Menge an. „Es ist der Drache von Babel! Würge ihn, Volk des Herrn.“
Sénart hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, als der ganze Schwarm, Einige mit blitzender Waffe, auf ihn zudrängte. „Zurück!“ schrie er. „Ich schieße den Ersten, der es wagt, Hand an den Diener der Republik zu legen, durch den Kopf.“
„Würgt ihn!“ rief Dom Gerle. „Ich stehe für Alles.“
„Haltet!“ rief Herr von Quesvremont. Seiner Stimme gab man Gehör, Alles wich zurück, ein Augenblick der Ruhe trat ein, den Sénart geschickt benützte. Im Nu hatte er eine silberne Pfeife an den Mund gesetzt und ihr schrillender Ton drang durch die Räume. Ein Hurrahruf von unten her antwortete.
„Er hat Genossen, Schergen in der Nähe!“ riefen die Bundesglieder. „Gebt ihm mindestens seinen Lohn.“
„Wer hat ihn hergebracht?“ schrie ein Rasender.
„Briot, der Psalmist,“ antworteten zwanzig Stimmen. Briot’s Stunde hatte geschlagen. Sénart sah plötzlich die Menge von ihm sich wenden, gegen die Ecke des Saales drängen, er sah einen fürchterlichen Knäuel, eine Anzahl erhobener Fäuste, er hörte Gebrüll, Schimpfreden, dann einen durchdringenden Schrei. Als er ertönte, fiel krachend die Thür in Trümmer, und Sénart’s Genossen stürmten herbei.
„Im Namen des Wohlfahrtsausschusses!“ rief der Agent, „Ihr seid meine Gefangenen.“ Er hob das Papier in die Höhe. „Vaudry, Lecourbe, nehmt die Bürgerinnen St. Amaranthe und Chastenais, sowie den Alten dort und Sartines, den Blonden da hinten, auf Euch.“
„Es ist Robespierre’s Hand,“ flüsterte die Marquise.
„Fluch dem Mörder!“ murmelte Quesvremont.
„Die ‚Mutter Gottes‘, die ‚Taube‘ und die ‚Sängerin‘ escortire ich. Vorwärts!“
[28] Die Menge wagte keine Gewaltthat. „Geht, ihr Kinder!“ rief die Theot, „ich bin aus den Mauern der Bastille zurückgekehrt in die Freiheit, ich werde auch aus dieser Gefahr erlöset. Stimmt den Gesang an zu Ehren des Höchsten.“
Ein Lied erschallte, die Schwärmer umarmten sich, es schien Allen gewiß, daß sie in den Tod gingen, aber sie freuten sich auf den Augenblick, wo sie ihrer finstren Lehre geopfert wurden. Sénart drängte sie auseinander. In der Mitte des Saales schwamm in einer Blutlache die Leiche Briot’s. Ein Messer war ihm durch’s Herz gestoßen.
„Der hat es bezahlen müssen, Du sollst dafür aufkommen,“ sagte Sénart drohend zu Dom Gerle. „Deine Frommen sind Teufel.“
Die Gensdarmen umgaben ihre Gefangenen. Mit Gesang zog die Versammlung aus den Räumen, lächelnd, wie überselig, umhalsten sich die Schwärmerinnen, und, unten auf der Gasse angelangt, segnete die Mutter das Volk. Nur der von Sénart hoch emporgehaltene Befehl des Wohlfahrtsausschusses hielt die Menge ab, Befreiungsversuche zu unternehmen.
Eine Stunde darauf schlossen sich die Kerkerthüren von la Force hinter den Mitgliedern des Bundes ‚der Mutter Gottes‘.
Die Ausschüsse hatten ihren Zweck erreicht. Es blieb nun die Anklage zu erheben, die Vadier und Lacoste unter dem Namen „Verschwörung des Auslandes“ in schärfster Weise vor den Convent brachten. Cäcilie Renault’s angeblicher Mordversuch ward mit hineingezogen und das Ganze für ein Machwerk Pitt’s ausgegeben, der Robespierre und die Freiheit stürzen wolle. Beißende Anspielungen auf den Dictator blieben nicht aus. Er erschien als Götze einer gefährlichen politisch-religiösen Gauklerbande, aber Alles war durch die gewandte Feder Barrière’s so in Achtung gehüllt, daß es eines geübten Auges bedurfte, um den Mordstahl zu erblicken der sich hinter der scheinbaren Sorge für Robespierre barg.
Alle die Häupter und Aristokraten des Bundes wurden durch den öffentlichen Ankläger des Todes schuldig erklärt. Ebenso Cäcilie Renault.
Vadier trat zu Robespierre in’s Zimmer. „Maximilian,“ sagte er, ihn starr anblickend, „wir haben Deine Feinde heute verurtheilt. Es sind die Feinde der Freiheit. Sie werden morgen sterben. Reiche mir Deine Rechte und schütteln wir uns Beide die Hände, Du bist uns Dank schuldig und wir haben Dich der Freiheit erhalten.“
Robespierre gab ihm die Hand. Als Vadier ihn berührte, zuckte er zusammen, wie von glühendem Eisen getroffen. Er fühlte die Schläge, die ihn trafen, er hörte den Angstruf seiner Freunde, alles Blut kam auf ihn, er sträubte sich unter der Last des Mordes und wagte nicht ihn zu mißbilligen.
Am 17. Juni bestiegen die ‚Kinder der der Mutter Gottes‘ das Schaffot. Man führte sie, alle mit rothen Hemden bekleidet, auf zehn Karren dahin. Sartines starb zuletzt. Frau von St. Amaranthe und ihre Tochter hielten sich umschlungen, bis der Henker sie auseinanderriß. Sie starben mit Verwünschungen oder Verzeihung auf ihren Lippen für Robespierre, den sie Alle für den Urheber ihres Unglücks ansahen. Keiner von ihnen hat Feigheit oder Zaghaftigkeit in der Stunde des Todes blicken lassen, und das Grab schloß sich über Alle, ohne daß die eigentlichen Zwecke des mystischen Treibens klar zu Tage getreten sind; auch die Herkunft der schönen St. Amaranthe ist mit tiefem Geheimniß bedeckt geblieben.
Katharine Theot starb zwei Wochen nach ihrer Einkerkerung. Dom Gerle blieb lange im Gefängnisse. Wer ihn rettete, ist nie bekannt geworden.
Robespierre war am 17. Juni für Niemand sichtbar. Er erlag der furchtbaren Gewißheit, daß Mit- und Nachwelt alle Schuld und alles Verbrechen auf ihn häufen werden, Verbrechen, gegen die zu protestiren er nicht mehr wagte.
Vom 17. Juni 1794 an begann der Boden unter seinen Füßen zu schwinden.
In der großen Brückgasse zu Pest war ein ungewöhnliches Gedränge; der Adel hielt eine Auffahrt. Carossen folgten auf Carossen in endlosem Zuge, Zweigespanne und Vierer, geleitet von stolzen, betreßten Kutschern oder von schnurrbärtigen Söhnen der Pußta in flatternden Gatyen (weiten ungarischen Beinkleidern), auf dem Kopf den malerischen Kremphut mit dem Federgras-Busch. Zwischen ihnen hindurch windet sich schüchtern und doch wieder trotzig der gewöhnliche Verkehr, unscheinbare Fiaker und Bauernwagen; die Luft ist erfüllt von Staub, von dem Gewieher der Rosse, dem Hufgeklapper, dem Peitschenknall und Rufen der Lenker; auch mancher laute Ausdruck des Wohlgefallens wird gehört, denn an Thüren und Fenstern
steht, was lebendig ist; für die Ungarn giebt es kein willkommeneres Schauspiel, als Pferde und deren Leistungen. Zwischen die langen Zeilen der Fuhrwerke war ein vereinzelter Reiter gerathen, in der kleidsamen Magyarentracht, eine zierlich prächtige Gestalt auf noch prächtigerem Rosse. Das edle Thier schnaubte und courbettirte, es war ungeduldig, wie sein Herr, der mit ihm verwachsen schien; dahin, dorthin wandte er es, umsonst, immer von Neuem schloß sich die Lücke, durch welche er dem Wagengetümmel zu entkommen gedachte. Da spornt der Reiter sein Pferd an und fliegt von dem Fleck in einem ungeheuren Satz hinweg über das erschrockene Dreigespann eines Bauerngefährts auf den freien Raum des Pflasters, daß die Hufe Feuer aus den Steinen schlagen, und dann sprengt er lachend davon, als hätte das nur so sein müssen, aber doch verfolgt von dem begeisterten Ausbruch der Menge: „Eljen, Eljen! Das war der Gróf, unser Gróf!“ Und wenn ein Fremder gefragt hätte: „Welch ein Graf?“ so würde jedes Kind in Pest und Ofen verwundert über solche Unkenntniß geantwortet haben: „Wer anders, als der Graf Sándor? Den müssen’s doch kennen!“
In der That, der kühne Reiter war eine der populärsten Figuren in ganz Ungarn – vor den Ideen des März 1848. Jedermann kannte ihn, Jedermann wußte von ihm zu erzählen; seine Thaten waren in den Volksmund übergegangen und theilweise schon zur Mythe geworden. Es gab für ihn zu Pferde kein Wagstück; wo Andere sorgsam sich den eigenen Füßen anvertrauten oder lieber gar zurückblieben, da flog er hoch zu Roß darüber und fast immer ist es ihm gelungen. So ist er denn auch lustig und muthig durch’s Leben geritten. Bekanntlich sind die Magyaren ein Reitervolk, das einzige in Europa. Wer die Csikóse (Roßhirten) mit der Wurfleine in der Faust die Heerde umkreisen, wer die verwegenen Betyaren (berittene Räuber) über die Pußten brausen gesehen hat, der erinnert sich an die Sagen von Roßmenschen und fragt sich, ob die wilden Comanchen der Prairien oder die Gauchos der Steppen so Eins sein können mit ihrem Thier, wie diese schlanken, nur aus Sehnen gewebten Ungarnreiter. Und wenn selbst unter diesen, im ganzen Volke, die Reiterstücklein des Grafen solches Aufsehen machten, daß sein Name in jedem Munde lebte, – dann müssen sie wirklich außerordentlich gewesen sein – und sie waren es!
Graf Moritz Sándor, geboren im Jahre 1805, gehört einer der ersten und reichsten ungarischen Magnatenfamilien an. Von frühester Jugend war Reiten seine größte Leidenschaft und namentlich setzte er stets einen besonderen Ehrgeiz darein, solche Pferde zu tummeln, welche kein Anderer zu besteigen wagte. Es begünstigte ihn dabei ein sehr kräftiger Körper von vollendet schönem Ebenmaß, wenngleich nur von Mittelgröße, und ein unerschütterbares Nervensystem, das in den gefährlichsten Lagen ihn niemals die Geistesgegenwart verlieren ließ. Seine Kaltblütigkeit ist zum Sprüchwort geworden. Sándor war eine merkwürdige Natur. Niemals ist Wein oder sonst ein geistiges Getränk über seine Lippen gekommen, trotzdem sein Grafensitz in Bajna sich durch verschwenderischste Gastfreundschaft sogar in Ungarn einen Namen gemacht [30] hat. Dagegen war es ihm eine Leichtigkeit, Tage lang Hunger und Durst zu ertragen oder zwanzig Stunden hindurch ununterbrochen seinen berühmten Sechserzug zu fahren, dessen Pferde so scharf in die Hand gingen, daß sie den Wagen mehr mit den Zügeln, als den Strängen zu ziehen schienen und starke Männer die Führung kaum zwei Stunden lang auszuhalten vermochten.
Eine merkwürdige Eigenthümlichkeit des Mannes war auch die, daß er bei Tage schlecht, in dunkelster Nacht dagegen ausgezeichnet gut sah, was ihm bei nächtlichen Unfällen manchmal sehr zu statten kam. Des Grafen Liebenswürdigkeit und Heiterkeit im Umgang, seine Liberalität und sein fürstlicher Reichthum machten sein Haus zu einem steten Sammelplatz der besten Gesellschaft, unter welcher namentlich die Künstler immer gut vertreten waren. Daß Sándor emsig die Pferdezucht betrieb und ein treffliches Gestüt unterhielt, war bei seiner Liebhaberei und seinem Besitz fast selbstverständlich. In den Ställen zu Bajna konnte man die schönsten, besten Thiere des In- und Auslandes sehen; hier standen auch seine Lieblingsrosse, deren Namen im Lande so berühmt und bekannt waren, wie derjenige ihres Herrn, darunter Tartar, das berühmteste von Allen. Unter den vielen Reiterstücklein, die Graf Sándor auf diesem ausgeführt hat, wollen wir einige herausheben und erzählen.
Eines schönen Morgens ritt Graf Sándor von seinem Gute Raro nach Raab. Er hatte dabei den breiten Donau-Arm zu passiren, welcher die Insel Klein-Schütt bildet; um zur Fähre zu gelangen, hätte er einen großen Umweg machen müssen; das war nicht seine Sache, er wählte den geradesten Weg und warf sich mit Tartar in den breiten, reißenden Strom. Unverzagt kämpfte das edle Thier gegen denselben; schon war das Ufer ganz nahe, hier aber auch das Wasser am tiefsten, die Fluth am heftigsten. Ihr vermochte der starke Reiter nicht zu widerstehen, sie hob ihn aus dem Sattel und er mußte das Ufer schwimmend erreichen. Tartar aber, anstatt seinem Herrn zu folgen, kehrte sofort um und schwamm die ganze lange Strecke zurück zu dem zitternd am Ufer harrenden Reitknecht, welcher nicht gewagt hatte, es dem Grafen nachzuthun. Dieser befand sich in einer keineswegs beneidenswerthen Situation auf einer einsamen Strominsel. Zwar benützte er seine Zeit und die Sonne, um die durchnäßten Kleider gründlich zu trocknen, doch ward ihm der Tag gewaltig lang, bis endlich spät der Reitknecht mit Fährleuten erschien, um den Donau-Robinson zu erlösen.
Es mußte wieder nach Raro zurückgeritten werden. Um den Weg abzukürzen, wählte der Graf eine schmale, in den Park führende Brücke, welche jedoch für Pferdehufe nicht berechnet war; in der Mitte brach Tartar durch die morschen Breter hinab in den tiefen Sumpf, aus dem er sich nur mit der größten Anstrengung rettete. Sein Reiter aber hatte das zierliche Brückengeländer erfaßt und schwebte zwischen Himmel und Erde; da dasselbe ihn nicht zu ertragen vermochte, so mußte er, Hand um Hand vorgreifend, sich zu erhalten suchen, bis es ihm gelang, mit einem Schwung auf den Unterbalken und darauf fortrutschend, an das Ufer zu kommen. Hier wartete Tartar geduldig, ward bestiegen und es war noch Zeit genug, im Vorüberreiten den kranken Obergärtner zu besuchen, vor dessen Bett im ersten Stockwerk plötzlich der Graf hoch zu Roß erschien. Das furchtbare Gepolter und der Schreck stellten den Mann sofort wieder vollkommen her.
Ein andermal ließ sich Graf Sándor sein Leibpferd Tartar gesattelt und gezäumt in das Schlafzimmer seines Ofener Palais im zweiten Stock bringen, saß daselbst auf und ritt, begleitet von seinen lustig kläffenden Hunden, gemüthlich die steinerne Haupttreppe hinab in den Hof, wo die Insassen in lautlosem Schreck seiner harrten. Aber ohne Fehltritt kamen die Beiden unten an und flogen nach dem Donauquai. Es war im Spätwinter, der breite Strom befand sich unter mächtigem Eisgang, die Kettenbrücke war damals noch nicht vorhanden. Aber Graf Sándor wollte nach Pest, und wenn er Etwas wollte, so setzte er es auch durch. Anfänglich war kein Fährmann zu finden, jeder zuckte die Achsel, wenn er den Bietenden nicht geradezu auslachte. Aber dieser erhitzte sich; „tausend Gulden!“ Diesem Zauberwort konnten die Ofener Fergen doch nicht widerstehen, ihrer sechs sprangen in die Fähre, mitten unter sie der Graf auf dem Tartar dessen Sattel er während der Ueberfahrt nicht verließ. Es war ein grausiger Anblick, dieser Kampf der tollsten Wagehalsigkeit mit den entfesselten Elementen; in riesiger Anstrengung mußten die braven Schiffer ihren Sold verdienen, alle Augenblicke schoben sich ungeheure Eisschollen vor, unter, hinter, neben dem Boote zusammen, als wollten sie es zerquetschen; das Rollen der Wasser, das Knirschen der sich reibenden Blöcke, die mit der Gewalt von Kanonenschüssen zerspringende Decke des Flusses verwirrten die Sinne und ließen das Unternehmen noch gefährlicher erscheinen, als es an und für sich schon war. Auf beiden Ufern waren daher Hunderte zusammengelaufen und harrten mit angstvoller Spannung des Ausgangs. Aber glücklich kamen die Waghälse nach unsäglicher Arbeit hinüber und zufrieden sprengte der Graf durch die ihm zujauchzende Menge.
Zunächst wollte er seinen Schwager, den Grafen Keglevich, besuchen. Wer in Pest gewesen ist, kennt die eigenthümliche Bauart der dortigen Häuser, welche einen Hof im Quadrat umgeben und deren Etagenthüren sich auf offene, säulengetragene Galerieen münden. Sándor ritt die Stiege hinauf und auf der Galerie des ersten Stocks bis vor die gerade am Ende derselben befindliche Thüre Keglevich’s, die er jedoch geschlossen fand. Jetzt war aber guter Rath theuer, denn der Gang war nur drei Fuß breit und unmöglich, das Pferd zu wenden. Da Sándor niemals aus dem Sattel stieg, um ein Hinderniß zu beseitigen, so suchte er auch jetzt, den Hengst hufen zu lassen und so verkehrt wieder zurück zu gelangen. Allein Tartar war kein Freund des Rückschritts, ward unwillig, stieg in die Höhe und machte Miene, mit seinem Reiter über das Geländer in den Hof hinab zu springen. Dieser aber wußte das Manöver des Thieres mit unnachahmlicher Geschicklichkeit zu benützen; sobald es sich wieder bäumte, wendete er es rasch auf dem Hintertheil herum, was, da die Marmorplatten der Galerie voll Glatteis waren, höchst gefährlich hätte ablaufen können, und ritt so davon. Nach Erledigung einiger dringender Geschäfte wollte Sándor wieder nach Ofen zurückkehren und begab sich in Begleitung des Grafen Szapary an die Donau. Im Begriff, in die Fähre einzureiten, schwankte diese unter dem Andrang eines Eisstoßes und Tartar fiel mit den Vorderbeinen in’s Wasser hielt sich aber noch mit der Schnauze am Schiffsrand fest bis die Schiffer den Kahn wieder genähert hatten, worauf er sich hineinschnellte; in einem Augenblick war Alles geschehen. Die Rückfahrt glich völlig dem Hinweg, nur war Tartar so ungeduldig, daß er kaum gebändigt werden konnte; noch ziemlich weit vom jenseitigen Ufer ab flog er in einem erstaunlichen Satz auf das feste Land „und mit gewalt’gem Huftritt hinter sich, wirft er das Schifflein in den Schlund der Wasser“, so daß es umschlug und wenig fehlte, den Fergen noch ein kaltes Bad zu schaffen. Wohlgemuth schlug nunmehr der Graf den kürzesten Weg zu seinem Palais ein, ritt die steile, eisbelegte Ofener Festungstreppe – schon dem Fußgänger beschwerlich – hinan und ließ den Tartar, wie gewöhnlich, auf den Hinterfüßen in den heimischen Hof tanzen.
Das waren die Thaten eines Tags; dergleichen gab es aber unzählige in Sándor’s Leben. Noch einen letzten Zug von dem Tartar: als das Pferd alt und gebrechlich geworden war, gab ihm sein Herr zum Dank für seine treuen Dienste und seine wahrhaft wunderbare Bravour das Gnadenbrod auf einem seiner Meierhöfe. Fünf Jahre lang hatte es der Graf nicht mehr gesehen; als er eines Tages kam, waren gerade die Pferde, unter ihnen der mittlerweile völlig erblindete Tartar, zur Tränke geführt worden. Laut rief der Graf den Namen und das „Hopp!“ mit welchem er ihn zu so manchem kühnen Sprung angefeuert hatte, und hellauf wiehernd flog das treue, edle Thier über den Brunnentrog hinweg, bis vor seinen Herrn und Freund, brach da nieder und verendete sofort zu dessen Füßen.
Einer der entsetzlichsten Ritte, welche Sándor jemals gewagt war der mit dem Gonos, einem Pferd seiner eigenen Zucht. Er fand, nach längerem Aufenthalt in Rom zurückgekehrt, dasselbe stutzig und verritten; es wollte durchaus nicht aus dem Stallhofe des Schlosses Bia, bis es der Graf, der darauf saß, durch Reitknechte hinauspeitschen ließ, so, daß es in blinder Wuth durchging. Es sprang zuerst über ein Bauernthor, nahm mehrere starke Umzäunungen, raste dann über Ackerfeld fort, wälzte sich, in erneuertem Koller, mit seinem Reiter in einem breiten Sumpfgraben, wobei die Kinnkette riß, setzte darauf über eine Kirchhofmauer und mähte, unaufhaltsam bockend, die hölzernen Kreuze nieder, flog wieder hinaus auf’s Feld und geradewegs einem tiefen Steinbruch zu. Umsonst wandte der Graf alle Kraft und Kunst [31] an, es abzuwenden, das tolle Thier war ganz unlenkbar geworden – und fünfzig Fuß tief hinab flogen Roß und Reiter in die aufgethürmten scharfen Felsblöcke. Beide wären unfehlbar verloren gewesen, wenn sie nicht gerade zufällig auf den aus Staub und Kies bestehenden Abraumhaufen gestürzt wären, die einzige schmale Stelle des ganzen Bruchs, wo sie nicht zerschmettern konnten, und wunderbar, Mann und Thier nahmen fast gar keinen Schaden! Kaum hatte sich der Gonos, auf dem der Graf wie festgewachsen sitzen geblieben war, aus der schweren Sandwolke herausgearbeitet, so setzte er sogleich seine rasende Flucht wieder fort, scheute an einer Brücke vor einem begegnenden Wagen, und prellte über das Geländer hinab in die Lache. Als auch diese ihn nicht abzukühlen vermochte und das Thier daraus hervor im tollsten Tempo weiter raste, blieb dem Grafen nichts übrig, als es endlich so zu dirigiren, daß es mit dem Kopf wider einen mächtigen Weidenbaum rannte und betäubt zusammenbrach. Zur Strafe für alle diese Schandthaten wurde Gonos eingespannt und fand seinen jähen Tod auf einer scharfen Fahrt von Nesmill nach Gyöngyös.
So ließen sich noch zahllose wilde Reiterstückchen aus dem Leben des Grafen Sándor erzählen. Wie er im Boot den Eisgang forcirte, so auch blos zu Pferd. Die Eisdecke der Donau stand ausnahmsweise noch zu Ende des März. Thauwetter und Frost wechselten ab; Niemand erwartete übrigens schon das Aufgehen des Eises. Allein an der oberen Donau waren starke Regengüsse gefallen, wodurch das Wasser mit einem Male ungewöhnlich rasch in’s Steigen kam. Graf Sándor ritt sorglos auf der Eisdecke des Stromes spazieren und überhörte, mit Gedanken beschäftigt, gänzlich die drei Kanonenschüsse, welche üblicherweise gelöst werden, sobald das Eis sich in Bewegung setzt. An dem Vorsprung des Blocksbergs – auf der Ofener Seite – verengert sich das Strombett; hier klemmte sich der Eisstoß. Mit furchtbarem Krachen barst die Decke, schob sich zusammen und thürmte häuserhohe Schollen auf; der Graf befand sich einsam inmitten dieser furchtbaren Scene der Zerstörung. Hier galt kein Säumen; schon mußte das Pferd von einer Scholle zur andern über breite Wasseradern springen, über Eisberge klimmen, die sich höher und immer höher und drohender aufrichteten und endlich das Thier zum Sturze brachten. Glücklicherweise trennte sich dabei der Reiter von ihm, wenn er sich auch den Arm aus der Pfanne fiel; das Pferd erreichte, ledig der Last, das nicht mehr ferne Ufer; auch dem Grafen glückte dies unter unsäglichen Anstrengungen und Schmerzen; zu Roß wäre er verloren gewesen.
Dies war das eine Mal, daß er zugab, sich in wirklicher Lebensgefahr befunden zu haben. Das zweite Mal war es der Fall, als er von seinem Schlosse Bajna nach Totis, dem Gräflich Esterhazy’schen Stammsitz, auf der englischen Stute Coquette und statt eines großen Umwegs mitten durch das Hegyer-Moor ritt. Bekanntlich sind derartige Brüche in Ungarn nicht selten; sie bestehen aus den festen sogenannten Stopfen, d. i. kleinen Grasplateaus und Morast, dazwischen oft unergründlich tiefe, brunnenartige Wasserlöcher. Ueber einen solchen Stopfen stolperte das Pferd, stürzte und warf seinen Reiter ab; dieser aber flog im Bogen mitten unter eine Heerde wilder Büffel, welche sich in demselben Augenblick ringsum aus dem Sumpfe hoben und mit rothglühenden Augen nach dem unter sie geregneten Fremdling stierten. Die Coquette machte sich glücklich davon, auch der Graf entschloß sich diesmal zum möglichst geräuschlosen Rückzug, wand sich, wie ein Aal, von Stopfen zu Stopfen und kam glücklich nach Totis; in welchem Aufzuge, mag man denken!
Ebenso geschickt wie als Reiter, war Graf Sándor auch als Rosselenker vom Bock herab. Von seinem berufenen Sechserzug werden fabelhafte Thaten erzählt. Bald fährt er trotz des Verbotes der Polizei damit über die kaum zugefrorene, spiegelglatte Donau (bei Preßburg), deren Decke sich unheimlich unter ihm biegt; bald stellt er im Prater zu Wien zwei Fiaker in geringer Entfernung nebeneinander auf und fährt mit Vieren breit gespannt zwischen ihnen hindurch, ohne sie zu berühren. In Folge einer Wette fuhr er in dreißig Stunden, ohne die Pferde ausgespannt zu haben und ohne den geringsten Schaden für dieselben, von Wien nach Ofen. Die Fahrt wurde in Wien um zwölf ein halb Uhr Nachts angetreten und den zweiten Morgen um sieben ein halb Uhr in Ofen beendigt, so daß in dieser Zeit sechsunddreißig deutsche Meilen gefahren wurden mit nur zehn Stunden Rast und Futterzeit. Mit seinen vier ausgezeichneten Schimmelponies machte er alle erdenkliche Wendungen, während ein Herr den Fuß hinter das eine Hinterrad des Wagens stellte, das sich während dessen nicht vom Platze wegbegeben durfte. Als ihm die Comitatsbehörde verboten hatte, mit dem Sechserzug zu fahren, kam er damit in den engen Hof des Comitatshauses, gab seine Erklärung ab, daß er sich an den Befehl nicht kehren werde, wendete, wie man zu sagen pflegt, auf dem Topf um und jagte davon. Nicht unbemerkt darf hier bleiben, daß Graf Sándor durch Muth und Reitergeschicklichkeit mehrere Menschenleben gerettet hat.
Auch von seinen Jagden wäre manches merkwürdige Abenteuer zu berichten. In Ungarn hetzte er den Hasen, jagte zu Pferd den Hirsch, in England ritt er mit den tollsten Fuchsjägern um die Wette und übertraf sie alle, in Tirol und Steiermark stieg er den Gemsen nach bis auf die höchsten Joche. Und stets und überall blieb ihm treu das in’s Sprüchwort übergegangene „Sándor’sche Glück“. Zwar fehlte es ihm nicht an sogenannten „Accidents“; es war sogar in Buda-Pest und Wien eine Zeitlang in der Mode oder auszeichnend, mit Graf Sándor einen „Accident“ gehabt zu haben, und nicht jeder lief für die Betheiligten glücklich ab. Er selber riß sich aber immer wieder ziemlich gut heraus. Bei den tausend Unfällen seiner wilden Reiterlaufbahn behielt er stets seine geraden Glieder, trug keine körperliche Entstellung davon. Sein linkes Bein hat er dreißig Mal aus dem Kniegelenk gefallen; dieses Schadens halber mußte er es zwanzig Jahre hindurch in eisernen Schienen tragen, die ihn jedoch nicht im mindesten hinderten, alle jene Wagnisse auszuführen, deren wir vorher gedacht haben.
Ehe noch die Schwäche des Alters es gebot, entsagte Graf Sándor seiner Leidenschaft, zog sich gänzlich vom Schauplatz der großen Welt zurück – auf welchem er, als reicher Cavalier, als hochberühmter Sportsman, zudem Schwiegersohn des seiner Zeit allmächtigen Fürsten Metternich, überall eine hervorragende Rolle gespielt hatte – um den Wissenschaften und Künsten, aber auch seinen Erinnerungen zu leben. Letztere hat er lebendig vor Augen in einer Galerie, welche kaum ihres Gleichen haben dürfte. Seit seinem achtzehnten Jahr war der Graf in enger Freundschaft mit dem Maler G. Prestel verbunden, einem geborenen Frankfurter, dessen Thierstücke ebenso seltene – da sie meist von Potentaten bestellt oder angekauft wurden – als durch Naturwahrheit und tiefes Studium ausgezeichnete Meisterwerke sind. Prestel, zugleich trefflicher Pferdekenner – er hat zum Behuf der Förderung seiner Kunst sogar Thierarzneikunde gründlich studirt – ist bei den meisten Reiterstückchen Graf Sándor’s Gefährte und Augenzeuge gewesen, hat sie skizzirt und in Oel gemalt. Dergleichen mehr oder minder ausgeführte Scizzen sind über dreihundert vorhanden, viele darunter von bleibendem Kunstwerth. Vom Jahr 1858 ab entschloß sich Prestel dazu, sie sämmtlich mittels der Photographie zu vereinigen in ein „Sándor-Album“, welches den Titel führt: „Reit-, Fahr- und Jagdereignisse aus dem Leben des Grafen Moritz Sándor. Aufgenommen, gemalt und photographisch vervielfältigt von Maler J. G. Prestel, welcher den Grafen Sándor während zwölf Jahren begleitet und mit wenigen Ausnahmen sämmtlichen Accidents beigewohnt.“
Da die anfänglich durch Andere bewirkte photographische Aufnahme der Bilder selten genügend war, so mußte der Maler sich entschließen, eine eigene photographische Anstalt blos zu diesem Zwecke in Mainz zu gründen. So ist das Sándor-Album jetzt in drei Serien bis auf einhundertfünfzig Blätter gediehen, welche nicht nur in der Composition und malerischen Darstellung, sondern besonders auch in der photographischen Wiedergabe ganz vortreffliche Leistungen zu nennen sind. Dies Album befindet sich nicht im Buchhandel, ist nicht käuflich und für jedes Blatt ist das Vervielfältigungsrecht vorbehalten. Nur zu Gunsten der Gartenlaube ist eine freundliche Ausnahme gestattet worden.
Beim kronenlosen König von Italien. Die Leser der Gartenlaube haben zwar schon zu verschiedenen Malen (zuletzt 1864 Nr. 15 und 16) Gelegenheit gehabt, einen Blick in die spartanisch-einfache Häuslichkeit der Cincinnatus von Caprera zu thun, der Befreier der beiden Sicilien bleibt aber, wenn auch die Ereignisse unserer raschfluthenden Zeit momentan seine Persönlichkeit etwas weiter in den Hintergrund gerückt haben, für immer eine so außerordentliche, gewaltige und interessante Erscheinung, daß man gern von Neuem sich bei ihm auf seinem öden Steineiland einführen läßt. Die nachstehenden Mittheilungen sind, im Auszuge den noch nicht allgemein veröffentlichten Aufzeichnungen eines Schotten Namens Mac Tear, eines persönlichen Freundes Garibaldi’s, entnommen, der Gartenlaube von einem Sohne Carl Blind’s zugegangen und werden nicht verfehlen, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
– – – Als wir uns dem Ufer von Caprera näherten – heißt es in dem Berichte, von dem wir die Schilderung von Mac Tear’s Reise nach Italien und seiner Ueberfahrt nach Garibaldi’s Insel übergehen zu können glauben – sahen wir eine Gestalt in der Nähe des Hauses sich bewegen. Bald entdeckten wir, daß es der General sei, der den Pfad herabkam, um uns entgegen zu gehen. Er stützte sich auf den Eichenstock, der, mit der Distel, der Wappenpflanze Schottlands, verziert, ihm von einem schottischen Arbeiter gesandt worden war und der, wie er sagt, jetzt sein beständiger Begleiter ist. Garibaldi empfing uns auf’s Herzlichste und sprach beim Willkommen uns seinen Dank aus, daß wir von so weit her gekommen seien, um ihn zu besuchen. Er nahm mit der freudigsten Genugthuung die warmen Freundschaftsgrüße entgegen, die ich beauftragt war, ihm von unseren gemeinschaftlichen Freunden zu überbringen, nämlich von Frau Roberts, die seinen Sohn Ricciotti in England erzogen und gerade eben den Ankauf und die Uebertragung der anderen Hälfte von Caprera bewerkstelligt hatte; von Mazzini, Louis Blanc und Carl Blind, den exilirten Repräsentanten der italienischen, französischen und deutschen Demokratie, und von Anderen. Garibaldi’s Manieren sind so offen freundlich und liebenswürdig, daß man sich bei ihm sofort heimisch fühlt und es einem zu Muthe ist, als sei man bei einem alten intimen Freunde. Dabei hat er, bei aller Einfachheit und Natürlichkeit, eine Würde und Grazie, die ihm einen wahren Adel der Natur verleiht. Er spricht, wie der ungarische General Türr, Englisch; Ricciotti, in England erzogen, spricht es wie ein Eingeborner.
Garibaldi hatte sein weltberühmtes rothes Hemd an, graue Beinkleider, keine Hosenträger, sondern um die Hüften einen mit Silber ausgelegten Ledergürtel, an welchem an silberner Kette ein Taschenmesser hing; er trug ein schwarzseidenes Halstuch, ein anderes grün-rothes, lose um die Schultern geschlagenes Tuch, dessen Zipfel auf den Rücken herabhingen und nach vorn geschlungen waren, und eine gestickte Hausmütze. Morgens und Abends hängt er einen grünen gestreiften Poncho-Mantel um. Er ist von mittlerer Höhe, breitschulterig, zart und doch kräftig gebaut, hat kleine Hände, kleine Füße, nobel geschnittene Züge, scharfe und doch milde, ehrliche Augen. Seine Stimme ist klangvoll und wohl modulirt; der Ausdruck seines Gesichtes durchgeistigt. Wenn ruhig, ein Lamm, ist er in der Action löwenkühn. Die Priester haben in Sicilien und Neapel eine Legende aufgebracht: „Der Teufel habe sich einmal an einem Engel verguckt, und Garibaldi sei die Folge des Manövers gewesen.“
Menotti, der älteste Sohn, ist ein aufgeschossener, starker junger Mann von vierundzwanzig Jahren. Er spricht etwas Französisch, aber kein Englisch. Von ruhigen, bescheidenen Manieren, drückte er sein Bedauern aus, daß unsere Unkenntniß des Italienischen und seine Unkenntniß des Englischen ihm nicht erlaube, uns die Aufmerksamkeiten zu erzeigen, die er gern zu erzeigen wünschte. Ricciotti, siebenzehn Jahre alt, ist ebenfalls ein großer junger Mann, leider etwas hinkend, da sich in seiner Jugend die Achillessehne zusammenzog, weshalb er zum Zwecke ärztlicher Behandlung in England gewesen ist. Ricciotti hat eine große, gutgewählte Bibliothek der besten englischen Autoren. Teresa, Garibaldi’s einzige Tochter, neunzehn Jahre alt, ist Signor Canzio’s Frau, der unter Garibaldi Oberst war. Es ist eine angenehme, gute und hübsche junge Frau. Sie hat zwei Kinder, wahre „Preis-Babies“.
Die ganze Haushaltung ist einzig in ihrer Art – wirklich bizarr. Mit Ausnahme von Frau Deideri, einer ältlichen genuesischen Dame, die als Haushälterin fungirt, und der Amme Teresa’s, sind keine weiblichen Dienstboten da; die Geschäfte der Köchin, der Magd, des Hausmädchens etc. werden alle von rothhemdigen Garibaldianern besorgt. Außerdem befinden sich einige Secretäre, mehrere alte Soldaten und sonstiger Anhang um Garibaldi, von denen jeder eine romantische Feld- und Gefängnißgeschichte hinter sich hat. Einer derselben war bei der Demolirung eines der Gefängnisse in Rom im Jahr 1848 anwesend, wo man in Nischen aufrechtstehende, eingemauerte Skelete gefunden hatte. Mit den Besuchern zusammen waren im Hause etwa dreißig Personen während unseres Aufenthaltes bei Garibaldi anwesend.
Es herrscht in der Haushaltung Einfachheit, doch Fülle; eine generöse Gastfreundschaft, aber ohne alle Zier. Man nimmt kein regelmäßiges Frühstück. Der General genießt gewöhnlich eine Tasse Milch oder Kaffee mit eingerührtem Ei und Hausmannsbrod; dies nimmt er um vier oder fünf Uhr Morgens. Manchmal bringt er dann einige Stunden mit Dictiren zu; meist geht er jedoch auf’s Feld oder in den Garten hinaus, um nach der Arbeit zu sehen. Beim Herunterkommen wird Jedem Morgens mit Kaffee, mit Eiern und Brod von einem rothhemdigen Ganymed aufgewartet. Dann beschäftigt man sich nach Belieben bis zum Mittagstisch um ein Uhr, wo die ganze Familie, die Gäste und die Hauptmitglieder der Haushaltung, etwa zwölf bis sechzehn, bei Tisch zusammenkommen und der General auf’s Vollkommenste den Wirth macht. Das Essen besteht gewöhnlich aus Nudelsuppe, Fleisch, Fisch, Früchten und Wein. Garibaldi selbst trinkt meist keinen Wein; er fühle sich, sagt er, stets besser ohne denselben. Die Conversation bei Tisch war lebendig, und während Garibaldi sie in Wirklichkeit leitete, schien er ihr eher zu folgen, so zuvorkommend nahm er Jedermanns Bemerkungen auf. Wir bemerkten, wie sanft und liebevoll er mit seinen Kindern sprach, wie zärtlich und ehrerbietig sie ihm zuhörten und erwiderten. Nach Tisch gingen wir Alle in’s Freie hinaus, discutirten Politik, spielten mit Mamäli, dem Kinde, streichelten Garibaldi’s schönes Araberroß, sammelten Korallen und Muscheln am Ufer und kamen um sechs Uhr wieder zum Souper zusammen, wo dieselben Speisen wie am Mittag aufgetragen wurden, nur kalt. Um sieben Uhr zog sich der General in sein Zimmer zurück. Eines Nachmittags hatten wir mit Mamäli ein Spielchen, und es war amüsant, den Krieger, der in der Geschichte unserer Zeit eine so große Rolle gespielt hat, um die Orangen- und Feigenbäume herumspringen zu sehen mit dem lieben kleinen Kinde von Caprera.
Den Abend verbrachten die Gäste mit Conversation, Alle aber gingen frühe zu Bett. An einem herrlichen, stillen Abend schlug der General vor, uns aufzumachen, um bei Feuerschein Fische mit dem Speer zu fangen. Teresa, im Bloomer-Costüm, und ihr Gemahl, Signor Canzio, Ricciotti, wir und ein Bootsknabe bildeten die Gesellschaft. Der Kahn trug einen von der Schiffsspitze abstehenden Gitterkäfig, in welchem beständig Holz brennend erhalten wurde. Das Wasser war klar; man sah beim Glitzern des Feuers bis auf den Grund. Die Fische, von dem ungewohnten Anblick erschreckt, kommen nach allen Richtungen herauf, während die Fischjäger mit fünfzinkigen, etwa zehn Fuß langen Speeren auf die Beute lauern und zustoßen. Es war ein neues, höchst aufregendes Vergnügen, und obwohl wir wenig Erfolg hatten, ergötzten wir uns sehr dabei. Ricciotti fischte einen schönen Schwamm herauf, der aber, noch ungereinigt von seiner animalischen Materie, einen gräulichen Geruch hatte.
Des Abends sang Teresa, die eine schöne Stimme hat, mit großem Effect die Garibaldi-Hymne, sodann ein Lieblingsstück des Generals aus dem Trovatore, „Il Bacio“, u. s. w., was sich auf dem Wasser in der stillen Dunkelheit bezaubernd ausnahm. Fischen ist für die Familie. Garibaldi’s eine Hauptbeschäftigung. Er besitzt im Ganzen sechs oder sieben Boote, darunter ein großes gedecktes Schiff, wie eine Yacht, und zwei offene Doppelmaster. Einst fuhr Menotti nach der anderen Seite der Insel zum Fischfang aus; es erhob sich Sturm mit Donner und Blitz; er konnte weder landen, noch zurückkehren und mußte die ganze Schreckensnacht auf offenem Boote draußen auf dem Meere zubringen. Einmal sahen wir die Korallenfischer-Flotte mit weißen ausgebreiteten Segeln nach Maddalena hinsteuern. Zwei dieser Schiffe fuhren bei Caprera an; die Mannschaft bestand aus wild und corsisch aussehenden Männern, in schmutzig-weißen Flanell gekleidet, mit nackten Armen und Beinen. Ihr Schreien und Gesticuliren war wie das von Tollhäuslern. Sie verlangten für ein schlechtes, unpolirtes Korallenstück fünfzig Francs, doch wir gingen auf einen solchen Handel mit den Piraten nicht ein.
„Der Palast des kronenlosen Königs der Italiener“ ist durchaus kein imposantes Gebäude, und wäre der Mann, der es bewohnt, nicht so anspruchslos, so könnte man diese Wohnung für ihn, der Königreiche eroberte und weggab, eine unpassende nennen. Aber Garibaldi fühlt sich hier vollkommen glücklich, was seine Person betrifft. Einen Baustyl hat das Haus nicht; Es ist ein längliches Viereck, etwa einhundert und fünfzig Fuß lang; an die eine Seite stößt der Garten. Zwei andere Häuser stehen noch dabei, ganz unsymmetrisch; eines ist zwei Stockwerke hoch, das andere nur eines, beide aber sind miteinander verbunden. Auch ein eisernes Haus ist noch da, in welchem die Secretaire und einige Andere wohnen. Dann hat es Ställe und Scheuern. Rechts ist ein geräumiges Kutschenhaus und Magazin; dort liegt auch der auf Caprera gewonnene Wein. Eine Hütte findet sich nebenan, einem schottischen Hochlandscottage ähnlich, worin Garibaldi vor sieben Jahren wohnte, als er zuerst auf die Insel kam. Wollte Jemand bei uns vorschlagen, einen Armen oder Verbrecher darin zu logiren, er müßte den „infamen“ Vorschlag sofort mit Schmach zurückziehen. Und doch verbrachte Garibaldi einige seiner glücklichsten Tage darin! In der Nähe des Hauses stehen ein paar Orangen- und Feigenbäume, auch Reben. Hinten ist eine Windmühle, um das Korn zu mahlen. Auch ist noch ein Backhaus vorhanden und ein paar kleinere Gebäulichkeiten, einige davon zum Theil aus dem Felsen gehauen. Hinter dem Garten beginnt ein enge Thälchen, etwa eine englische Viertelmeile lang; auf diesem etwas fruchtbarerern Boden hat Garibaldi fast tausend Acker Landes urbar gemacht, mehrere Meilen Granitmauer gebaut, einige Meilen Weges angelegt, was mit großen Schwierigkeiten verbunden war, da man viele Felsen sprengen mußte. Er hat mehrere Quellen gegraben, große Cisternen angelegt, hat reichlich Wasser – was aber die Moskito-Plage, die hier vorher unbekannt war, in’s Land hereingebracht hat – und ist beständig mit Verbesserungen beschäftigt. Einen eigenthümlichen Eindruck machte es mir, in einer Vorrathskammer längs der Mauer Säcke stehen zu sehen, auf denen aufgezeichnet war: „G. Garibaldi Nr. 3“, „G. Garibaldi Nr. 7“. Er sah mich lachen und schien recht ergötzt darüber, daß ich’s mir nicht zusammenreimen konnte, auf Mehl- und Macaronisäcken seinen Namen zu sehen. „Ich bin eben, sagte er, „ein Farmer, und das gehört zu meinem Geschäft.“ –
So weit der schottische Gast mit seiner echt britischen Miniaturabconterfeiung der Garibaldi’schen Häuslichkeit. In einer spätern Skizze mag aus derselben Quelle „Garibaldi im freien politischen Privatgespräch“ geschildert werden.