Die Gartenlaube (1866)/Heft 49

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[761] No. 49.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Auferstanden.
Von Paul Heyse.


In den südlichen Abhängen der Tiroler Berge, in die der Gardasee tief hineintritt, liegt ein altes Felsenschlößchen, kühn an die schroffe Bergwand geklebt, wie ein Mövennest an eine vorspringende Klippe, und so günstig gerade an die Stelle gebaut, wo die Thalschlucht eine Biegung macht und sich verengt, daß eine Handvoll entschlossener Leute mit einigen sicheren Geschützen auch heute noch wohl im Stande wäre, einem von Süden heranziehenden Corps den Paß zu verlegen. Auch tragen die alten bezinnten Umfassungsmauern, die in beträchtlicher Höhe vieleckig aufsteigen, vernarbte Spuren erbitterter Kämpfe, die freilich in der Erinnerung des Landvolkes längst erloschen sind. Nicht einmal der Name des alten Baronengeschlechts, das ehemals hier haus’te, hat sich erhalten. Wer nachfragt in einer der Steinhütten, die sparsam das Thal hinunter zerstreut unter Kastanien- und Nußbäumen liegen – auch Wein und Oel gedeiht an den Südabhängen tiefer zum See hinab – der erfährt nur, daß das einsame Schlößchen droben „das Castell“ genannt werde und einem Marchese gehöre, dessen Namen man nicht kenne, wenigstens nicht kannte in den ersten fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts, in denen sich zutrug, was ich erzählen will. Damals war, wie Jeder weiß, die Lombardei, in deren geographisches Gebiet dieses Thal schon hinabreicht, noch österreichische Provinz und Wenige ließen sich träumen, wie bald diese Perle aus der Krone des Hauses Habsburg herausgebrochen werden sollte. Dennoch sah es gerade in diesen Grenzbezirken mit der Verbrüderung oder gar Verschmelzung der Nachbarstämme übel aus. Ungastliches Mißtrauen war das Glimpflichste, dessen ein deutscher Wanderer in diesen Thälern von dem Landvolk sich zu versehen hatte. Und kein Jahr verging ohne irgend eine geräuschlos blutige That der Tücke und Feindschaft, deren Urheber zu erreichen der Arm der k. k. Justiz meistentheils zu kurz war.

Aus diesem Grunde wollte es zwischen den beiden Männern, die eines schönen Augustnachmittags den verfallnen Fuhrweg zum Castell heranklommen, zu keiner sehr ersprießlichen Unterhaltung kommen. Zwar hatte der stattliche junge Deutsche, dem der welsche Bauernbursche als Führer und Träger diente, die österreichische Hauptmannsuniform wohlweislich in Riva mit einem leichten bürgerlichen Habit und das Käppi mit einem breiten Strohhut vertauscht und sprach überdies die Landessprache so fließend, als sei er mit Wasser aus dem Gardasee getauft worden. Aber in Gang und Haltung konnte er dennoch den kaiserlichen Officier nicht verleugnen, und gerade die Civilkleidung schien seinem verdrossenen Begleiter geheime Absichten zu verrathen, die ihn noch einsilbiger machten. Er gab wenig mehr von sich, als was der junge Reisende schon wußte, daß droben im Castell ein gewisser Marchese wohne, der schon seit drei Jahren ganz menschenfeindlich mit geringer Dienerschaft dort sein Wesen treibe, Niemand bei sich sehe, als alle Sonn- und Feiertage seinen alten Beichtvater aus dem Capuzinerkloster droben im Gebirg, der dann hinabsteige, um in der Capelle des Castells die Messe zu lesen, und daß die Straße, die sie jetzt wanderten, nur von Zeit zu Zeit von einem Ochsenwagen befahren werde, der Mundvorrath für Wochen und Monate hinaufschaffe. Der Reisende forschte nach der Gemüthsart des Marchese, ob er mildthätig sei, wie er seine Diener behandle und dergleichen, erfuhr aber nur, daß er das Wild, das er auf seinen Streifzügen im Gebirg zu schießen pflege, großen Theils an die Bauern schenke, übrigens selten mit einem Begegnenden ein Wort wechsle. Er selbst, der Erzähler, wollte ihn noch nie gesehen haben.

Damit verstummte die Zwiesprach zwischen den Beiden, und der junge Mann schritt gedankenvoll in den tief ausgefahrenen Geleisen bergan, noch einmal Alles bei sich bedenkend, was er zu thun und zu sagen sich vorgenommen hatte. So jung er war, hatte er es oft genug bewiesen, daß es ihm an Muth und männlicher Entschlossenheit nicht gebrach. Und doch konnte er sich, je näher das Ziel seiner Wanderung rückte, einer unbehaglichen Spannung und Aufregung nicht erwehren. Gar zu unheimlich sah das Castell von der Höhe des Weges herab, die wenigen Fenster mit Läden dicht verschlossen, der eine Thurm an der Seite mit seinen Zinnen hoch hineingewachsen in einen breitästigen Kastanienbaum, durch dessen Zweige er argwöhnisch ins Land hinauszulugen schien, und was den seltsamsten Eindruck machte: aus beiden Seiten neben dem Hauptthore, zu dem die alte Zugbrücke steil hinanlief, standen je drei uralte Cypressenbäumchen, an der Windseite kahl und auch sonst struppig genug, die dem fensterlosen Mauerhaufen das Ansehen eines verwitterten Mausoleums gaben und jeden Lebendigen von dieser Schwelle wegzuweisen schienen.

Als nun endlich die letzte Steile erklommen war, dämmerte es bereits und die Nachtvögel fingen an, die Zinnen zu umkreisen. Der Fremde warf die Cigarre weg, die ihm längst ausgegangen war, und that einige kräftige Schläge an der festgefugten Hofthür, die er zweimal wiederholen mußte, ehe im Innern sich etwas zu regen begann. Ein hölzerner Fensterladen vor einer Art Schießscharte neben dem Thor ward geöffnet und ein Kopf kam zum Vorschein, der wenig einladend die späten Besucher angrins’te. Das Gesicht war noch jung, aber durch die Verheerungen der Blattern sehr entstellt, dazu fehlte das eine Auge und ein dicker Büschel schwarzer Haare hing über die von Entzündung geröthete [762] sternlose Augenhöhle herab. Diese ganze Seite des Gesichts schien von Schmerzen verzerrt, und die andere vor Wuth über diese Schmerzen. Mit einem kurzen scharfen Ton, der fast wie ein Bellen klang, fragte er, was man wolle; hier sei keine Herberge. – Ob der Marchese zu sprechen sei, fragte der Fremde, dem die Ungeschliffenheit des Pförtners seine ganze militärische Würde zurückgab. – „Nein,“ war die Antwort. Und damit wollte der Einäugige den Laden wieder vorschieben, als ein paar Worte, die der Bauer, dem Reisenden unverständlich, hinauf rief, den widerwilligen Menschen stutzig zu machen schienen. Er verlangte den Namen des Fremden zu wissen, und als dieser seine Karte in die Mauerlücke reichte, verschwand er alsbald, um nach zehn Minuten das schwere Portal mit einem großen Schlüssel aufzuschließen.

„Der Herr „Marchese will den Herrn Capitän empfangen,“ sagte er, auch jetzt mit sichtbarem Widerwillen. „Du da bleibst draußen!“ fuhr er den Bauer an.

„Und das Gepäck?“ fragte der Bursch, der den Mantelsack des Reisenden und einen Kasten mit Instrumenten einstweilen auf der Zugbrücke niedergelegt hatte.

„Trag’s in den Hof hinein,“ befahl der Officier, „und warte dann hier draußen, bis ich zurückkomme.“

Es war ihm befremdlich, daß der Bursch nicht einmal in den Hof treten sollte, und doch traute er ihm selbst nicht genug, um ihn unter vier Augen mit dem Gepäck vor dem Thor zurückzulassen. Er sah, wie sorgfältig der Einäugige die Thür wieder hinter ihnen verschloß, und von Neuem überlief ihn ein räthselhaftes Unbehagen, als er sich nun in dem öden Burghof umsah und den Hall seiner eignen Schritte an den kahlen Mauern vernahm. Unwillkürlich faßte er in die Tasche nach seiner doppelläufigen Pistole und ließ den schweigsamen Pförtner vorangehen. Es war dunkler hier im Schatten der hohen Zinnen, als draußen in der Schlucht. Zum Ueberfluß raubte der Wipfel einer hohen Platane, die mitten im Hof sich über einem Ziehbrunnen wölbte, ein großes Stück des Himmels. Zahllose Vögel nisteten hier und schwirrten plötzlich durch einander, als die Männer über die Steinplatten gingen. Sie schienen es nicht gewohnt, um diese Zeit Menschentritte zu hören. Dann sah der Fremde noch, während er seinem Führer zu einer schmalen Thür in der Ecke des Hofes folgte, ein hohes alterthümliches Erzgitter, das einen kleinen Garten verschloß. Späte Rosen und Cypressen wuchsen da, und ein Feigenbaum, der sich durch das Gitter hinausgezweigt hatte, gab Zeugniß dafür, daß diese Thür seit vielen Jahren nicht mehr geöffnet worden war und ungestört mit ihren Eisenstäben zum Spalier dienen konnte.

Um so mehr überraschte es ihn, als er das Innere betrat, dort keine Spur von Vernachlässigung zu finden. Die Stufen, die er hinangeführt wurde, waren sorgfältig gekehrt, die engen Gemächer einfach, aber wohnlich ausgestattet, die Scheiben der kleinen Fenster blank geputzt und seidene Vorhänge davor, die seinem flüchtigen Blick durchaus nicht hundertjährig erschienen. Er sah jetzt auch, daß der einäugige Diener in saubern Kleidern steckte, in einer jägermäßigen Livree, ein großes hirschfängerartiges Messer mit Perlmuttergriff umgegürtet, und bemerkte, daß er trotz seiner schweren Nagelschuhe leise auftrat. Zwei bis drei Vorzimmer im ersten Stock durchschritten sie, alle winklig und eng; dann öffnete der Diener ein größeres Gemach und blieb, stumm hineindeutend, an der Schwelle stehen.

Als der junge Fremde eintrat, stand eine hohe vornehme Gestalt von einem Schreibtisch auf, der, ganz mit Büchern und Papieren bedeckt, eine tiefe Fensternische ausfüllte und noch den letzten Tagesschein empfing. Im Uebrigen war das gewölbte Zimmer schon so dunkel, daß man an den hohen Büchergestellen, die fast alle Wände bedeckten, kaum mehr die goldgedruckten Titel auf den Einbänden lesen konnte. Auch auf dem Gesicht des Schloßherrn, als er sich jetzt dem Fenster ab- und dem Eintretenden entgegenwandte, konnte man das Spiel der Mienen nicht mehr deutlich unterscheiden, – wenn überhaupt diese festen Züge viel von den Regungen des Innern verriethen. Die stark ausgearbeitete Stirn, von schlichten, schon etwas angegrauten Haaren umrahmt, schien ein undurchdringlich fester Wohnsitz des Gedankens und Willens. Darunter Augen, von großer Schönheit und einem ruhigen Glanz, durch lange Uebung dazu gewöhnt, Alles zu sehen und nichts zu verrathen. Der untere Theil des bartlosen Gesichts wäre Niemand weder im Guten noch im Bösen aufgefallen, so wenig wie Haltung und Geberde des ganz in Schwarz gekleideten Mannes, der mit gekreuzten Armen unbeweglich am Tische lehnte und die Verbeugung des Fremden mit kaum merklichem Kopfnicken erwiderte.

„Ich habe um Verzeihung zu bitten, Herr Marchese,“ sagte der junge Officier, „daß ich Ihnen zu so später Stunde eine Störung bereite. Da ich meinen Diener krank in Riva zurücklassen und einen fremden Burschen annehmen mußte, gab es allerlei Aufenthalt unterwegs. Auch rechnete ich darauf, in dem Dorf unten am Ausgang des Thals ein passendes Quartier zu finden, und hätte Ihnen dann morgen erst meinen Besuch gemacht. Ich fand aber so unfreundliche Gesichter und so abscheulichen Schmutz in jenen Hütten, daß selbst meine soldatische Abhärtung davor zurückscheute. Und so entschloß ich mich –“

Der Marchese unterbrach ihn, indem er einen Sessel mitten in’s Zimmer schob und ihn mit einer stummen Handbewegung dem Besucher darbot. Dann nahm er selbst seine Stellung am Tisch wieder ein, die Augen ruhig auf den Redenden geheftet.

„Ich will mich kurz fassen,“ fuhr der Fremde fort. „Was mich zu Ihnen führt, ist nicht eine persönliche Angelegenheit, sondern ein Auftrag meines Vorgesetzten. Ich bin der Hauptmann Eugen von R. aus dem Generalstabe des Feldmarschalls Radetzky, der, wie Sie wissen, gegenwärtig in Verona sein Hauptquartier hat. Schon längere Zeit war die Rede davon, an dieser Seite des Sees ein befestigtes Fort anzulegen, um die Pässe zu sichern, die durch Judicarien nach Norden führen. Dabei richtete sich die Aufmerksamkeit vorzüglich auf dieses Thal, das alle natürlichen Bedingungen vereinigt, um militärischen Operationen einen sicheren Stützpunkt zu bieten. Sie selbst, Herr Marchese, haben im piemontesischen Heer mit Auszeichnung gedient, und so bedarf es Ihnen gegenüber keiner langen technischen Erörterung, um die Wichtigkeit dieses Punktes, vor Allem Ihres eigenen Schlosses, Ihnen darzuthun. Es ist mir nun der Auftrag geworden, zunächst die alten Generalstabskarten dieser Gegend einer genauen Revision zu unterwerfen und einige andere Punkte auf ihre fortificatorische Bedeutung zu untersuchen, dann aber Ihnen, Herr Marchese, die Frage vorzulegen, ob und unter welchen Bedingungen Sie sich entschließen würden, Ihren Besitz an die Regierung des Kaisers abzutreten. Sie sehen, daß Sie es mit einem Soldaten zu thun haben, der gerade auf sein Ziel losgeht. Ich habe gebeten, mich des ehrenvollen Auftrags ganz zu überheben, wenn es die Absicht sei, auf diplomatischen Umwegen unsern Zweck zu erreichen. Erst als man mir Vollmacht gab, ohne Rückhalt mit Ihnen zu verhandeln, übernahm ich diese Mission ohne Bedenken.“

Eine kleine Pause trat ein. Der Fremde hörte das Knistern der Nägelschuhe draußen auf den Steinplatten, mit denen das Vorgemach ausgelegt war. Offenbar stand der Einäugige horchend an der Thür.

„Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Herr Capitän,“ sagte endlich der Marchese. „Lassen Sie mich eben so offen Ihnen erwidern, daß ich allerdings nicht gesonnen bin, dieses Haus zu verkaufen, zu welchem Zweck und an Wen es auch immer sei. Ich kenne die Gesetze Oesterreichs nicht genau genug, um zu wissen, ob die kaiserliche Regierung sich erlauben darf, mich mit Gewalt aus meinem Eigenthum zu entfernen. Jedenfalls bin ich entschlossen, dies abzuwarten.“

Das Gesicht des Fremden überflog eine leichte Röthe. „Sie täuschen sich, Herr Marchese,“ erwiderte er, indem er aufstand. „Man schätzt Ihren Namen und Ihre Verdienste zu sehr, um sich gegen Sie aller Rechte zu bedienen, die das Expropriationsgesetz dem Staat vielleicht an die Hand gäbe. Vielleicht, sage ich; denn auch ich weiß nicht, wie klar ein solcher Fall, wie der Ihrige, vorgesehen ist. Wenn diese Ablehnung unwiderruflich ist, so wird der Generalstab die Idee, dieses Castell auszubauen und mit neuen Werken zu befestigen, alsbald fallen lassen. Auch dies Ihnen zu gestehen, habe ich die Erlaubniß. Aber ich muß zugleich bemerken, daß damit der Plan, das Thal überhaupt zu befestigen, keineswegs aufgegeben ist. Wenn meine Untersuchungen mich etwa auf einen Punkt oberhalb Ihres Schlosses führen sollten, der geeignet schiene, so wäre es meine Pflicht, in diesem Sinne Bericht zu erstatten. Sie, Herr Marchese, haben sich seit einigen Jahren in diese Einsamkeit zurückgezogen. Ich muß es Ihnen anheimgeben, ob dieser Wohnsitz noch dieselben Reize für Sie [763] haben wird, wenn das Geräusch eines Festungsbaues und die Anwesenheit einer Besatzung die Physiognomie der Gegend verändert. Für den Fall, daß diese Rücksicht auf Ihre Entschlüsse von Einfluß wäre, habe ich den Auftrag, Ihnen die annehmlichsten Gebote zu machen, die den Schätzungswerth Ihres Besitzthums um ein Bedeutendes übersteigen.“

Er schwieg und suchte auf dem beschatteten Gesicht des Marchese vergebens den Eindruck zu erspähen, den seine Worte gemacht hatten. Mit derselben etwas dumpf klingenden, aber gelassenen Stimme, wie vorhin, antwortete Jener:

„Sie werden mich verpflichten, mein Herr, wenn Sie alle weiteren Verhandlungen über diese Sache sich ersparen. Ich wiederhole, daß ich hier zu bleiben und das Weitere abzuwarten gedenke. Wenn ich Ihnen persönlich irgend einen Dienst leisten kann –“

„Nun wohl, Herr Marchese,“ nahm der junge Mann das Wort. „Ich bin allerdings in der Lage, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten. Nach Ihren Erklärungen ist es doppelt nothwendig, daß ich einige Tage in der nächsten Nachbarschaft zubringe, Messungen anstelle und Aufnahmen mache. Ich habe Ihnen schon gestanden, wie schwer ich mich entschließen würde, mir bei dem Landvolk Quartier zu verschaffen, abgesehen von der Unsicherheit, in der sich dort meine Habseligkeiten und Papiere befänden. Auch Ihnen, Herr Marchese, bin ich kein willkommener Gast. Aber in dem Vertrauen, daß Sie den Menschen von seinem Amt werden zu trennen wissen, wage ich es dennoch, Sie um Gastfreundschaft für einige Tage anzugehen. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß ich mich in Allem Ihrer Hausordnung fügen und mit dem bescheidensten Winkel dieses Schlosses mich begnügen werde, der ja ohnehin kaum anders als für die Nacht mir Obdach gewähren soll.“

In diesem Augenblick trat der Einäugige herein, näherte sich mit dem sichtbaren Bemühen, eine einfältige Miene anzunehmen, seinem Herrn, und sagte im unverfälschten mailändischen Dialekt: „Der Bauer, der den Herrn Capitano hergeführt hat, will nicht länger warten. Er sagt, er müsse vor Mitternacht wieder zu Hause sein.“

Die kaltblütige Frechheit, mit welcher der Mensch, der nicht aus dem Vorzimmer gewichen war, die offenbare Lüge vorbrachte, empörte den Fremden. Um so freundlicher ward er berührt, als der Marchese, immer noch ohne seine Stellung zu verändern, nach einem kurzen Bedenken sagte:

„Schick’ ihn nach Hause, Taddeo. Der Herr Capitän bleibt im Castell. Du wirst ihm sogleich das Thurmzimmer aufschließen und ein Bett herrichten. Sorge, daß er sich nicht über Dich zu beklagen hat. Sie, mein Herr,“ fuhr er zu Eugen gewendet fort, „muß ich bitten, vorlieb zu nehmen. Mein Haus ist nicht auf Gäste eingerichtet, Sie werden Vieles vermissen, was zur Bequemlichkeit nöthig und erwünscht wäre. Und ferner bitte ich, es mir nicht übel zu deuten, wenn ich an meinen zurückgezogenen Gewohnheiten nichts ändere und es Ihnen selbst überlasse, in meinem Hause den Wirth zu machen. Im Uebrigen freut es mich, einem so geradsinnigen Manne und wackern Officier, wie ich in Ihnen kennen gelernt, einen kleinen Dienst erweisen zu können. Gute Nacht, Herr Capitän!“

Bei diesen Worten verneigte er sich leicht gegen seinen Gast, ohne doch die Hand anzunehmen, die dieser Miene machte, ihm darzubieten. Vielmehr wandte er sich zu dem Diener, der wie versteinert bald seinen Herrn, bald den Fremden anstarrte, und sagte ihm halblaut einige Worte im Dialekt, auf die der Bursche sofort seine Haltung änderte, ein paar Mal hustete, das einzige Auge blinzelnd zudrückte und dann mit raschen Katzentritten voraneilend dem Gast die Thür öffnete. Auf der Schwelle rief ihn sein Herr noch einmal zurück, um ihm mit halber Stimme weitere Befehle zu geben. Dann kam er eilig dem Fremden nach, zündete im Vorzimmer eine kleine Laterne an, die auf dem Sims des Kamins gestanden hatte, und leuchtete ihm die Treppen hinunter über den Hof, wo es inzwischen völlig Nacht geworden war, nach dem alten Thurmgeschoß, das finster aus dem Seitenflügel hervortrat. Eine eisenbeschlagene Thür ging kreischend auf, und als der Fremde die steilen Wendeltreppen erklomm, über die das rothe Licht der Laterne trübe hinflackerte, bereute er einen Augenblick, daß er nicht lieber in einer niedrigen Winzerhütte sich zu Gast gebeten, als hier oben in den ellendicken Thurmmauern, die ihn kühl und schaurig wie Kerkerwände umschlossen.

Doch fiel dies Gefühl von ihm ab, als er droben im zweiten Stock das Zimmerchen betrat, das ihn beherbergen sollte; Es war ein achteckiger, leicht überwölbter Raum mit zwei tiefen Fensternischen, an der einen Wand ein Himmelbett im besten Stil der Renaissance, Tisch, Sessel und Schrank mit Schnitzwerk aus derselben Zeit verziert, eine braune Vertäfelung, die in halber Mannshöhe an den Mauern herumlief, die Decke leicht mit rosenstreuenden Bübchen, Vögeln und Morgenwolken bemalt. Alles wohlerhalten und, bis auf den dumpfen Steingeruch des verschlossenen Raums, durchaus nicht kerkermäßig. Als er vollends die kleinen Fenster geöffnet hatte, vor denen sich die Zweige voll echter Kastanien ausbreiteten, fühlte er mit der reinen Nachtkühle ein unverhofftes Behagen hereinströmen. Er stand, während der Diener ab und zu lief, sein Gepäck heraufbrachte und Bett und Zimmer zurüstete, wohl eine Stunde lang in der Nische und weidete sich an dem Blick die Schlucht hinunter, die sich mehr und mehr im Mondschein lichtete. Ganz unten in der Tiefe, jenseits der Olivengärten und Reben, glänzte ein schmaler Silberstreif, in dem er eine Bucht des Sees wiedererkannte, die weit nach Westen austritt. Das Thal war völlig still, aus keinem der weißen Häuschen, die hier und da verloren aus dem Grün der Wälder vorschimmerten, kam ein Lichtschein oder eine Rauchsäule. Der Bach, an dessen Bett ihn heut der Weg entlang geführt hatte, war bis auf den Grund ausgetrocknet. Nur das Mondlicht schien in dem steinigen Bette hinabzuschwimmen und seinen glänzenden Strom unten in den See zu ergießen. Es lag ein Zauber in dieser einsamen Himmelspracht, daß der junge Fremde die Blicke nicht davon losmachen konnte. Erst als er die Thür des Zimmers zuwerfen hörte, sah er sich nach den Zurüstungen um, die der schweigsame Schleicher inzwischen beendet hatte. Eine dreiarmige Messinglampe stand auf dem Tisch und beschien ein einladendes Abendmahl, kaltes Wildpret, Brod, Oliven und Wein in einer geschliffenen Flasche.

Im Hintergrunde war das Bett mit glänzenden Linnen aufgeschlagen, der Mantelsack auf einen Sessel gestellt, das Becken zum Waschen mit frischem Wasser gefüllt, nichts fehlte, um es dem Gast so wohnlich zu machen, wie man es irgend in einer alten Bergveste bei plötzlichem Ueberfall erwarten kann. Und dennoch überkam den jungen Fremden ein seltsames Gefühl, als er allein sich am Tische niederließ und denken mußte, wie unter demselben Dache ein ebenso Einsamer vielleicht in demselben Augenblick sich zu Tisch setzte. Seinem offenen und heiteren Wesen lag sonst alles neugierige Grübeln fern. Er war mit Leidenschaft Soldat und die strengeren militärischen Wissenschaften, die er trieb, füllten ihn so völlig aus, daß er bisher im Leben blind an Vielem vorübergegangen war, was seinen gleichalterigen Cameraden wichtig und anziehend erschien. Er entsann sich jetzt, den Namen des Marchese früher schon gehört zu haben, auch daß man über sein plötzliches Verschwinden aus der Welt Glossen gemacht, war ihm noch erinnerlich. Nur pflegte er, wenn das Gespräch sich um Menschen drehte, die er nicht kannte, kaum mit halbem Ohr zuzuhören und im Stillen irgend einem technischen oder mathematischen Problem weiter nachzudenken. So hatte er auch die Topographie dieser Bergschluchten bis in die entlegensten Winkel hinein besser im Kopf, als die Sagen und Gerüchte, die über den Herrn des Castells von Mund zu Mund gingen. Nun aber war von dem kurzen Gespräch, das er mit dem Einsilbigen gepflogen, ein Nachgefühl in ihm zurückgeblieben, wärmer als bloße Neugier. Er hätte viel darum gegeben, jetzt ihm gegenüber zu sitzen und ihm in herzlichen Worten zu danken, daß er ihm, dem Fremden, der ihm fast als ein Feind erscheinen mußte, gleichwohl die gastlichste Aufnahme gegönnt habe.

Unter solchen Gedanken hatte er die Flasche, die vor ihm stand, hastiger, als seine Art war, geleert, und der schwere lombardische Wein fing an, ihm alle Adern zu entflammen. Er sah sich vergebens nach Trinkwasser um und ergriff endlich die leere Weinkaraffe, um hinabzusteigen und sie selbst am Brunnen unten zu füllen. Wie erstaunte er, als er die schwere Thür des Thurms verschlossen fand und auch auf sein Pochen und Rufen Niemand antwortete! So war er wirklich ein Gefangener und vielleicht alle diese freundlichen Anstalten zu seiner Bewirthung nur Trugmittel, ihn in Sicherheit zu wiegen. Freilich verwarf er diesen Argwohn schon im nächsten Augenblick, um so mehr, als er bemerkte, daß sein eigenes Zimmer von innen mit Schlüssel und Riegel sich fest [764] verwahren ließ. Aber ehe er zu Bette ging, hielt er es doch nicht für überflüssig, sein Nachtquartier noch genauer zu untersuchen. Er konnte nichts Verdächtiges bemerken, bis ihm einfiel, den hohen schwarzen Schrank von der Wand abzurücken. Eine verschlossene Thür kam zum Vorschein, in der freilich ebenfalls von innen der Schlüssel steckte. Doch einmal aus seiner Sicherheit herausgestört, hielt er es für durchaus nothwendig, die Thür zu öffnen und in das Nebengemach hineinzuleuchten.

Ein niedriger, langgestreckter Saal that sich auf, zu dem einige Stufen hinabführten. Als er, vorsichtig schreitend, ihn ganz durchmessen hatte, überzeugte er sich, daß nirgend ein Ausweg war, als durch sein kleines Thurmzimmer. Die Thür gegenüber war fest vermauert, der ganze Raum kahl und ohne alle Ausstattung, drei kleine Fenster, die nach der Thalseite gingen, mit Läden verschlossen, die in ihren rostigen Haspen sich nicht mehr bewegten, auf der Seite des Hofes drei andere Fenster mit staubüberzogenen, runden Scheiben. Der Saal schien viele Jahrzehnte schon nicht mehr betreten worden zu sein, denn der Holzwurm in der getäfelten Decke hatte Zeit gehabt, kleine Häufchen gelben Staubes auf dem Estrich anzusammeln. Es reizte den Fremden, eine der bleigefaßten Scheiben zu öffnen. Aber die plötzlich hereinwehende Nachtluft verlöschte ihm die Lampe, und so stand er im Finstern und sah in den Hof hinab nach dem Brunnen, an dem er gern sein glühendes Blut gekühlt hätte. Unten war Alles ganz still; die Platane warf ein dichtes Schattennetz über die Steinplatten, während ihr Wipfel in Mondschein getaucht war. Auch das Stück des Gartens, das er durch’s Gitter übersehen konnte, lag hell beschienen; er konnte deutlich die Rosenbüsche aus den schwarzen Cypressen vortauchen sehen. Das Alles erschien traurig und unheimlich, und eben wollte er das Fenster wieder schließen, um endlich im Schlaf alle Schauer dieses Ortes loszuwerden, als er durch eine Lücke im Gezweig der Platane einen Lichtschimmer bemerkte, der aus einem niedrigen Fenster des Erdgeschosses ihm gerade gegenüber hervordrang. Auch dieses Fenster war mit hölzernen Läden verschlossen, aber ein breiter Ausschnitt im oberen Theil, der wohl bei Nacht frische Luft einlassen sollte, ließ das Zimmer, das eine Lampe erleuchtete, bis in die halbe Tiefe übersehen. Eugen’s scharfes Auge erkannte deutlich einen runden Tisch in der Mitte, der ein einzelnes Gedeck trug, wie auch ein einzelner rohrgeflochtener Sessel davorstand. Ein altes Weib mit einem gelben, mürrischen Gesicht ging ab und zu, die Zurüstung des Mahls zu vervollständigen. Sie stellte eine gefüllte Wasserflasche und einen Teller mit Feigen auf den Tisch und schnitt von einem groben Brode ein Stück herunter, das sie in ein Körbchen legte. Dann trug sie eine dampfende Schüssel auf und verschwand wieder, wie um zu melden, daß das Mahl aufgetragen sei.

Diesen Augenblick benutzte der Fremde, um ein Fernrohr hervorzuziehen, das er stets bei sich trug. Er hatte es kaum vor sein Auge gestellt und auf das Fenster gerichtet, als das Weib wieder eintrat, diesmal aber nicht mehr allein. Doch statt des Hausherrn, den Eugen zu sehen erwartete, folgte ihr mit langsamen, halb nachtwandlerischen Schritten eine junge Frau, ganz in Grau gekleidet, das reiche blonde Haar einfach gescheitelt und im Nacken in einen schweren Knoten zusammengebunden, Gesicht und Hände von einer so durchsichtigen Blässe, daß die Haut der Alten dagegen wie mit einer dicken Tünche überklebt schien. Dem Späher aber fuhr es blitzschnell durch den Kopf, daß er dies schöne junge Gesicht schon irgend einmal vor Jahren gesehen haben müsse, wo es noch in Lebensfreude glühte. Jetzt war es wie von einer hoffnungslosen Krankheit gebleicht und verklärt. Die Augen sahen zerstreut und müde vor sich hin; keine Miene verrieth, ob sie das hörte, was die Alte mit eifrigen Geberden und heftigem Kopfnicken an sie hinredete. Sie hatte sich mechanisch an den Tisch gesetzt und zugesehen, wie ihre Dienerin ihr aus der Schüssel vorlegte. Es schien die landübliche Polenta zu sein; der Fremde konnte deutlich bemerken, daß die Alte ihrer jungen Herrin zuredete, zu essen, und das Gericht ihr anpries. Aber schon nach dem ersten Kosten legte sie den Löffel hin und schob den Teller zurück. Sie zerschnitt dann mit einem kleinen silbernen Messer das Brod und brach eine der purpurrothen Feigen auf. Auch davon genoß sie kaum einen Bissen, so sehr die Alte in sie drang. Ihre Augen waren starr in die Flamme des Lichts versenkt, das auf dem schneeweißen Tischtuch vor ihr stand. Endlich schienen sie überzugehen. Sie fuhr sich mit ihrer blassen schmalen Hand über die Stirn und stand hastig auf. Gegenüber an der Wand lehnte ein Betschemel, über dem ein schwarzes Crucifix hing. Da warf sie sich nieder und lag lange still, das Gesicht in beide Hände gedrückt.

Die Alte warf einen bekümmerten Blick gegen die Zimmerdecke und machte sich kopfschüttelnd daran, den Tisch wieder abzuräumen. Sie war längst damit fertig und hatte sich mit einer Näharbeit auf einen Sessel gekauert, als ihre Herrin erst vom Knieen sich erhob, das schöne junge Gesicht nur noch steinerner und trostloser. Nun begann die Alte, ihr etwas zu erzählen, wobei sie mehrfach nach dem Thurme hinüberdeutete. Offenbar sagte sie ihr, daß ein Gast im Castell eingekehrt sei, und schien Betrachtungen daran zu knüpfen, die ihr selbst von der größten Wichtigkeit waren. Aber die junge Frau sah in sich versunken zu Boden und öffnete die Lippen zu keinem Wort. Plötzlich ging sie vom Tisch weg und schien das Zimmer zu verlassen. Nun packte auch die Alte rasch ihre Arbeit zusammen und trug die Lampe vom Tische weg. Im Nu war unten Alles dunkel, wie in einem Guckkasten, wenn der Schieber vorgeschoben wird, und der fremde Zuschauer harrte vergebens mit klopfendem Herzen über eine Stunde, ob die Erscheinungen drunten nicht von Neuem auftauchen wollten. Nur hinter dem Gitterthor des Gärtchens glaubte er einmal die Gestalt der Alten sich bewegen zu sehen. Auch das kam nicht wieder, und er entschloß sich endlich seinen Posten zu verlassen und in sein Thurmgemach zurückzukehren.

Der Mond schien so hell herein, daß es überflüssig war, die Lampe wieder anzuzünden. An Schlaf aber konnte er noch nicht denken. Mit heißer Stirn und fiebernden Gedanken stand er lange am offenen Fenster und sah in das tiefe Thal hinab. So schön – so jung – und warum hier eingekerkert? sagte er vor sich hin. Es fiel ihm wieder ein, wo er ihr einst begegnet, wenn sie es überhaupt war. Vor fünf Jahren war’s im Hause eines französischen Generals, der einen Winter in Venedig zubrachte und auf einem Ballfest die Blüthe der deutschen und italienischen Gesellschaft versammelt hatte. Sie erschien damals mit ihrer Mutter, einer hohen, ernsthaften, allgemein sehr geachteten Dame, sie selbst noch im ersten Aufblühen, nicht über siebenzehn Jahre alt, Gestalt und Stimme und der lachende Ausdruck ihrer schwarzen Augen so unwiderstehlich, daß der junge Artillerie-Lieutenant, der sonst mit seiner Gleichgültigkeit gegen das schöne Geschlecht geneckt wurde, den ganzen Abend nur Augen für die junge Lombardin hatte. Es gelang ihm aber nur einmal, einen Tanz von ihr zu erhalten. Ein junger mailändischer Graf, ihr Vetter, hatte sich zu ihrem Ritter aufgeworfen und wich ihr selten von der Seite, und sie schien die Huldigung ihres schönen, etwas übermüthigen Landsmannes allen andern Bewerbungen vorzuziehen. Mit Eugen hatte sie nur wenig Worte gewechselt, genug, daß ihn die nächsten Wochen ihre Stimme und ihre Augen überall verfolgten. Dann sah er sie noch einmal am Tage, als sie mit ihrer Mutter und eben jenem Vetter in eine Gondel stieg. Er grüßte sie ehrerbietig; sie dankte, wie man einem Unbekannten dankt, darauf hörte er bald, daß sie Venedig verlassen habe und nach Mailand zurückgekehrt sei.

Welche Schicksale waren inzwischen über sie hereingebrochen und hatten das Roth von ihren Wangen geschreckt und die Augen um ihren Glanz bestohlen? Fünf Jahr nur – demnach konnte sie jetzt nicht über zweiundzwanzig Jahre alt sein. Und doch war ihr Mund schon so streng geschlossen, wie es ihrem Tänzer damals an ihrer Mutter aufgefallen war. Und wie kam sie in diese Wildniß? In welchem Verhältniß stand sie zu dem Herrn des Hauses, der sie zu hüten schien, wie man sein böses Gewissen oder seine tödtliche Krankheit vor den Blicken der Welt verbirgt? War es ihr Gatte, oder hatte er sie gar im Wahnsinn einer hoffnungslosen Leidenschaft in dies feste Schloß entführt, wie ein Raubritter aus dunkler Vorzeit, und ließ sie hinschmachten, da ihr Stolz und Abscheu nicht zu besiegen waren? Er rief sich die vornehm sichere Gestalt des Schloßherrn zurück und verwarf augenblicklich den Gedanken an ein so abenteuerliches Verbrechen, aber in der Lösung des finsteren Räthsels kam er darum nicht weiter.

(Fortsetzung folgt.)



[765]
Der Pfadfinder des Meeres.
Von M. M. v. Weber.


Wer das Wissen liebt, der liebt auch die Menschheit. Jede große Entdeckung, jedes Auffinden neuer Naturkräfte, neuer Gesetze ist auch das Aufschließen neuer Pfade der Humanität. Wie ein Strahlennetz gehen sie aus vom Wirken großer Männer, die Welt immer dichter mit den Wegen einspinnend, die zur Entlastung von Sclavenarbeit, zur Milderung der Gefahr bei redlicher Thätigkeit, zur Verbreitung des erlösenden Gedankens führen. Die schaumigen Furchen, die unsere Dampfer im Meere ziehen, unsere Eisenstraßen, unsere Telegraphenkabel sind nur Verkörperungen der Wege, welche echte Liebe zur Menschheit geht.

Wenn der Blitz an der Wetterstange herabgeschmettert ist; wenn aus dem nächtigen, sturmaufgewühlten Meere die zitternden Wechsellichter der Leuchtthürme am Horizonte auftauchen; wenn in der beängstigenden Luft des tiefen Kohlenschachtes die bläuliche Flamme der schlagenden Wetter harmlos das Drahtnetz der Davy’schen Sicherheitslampe füllt: da fühlen wir uns von der Nähe des Geistes der Humanität gewaltig erschüttert. Denker und Entdecker erscheinen uns als die wahren Apostel des erquickenden Glaubens an den Fortschritt der Welt nach oben.

Von jeher hat sich im Verkehre mit dem völkerverknüpfenden wie völkerscheidenden Meere und dem damit untrennbar verbundenen Ocean der Luft die naturbesiegende Menschenkraft am weidlichsten geübt. Bisher aber beschäftigte uns fast ausschließlich die Beschaffenheit der Oberfläche und der Untiefen und Küsten des Meeres, jetzt bedürfen wir auch der Kenntniß des tiefen Grundes desselben, auf dem wir unsere Telegraphenkabel führen wollen. Der Pfade sind überall für Wohlfahrt und Freiheit, in den Strömungen des Meeres, in den Winden des Himmels, in den dunkeln Tiefen der Gewässer, aber die, welche sie fanden und ebneten, haben jederzeit zu den besten und stärksten der Menschen gehört. Der Blick auf einen solchen soll uns heut beschäftigen.

Jedem Gebildeten, der mit einiger Aufmerksamkeit die Entwickelungsstadien der größten technischen That unserer Zeit verfolgt hat, durch die dem Gedanken unter den Strömen des Oceans, unter dem Gewimmel seines Lebens hindurch, auf der ruhigen todesstillen Fläche seines Grundes hin, ein Pfad gebahnt worden ist, auf welchem er in Augenblicken den Raum zwischen Continenten überspringt, deren einen der Tag umleuchtet, während den andern tiefe Nacht deckt, ist der Name des Lieutenant Maury von der amerikanischen Marine gegenwärtig. Er war es, dessen jahrelange, mühselige und gefährliche Arbeiten das Terrain, fast meilentief unter der spiegelnden, brausenden Oberfläche des Meeres, erforschten, auf dem der neue Weg des Geistes gebettet werden konnte. Fünfzehn Jahre lang rollte, während unzähliger Kreuz- und Querfahrten auf dem gefährlichsten, aber auch für die Culturwelt wichtigsten der Oceane, dem atlantischen, sein rastloses Senkblei in die Tiefe, die Formation und Beschaffenheit von dessen Boden erforschend. Wer die unzähligen, auch die zäheste Geduld ermattenden Schwierigkeiten kennt, die sich mit Sondirungen im tiefen Meere verknüpfen, wird das Verdienst der Arbeiten ermessen, die ein vollständiges Reliefbild des ewig unsichtbaren Oceangrundes vor das Auge der Welt legten. Bei den hier in’s Spiel kommenden Tiefen, in deren grüne Nacht das leuchtende Gebilde des Montblanc, das uns den Himmel zu tragen scheint, scheitelrecht eingesenkt werden könnte, dauert es stundenlang, ehe das centnerschwere Senkblei, seine Leine nach sich spinnend, den Grund erreicht, halbe Tage lang, ehe es wieder eingewunden werden kann. Die Theilchen des Meeresgrundes, die in der untern, halb mit Talg gefüllten Höhlung des Senkbleies hängen geblieben sind, deuten mit Muschel- und Korallenbröckchen, mit Kieselsandkörnern und Schlammparcellen auf die physische Natur des Grundes hin. Eine unbekannte Strömung, ein aufspringender Windstoß vereitelt das mühselige Experiment, um dessen willen man tage- und wochenlang auf derselben Stelle gekreuzt hat, und läßt oft durch Reißen der sorgsam eingetheilten Leine den ganzen Apparat der Forschung verloren gehen. Oder bei sehr großen Tiefen beginnt die Schwimmkraft der meilenlangen Schnur das Senkblei zu tragen, oder dieses sinkt in Hunderte von Fußen tiefen Schlamm, aus dem die dünne Leine es nicht wieder herauszuziehen vermag, oder die scharfe Kante eines Korallenriffes schneidet diese durch – und was der unzähligen Schwierigkeiten mehr sind. Selten gelingt es, mehr als Eine Sondirung des Tages im tiefen Meere zu machen; wochenlang muß im stürmischen atlantischen Ocean auf einen dem Expertmentiren günstigen Tag gewartet werden.

Der zähe anglo-germanische Geist Maury’s triumphirte über Alles, selbst über die Indolenz derjenigen, zu deren Frommen die unsägliche Arbeit gemacht wurde und die sie freilich auch bezahlen.

Vor dem Lichte, das in seiner Hand Blei, Talg und Schnur auf die Formation des Oceangrundes warfen, zerstreuten sich die Besorgnisse der Gesellschaft des transatlantischen Telegraphen vor der Rauhheit des Bettes, aus dem der verhältnißmäßig so unendlich zarte Faden des leitenden Kabels gelegt werden mußte. Die Schluchten, über die es sich hinzuspannen hatte, die schroffen Felsgrate, die es zerschneiden, die raschen Strömungen, die es zerreiben, die Thiere, die es schädigen, die Eisberge, die es zerquetschen sollten, verschwanden vor Maury’s Blei. Statt ihrer zeigte sich in der Tiefe ein weit nordwärts von den schroffen Bildungen der Korallenthiere gelegenes, größtentheils in langen, sanften Wellen gehobenes und gesenktes, mit aus Muschelbrocken und runden Kieselkörnern gebildetem Sande bedecktes Hochplateau in der unermeßlichen Tiefe. Von der Westküste Irlands aus bis nach Trinity-Bay in Newfoundland, vierhundertachtundzwanzig deutsche Meilen weit, zog es sich mit einer schwachen Krümmung nach Norden in fast ununterbrochener Hebung hin, nirgend tiefer als vierzehntausend fünfhundert und zwanzig Fuß unter den Meeresspiegel herabsinkend, im Ganzen aber sich in einer Durchschnittshöhe von achttausend Fuß unter demselben haltend.

Auf die Ermittelung dieses Hochplateaus begründete die atlantische Telegraphen-Gesellschaft ihre Hoffnungen, die ihre Beharrlichkeit nun auch in der That verwirklicht hat, so daß jetzt die Kabel, welche den Blitz des Gedankens, tausend Mal schneller als den Erdumschwung selbst, von Hemisphäre zu Hemisphäre tragen und die von Valentia ausgehende Botschaft fast um fünf Stunden astronomischer Zeit früher nach New-York bringen, als sie abgesandt wurden, verhältnißmäßig sicher gebettet im Sand und Schlamm des Meeres liegen.

Wenn aber auch diese an die gewaltige Erscheinung der transatlantischen Telegraphie geknüpften Arbeiten Maury’s, die allerdings wohl ausreichten, die ganze Thätigkeit eines hervorragenden Menschen zu umfassen, seinen Namen beim großen, gebildeten Publicum populär machten, so sind sie doch weder die größten, noch die für den Fortschritt der Wissenschaft und des Weltverkehrs bedeutendsten, mit denen sich dieser Geist, rastlos, tief, klar und umfassend wie die Oceane des Wassers und der Luft, in deren Geheimnisse er eindrang, bis zur Erschöpfung beschäftigte.

Unter der heißen Sonne Tennessee’s geboren, behielt Maury’s feuriger Geist immer die dem Kinde in Fleisch und Blut gegangene Sympathie für das Cavalierleben der Südstaaten, die später so verhängnißvoll für ihn werden sollte. Als Midshipman trat er in die Flotte der Vereinigten Staaten. Niemals ist ein Beruf mit mehr tiefinnerster Berechtigung gewählt worden! Maury’s Wesen war ein Theil jener Welt, die Wellen schlägt und Wolken trägt, und kehrte gleichsam nur in ihr heimisches Bereich zurück, als er Seemann wurde. Vom Augenblicke an, wo er das Meer mit Segeln befuhr, war seine gesammte Thätigkeit der Erforschung des eigensten Lebens von Wasser und Luft gewidmet, zunächst in rein physikalisch-wissenschaftlicher Beziehung, dann auch im Hinblick auf die Straßen des Verkehrs in dieser beweglichen Welt.

In einem alternden Staate, der von seinen Functionären nur Dienste, nicht Thaten verlangt, wäre Maury’s Wirksamkeit vielleicht, als nicht genau der Geschäftsroutine der Marine entsprechend, gleichgültig oder sogar mißfällig bemerkt worden; nicht so im Lande der personificirten Jugendkraft, das bei seinem Alexandermarsche an die Spitze der zukünftigen Civilisation noch keine Zeit hat, geniale Kräfte im Schlamme ersticken zu lassen. Maury’s außerordentliche Leistungen erweckten die Aufmerksamkeit der Regierung, und kaum in den Rang eines Schiffslieutenants getreten, wurde er zum Director des National-Observatoriums zu Washington ernannt. Diese wissenschaftlich hochbedeutungsvolle [766] Stellung führte die Fäden seiner Forschungen in immer mächtigeren Gebinden in seiner Hand zusammen. Die Beobachtungen von allen meteorologischen Stationen der civilisirten Welt, die in Europa hauptsächlich durch Talent und Mühe unseres großen Landsmanns Professor Dove in Berlin eine so weite Verbreitung und bewundernswürdige Organisation gefunden haben und jetzt mit mehreren Hundert über die ganze Erdkugel ausgestreuten Observatorien wie mit eben so vielen klugen Augen, die Erscheinungen des uns umgebenden Luftmeeres betrachten, die Mittheilungen der gesammten wissenschaftlichen Schifffahrt aus allen Bereichen der Höhe und Tiefe des Oceans, gehörten zu den Materialien der großen wissenschaftlichen Anstalt, der Maury nun vorstand. Von der amerikanischen Regierung veranstaltete Expeditionen, die theils von Maury Instructionen empfingen, theils von ihm selbst begleitet wurden, ergänzten, nebst den Beobachtungen, welche eine Anzahl auf eigene Kosten unternommene Reisen lieferten, das Material zu den großen, auf die Findung allgemeiner, auch für die Praxis nützlicher Gesetze in diesen wechselvollen Regionen gerichteten, mühevollen Arbeiten des rastlosen Mannes.

Aus der Compilation, Sichtung und Ordnung von mehr als einer Million von Beobachtungen und Thatsachen entstanden so, als Frucht eines fast unerhörten Fleißes und einer Arbeitsthätigkeit, die beinahe über das dem einzelnen Menschen Mögliche hinauszugehen scheint, jene achtundsechszig großen (drei Fuß langen, zwei Fuß breiten) Karten, die graphisch das gesammte Leben des Meeres und der Luft und die aus der Kenntniß desselben herzuleitenden, praktischen Vorschriften für die Schifffahrt darstellen. Auf siebenundvierzig dieser Karten erscheinen die constanten und periodischen Strömungen im Meere und in der Atmosphäre, deren Gesetz, Form, Ausdehnung und Bedeutung man mit mehr oder minder Sicherheit zu erkennen im Stande gewesen ist, in Verbindung mit Darstellung einer großen Zahl wirklich ausgeführter Seefahrten durch zweckmäßige Benutzung von Farben, Zeichen, Linien und Ziffern so klar und übersichtlich niedergelegt, daß sie sich nicht nur zum Eintragen neuer Beobachtungen auf neuen Reisen eignen, sondern auch dem Schiffer die Füglichkeit gewähren, seinen Cours im Voraus so einzurichten, daß hier sein Schiff in der dem Auge in der Unendlichkeit des Meeres unsichtbaren Strömung treibe, dort der muthmaßlich um gewisse Zeit wehende Wind seine Segel füllen möge. Sechszehn andere Karten lehren durch Windsterne und eingeschriebene Ziffern sich in Häfen pilotiren; zwei Sturm- und Regenkarten fixiren die Erfahrungen über Richtung und Stärke der Stürme und die Massen der Niederschläge, so daß Maury’s achtundsechszig graphische Darstellungen so zu sagen, einen Post- und Reiseatlas über alle flüssigen Theile der Erdkugel bilden, der Straßen und Stationen im pfadlosen Ocean vorzeichnet und Kunde giebt, wo die lustigen Rosse des Aethers angeschirrt stehen.

„Ein Gesammtbild der Forschungen Maury’s ist in seinem berühmten Werke „Die physische Geographie des Meeres“ gegeben, das den Bereich von Wasser und Luft mit ähnlicher Tiefe und, wo es erforderlich ist, mit derselben Größe des sprachlichen Ausdrucks schildert, wie Humboldt’s Kosmos die Gesammtheit des Weltalls.

Das praktische Resultat dieser wissenschaftlichen und literarischen That Maury’s ist von kaum zu übersehendem Werthe und überragt an solchem die Wirksamkeit der meisten Männer der That.

Sir John Pakington gab in einer Rede zum Lobe Maury’s vor einem englischen Publicum diesem Werthe den Ausdruck, der ihn diesem am begreiflichsten machte, er rechnete ihn nach Geld aus. „Die Erfahrung hat gelehrt,“ sagte er, „daß seit dem Erscheinen des Maury’schen Kartenwerks gebildete Schiffer, durch geschickte Benutzung der ihnen dadurch bezeichneten Strömungen und Windbewegungen, im Stande sind, ihre Reisen beträchtlich abzukürzen, ja sogar die Bemannung der Schiffe zu vermindern und Havarien zu vermeiden, so daß z. B. durchschnittlich an jeder Reise der großen Segelschiffe von eintausend bis eintausend fünfhundert Tonnen Gehalt, die zwischen England und Indien verkehren, zweihundert und fünfzig Pfund Sterling erspart werden. Da aber nun ungefähr jährlich zweitausend solche Reisen gemacht werden, so giebt das einen Nettogewinn von einer halben Million Pfund Sterling (oder drei und eine Viertelmillion Thaler) jährlich, der, gleichsam durch die Folien von Maury’s Werk hindurch, von einer einzigen Oceanroute aus in die Taschen der englischen Handelswelt fließt.“

So groß diese Summe auch ist, so drückt sie doch nur einen sehr kleinen Theil der pecuniären Resultate des Maury’schen Bienenfleißes aus.

Keinem Hydrographen oder Meteorologen konnte es eindrücklicher sein, als Maury, der, unablässig mit dem Finden von Gesetzen und Gesammterscheinungen aus der Zahllosigkeit der Thatsachen beschäftigt, fortwährend das Ganze der Kräftewirkungen im Wasser- und Luftmeere vor Augen haben mußte, daß die Punkte, auf denen meteorologische Studien gemacht werden, bei weitem noch nicht dicht genug auf dem Erdballe gesäet seien, die Beobachtungen noch bei weitem nicht übereinstimmend genug nach Formen, welche Vergleichung und Herleitung von Schlüssen zulassen, angestellt würden, um das Leben in den elastisch-flüssigen und tropfbar-flüssigen Oceanen, welche die Erde umgeben, in seinem Gesammtorganismus begreifen zu lehren. Er wendete daher die ganze Energie und Zähigkeit seines Strebens auf den großen Zweck der Schöpfung einer „internationalen Meteorologie“, durch einen internationalen meteorologischen Congreß. Seine Bestrebungen wurden allenthalben, und auch von der Regierung der Vereinigten Staaten, mit großer Lauigkeit aufgenommen, so lange sie allgemein wissenschaftliche Tendenzen verfolgten. Plötzlich erhielten sie aber durch ein Ereigniß von großer dramatischer Kraft einen Nachdruck von so unwiderstehlicher praktischer Gewalt, daß seine Ideen, wenigstens in einer Richtung hin, schnell ihrer Realisirung zugeführt wurden.

(Schluß folgt.)




Erinnerungen aus dem letzten deutschen Kriege.
4. Oesterreichische Frauen.


Die besten Frauen sind bekanntlich die, von denen am wenigsten pointenreiche Geschichten zu erzählen sind. So geht mir es mit den österreichischen, und bei der rastlosen Eile, mit der wir die Routen nach Wien verfolgten, blieb uns wahrlich wenig Muße und wenig Gelegenheit, ihr Seelenleben zu studiren. Um so weniger, als die meisten Städtchen und Dörfer ein unserm Cultus der Ehrenjungfrauen ganz entgegengesetztes Verfahren beobachteten. Fast überall hatten die mißtrauischen Väter der Stadt die Jungfrauen wer weiß in welches Versteck gebracht, wahrscheinlich um uns durch den gleichmäßigen Anblick ihrer eigenen wüthenden Gesichter mißmuthig zu machen. Einmal entdeckten wir ein solches Massenasyl junger Damen. Am ersten Tage des Waffenstillstandes lagen wir, der vereinbarten Bedingungen unkundig, schon jenseits der Demarcationslinie, des berühmten Rußbaches, und mußten daher am andern Morgen sofort den Rückmarsch antreten. Wir waren noch nicht fort, da öffneten sich die Thore der Kirche und heraus trat die ganze Schaar der weiblichen Dorfjugend, paarweise, voran der Pfarrer des Ortes. Die jungen Damen hatten entschieden das schlechteste Quartier im ganzen Dorfe gehabt.

Wenn die Herren Oesterreicher aber glauben, daß sie uns durch solche Maßregeln das Vergnügen, die bessere Hälfte ihrer Bevölkerung kennen und hochachten zu lernen, gänzlich entzogen haben, so irren sie. Gesehen haben wir all’ die Schönheiten doch, als unser kleines Commando die malerische Bahn von Brünn nach Pardubitz hinauffuhr. Es war ein wundervoller Sonntagmorgen. Die Kirchen wurden also anderweitig gebraucht. Auch mag es den jungen Dorfschönen schließlich zu langweilig darin geworden sein. Genug, aus allen Kirchdörfern – und dort hat jedes kleine Dorf sein Gotteshaus – zogen die schlanken, vollen Gestalten in ihrem bunten Sonntagsstaat mit fliegenden Fahnen und Standarten in großer Procession singend nach irgend einem Wallfahrtsort die Berge hinauf. Den Eisenbahnbetrieb muß auch die Gottesverehrung respectiren, zumal im Kriege, und so trennte [767] unser Zug hie und da die Schaaren der schönen Pilgerinnen und nöthigte sie, stehen zu bleiben und ihre Andacht zu unterbrechen. Sie schienen darüber nicht sonderlich böse zu sein, denn, neugierig von ihren Gesangbüchern aufblickend, erwiderten sie freundlich unsere übermüthigen Grüße.

Auch beim Einmarsch hatte man nicht gleich Alles vor uns verstecken können. Wer mit mir auf der Straße nach Friedland in Böhmen eingerückt ist, wird das Fenster im Forsthause nicht vergessen, aus dem hinter Rosenstöcken zwei Mädchenköpfe von vollendeter Schönheit auf uns herabblickten. Die Eine brünett, mit einem Ausdruck sanfter Schwermuth, die Andere eine Blondine, frisch und fröhlich, wie der junge Mai. So glichen sie selbst den vollerblühten Rosen, die das Fenster, ein herrlicher Rahmen, umgaben, während hinter ihnen das zornerfüllte Gesicht des Bruders sich zeigte, der, die Büchse in der Hand, bereit schien, den Ersten, der sich den Schwestern mit frechem Wort nahen möchte, niederzuschießen. Das Ganze gab ein lebensvolles Genrebild von unvergeßlicher Schönheit.

Allerdings fanden wir in der ersten Zeit die Städtchen und Dörfer förmlich ausgestorben; nur den eigentlichen Grenzstrich hatten die Bewohner nicht verlassen. Die Soldaten versuchten durch ihr Lieblingslied:

„Wenn die Soldaten durch’s Städtlein marschiren,
Schauen die Mädchen aus Fenstern und Thüren“,

Leben und Bewegung in den öden Nestern hervorzuzaubern. Aber vergeblich. Selbst in der gar nicht unbedeutenden Stadt Liebenau, bei dem bekannten Schloß Sichrow, war am hellen Nachmittag außer dem preußischen Militär kein menschliches Wesen zu erblicken. Fensterläden und Thüren waren verschlossen. Wie ein Grab stand das Städtchen in der lachenden Umgebung da. Allein die Scene änderte sich, sobald wir uns in irgend einem Dörfchen häuslich niederließen, um abzukochen, was natürlich stets im Freien geschah. Kaum flackerten die lustigen Feuer überall zwischen den Obstbäumen lustig auf, kaum hatten sich nach der ersten Ruhe Scherz und Frohsinn wieder eingefunden und eine behagliche Stimmung beim Anblick der brodelnden Feldkessel über Alle verbreitet, so sah man auch in den nahen Wäldern es sich regen. Nicht lange, und ein altes Mütterchen, mit einem großen Sack auf dem Rücken, eine Kuh an der Leine, humpelte gebückt aus dem Dickicht hervor. Bald folgten wieder ein paar Frauen, bis schließlich die ganze Schaar der Hausfrauen mit Kind und Kegel, Sack und Pack mühsam die Berge herabkeuchte und etwas beschämt über ihre unnöthige Furcht die Verwaltung des Hauswesens wieder übernahm. Und nachdem sich erst die Nachricht weiter in das Land hinein verbreitet hatte, daß wir keine Mordbrenner wären, auch keine kleinen Kinder gebraten zum Frühstück verzehrten, fanden wir immer seltener verlassene Dörfer, und in den meisten Fällen war mit den Bewohnern leicht ein gutes Einvernehmen hergestellt. Die von ihren Männern feige im Stich gelassenen klugen und energischen böhmischen Frauen sahen bald ein, daß freundliches Entgegenkommen, gepaart mit gemessener, würdevoller Haltung, ihrem und ihres Haushalts Vortheil am besten entsprach. Ein paar Beispiele statt vieler.

Es war ein anstrengender Marsch gewesen, vom frühen Morgen bis in den Nachmittag hinein. Kaum hatten wir abgekocht, so wurden wir wieder in die Gewehre gerufen und mußten einen weiteren Vormarsch zur Deckung unserer Cavalerie-Patrouillen machen. Um acht Uhr endlich war die Zeit der Ruhe gekommen. Da begann ein fürchterliches Unwetter. Der Sturm heulte und der Regen schoß in Strömen herab, so daß an ein reguläres Bivouac nicht zu denken war. Wir erhielten Erlaubniß, es uns in den nächsten Häusern „bequem“ zu machen. Deren hatte das Bataillon zwei. Ich drang mit mehr als hundert Mann in das größere ein. Dort saßen im Flur auf niedriger Bank Großmutter, Mutter und Tochter, ernst und stumm, ohne auf uns zu achten. Alles Fragen, Drohen, Scherzen und Lachen war vergebens. Wir ließen sie schließlich sitzen und untersuchten das Haus nach Kochgeräthschaften, um uns durch eine gute Tasse Kaffee zu erwärmen. Bekanntlich trinkt man in Oesterreich einen ganz vorzüglichen Kaffee; selbst in dem ärmlichsten Dorfe wird er sehr gut bereitet. Auch unser weibliches Kleeblatt gehörte zu den Künstlerinnen in diesem Fache, und unser Gebahren am Heerde mag ihm wohl etwas dilettantisch vorgekommen sein. Stillschweigend standen sie auf, nahmen uns die Geschirre aus den Händen, verdrängten uns nach und nach durch ihre Geschäftigkeit vom Feuer und bald servirten sie uns den wohlthuenden Trank. Nun wollte ein Jeder Kaffee trinken. Die czechischen Frauen, denen wir uns nur durch Geberden verständlich machen konnten, brachten einen ziemlichen Vorrath von gebranntem Kaffee herbei und kochten die halbe Nacht hindurch. Alle Töpfe und Tassen, die sich im Hause fanden, waren in ununterbrochener Bewegung.

Es fehlte uns nicht an Geld, und die Meisten bezahlten ziemlich anständig. Das Geld wurde stillschweigend und unbesehen genommen, die Bezahlung änderte aber in dem Benehmen der Frauen nicht das Geringste. Sie verharrten in der gleichen ruhigen Geschäftigkeit und reichten das Getränk mit gleicher Miene den Zahlern, wie den Nichtzahlern, den Rücksichtsvollen wie den Zudringlichen. Das war der Dank dafür, daß wir gerade ihnen durch unser beabsichtiges Bivouac fast das ganze Getreidefeld zertreten und ruinirt hatten. Ihr Benehmen verfehlte nicht, den größten Eindruck zu machen. Die anderthalb hundert Mann in dem kleinen Häuschen verhielten sich so still und ordentlich, als ob ein Todkranker im Hause sei, der nicht gestört werden dürfe. Als ich nach kurzer Ruhe im Morgengrauen das Haus verließ, saßen die drei Frauengestalten wieder an derselben Stelle, wie am Abend zuvor, gerade aufgerichtet, die Augen gesenkt, ohne Schlaf. Ich konnte nicht umhin, dem jungen Mädchen das Haar zu streicheln und ein paar Worte des Dankes und Trostes zu sprechen. Ein paar große Thränen rollten über ihre Wangen, aber sie bewegte sich nicht. Nur die Mutter nickte mir ernst und dankbar zu.

In Brünn hatten wir ein paar Ruhetage. O, wie wohlthuend war es, nachdem wir drei Wochen lang nach Art Robinson Crusoe’s gelebt hatten, einmal wieder den Comfort einer großen Stadt zu haben! Man trank mit gebildeten, nicht ermüdeten, fröhlichen Menschen eine Flasche Wein, man saß dabei auf bequemen Stühlen, man aß kunstgerecht zubereitete Speisen, man las im Café National Zeitungen, die uns freilich wenig Neues brachten, man schlenderte durch die Straßen und erfreute sich an dem Leben und Treiben der gewerbreichen Stadt, die durch den plötzlichen Zuwachs von 45,000 Mann preußischer Truppen einem aufgestörten Ameisenhaufen nicht unähnlich sah – kurz man war wieder einmal ein Mensch unter Menschen. Am behaglichsten aber war es in meinem Quartier, dem Hause eines wohlhabenden Fabrikanten. Der Hausherr war ein stiller, fleißiger Geschäftsmann, zuvorkommend gegen uns, von wenig Worten. Die Seele des Hauses war seine Gattin, eine stattliche Frau Anfangs der Dreißiger. Sie hatte ein einnehmendes, nicht gerade schönes Gesicht, das, wenn sie im Gespräch lebhaft wurde, einen ungemein anziehenden Ausdruck annahm. Ihre Bewegungen waren rasch und graciös, ihre Haltung stolz und selbstbewußt, ihre Kleidung geschmackvoll, fast prächtig. Dabei behandelte sie den Geringsten mit derselben herzgewinnenden Freundlichkeit wie den Höhergestellten. Indem sie sich schnell über die häuslichen Verhältnisse der Einzelnen orientirte, wußte sie Jedem ein freundliches, wohlthuendes Wort zu sagen.

Einen meiner Cameraden und mich lud sie zu ihren Mahlzeiten ein und wußte uns leicht über Dinge reden zu machen, die uns besonders am Herzen lagen. Ihre selbstlose Theilnahme forderte zu rückhaltlosem Vertrauen auf. Alles schien sie gleichmäßig zu interessiren. Mit Vorliebe brachte sie das Gespräch auf unsere preußischen Einrichtungen, auf den Bildungsgang, den die verschiedenen Fächer bei uns erheischten, auf den Charakter unserer Staatsmänner, Beamten und Officiere. Dem Benehmen der letzteren hatte sie mit scharfer Beobachtungsgabe bereits so manche charakteristische Züge entnommen und sich daraus und aus unseren Schilderungen ein ziemlich richtiges Bild des Allgemeinen zurecht gemacht. Ihr fiel eine gewisse Gleichmäßigkeit bei Allen auf, sowie es sich um irgendwie dienstliche Angelegenheiten handelte. Es müsse, so meinte sie, unserem Officierstande eine gewisse Kraft innewohnen und dahin wirken, daß die verschiedensten Naturen das Nothwendige in dieser gleichen, guten Art vornähmen; sie fand bei Allen Klarheit und Entschiedenheit, gepaart mit Bescheidenheit. Hauptsächlich aber freute sie der Eifer, mit dem ein Jeder seinem Beruf zu leben schiene, und fast noch mehr der Umstand, daß sie Alle so viel gelernt hätten. Sobald sie auf diesen Punkt kam, blieb eine Philippica gegen die Schaar ihrer Brüder und Vettern nicht aus. In ergötzlichster Weise und mit [768] komischem Zorne schilderte sie uns deren Betragen, wie sie den ganzen Tag auf der Bärenhaut lägen und nichts thäten, als vor dem Spiegel stehen und sich den Schnurrbart drehen, mit dem Lorgnon im Auge Fensterpromenade machen, spielen, tanzen, spazieren reiten und Liebeleien anknüpfen. Das solle aber anders werden. Sobald ihr ein solcher Herr Thunichtgut unter die Augen käme, wolle sie ihm den Kopf zurecht setzen und ihn hinter die Bücher stecken. Freilich, viel G’scheidt’s würden sie nicht mehr lernen, aber sie sollten sich wenigstens wie ernste Männer benehmen und nicht der Jugend ein schlecht Exempel geben. Ihre Kinder – ein Paar allerliebster Jungen mit großen, verständigen Augen – wolle sie anders erziehen. Deren Schwestern und Frauen würden sich ihrer nicht zu schämen haben, wenn die Herren Preußen wieder einmal ins Land kämen.

Aehnliche Ansichten, wenn auch nicht mit der gleichen sittlichen Wärme vorgetragen, habe ich in Oesterreich vielfach von Frauen aller Stände vernommen. Und da alle Erziehung schließlich doch wesentlich in den Händen der Frauen liegt, so läßt sich nach einem Menschenalter in der That etwas von Deutsch-Oesterreich erwarten.

Der Abschied von diesem gastlichen, gebildeten Hause wurde uns ordentlich schwer. Als ich drei Wochen später abermals nach Brünn kam, war mein erster Gang wieder zu meinen freundlichen Wirthen. Ich traf sie bei Tische, den ein eben beförderter Officier mit ihnen theilte, ein ingrimmiger Feind alles Nicht-Preußischen. Er führte die Unterhaltung ganz allein und berührte zu meinem Leidwesen Themata, deren Besprechung nicht wohlthuend wirken konnte. Er fällte in den kräftigsten Ausdrücken absprechende Urtheile über den Kaiser, über den Katholicismus, hielt einen kleinen Vortrag über die Jungfrau Maria und begriff nicht, wie es Menschen geben könne, die solchem Unsinn noch anhingen. Verschiedene Versuche meinerseits, abzulenken, gelangen nicht. Ich sah das Ungewitter heraufziehen. Die Dame erhob sich plötzlich und sagte ganz kurz:

„Mein Herr, in dem Unglück, das uns betroffen, war es mir bisher eine große Freude, unter den Ihrigen Männer zu finden, deren Gespräch uns aufrichtete, deren Benehmen uns ein Vorbild zur Nachahmung war. Bei der Verschiedenheit unserer Ansichten muß ich zu meinem Bedauern für heute auf das Vergnügen eines solchen Zusammenlebens verzichten. Zu welcher Stunde befehlen Sie Ihr Nachtmahl?“

Der Redner stand verdutzt auf, machte eine tiefe Verbeugung und verließ das Zimmer, ohne ein Wort zu sagen.

„Es giebt also Ausnahmen,“ wandte sie sich heftig an mich. „Es mußte ja Ausnahmen geben! Das müßte mich als gute Kaiserliche eigentlich freuen! Doch geschwind von etwas Anderem; erzählen Sie, was Sie vor Wien erlebt, wir wollen uns die Stimmung nicht verderben.“ Dabei lachte sie vergnügt, ließ meinen Versuch, etwas zur Begütigung zu sagen, gar nicht aufkommen, und bald war in lebhaftem Gespräch das kurze tragikomische Intermezzo vergessen.

Abends sah ich sie in größerer Gesellschaft im Augarten.

„Es ist Alles wieder gut,“ rief sie mir lachend zu. „Er hat höflich Abbitte gethan und ist kein garstiger Mensch. Aber heute muß er zur Strafe allein speisen.“




Hinter der Mainlinie.
Kosmopolitische Weltfahrten und Erinnerungen.
3. Zwischen Rhein und Taunus.


Ich stand auf dem Verdeck des kleinen Rheindampfers, der allstündlich zwischen Mainz und Biebrich hin- und herfliegt. Da sah ich aus dem Thore des gegenüberliegenden Castel eine Menge Soldaten in hellen Haufen hervorquellen und die lange Schiffbrücke daherkommen, ohne daß die zur Seite gedrängten Zöllner daran dachten, sie aufzuhalten und einem von ihnen die üblichen zwei Kreuzer Brückengeld abzufordern. Es waren die Cadres des ehemals nassauischen zweiten Infanterie-Regiments, die nur nach Mainz gingen, um hier in preußische Uniformen gesteckt zu werden. An ihrer Spitze schritten preußische und in deren Mitte nassauische Officiere. Diese trugen noch ihre österreichischen Käppis mit vorn überfallenden Roßschweifen, während die Helme jener in der Mittagssonne blitzten. Die Mannschaften stampften mit dumpfem Marschtritt einher, ohne viel rechts oder links zu blicken, und ohne daß man auf ihren schlichten, meist vollen Gesichtern eine Bewegung hätte lesen können, aber das zusammengeströmte Volk, welches zu Seiten und am Ende der Brücke Spalier bildete, empfing sie mit lauten und leisen Bemerkungen.

„Arme Leute!“ sagte neben mir ein feiner, schlanker Jüngling. „Die müssen jetzt auch Commißbrod essen und sich mit einer warmen Mahlzeit täglich begnügen lernen. Die werden sich vergebens nach unsern Fleischtöpfen zurücksehnen und den Leibriemen fester anziehen müssen, damit ihnen nicht mit dem Heimweh auch der Magen davonläuft.“

„Nun,“ entgegnete ihm ein blonder Schnurrbart, der in Haltung und Mienen erkennen ließ, daß er den bunten Rock noch nicht lange ausgezogen. „Nun, darin haben sie schon etwas Uebung. Es sind meine Cameraden,“ fuhr er fort, „ich war als Reservist eingezogen und bin erst kürzlich entlassen. Als wir im Odenwald herumirrten, haben wir Fasten und Hunger brav studirt, wenn es auch gerade nicht Freitags war.“

„Und der Herzog?“ fragte ein Dritter.

„O“ der hat Strapazen und Fasten mit uns redlich getheilt. Von allen regierenden Herren war er der Einzige, der sich bei den Bundestruppen sehen ließ, und er hielt bei seinen Leuten bis an’s Ende aus. Was wahr ist, muß wahr bleiben; unser Herzog war ein so guter Soldat, wie irgend einer von den preußischen Prinzen. Und wenn er auch seine Fehler hatte, ich lasse doch nichts auf ihn kommen, denn er war mein Landesherr, im Feldzug mein General, und er hat mir das Leben gerettet.“

Das Weitere konnte ich nicht mehr vernehmen, das an der Brücke liegende Boot löste die Taue und dampfte gen Biebrich, wo wir nach einer Viertelstunde anlangten.

Unmittelbar am alten grünen Rheinstrom erhebt sich im Renaissancestil das großartige Schloß, in welchem der Herzog während des Sommers zu wohnen pflegte. Hier hatte er die letzten Wochen seiner Herrschaft verlebt und von hier aus am 16. Juli das Manifest erlassen, darin er von seinem Volke Abschied nimmt, indem er, um nicht gleich seinem Verbündeten, dem Kurfürsten von Hessen, in Kriegsgefangenschaft zu gerathen, sich zur Armee begebe, und eine baldige frohe Wiederkunft verheißt. Diese Hoffnung hat ihn wie Andere getrogen und er sitzt jetzt traurig und nur in Gesellschaft weniger Getreuer, die sein Exil mit ihm theilen, auf dem kurhessischen Schlosse Rumpenheim. Schon am andern Tage (17. Juli) erschien die Proclamation des preußischen Generals Vogel v. Falkenstein, welche die Occupation des Herzogthums Nassau aussprach und die ich noch jetzt an einigen Straßenecken sah; daneben das Einverleibungsdecret in die preußische Monarchie vom 3. October. In der am obern Ende der Stadt befindlichen, gleichfalls schönen und großartigen, aus rothen Backsteinen erbauten Caserne, wo sonst die Garde des Herzogs, die dunkeluniformirten Jäger, lagen, hatte sich eben ein Bataillon vom sechsundachtzigsten preußischen Linienregiment einquartiert, aber die davor schildernden Posten blickten so ruhig und sicher, als ob sie in ihrer fernen Heimath an der Oder oder Weichsel ständen.

Nur auf dem aus der Mitte des Schlosses aufsteigenden Rundbau wehte noch immer die ehemalige Landesfahne, orange mit blauer Einfassung. Nach der Abreise ihres Gemahls war die Herzogin Adelheid mit den Kindern hier zurückgeblieben. Die ihr von den Preußen angebotene Ehrenwache hatte sie mit den bitteren Worten zurückgewiesen: „Wenn sie die Anwesenheit der Eroberer auch ertragen müsse, so wolle sie doch wenigstens in ihrem Hause sich solche verbeten haben.“ Augenblicklich verweilte sie mit den beiden jüngsten Kindern auf dem Lustschlosse Königstein im Taunus, doch für die nächsten Tage wurde ihre Herkunft erwartet, indem sie hier den Winter zu verleben gedenkt, und schon [769] jetzt befand sich im Schlosse ihr ältester Sohn, Prinz Wilhelm, mit seinem Hofmeister, Dr. Müller.

Man hatte mir gesagt, daß Schloß und Park dem Publicum verschlossen seien; daß die Herzogin im Unmuth den Befehl gegeben, die Parkmauern derart zu erhöhen, daß die Vorübergehenden nicht mehr hineinsehen könnten, wodurch der Stadt eine große Zierde, den Tausenden von Fremden, die im Sommer zuströmen, die hauptsächlichste Sehenswürdigkeit entzogen wäre; aber ich fand Beides nicht bestätigt, wenigstens waren jene Befehle, wenn sie wirklich erlassen, auf Vorstellen des preußischen Civilcommissariats wieder zurückgenommen. Die Frau oder Tochter des Gartendirectors reichte mir nach den ersten Worten die erbetene Eintrittskarte und ein alter Mann führte mich im Schlosse umher.

„Wird der Herzog das Schloß behalten, wird er hierher zurückkehren?“ fragte ich.

„Vorläufig nicht. Vielleicht zum Frühjahr. Die Preußen drängen ihn jetzt, daß er abdanken und sich unterschreiben soll, und sie haben ihm schon zehn Millionen Gulden für jedes Jahr geboten, aber er thut’s nimmermehr, er hat Geld und Schlösser und Güter genug, er hat vollauf zu leben, und wenn sie ihm keinen Heller geben. – Und merken Sie auf,“ fuhr der alte Knabe mit rührender Zuversicht fort, „es kann als nit so bleiben, ich wollt’ d’rauf schwören, daß es zum Frühjahr wieder los geht. Und weit schrecklicher, dann giebt’s einen Krieg durch ganz Europa, und Preußen mag zusehen, wo es bleibt.“

„Sind Sie schon lange hier am Hofe?“

„Ueber vierzig Jahre, und mein Bruder noch länger. Sehen Sie, wir möchten keinen andern Herrn haben, wir können’s uns gar nicht denken, daß wir einem Andern dienen sollten, wir sind zu alt dazu. Und der Herzog wird keinen seiner Diener entlassen, keinen verstoßen, er war gegen einen Jeden gnädig und freigiebig.“

Die lange Zimmerreihe an der Rheinseite im untern Stock beschließt ein kleines Eckgemach, das meist die erste Gemahlin des Herzogs bewohnte und das noch heute auf’s Genaueste und Sorgfältigste ebenso ausgestattet ist wie in jenen Tagen.

„Kein Stuhl steht anders!“ sagte der Alte.

Diese Dame, bekanntlich eine russische Prinzessin und Tochter der Großfürstin Helene, hatte die Schönheit und den Geist ihrer bis in die jüngste Zeit vielgenannten Mutter geerbt. Noch nicht achtzehn Jahre alt, eine hohe imposante Gestalt von geradezu plastischen Formen und dem edelsten Ausdruck, hochgebildet und hochsittlich, in jeder Bewegung voll Majestät und Würde und doch von der liebenswürdigsten, ungezwungensten Herablassung und Güte, vermählte sie sich dem Herzog, auf den sie den wohlthätigsten Einfluß übte, indem sie ihn von den wüsten und sinnlichen Gefährten seiner Junggesellentage zu entfernen und ihn für das reine Glück der Ehe zu gewinnen wußte. Sie säuberte den Hof von den bisherigen unreinen und zweideutigen Elementen und machte ihn zu einem Musterbilde von Anstand und Sitte. Echt weiblicher Tact hielt sie von aller Einmischung in Politik und Regierungsgeschäfte fern, aber sie entfernte die bis dahin allmächtige katholisch-österreichische Partei, welche jedoch nach ihrem Tode zurückkehren sollte. Herzogin Elisabeth starb leider schon am 28. Januar 1845 im Wochenbette, nach noch nicht einjähriger Ehe, im noch nicht vollendeten neunzehnten Lebensjahre. Durch das ganze Land ging Ein Schmerzensschrei, und noch heute lebt ihr Name und Andenken im Munde und Herzen des Volkes fort, denn sie hatte sich trotz der kurzen Zeit durch zahllose Wohlthaten unvergeßlich gemacht. Obenan steht die von ihr gestiftete „Elisabetheranstalt“ zur Erziehung armer und Heilung kranker Kinder. Man fürchtet, daß diese segensreiche Anstalt, die alljährlich große Zuschüsse aus der Privatschatulle des Herzogs nöthig machte, jetzt eingehen werde; aber wohl mit Unrecht, denn es muß dem preußischen Gouvernement eben so sehr Ehrensache wie landesväterliche Pflicht sein, dafür einzutreten.

Auch der Herzog betrauerte seine junge, schöne Gattin lange und tief; er mochte fühlen, daß mit ihr sein guter Genius von ihm gewichen. Erst nach sechs Jahren schritt er zu einer zweiten Ehe, mit Adelheid, Prinzessin aus einer Nebenlinie des Hauses Anhalt-Dessau. Die Herzogin zählt jetzt dreiunddreißig Jahre, ist von schlanker, etwas magerer Figur und sanften regelmäßigen Gesichtszügen. Noch mehr als an körperlichen Reizen steht sie ihrer Vorgängerin an geistiger Begabung und Bildung nach, ebenso fehlt ihr deren Anstand, Anmuth und Wohlthätigkeitssinn. Auch die zweite Ehe ist keine unglückliche gewesen; die Herzogin Adelheid hatte gleichfalls keinen eigentlichen Einfluß auf die Regierungsgeschäfte, wohl aber ihre Freundin und Gesellschafterin, die Gräfin Bella von Ingelheim, welche, obgleich unverheirathet, den Gehalt einer Oberhofmeisterin von sechstausend Gulden jährlich bezogen, mit ihrer Mutter, einer gescheidten Frau, die Interessen der Klerikalen und des österreichischen Kaiserhauses verfochten und auch schließlich die definitive Entscheidung für Oesterreich herbeigeführt haben soll.

Indeß stand Herzog Adolph selber zu Oesterreich allzeit in sehr intimen Beziehungen. Als Erbprinz hatte er mit seinem Bruder Moritz mehrere Jahre am Hofe zu Wien gelebt, der Kaiser Franz Joseph hob ihm seinen zweiten Sohn persönlich aus der Taufe, und der Herzog hatte sich später fast ausschließlich mit Oesterreichern umgeben, die ihn von allem Verkehr mit dem Volke sorgsam fern hielten. Er war von Natur gutmüthig, wurde aber durch die Opposition der Liberalen allmählich so verbittert, daß er Jeden von ihnen für seinen persönlichen Feind und Beleidiger hielt. Es sind hier in Nassau von Seiten der Regierung gegen die liberale Partei und in der Verwaltung Dinge geschehen, die man in den sechsziger Jahren unsers Jahrhunderts für einfach unmöglich halten sollte. Im Anfang kein Freund von Geschäften, mischte sich der Herzog schließlich in die kleinlichsten Dinge – selbst die Anstellungen der Schneeschaufler auf dem Westerwalde mußten von ihm bestätigt werden – und versank immer tiefer in absolutistische Vielregiererei. Er liebte die Jagd – und zwar derart, daß der Wildstand ein ganz unverhältnißmäßiger war, den Bauern alle Aecker verwüstete und u. a. auf einer einzigen Treibjagd siebenhundert Stück Wild auf einem dichtbevölkerten kleinen Terrain geschossen wurden, das sich lediglich auf den Ackerbau angewiesen sieht –, das Spiel und eine leichte Unterhaltung mit seinen Günstlingen. Vornehmlich beschäftigte ihn das Militär, das zwar unter höchstseinem eigenen Commando stand, trotzdem aber auf seine etwa fünftausend Mann noch neun Generale, also auf je fünfhundert Mann einen besaß, und concentrirte seine ganze Liebe auf seine Officiere, die er mit Beweisen seiner Huld überschüttete. Von Statur mittelgroß und breitschulterig, war er ohne Tournüre, in der Haltung, Bewegung und im Umgang steif. Sein Gesicht ist nicht unschön zu nennen, nur das Auge blöde und stets mit einer scharfen Brille bewaffnet, ohne welche er fast gar nichts sehen konnte. Er galt für einen vortrefflichen Reiter, doch in den letzten Wochen sah man ihn schlaff und eckig im Sattel hängen, mit müdem, gedrücktem Wesen, als ahne er das Hereinbrechen seines Geschicks. Die Herzogin soll dagegen bis zur letzten Stunde bester Hoffnung und fester Zuversicht gewesen sein.

„Kennen Sie den Bismarck?“ fragte mich beim Abschied der Alte.

„Ich habe ihn ein paar Mal gesehen.“

„Schauen Sie,“ erwiderte er lebhaft, „das möchte ich auch. Ich habe Könige und Kaiser gesehen und mit ihnen gesprochen, Herzoge und Fürsten die schwere Menge; aber was ist das Alles gegen diesen Mann, der die Könige und Herzoge wie Unsereins absetzt und fortjagt, geradeso wie Napoleon es einst gemacht hat. Wenn ich ihn je zu sehen kriegte, ich würde ihm meine Meinung sagen, ganz frei von der Leber weg, und wenn er mir gleich den Kopf vor die Füße legen ließe. Ja, bei Gott, das thäte ich! – Nun adieu! Leben Sie recht wohl!“

Damit entließ mich der ehrliche Graukopf. Ich spazierte durch den Park, der fast eine Stunde im Umfang hat, und begegnete dort zufällig dem Prinzen mit seinem Erzieher. Prinz Wilhelm, wie schon erwähnt, ein Knabe von vierzehn Jahren, gilt für gutartig, bescheiden und fleißig. Er faßt schwer, hält aber das einmal Gelernte besser fest, als sein jüngerer, weit begabterer und lebendigerer Bruder. Dieser, Namens Franz, zählt noch nicht acht Jahre und ist wegen seiner quecksilbernen Beweglichkeit und drolligen Einfälle der Liebling des Vaters und der ganzen Dienerschaft. Bücher und Studien sind gerade nicht seine Freunde, desto mehr aber kleine Ponies, die er unermüdlich und verwegen reitet. Auch hat er großes Vergnügen an soldatischen Spielen. Kurz vor Ausbruch und während des Krieges hatten beide Prinzen eine Schaar vornehmer Knaben um sich versammelt, die sie in zwei Lager, Oesterreicher und Preußen, theilten und die nun täglich gegen einander losgingen. Natürlich wurden die [770] Prinzen zu Heerführern erwählt, aber jeder von Beiden weigerte sich, an die Spitze der Preußen zu treten, Beide übernahmen abwechselnd das Commando der Oesterreicher, der Vater hatte jedem eine zierliche österreichische Miniatur-Uniform anmessen lassen, und so errangen die Oesterreicher hier täglich im kindischen Spiele glänzende Siege, während sie im furchtbaren Ernst auf Böhmens Feldern blutige Niederlagen erlitten. Auch ist es bekannt, daß der Herzog seine Officiere, in Vorder- wie in Hinteransicht, portraitiren, die Conterfeis dann lithographiren und auf Pappe kleben ließ. Die so gewonnenen Figuren wurden mit Holzpflöckchen versehen und dienten den Prinzen zum Spiel, an dem sich der Vater am meisten erlustirte.

Des Parkes wegen gestattete der Herzog in dessen Umgebung keine Fabrikanlagen. Er haßte solche überhaupt, weil sie nach seiner Meinung nur Schmutz und ein Proletariat erzeugten, letzteres aber zur Revolution neige. Gesetzlich bestand im Lande Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, thatsächlich aber lagen beide in den schweren Banden der Polizeiwillkür, daher flüchteten die Industriellen auf das benachbarte hessen-darmstädtische Gebiet, wo sie bereitwillig Aufnahme fanden, und so erheben sich nun hart an der Grenze und dicht neben Biebrich eine Reihe bedeutender Etablissements.

Aehnlich verhielt es sich mit den Steuern, welche in Nassau nur Grund- und Gewerbesteuer sind. Weil der letzteren auch die Beamten unterworfen, lasteten die Steuern ausschließlich auf den unteren und mittleren Ständen; die eigentlich Reichen blieben dagegen, weil weder eine Personen- noch Vermögenssteuer bestand, gänzlich verschont; woher sich der Umstand erklärt, daß sich nach dem Herzogthum so viele Capitalisten zogen, die hier ihre Renten verzehren.

Diese und verwandte Gegenstände besprach eine Gesellschaft von Bürgern, die ich im Gasthofe fand. Mehrere Gewerbe- und Geschäftsleute waren unter ihnen, und diese riefen:

„Wären wir schon vor zwanzig Jahren preußisch geworden, wir ständen jetzt zwanzig Mal besser, sowohl was den Privatbesitz der Einzelnen, als die Entfaltung unseres Handels und unserer Industrie betrifft!“

„Schon möglich,“ entgegnete ihnen ein kurzer dicker Herr. „Aber bisher hätten wir von den Segnungen des preußischen Regiments noch wenig gespürt. Man hat unsere Verfassung suspendirt, ohne uns dafür die preußische zu geben, und so befinden wir uns zur Zeit in einem völlig rechtlosen Zustande. Warum enthält man uns z. B. das preußische Jagd-, Gewerbe- und Preßgesetz noch vor? Man sagt: Nur bis zur Einführung der preußischen Verfassung! Aber bis dahin können die beliebten Chicanen mit der Wildschädenvergütigung, in Bausachen, Concessionirungen, Preßgeschichten etc. nach wie vor getrieben werden. Und sie werden getrieben, von frechen Anhängern des alten Regimes, unter den Augen des Civilcommissariats, das trotz allen guten Willens und trotz der glücklichen Wahl seiner Beiräthe doch weder genau unsere Zustände, noch sein eigenes Ressort kennt, daher sowohl unter unseren wie unter den preußischen Beamten in Betreff der Auslegung, Heranziehung und Gültigkeit gewisser Gesetze, in der Frage über die Competenz einer Behörde oder über den Lauf des Instanzenzuges oft große Verwirrung und Rathlosigkeit herrschen.“

„Gut Ding will Weile haben,“ meinte ein Dritter. „Unsere Verhältnisse sind eigenartig und verwickelt; es wird Zeit und Mühe kosten, sie mit den preußischen in Einklang zu bringen. Uebrigens möchte ich unserem Lande nicht eine durchgehend preußische Reorganisation wünschen. Wir haben Manches, was entschieden besser ist als in Preußen, namentlich unser Schulwesen. Die Vorbildung und Besoldung unserer Lehrer ist besser, die Elementarschulen sind nicht confessionell geschieden und dem Gesetze nach unabhängig von der Kirche, wenngleich sie während der Reaction immer tiefer in die Hände der klerikalen Partei geriethen.“

Biebrich ist eigentlich eine Vorstadt von Wiesbaden und mit diesem durch eine prächtige, nur eine Stunde lange Allee verbunden. Wie es im Sommer von Tausenden der Curgäste geschieht, hätte ich gern diesen Spaziergang gemacht, aber das nasse kothige Wetter verbot es. Also bestieg ich den Eisenbahnwagen, der zunächst eine Strecke weit höchst sonderbar von einem lebensmüden Gaule im melancholischen Hundetrott gezogen wurde, bis die heranbrausende Locomotive sich seiner erbarmte und ihn schnell mit sich fortriß.

Ich fand das Curhaus in seinem alten verführerischen Glanze und die Spielsäle gefüllter als je, nämlich in dieser vorgerückten Jahreszeit. Man suchte sich für den Sommer zu entschädigen, wo es sehr leer gewesen; man spielte auf beiden Seiten, Croupiers und Publicum, mit schweißtriefender Hast, als wolle man keinen Augenblick der von dem preußischen Gouvernement erhaltenen Gnadenfrist bis zur Aufhebung dieser privilegirten Raubanstalt einbüßen. Auch preußische und nassauische Officiere sah ich jetzt spielen, was früher verboten war; nur den gemeinen Soldaten bleiben diese Räume streng verschlossen. Einen eigenen Contrast gewährte es, unter der eleganten, meist ausländischen Menge der Zuhörer zerstreut ein Dutzend von Verwundeten der preußischen Armee sitzen zu sehen. Sie sind theils auf Kosten ihrer Regierung, theils auf Kosten des Curvereins hier untergebracht, um an den berühmten Quellen und in der milden Luft vollends zu genesen und zu erstarken. Sie saßen also da in ihren von Wind und Regen entfärbten, von Strapazen und Kugeln zerrissenen Mänteln, die Krücke in der Hand oder den Arm in der Binde, und starrten mit ihren ehrlichen pommerschen oder lithauischen Gesichtern in das bunte glänzende Gewühl, in das Meer von Licht und Pracht, und an ihren erstaunten Ohren kreuzten sich französische und englische Worte der Umsitzenden.

Die Stadt in der Umgebung des Curhauses scheint über Nacht entstanden, so neu und gleichförmig sehen hier Häuser, Straßen und Anlagen aus. Man erblickt nur Hotels, Badehäuser, Cafés, Restaurationen, Bazars und Läden aller Art, Wechsler und – charakteristisch genug – Pfandleiher. Alles ist auf den Fremden und auf das Spiel berechnet und Alles lebt von Beiden. Daher auch die Angst und das Klagen der Leute um die nächste Zukunft. – „Wenn das Spiel aufhört, sind wir ruinirt, ist Wiesbaden ruinirt!“ jammern sie. „Das Spiel hat die Promenaden und Anlagen, hat das Theater und alle Vergnügungen unterhalten, hat die halbe Stadt ernährt.“

Diese Leute fühlen nicht das Ehrlose, Entwürdigende und Verpestende, was in der Beschäftigung mit dem Spiel und mit den Spielern liegt; sie wollen nur in bisheriger Weise fortexistiren.

So könnte man nach oberflächlicher Bekanntschaft an Wiesbaden und seinen Bewohnern verzweifeln, aber wie man tiefer in die Stadt eindringt, da wo die soliden alten Häuser stehen, stößt man auf einen ehrbaren kernigen Bürgerschlag, der keinem andern in Deutschland nachsteht; und Gott Lob! er bildet unter den Einwohnern Wiesbadens die Mehrzahl und ist noch stärker im übrigen Nassau vertreten.

Diese würdigen Männer halten das Spiel für den Schandfleck ihrer Stadt und werden den Augenblick segnen, wo es aufhört. Unter ihnen giebt es Viele, die noch nie einen Fuß in die Spielhölle gesetzt haben und ein solches Unternehmen bei einem ihrer Angehörigen oder Hausgenossen wie ein Verbrechen ahnden würden.

„Möge die Regierung über das Spiel abstimmen lassen,“ sagte mir ein alter umfangreicher Herr mit den schönsten Weinflecken auf Nase und Wangen. „Möge sie abstimmen lassen. Ich wette, mehr als vier Fünftel der Einwohnerschaft erklärt sich dagegen, drei Fünftel aus Ueberzeugung und ein Fünftel aus Scham. Neulich haben sie eine Bittschrift an den König von Preußen um Erhaltung des Spiels abgelassen, aber nicht mehr als vierzig und einige Unterschriften zusammen bekommen. Wem aber gehörten diese? Croupiers, Spielactienbesitzern und Leuten, die durch’s Spiel oder vom Spiele leben. – Die Schließung der Spielhölle kann der Stadt nur geringe und vorübergehende Verluste bringen, aber sie wird uns von einer Bande von Schwindlern, Gaunern und feilen Dirnen befreien, die sich hier wie die Raben um ein Aas zu sammeln pflegen. Sie wird aber auch der Corruption und Demoralisation steuern, die unter Hiesigen selber eingerissen ist, indem sie solchen Strolchen Obdach geben und sich gleichfalls zu Müßiggang und Spiel verleiten lassen – wenn nicht hier, wo es ihnen allerdings verboten war, dann in dem benachbarten Homburg oder Nauheim. Wie viele ihrer Frauen, Töchter und Schwestern sind in Ueppigkeit, ja in Prostitution versunken! – Nein, die Wegschaffung des Spiels wird im Gegentheil unser Bad heben. Die Heilquellen fließen unversiechbar, und sie werden alsbald nur wahrhaft noble Gäste heranlocken, die uns bisher mit Recht gemieden, und Wiesbaden wird ebenso floriren wie Kissingen und die böhmischen Bäder, wo man doch auch nicht dieses teuflische Spiel duldet!“



[771]
Ein Bürgertempel der Kunst.


„Eine halbe Million Thaler, sagen Sie? Und eine solche Summe wendet Leipzig an ein Theater? Und deshalb zerstört man die schönen Anlagen, raubt dem Augustusplatz das reizende Hereingrüßen der grünen Natur in das Verkehrsleben und reißt den Schneckenberg nieder, die einzige und noch dazu von Menschenhand erst aufgebaute Höhe um Leipzig, welche Gellert’s Denkmal trug und wo Theodor Körner’s Leier erklungen?“

„Ja, das Alles ist geschehen, aber mit Allem werden auch Sie sich versöhnen. Körner’s Andenken wird am schönsten gefeiert, wenn sein jugendlich kühner Geist aus seinen Dramen von einer würdigen Bühne zum Volke spricht; Gellert wird für sein Denkmal im Rosenthale gern das auf dem Schneckenberge hingeben; der Augustusplatz, den von drei Seiten die Prachtbauten der bildenden Kunst, der Wissenschaft und des Weltverkehrs – das Museum, die Universität und die Post – umgeben, konnte nicht passender seinen Abschluß finden, als daß seine vierte Seite vom Prachtbau des Theaters begrenzt wurde; wie sinnig und geschmackvoll endlich die Parkanlagen mit dem Hintergrund des Theatergebäudes gleichsam verwebt sind, davon werden Ihre eigenen Augen sich freudig selbst überzeugen. Das Theater aber ist kein Luxus, sondern, wie ein Mann von deutschem Geist und Herzen sagt, ein mächtiges Element für die Cultur der Massen und in seiner höchsten Bedeutung ein sittliches Institut, das, je mehr die Menschheit in der Theilnahme an den Interessen der Zeit fortschreitet, je mehr sie sich zur Betheiligung an dem öffentlichen Leben steigert, je mehr der Mensch in seinem Wirken, Handeln und Leiden das höchste Object des Menschen wird, auch um so mächtiger und belebender in den ganzen Kreis der Bildung eingreifen muß.

„Aber wo steht das Theater so hoch?“

In der Pflicht und im Recht der Nation! Sie muß zu erringen suchen, was sie noch nicht besitzt: die freie Bühne mit derselben Beharrlichkeit, wie die freie Presse. Der höchste Stolz jeder Nation sind seine großen Dichter, noch kein Fürst der Erde hat ein Volk zu einem Feste wie die Schillerfeier zu begeistern vermocht, und der großen Dichter höchste Schöpfungen sind die dramatischen. Dieser Schöpfungen würdig muß auch der Tempel sein, in welchem sie ihre Verkörperung finden, und darum Ehre einer Stadt, die es als ihre Pflicht erkannt hat, der freien nationalen Bühne der Zukunft schon jetzt einen solchen Tempel zu bauen.

Und zwar ist’s ein rechter Bürgertempel. Weder fürstliche Gnadenspenden noch die Schweißgroschen der Arbeiter haben nur einen Stein dazu beigetragen. Wie zu dem gegenüberstehenden Museum für Gemälde-, Kupferstich- und Sculpturen-Sammlungen ein Leipziger Bürger, Schletter, so legte zu diesem Bau ein anderer Bürger Leipzigs, Schumann, den Grund durch ein bedeutendes Vermächtniß, und nicht Gelder des Stadtvermögens, sondern freie Opfer der wohlhabenden Bürger, Darlehen theils zu sehr geringen Zinsen, theils zinslos und Geschenke brachten die ganze bedeutende Kostensumme auf. Nicht jede Stadt kann sich zweier solcher Denkmale edelster Bürgertugend rühmen. –

Und so fest stand dieser Grund des Unternehmens, daß der Bau selbst während des Kriegs fortgesetzt wurde und für Hunderte fleißiger Hände die schlimmen Folgen desselben milderte. Wenn ein Dichter am Rhein, den Kölner Dom- und rheinischen Eisenbahnenbau im Auge, singen konnte:

Einst preisen unsre Enkel ihre Ahnen:
Sie bauten Dom’ und schufen ehrne Bahnen –

so kann man von den Leipzigern sagen:

Sie bauten, wird’s vom Enkelmund erschallen,
Dem Krieg zum Trotz der höchsten Kunst die Hallen.

Und welchen Kampf mit der alten Erde erforderte dieser Bau selbst! Wer die edlen Glieder des Palastes aus dem ebenen Boden emporsteigen sieht, ahnt nicht, daß erst über zwei Millionen Centner (ganz genau 1,865,656 Kubikfuß) Erdreich in Bewegung gesetzt werden mußten, um die großartigen Grundbauten auf diesem ehemaligen Festungsterrain möglich zu machen. Welche Menschenarbeit hier unter der Erde verborgen ist, verräth die eine Zahl, daß da drunten nicht weniger als zweihundertfünfzigtausend Kubikfuß Biton und Bruchsteinmauerwerk begraben liegt, denn hier mußte auch für die drei Versenkungen unter der Bühne der Raum gewonnen werden.

Lassen wir auch für den Oberbau erst seine Materialmassen sprechen. Nur an Granit- und Sandsteinarbeiten umfaßt er über achtundsiebenzigtausend Kubikfuß, und darunter waren stattliche Klötze zu bewältigen, für deren Handhabung alle neue Erfindungen im Bauwesen, Aufzugs- und Fortbewegungsmaschinen, in Anwendung gebracht wurden. So wog jeder der Architrave des Säulenvorbaues (Prostylos) der Hauptfronte einhundertundvierzig Centner, die Säulen selbst sind vierunddreißig Fuß hoch bei drei und einem halben Fuß Durchmesser, jede der vierzehn und einen halben Fuß hohen Karyatiden der Hinterfaçade wog zweihundertundzwanzig Centner. Und doch – wie leicht war dieses Gestein jetzt im Vergleich zu seiner Wucht an jenem Schreckenstage, wo es, aus seiner hunderttausendjährigen Ruhe am Gestade der Elbe von den kleinen Menschen aufgerüttelt, aus Zorn und Rache über sie hereinstürzte, um sie lebendig zu begraben! Denn so stammt namentlich der Fries der runden Terrassenvorlage von demselben Felsstück her, das am 24. Januar 1862 jene, vierundzwanzig Männer verschüttete, deren Rettung in der Gartenlaube (Jahrg. 1862, Nr. 10 und 11) von Meisterhand geschildert worden ist.

Trotzdem ist die Rolle des Sandsteins bei diesem Bau immer noch eine bescheidene neben der des Ziegelsteins. Die Mauern, die Gewölbe, das Pflaster etc. aus diesem Material nehmen einen Raum von nahe an siebenhundertundvierzigtausend Kubikfuß ein. Im ganzen Oberbau stecken, theils zwischen Cement, theils zwischen Kalkmörtel, nicht weniger als fünf Millionen und noch über hunderttausend Stück Mauersteine.

Vom Augustusplatz aus betrachtet, bildet der ganze Bau eigentlich eine Gruppe von drei Gebäuden. Das höhere Mittelgebäude ist das eigentliche Theater, das sich dem Beschauer in einer Breite von siebenundsechzig Ellen darstellt, während seine Tiefe einhundertsechsundvierzig und eine halbe Elle beträgt. Die beiden Seitengebäude sind zu Restaurationen und für Verwaltungsräume bestimmt, und mit ihnen streckt der ganze Bau sich auf einhundertsiebenundsechzig Ellen seiner Hauptfronte aus, so daß er ziemlich zwei Dritttheile der ganzen Breite des Augustusplatzes einnimmt. Die von den drei Gebäuden bedeckte gesammte Fläche beträgt einundfünfzigtausend neunhundert und achtzig Quadratfuß.

Es ist eine Freude für das Auge, diesem Tempel auf seiner Paradeseite zu begegnen. Aus dem Grund hebt sich festgegliedert das Erdgeschoß mit seinen je drei Ellen breiten Eingangsthüren. Auf demselben ruhen die sechs korinthischen Säulen des Prostylos und über ihr streckt das stumpfe Dreieck des Giebelfeldes sich aus mit seinem Hauptreliefschmuck, welcher die Phantasie umgeben von den Grazien und Künsten darstellt und über welchem ein sechs und ein halb Ellen hoher Apollo frei aufragt zwischen Klio, der verkündenden, und Kalliope, der schönstimmigen Muse, die, sitzend, vier und ein halb Ellen hoch sind. Die übrigen Musen bilden den Statuenschmuck hinter den Säulen des Prostylos. Alles überragend erhebt sich die sogenannte Gloriette, der Raum für die ungebrochen aufgezogenen Hinter- und Zwischengardinen der Decoration, und bildet, vom rechten Standpunkte aus, einen trefflichen gelben Hintergrund für die weißen Statuen der Giebelwand. Die Augen des Palastes, die Fenster, sind im Hauptgeschoß sieben Fuß im Lichten weit.

Die beiden Seitengebäude (Pavillons) schließen sich dem Hauptbau in Styl und Schmuck genau an, ihre Giebelfelder deuten durch die Darstellung von Bacchuszügen etc. auf ihre Bestimmung hin.

Ganz vortrefflich ist die Anordnung der Zu- und Ausgänge für Fußgänger und Fahrende bei dem namentlich während der drei Messen außerordentlich lebhaften Verkehr auf den Straßen des Augustusplatzes getroffen. Die Fußgänger haben ihren Ein- und Ausgang durch die Thüren des Säulenvorbaues der Hauptfront vom Augustusplatz aus, der nach wie vor allezeit unbefahren bleibt. Für die Wagen eröffnen sich zur Rechten und Linken, zwischen den Pavillons und dem Hauptbau die Verbindung bildend, Durchfahrtthore, zu welchen von den Straßen zur Linken und Rechten des Theaters (Goethestraße und Bahnhofstraße) Fahrwege führen. Von diesen Thorfahrten aus gelangt man in einem besondern, [772]

Das neue Theater zu Leipzig aus der Vogelschau.

[773] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [774] vom Hauptbau abgeschlossenen, also jeder Feuersgefahr entzogenen Treppenhaus auf gußeisernen sieben und ein halb Fuß breiten Treppen zu den Logengängen (Foyers) des ersten und zweiten Rangs, während wir in den dritten und vierten Rang in den beiden Ecken des Hauptbaues auf massiv-steinernen Treppen von neun und ein halb Fuß Breite gelangen, die dasselbe Gefühl der Sicherheit gegen jede Feuersgefahr bieten. Außerdem führen, für den Fall der Noth, noch sieben Thüren ins Freie, abgesehen von den besonderen Ein- und Ausgängen der Pavillons.

Nehmen wir dieses Gefühl der Sicherheit nun schon in das Haus mit, so wird dies noch erhöht durch das Stattliche und wahrhaft Großartige der innern Raumeintheilung. Ueberall fühlen wir in der Ausdehnung der Räume die Rücksicht geehrt, die eine Stadt wie Leipzig auf ihre eigene Stellung in der Welt und auf die zahlreichen Gäste zu nehmen hat, die ihr als einem Centrum des geistigen und materiellen Verkehrs jährlich zuströmen. Schon das Vestibul zeigt, daß hier kein störendes Gedränge möglich sein soll. Noch wohlthuender ist der Eindruck, den wir beim Eintritt in die Logengänge empfangen: in neunzehn Fuß Breite ziehen sie sich im vollen Halbkreis um alle vier Ränge und der des ersten Ranges steht außerdem mit dem Säulenvorbau in Verbindung. Betreten wir endlich den Zuschauerraum, und zwar im Parterre oder Parquet, so regt sich Stolz und Staunen beim Blick nach jeder Seite. Im Halbkreis, der durch die Erfahrung als die beste bewährten Form des Auditoriums, erheben sich über den Parterrelogen, in geschicktester Berechnung über einander zurücktretend, die vier tiefen, zur stattlichen Höhe aufsteigenden Ränge, auf denen nirgends ein Sitzplatz sich findet, von welchem nicht der Blick auf die Bühne frei wäre. Der Sitzplätze zählt man im Ganzen eintausend siebenhundert, außerdem haben noch dreihundert Personen bequem Raum. Der zweite Rang besteht nur aus abgeschlossenen Logen; die Prosceniumslogen sind mit großen Zimmern verbunden, so daß sie den Ansprüchen selbst der exclusivsten Gesellschaft genügen können.

Auch bei der Berechnung der Größenverhältnisse der Bühne sind die Erfahrungen anderer großer Theater zu Hülfe genommen, namentlich die Mißlichkeiten des Berliner Opernhauses vermieden, indem man der Bühne eine solche Höhe und Tiefe zu geben suchte, daß vom Podium nach unten und oben die gleiche Wirkung erzielt wird. Die Bühnenöffnung ist einundfünfzig Fuß breit und achtundvierzig Fuß hoch, der Bühnenraum mißt siebentausend fünfhundert sechsundsechzig Quadratfuß (seine Größe wurde mir zu fünfzig Ellen Breite und vierzig Ellen Tiefe angegeben), so daß auf ihm auch große Volksscenen und Kämpfe mit zahlreichem Personal in Scene gesetzt werden können. Unter der Bühne befindet sich der dreißig Fuß tiefe Raum für drei Versenkungen (je nach der Anzahl der zu versenkenden Personen zu benutzen) und die nothwendigen Maschinenräume. Die Höhe des gesammten Bühnenraums vom Boden der untersten Versenkung bis zum Schnurboden beträgt sechzig Ellen und bis zum Dach siebenzig Ellen oder einhundert und vierzig Fuß. Die Verbindungen zwischen Schnurboden, Bühne und Magazinen sind durch Treppen und Gänge auf das Praktischste vermittelt.

Um die Bühne gruppirt und in wohlberechneter Anzahl und Größe befinden sich die Garderobe- und Probezimmer, Decorationsmagazine und der Malersaal, dessen Fenster nach dem Schwanenteich blicken. Für alle diese Räume besteht zum Theil Luft-, zum Theil Wasserheizung, deren Apparate ebenfalls im unterirdischen Theil des Baues Raum gefunden haben.

Versetzen wir uns nun in die wohlige Sommerzeit mit ihrem Blätterrauschen in der warmen Abendluft, denn wir wollen aus dem Steinbau der Kunst zur lieben grünen Natur uns wenden. Und wie sinnig ist der Uebergang erdacht! Auf steinernen Pfeilern ruht das Laubdach einer Veranda, die sich zu beiden Seiten der Hinterfaçade anschmiegt. Treten wir aus ihr hervor, so stehen wir vor einer halbkreisförmigen Terrasse, vor welcher der klare Spiegel des Schwanenteichs sich ausbreitet, herrlich belebt von dem über siebenzig Fuß hohen Strahl der nimmer rastenden Fontaine. Und wer sich da der Natur noch immer nicht nahe genug fühlt, der steigt auf einer der beiden Freitreppen von je vierzig Stufen hinab zum Gestade des Weihers und befindet sich im lieblichsten und durch den Prachtbau, der sich nun in seiner einzigen Wasserfläche spiegelt, so sehr veredelten Theil der Promenaden, deren angeblicher Ruin so viel vergebliche Trauer erregt hat.

Von dieser Seite gewährt unsere Illustration den Anblick der gesammten Anlage und zwar, wie sie sich vom Dache eines der nahen Häuser der Bahnhofstraße aus darstellt. Wir erblicken jenseits des Theaters, dessen einzelne Theile sich nach Obigem nunmehr von selbst erklären, die übrigen Hauptgebäude des Augustusplatzes, vom Postgebäude allerdings nur ganz zur Linken das Dach, diesem gegenüber den Eingang in die Grimmaische Straße, daneben das vielbesuchte Café français, die Universität und die auf eine Hauptbastei der alten Festungswerke erbaute erste Bürgerschule, dem Theater gerade gegenüber das Museum und über diesem die Häuserreihen, welche den durch die Messen längst weltbekannten Roß- und Königsplatz begrenzen. Wir glauben, gerade durch diese Auffassung der Illustration vielen der alljährlichen Gäste Leipzigs eine umfassendere Erinnerung an die alte Meßstadt geboten zu haben.

Schließlich müssen wir der Männer gedenken, die diesen Kunsttempelbau entworfen und geleitet haben. Den Plan verdankt man dem im Theaterbau vielerfahrenen Oberbaurath Langhans in Berlin. Unter fortwährendem Verkehr mit ihm wurde die Ausführung von dem Chef des Leipziger Rathsbauamtes, dem ebenfalls durch reiche Erfahrungen ausgezeichneten Rathsbaudirector Dost, und dem ihm zur Seite gestellten Architekten Otto Brückwald geleitet, von welch Letzterem sämmtliche Bauzeichnungen nach Langhans’ Plane und unter dessen Aufsicht vollendet worden sind. Der früher ebenfalls an der Bauleitung mit betheiligte Architekt Robert Wimmer siedelte vor der Beendigung des Hochbaues nach Dresden über.

Wenn wir über den decorativen Theil der innern Räume des Theaters hier schwiegen, so geschah dies, weil darüber noch nicht alle Vorlagen genau bestimmt sind. Vielleicht ist es der Gartenlaube vergönnt, ihren Lesern vor der Eröffnung des Hauses, die auf das Ende des kommenden Jahres verheißen ist, eine Illustration des Zuschauer- und Bühnenraumes mitzutheilen, und dann wird es auch am Platze sein, manchen Wunsch, der beim Anblick dieses neuen Kunsttempels sich im Herzen des Volks- und Vaterlandsfreundes regen muß, öffentlich auszusprechen.

Friedrich Hofmann.




Ruine Wildenfels.
Erzählung von Friedrich Gerstäcker.
(Fortsetzung.)


7. Rosel.

Am nächsten Morgen war Rosel mit dem ersten Hahnenschrei munter. Sie hatte in der That nicht zu viel versprochen, denn Niemand würde ihr angesehen haben, was sie in den letzten vierundzwanzig Stunden getragen – was sie noch still und allein im Herzen trug. Etwaige Fragen nach ihrem Abenteuer suchte sie durch Scherze und Neckereien abzulenken, denn schon die Erinnerung an jene Nacht schnürte ihr noch immer mit einem unheimlichen Gefühl die Brust zusammen, und sie mußte sich oft Gewalt anthun, um das Niemanden merken zu lassen.

So vergingen acht Tage; wohl hatte sie indeß bemerkt, daß der Vater wieder Nachts das Haus verließ, und ihn auch selber deshalb gefragt, sich jedoch vollkommen mit der Antwort begnügt, die er ihr gab: es geschehe nur, um dem Franz zu helfen, Alles dort oben zu beseitigen, was später – wenn es je einmal zufällig entdeckt werden sollte – den geringsten Verdacht erwecken könnte. Noch glücklicher fühlte sie sich aber, als er hinzusetzte, jener Brendel packe nun auch schon seine Sachen zusammen und werde in acht oder spätestens zehn Tagen Hellenhof und das ganze Land verlassen, um nach Frankreich hinüber zu ziehen.

Nur den Menschen erst fort aus ihrer Nachbarschaft, aus [775] dem Verkehr mit ihren nächsten Verwandten, und sie war überzeugt, daß dann noch Alles gut – recht gut werden konnte. Alles? Das arme Mädchen schüttelte traurig mit dem Kopfe. Alles konnte nicht mehr gut werden, denn für sich und ihr Glück sah sie keine Hoffnung. Bruno blieb ihr für immer verloren und schien sich auch selbst bereits in das Unvermeidliche gefügt zu haben, denn sie hatte ihn nicht allein seit jenem Morgen nicht gesehen, sondern wußte auch, daß er während der ganzen Zeit nicht wieder nach Wellheim herüber gekommen war, – aber sie dankte Gott dafür, denn es machte ihr die eigene Entsagung nur so viel leichter. Es war besser so; sie paßte auch nicht in die vornehme Familie, wenn es sich wirklich bestätigte, daß diese durch den Proceß ein Vermögen erworben hatte. So lange er arm gewesen, so lange sie die Aussicht gehabt, daß sie sich selber durch Fleiß und Arbeit im Leben forthelfen konnten, durfte sie den Gedanken hegen, – jetzt aber war das anders geworden, viel besser für ihn, und es schmerzte sie nur, wenn sie sich dachte, daß er sich doch wohl gar zu rasch und leicht in das Unvermeidliche gefunden.

Den einzigen Trost fand sie in der veränderten Stimmung des Vaters, den sie noch nie so heiter und vergnügt gesehen hatte wie jetzt. Er pfiff den ganzen Tag im Hause herum, und wenn sie sich manchmal allein mit ihm befand, streichelte er ihr die Backen und versicherte sie, er würde nun auch nicht mehr lange in dem langweiligen Wellheim bleiben, sondern bald mit ihr in eine große Stadt ziehen und ein Hotel anlegen. Die Preise des Landes seien, wie er hinzusetzte, so bedeutend gestiegen, daß er seine Weinberge jetzt äußerst vortheilhaft verkaufen könne, und den Zeitpunkt wolle er benutzen, denn nach einem recht schlechten Weinjahr sinke auch der Werth des Landes wieder, und so hoch wie jetzt sei er noch nie gewesen.

Fort von Wellheim? – im Anfang hatte der Gedanke etwas Peinliches für sie, sie wußte eigentlich selbst nicht weshalb, aber rasch gewöhnte sie sich hinein und als sie sich Alles überlegte, schien es ihr das Beste, daß sie weit, recht weit von hier fortzögen in ein anderes Land und auch die Erinnerungen, die bösen trüben Gedanken zurückließen am Rheine; ja sie drängte jetzt sogar selbst den Vater, diesen Zeitpunkt zu beschleunigen, draußen in der Welt konnte es vielleicht doch noch besser werden.

Der alte Jochus schien auch wirklich Ernst zu machen, denn er verkaufte schon in dieser Woche einen Theil seiner Weinberge an einen frisch zugezogenen Weinbauer und stand sogar mit diesem im Handel um Haus, Garten und Wirthsgerechtigkeit.

Es waren indessen fast vierzehn Tage seit jener Nacht verflossen und das Wetter schon recht rauh und herbstlich geworden, was den Vater aber nicht verhinderte, sehr häufig nach Hellenhof hinüberzugehen. Einmal war er sogar die Nacht dort geblieben, wie er sagte. In der ganzen langen Zeit hatte sie nichts von Bruno gehört und gesehen; in der Stadt hieß es nur, seine Mutter würde ebenfalls hinüber nach Hellenhof ziehen und hätte sich dort drüben ein sehr hübsches Haus mit einem großen Garten gemiethet; also mußten sich ihre Vermögensverhältnisse doch bedeutend gebessert haben, oder wenigstens bald Aussicht dazu vorhanden sein.

Eines Tages war Rosel hinaus in den Garten gegangen, um sich noch einen hübschen Strauß zu pflücken, ehe es einwinterte, und wollte eben mit ihren Blumen in das Haus zurück, um sie in Wasser zu stellen, als plötzlich – das Blut trat ihr wie mit Einem Schlag zum Herzen zurück – Bruno neben ihr stand – keinen Schritt auf dem Kies des Gartens hatte sie vorher gehört.

„Rosel,“ sagte der junge Mann herzlich, indem er ihr die Hand entgegenstreckte, „bist Du mir bös, daß ich Dich überrascht habe?“

„Bös?“ sagte das Mädchen verwirrt, indem sich ihr Antlitz jetzt blutroth färbte, „bös bin ich Ihnen nicht, Herr von der Haide.“

„Ihnen – Herr von der Haide?“ wiederholte der Gekommene leise und traurig, und das freundliche, ja glückliche Lächeln, mit dem er sie eben noch begrüßt, wich aus seinen Zügen. „Bin ich Dir in den wenigen Wochen so fremd geworden, Rosel, daß Du mich Sie und bei dem kalten Namen nennst?“

Rosel schwieg eine kleine Weile; sie hätte gern gesprochen, aber es ging nicht, die Worte quollen ihr in der Kehle, und sie brachte keinen Laut über die Lippen. Endlich aber wurde sie ihrer Aufregung Herr und sagte leise:

„Es kann nicht anders sein, Herr von der Haide. Sie wissen es doch; ich habe ja auch schon Abschied von Ihnen genommen, und ich hatte geglaubt, Sie würden mir den Schmerz einer zweiten Begegnung ersparen.“

„Ich begreife Dich nicht, Rosel,“ rief Bruno bewegt aus; „wie ich noch verzweifelnd in das Leben und vor mir nur Noth und Entbehrung sah, hieltest Du treu und wacker zu mir, und nichts konnte Dich irre machen.“

„Noth und Entbehrung hätten uns auch nie getrennt,“ sagte das Mädchen scheu und fast lautlos.

„Aber was denn sonst, Herz?“ bat dringend der junge Mann, indem er ihre Hand ergriff, die sie ihm, aber nur widerstrebend ließ, „was, um Gotteswillen ist zwischen uns getreten, wo uns nicht einmal Noth und Entbehrung auseinander reißen konnten? Dein Vater war, als ich ihn das letzte Mal sprach, gut und freundlich gegen mich, und meine Mutter hat mich viel zu lieb, als daß sie, eines alten Vorurtheils wegen, das Glück ihres einzigen Sohnes zerstören sollte. Ich habe auch erst gestern wieder mit ihr über Dich gesprochen und fand zu meiner Freude, daß sie sich, in der Zeit meiner Abwesenheit, näher nach Dir erkundigt und von allen Seiten nur Gutes gehört habe. Ich begreife nicht, was geschehen sein kann, Dein Herz in so kurzer Zeit, ja in wenigen Stunden nur, von mir abzuwenden. Wie soll ich da noch Lust und Liebe zu meinem Beruf haben, wo mir die schönste Hoffnung, die ich daran knüpfte, in der Blüthe geknickt ist?“

Rosel schwieg noch immer – ein schwerer Seufzer nur hob ihre Brust und ganz in Gedanken zupfte sie die Blätter von einigen der Blumen, die sie eben noch mit solcher Sorgfalt gesammelt hatte.

„Ich wäre auch schon lange zu Dir herüber gekommen,“ fuhr der junge Mann bewegt fort, „denn diese Ungewißheit ließ mich nicht ruhen noch rasten, aber es gab gerade in den letzten Wochen so viel auf dem Criminalamt zu thun, daß ich kaum zu Athem gekommen bin. Ja ich mußte sogar, in einem wichtigen Verbrechen, dem wir auf die Spur gekommen sind, mit unserem Assessor eine Reise machen, die mich fast acht Tage von Hellenhof entfernt hielt. Gestern zurückgekehrt, hörte ich zu meinem Schreck, daß Dein Vater im Begriff stehe, Haus und Wirthschaft zu verkaufen und ganz von Wellheim fortzuziehen, und da litt es mich nicht länger. Ich mußte Dich sehen, und wenn ich auch für die Versäumniß vielleicht die ganze Nacht zu arbeiten habe. – Ist es wahr, Rosel – wollt Ihr fort von hier?“

„Ja,“ hauchte das Mädchen, „der Vater will wegziehen – ich weiß selber noch nicht wohin.“

Der junge Mann schwieg und ein bitteres Gefühl zog durch sein Herz, während er still vor sich nieder starrte.

„Ich weiß nicht,“ sagte er nach einer kleinen Weile, „was mir Deine Liebe rauben konnte – ich bin mir selber wenigstens keiner Schuld bewußt, denn nicht mit einem Gedanken habe ich an Dir gesündigt. Ich kann mir auch gar nicht denken, was Du dabei hast, mir den Grund zu verschweigen, denn Du bist sonst immer so wahr und offen gegen mich gewesen, wie ich auch nichts auf der Welt kenne, was ich Dir verschweigen möchte. Aber etwas hat sich zwischen uns gelegt – Gott weiß es, ohne mein Verschulden – und sicherlich auch ohne Deines, Rosel, und nur recht, recht traurig ist es, daß dies zwei Menschen soll für ihr ganzes Leben unglücklich machen.“

„Recht traurig,“ nickte Rosel leise vor sich hin, aber so leise, daß er wohl die Bewegung sah, doch die geflüsterten Worte nicht verstand.

„So sag’ mir nur noch das Eine, Rosel,“ bat Bruno herzlich, „ich will Dich nicht länger quälen, denn ich sehe, daß Dir meine Gegenwart nicht mehr so lieb ist, wie sie es früher war – nur die eine Frage beantworte mir noch – giebt es kein Mittel, durch welches ich das Verlorene wieder gewinnen kann? Ist es so vollständig unmöglich, das Hinderniß, das ich nicht einmal kenne, aus dem Weg zu räumen – soll ich nicht wenigstens hoffen dürfen, daß noch Alles gut werden kann?“

„Nein, Bruno,“ sagte das arme Mädchen tonlos und kopfschüttelnd, „ich habe keine Hoffnung mehr. Um das Eine nur aber bitt’ ich Dich,“ setzte sie fast ängstlich hinzu, als er matt ihre Hand losließ und sich von ihr abwandte, „wenn ich auch einmal fort bin von hier und Du mich nicht mehr siehst, denk’ immer [776] und sei überzeugt, daß die Rosel gut und brav geblieben ist und Dich von Herzen lieb gehabt hat – willst Du mir das versprechen? – und Du darfst’s.“

„Ich will’s Dir versprechen,“ sagte Bruno, indem er ihr noch einmal die Hand reichte. „Und so sollen wir jetzt wirklich Abschied für’s Leben nehmen?“

„Für’s Leben, Bruno,“ sagte Rosel, während ihr ein paar große helle Thränen an den Wangen niederrollten und als Thau auf die Blumen fielen, die sie noch immer in der Hand hielt – „ich hätt’ Dir gern den Schmerz erspart, wenn es mir möglich gewesen wäre, aber Du hast’s ja selber so haben wollen.“

„Ich kann mir’s noch immer nicht denken,“ nickte der junge Mann betrübt vor sich hin, „es ist mir fortwährend, als ob wir Beide in irgend einem schweren, entsetzlichen Traume lägen und jeden Augenblick daraus erwachen müßten. Und doch ist’s wahr und wirklich! So leb’ denn wohl, Rosel,“ fuhr er fort, indem er einen leisen, kaum fühlbaren Kuß auf ihre Stirn hauchte, „ich will Dir den Abschied nicht schwer machen. Ich geh jetzt fort zu meinem Beruf und hetze, wie die ganze letzte Woche, hinter Raubmördern und Falschmünzern her und liefere die Verbrecher den Gerichten aus. Glückliche Menschen bekomme ich nicht zu sehen, die ich neiden könnte, und da will ich versuchen, ob ich’s wenigstens vergessen mag. – Leb’ wohl, Rosel.“

Rosel war’s, als ob ihr Jemand mit einer eiskalten Hand das Herz zusammenpresse, und hätten Bruno nicht die Augen so voller Thränen gestanden, so mußte er sehen, wie blaß sie plötzlich bei seiner letzten Rede geworden.

„Hinter wem hetzest Du her?“ sagte sie fast tonlos, ohne die Hand loszulassen, die sie noch in der ihren hielt.

„Hinter einer Falschmünzerbande, Rosel,“ antwortete der junge Mann, „von der ich vorgestern selber das Glück hatte, einen der Agenten einzufangen. Ich freute mich damals darüber, weil ich dachte, daß es mir vorwärts helfen würde.“

„Und hat er gestanden?“

„Noch nicht, aber wir haben trotzdem allen Grund zu vermuthen, daß wir das Nest hier in der Nähe finden werden. So will ich denn wieder an meine Arbeit gehen. Lebe wohl, Rosel, und wenn ich Dich noch um Eines bitten darf, so – vergiß mich nicht ganz, denk’ manchmal an den Bruno, der es treu und ehrlich mit Dir gemeint hat und Dich lieben wird, so lange er lebt.“

Wie er noch einmal nach ihrer Hand griff, faßte er eine der Blumen, die aus dem Bouquet gefallen war; er hielt sie fest, und sich dann rasch abwendend, schritt er, ohne sich auch nur noch einmal umzusehen, aus dem Garten.

Rosel war, als er sie verlassen, kaum eines Gedankens fähig, mitten im Weg stehen geblieben; die Blumen fielen aus ihrer Hand auf den Boden nieder, sie merkte es gar nicht. Sie that einen Schritt vorwärts, als ob sie ihm nacheilen möchte; sie wollte rufen, aber sie brachte keinen Laut über die Lippen, und lange, lange schon war er im Gebüsch verschwunden und außer Hörweite, als sie erst wieder die Kraft erlangte, sich zu bewegen.

Mit dieser Kraft kehrte aber auch das Bewußtsein ihrer Lage, das Entsetzliche des über sie hereinbrechenden Unglücks zurück, und Bruno selber, der Mann, den sie mehr als ihr eigenes Leben liebte, war der Träger desselben. Aber sie mußte ihren Vater sprechen, mußte ihn warnen und mit flüchtigen Schritten eilte sie in das Haus.

Ihr Vater war noch nicht da und, wie ihr Bärbel sagte, nach Hellenhof gegangen, hatte jedoch gesagt, daß er nicht lange ausbleiben würde. Sie wartete und wartete in peinlicher, verzehrender Ungeduld, doch er kam nicht. Sollte er wieder über Nacht ausbleiben? Der Abend dämmerte schon, indessen sie die einzelnen Minuten gezählt, die noch nie so langsam geschlichen waren, Paul Jochus ließ sich nicht blicken, und jetzt litt es sie nicht länger in dem alten Haus, wo es ihr war, als ob es über ihr zusammenbrechen müsse. Sie warf Hut und Capuze über und eilte den weiten Weg nach Hellenhof hinaus.

Wohl schauderte ihr dabei, wenn sie daran dachte, daß sie auch jenem unheimlichen Fremden begegnen müsse, aber die Angst um den Vater überwog das Alles und fast athemlos erreichte sie, schon lange nach Dunkelwerden, das etwas abgelegene Gartenhaus, das ihr Bruder bewohnte. Kein Licht brannte darin, sie klopfte an die Thür, Niemand antwortete ihr, kein Zeichen, kein Laut verrieth, daß sich ein lebendiges Wesen in der Wohnung befände.

Wo waren sie Alle? In der Ruine? Sie hätte vor Angst und Entsetzen in die Kniee brechen mögen, aber es war keine Zeit, um sich irgend einer Schwäche hinzugeben, und noch einmal klopfte sie, stärker als vorher, und wartete auf Antwort.

Da öffnete sich in dem nächsten kleinen Haus ein Fenster, und eine Stimme rief von dort heraus:

„Da drin ist Niemand zu Haus.“

„Und wo ist der Besitzer?“ frug Rosel zurück, dabei so viel als möglich ihre eigene Stimme verstellend.

„Ja, das soll Unsereins wissen,“ lautete die mürrische Antwort, „wo sich das liederliche Volk herumtreibt! Nach Wellheim zu Wein wahrscheinlich, wohin sie alle Abende gehen, die Gott werden läßt,“ und das Fenster wurde wieder zugeschlagen, denn die Nachtluft war kalt und unfreundlich.

„Jeden Abend!“ nur das eine Wort fand einen Wiederklang in ihrem Herzen. Also waren sie jeden Abend fort, und ihr Vater dann auch nicht in Hellenhof gewesen! Was half es ihr da, wenn sie hier ihre Rückkehr erwarten wollte? Mit schwankenden Schritten machte sie sich auf den Heimweg.

Wohl gab es einen Platz, wo sie fürchtete sie treffen zu können – in der Ruine, und als sie Hellenhof wieder verließ, war sie sich ihrer Absicht noch nicht klar bewußt, ob sie auch das Letzte wagen sollte, sie dort aufzusuchen. In flüchtiger Eile verfolgte sie ihre Bahn, und fast unbewußt lenkte sie, als sie die Abzweigung des Weges erreichte, ihren Fuß der alten Burg zu. Unten am Hügel aber verließ sie ihr Muth. Einmal ja, einmal hatte sie den Schrecken des alten Gemäuers getrotzt, wo sie es nur von den albernen Phantasiegebilden abergläubischer Thoren bevölkert glaubte. Jetzt stiegen entsetzlichere Bilder vor ihrer Seele auf, als der alte Ritter von Wildenfels mit seinem kopflosen Rumpf, Bilder, die ihr das innere Mark gerinnen machten; ihnen Trotz zu bieten, wagte sie nicht.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Warum Dickens den Schriftstellernamen „Boz“ annahm. Boz war der Spitzname eines jüngeren Bruders von Charles Dickens, zu welchem jener dadurch gekommen, daß Bruder Charles ihn nach dem Knaben in Goldsmith’s „Vicar of Wakefield“ Moses getauft hatte, was, durch die Nase gesprochen, zu „Boses“ entstellt wurde und dann zu „Boz“ abgekürzt ward. Das ganze Haus nannte schließlich den Knaben nur noch Boz, und so kam Charles Dickens auf die Idee, diesen ihm seit so lange vertraut gewesenen Namen anzunehmen, als er seine Schriftstellerlaufbahn begann. Jener jüngere Bruder, Augustus Dickens, ist jetzt kürzlich in Chicago gestorben, wo er seit mehreren Jahren lebte. Vor langer Zeit schon war er nach Amerika gekommen, hatte sich im Westen angesiedelt und sich neben seiner Farm auch mit kaufmännischen Geschäften abgegeben; indessen war ihm das Glück dabei nicht hold gewesen und er war froh, als er 1860 eine Anstellung bei der Central-Eisenbahn in Illinois erhielt, die er bis zu seinem Tode verwaltete. Er war als höchst liebenswürdiger und gutmüthiger Mensch allgemein beliebt und geschätzt, glich im Aeußern sehr seinem berühmten Bruder Charles und besaß auch in hohem Maße dessen genialen Humor.




Photographische Kunstwerke. Hans Hanfstängl’s Photographien der besten Meisterwerke der Dresdner Gemäldegalerie erwerben sich mehr und mehr die Anerkennung aller Kunstfreunde. Die jetzt erschienene sechszehnte Lieferung (jede Lieferung ein Blatt in der Größe von 65/48 Centimetern zum Preise von drei Thalern) enthält die Madonna delle Sedia von Raphael, nach einer so vortrefflichen Kreidezeichnung und in einer so schönen und künstlerisch vollendeten Ausführung, daß wir das Blatt als einen wirklichen Kunstschmuck allen Lesern unserer Gartenlaube dringend empfehlen können. – Liebhaber der Jagd und guter Jagdbilder machen wir auf das von Franz Hanfstängl in München jetzt herausgegebene Jagd-Album von Carl Ockert aufmerksam. Es enthält in seinen bis jetzt erschienenen fünf Lieferungen dreißig der besten Schöpfungen des bekannten Jagdmalers Ockert, in ebenfalls ganz vortrefflichen scharfen und gut ausgeführten Photographien. Die Lebenswahrheit und Frische dieser Bilder müssen jedem Jäger ein Lächeln der Zufriedenheit ablocken.


Kleiner Briefkasten.


An O. E. in Oels.

Der Du Dich als „grauer Spatz“
Meldetest der Gartenlaube,
Du verdienst schon Deinen Platz
Neben mancher Liedertaube.

Doch der Laube Raum ist halt
Viel zu klein für all’ das Singen,
Das vom deutschen Dichterwald
In der Völker Ohr will dringen.

A–a verw. Sch–r in Berlin. Artikel, nach dem Sie fragen, gar nicht erhalten.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.