Die Gartenlaube (1866)/Heft 50

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[777] No. 50.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Auferstanden.
Von Paul Heyse.
(Fortsetzung.)


Endlich legte Eugen sich in schwerem Grübeln zu Bett und fiel nach der anstrengenden Wanderung des Tages in einen unruhigen Schlaf, aus dem er oft auffuhr, um im Dunkeln nach seinen Pistolen zu greifen, die er auf alle Fälle bereit gelegt hatte. Ein ängstlicher Traum jagte den andern. Zuletzt sah er das schöne blasse Gesicht auf der Todtenbahre, und die gelbe Alte stand mit einem Schüsselchen voll Polenta neben ihr und redete ihr zu, einen Löffel voll zu nehmen, das sei gut gegen das Sterben. Als aber die Todte sich nicht regte, fing die Alte einen herzzerreißenden Jammer an, immer lauter und gellender, bis der Träumer endlich von dem schrillen Ton erwachte. Da merkte er erst, daß nicht Alles geträumt war. Es war heller Morgen und draußen vor seinem Fenster, zu Füßen des Thurmes, hörte er eine schneidende Weiberstimme singen, Worte, die er nicht verstand. Er sprang eilig an’s Fenster und sah wirklich die alte Magd, die, einen Korb am Arm, den steilen Fußweg den Felsen hinauf erstieg, dabei oft still stand und nach dem Thurm sich umwendend ihre Ritornelle sang, sichtbar in der Absicht, dem Fremden etwas damit zu sagen. Denn als sie ihn jetzt bemerkte, wie er den Kopf zum offenen Fenster hinausstreckte, wiederholte sie lauter und langsamer ihre eintönige Improvisation, von der er nichts als das Wort „Capuziner“ verstand, machte ein Zeichen, als ob sie sagen wolle, daß Vorsicht nöthig sei, und verschwand dann oben hinter dem Gestrüpp, das von Klippen herabhing.

Verwundert und aufgeregt trat Eugen vom Fenster zurück; da sah er, daß der einäugige Diener inzwischen eingetreten war und mit einem lauernden Blick ihn beobachtete. Zwar bemühte er sich sofort, eine einfältige Miene anzunehmen, und fragte unterwürfig, ob der Herr Capitän Befehle für ihn habe und ob er die Chocolade bringen dürfe. Aber es entging Eugen nicht, daß der Bursche, während er sprach, gespannt hinaushorchte nach der Stimme der Alten, die eben in der Ferne verklang. Der Herr Marchese lasse sich entschuldigen, setzte er hinzu, während er die Pistolen behutsam vom Stuhl nahm, um die Kleider des Fremden hinauszutragen. Er habe einen nothwendigen Gang zu thun und werde erst spät in der Nacht zurückkehren. Morgen, falls der Herr Capitän sich so lange verweile, hoffe er ihm seine Aufwartung zu machen. Eugen antwortete einsilbig und zerstreut. Er fragte dann, ob sonst keine Dienerschaft im Castell sei, da er Jemand brauche, ihm seine Instrumente nachzutragen. „Niemand, als ein altes Weib, das die Küche besorgt,“ erwiderte Taddeo rasch. „Die aber ist halb unrichtig im Kopf und würde dem Herrn Capitän leicht etwas zerbrechen oder verderben.“ Er selbst, sagte er und machte sich an dem Schranke zu schaffen, dürfe das Schloß nicht verlassen, wenn sein Herr auswärts sei. Er würde sich sonst eine Ehre daraus machen, den Herrn Capitän zu begleiten. Indessen seien einige Hirtenbuben in der Nähe, die gern den Weg weisen und zu jedem Dienst willig sein würden.

Der Fremde hatte das Letzte schon überhört. Der nächste Zweck seines Hierseins war ihm plötzlich so fern gerückt, daß er, als er eine halbe Stunde darauf das Castell verließ, um die Recognoscirung der nächsten Punkte zu beginnen, sogar seine Karten vergessen hatte. Als er es bemerkte, ging er dennoch weiter, langsam, auf seinen Stockdegen sich stützend, den Kopf schwer von Gedanken. Erst auf dem obersten Rande des Höhenzuges, der die eine Wand der Thalschlucht bildet, stand er still und sah in die Tiefe zurück. Einige hundert Fuß unter ihm lag das Castell. Er konnte jetzt, so weit es die Baumwipfel nicht verschatteten, die Anlage des Baues bequem überblicken und auch in das Gärtchen hineinsehen, das trotz seines Rosenflors durch die hohe Ummauerung einen düstern, gruftartigen Eindruck machte. Keine menschliche Gestalt ließ sich auf den schmalen Kieswegen erblicken und die Fenster, welche nach dieser Seite hinausgingen, waren mit dichten Jalousien geschlossen. Von hier oben gesehen, schien das ganze Haus unbewohnt. Nur einmal regte sich etwas am Brunnen unter der Platane. Als der Späher sein Fernrohr auf die Stelle richtete, sah er eine weibliche Gestalt in bäuerlicher Tracht ein paar schwere Wassergefäße über den Hof schleppen und in einer Seitenthür verschwinden. Bald darauf stieg eine leichte Rauchsäule über die Kastanienwipfel empor, das einzige Zeichen, daß hinter diesen von Cypressen gehüteten dichtverschlossenen Mauern sich noch Leben rege.

Erst jetzt flackerte etwas wie Haß gegen den Schloßherrn in der Seele des jungen Officiers auf, während er all’ die Stunden nur mit einem dumpfen Staunen über dem seltsamen Räthsel gebrütet hatte. Er malte sich’s mit einer feindseligen Freude aus, wie wohl ihm sein würde, wenn jetzt Krieg wäre und ihm der Auftrag würde, an der Spitze eines stürmenden Corps sich des Castells zu bemächtigen; wie er dann ohne Umstände in die verschlossenen Thüren einbrechen und die lichtscheuen Geheimnisse des alten Felsennestes an den Tag bringen wollte. Dann wollte er das blasse Gesicht fragen, wer ihm seine Jugend gestohlen, und den Räuber ohne Gnade zur Verantwortung ziehen.

Einstweilen aber war kein Krieg und er, allein und ohnmächtig, nur auf seine Klugheit und Ausdauer angewiesen. Er machte sich, unwillkürlich aufseufzend, von dem Blick in die Tiefe los [778] und erstieg die nächste Erhöhung des Gebirges, das hier wohl zwei Stunden weit zum Plateau sich ausbreitet. Ein schmaler Felsengrund lief durch niedriges Gebüsch gen Westen, und wie Eugen ihn mit den Augen verfolgte, bemerkte er an der höchsten Stelle des Horizontes ein weißes Klostergebäude, das bescheiden mit seinem niedrigen Glockenthurm zwischen einem Föhrenwäldchen das Hochland überschaute. Obwohl er sich sagen mußte, daß hier für seine Recognoscirung nichts zu suchen war, indem der Paß der Windung der Thalschlucht nach Osten folgte, schlug er dennoch, ohne sich zu besinnen, den Weg nach dem Kloster ein. Ein dunkles Etwas trieb ihn, dort über die Bewohner des Castells nachzuforschen. Hatte ihm doch sein Führer gestern gesagt, daß an allen Sonntagen ein Capuziner in der Capelle des Castells die Messe lese.

Doch war er kaum eine Viertelstunde zwischen Klippen und Buschwerk fortgewandelt, als sich plötzlich neben dem Wege eine Gestalt erhob, die hier auf ihn gewartet zu haben schien. Er erkannte sofort die Alte, deren Gesang ihn am Morgen geweckt hatte. Sie hatte ein braunes Tuch über den Kopf geworfen, unter dem ihre lebhaften Augen ängstlich und kummervoll hervorsahen. Als sie sich überzeugt hatte, daß der Heranschreitende der Erwartete sei, machte sie ihm ein Zeichen, ihr zu folgen, und schlich dann, den Kopf zwischen den Schultern wie eine geblendete Eule, an den Felsen hin, nach einer verlassenen Hütte, die im Schatten eines alten Steinbruchs unter Brombergestrüpp verborgen stand.

„Schwört mir bei dem blutigen Herzen der Madonna,“ sagte sie, als der Fremde sie erreichte, „daß Ihr mich nicht verrathen wollt. Ihr seht aus, wie ein Galantuomo, aber eh’ Ihr mir nicht geschworen habt, kommt kein Wort über meine Lippen. Ob Ihr hernach thun wollt, was ich Euch bitten werde, steht bei Euch.“

Er besann sich einen Augenblick, den Schwur zu leisten, den sie von ihm verlangte. „Was soll ich thun, Alte?“ setzte er hastig hinzu. „Ich bin zu Allem bereit, was sich mit der Ehre eines Soldaten verträgt.“

Sie antwortete nicht sogleich. Sie hatte sich in der Hütte auf einen niedrigen Stein gesetzt und stöhnte und jammerte vor sich hin, als wäre sie ganz allein und froh, endlich einmal in einem verborgenen Winkel sich nach Herzenslust ausseufzen zu können. Erst als Eugen sie ungeduldig an der Schulter faßte, schien sie sich zu besinnen, wozu sie eigentlich hier sei.

„Sagt mir erst, wer Ihr seid und was Ihr hier zu suchen habt,“ fragte sie, indem sie ihn trotz des Schwurs argwöhnisch von oben bis unten musterte. „Wie kommt’s, daß er Euch in’s Castell gelassen hat, wo sonst Niemand haust, als wir und die Verzweiflung? Wenn Ihr sein Freund seid, hat die alte Barborin[1] Euch nichts zu sagen.“

Er gab ihr in kurzen Worten Bescheid, der sie zu befriedigen schien. Wenigstens blickte sie, mehrmals mit dem Kopf nickend, ruhiger um sich her, zog eine alte Rindendose aus der Tasche und nahm hastig eine Prise. Dann sagte sie:

„Seid Ihr in Mailand bekannt, Herr?“

„Ein wenig,“ erwiderte er. „Es war meine erste Garnison und ich war dort ein ganzes Jahr, aber es ist lange her.“

„Und kommt Ihr wieder hin? Aber bald müßte es sein, sonst ist es zu spät!“

„Sag’, was ich dort soll. Wenn es wichtig ist –“

„So wichtig, wie Tod und Leben,“ sagte die Alte mit einem Blick gen Himmel. „Habt Ihr von dem Grafen T. (und sie nannte den Namen eines der ersten Adelsgeschlechter Mailands) sprechen hören oder seid gar selbst in sein Haus gekommen? Nun, das ist auch gleichgültig. Wenn Ihr wirklich ein Ehrenmann und ein Christ seid und Erbarmen habt mit dem Jammer der Unschuld, so werdet Ihr es mir nicht abschlagen, einen Brief an die alte Gräfin zu bringen, nicht wahr? Weiter hab’ ich Euch nichts zu bitten, und der Himmel wird Euch dafür segnen.“

„Gieb ihn mir, Alte,“ sagte er treuherzig, „gieb mir nur Deinen Brief. Wenn es acht Tage Zeit damit hat, soll er sicher besorgt werden.“

„Acht Tage?“ murmelte sie. „Das ist lange. In der Zeit kann das Licht am Ende auslöschen. Aber, wenn es nicht anders sein kann, Gott wird vielleicht gnädig sein. Hört, habt Ihr nicht ein Taschenbuch bei Euch?“

„Wozu?“

„Den Brief zu schreiben. Ich armes Geschöpf kenne wohl die Buchstaben, aber schreiben kann ich nicht, und sie, wenn sie es wüßte, daß ich hier mit Euch rede, nicht vor die Augen dürfte ich ihr mehr kommen! Darum hab’ ich auch so lange gewartet, bis ich mich entschloß, mich irgend Wem zu vertrauen. Hätte ich nicht längst auf diesen meinen Beinen fortlaufen können? und wenn ich dann in Mailand es ihnen gesagt hätte, hätte mich der Herr ja immerhin umbringen können, wie er mir gedroht. So wäre sie doch wenigstens gerettet gewesen. Aber ich wollte nichts thun gegen ihren Willen; ich dachte immer, vielleicht kommt sie selbst zur Besinnung. Nun hab’ ich’s so weit kommen lassen, daß am Ende nichts mehr hilft!“

„Wieder starrte sie wie abwesend unter Stöhnen und Wimmern in ihren Schooß und schien sich um ihn nicht mehr zu bekümmern. Er hatte indeß seine Brieftasche hervorgezogen und ein Blatt herausgerissen. Was soll ich schreiben?“ fragte er.

„Ja so,“ sagte die Alte, „sich die Augen mit dem Rücken der Hand wischend. „Nun denn in Gottes Namen, fangt immer an: ‚Liebe Frau Gräfin,‘ so darf ich sie wohl nennen, ohne all’ die Umschweife von Gentilissima und Illustrissima. Bin ich doch seit ihrem ersten Kind im Haus gewesen, und wie der junge Graf starb und dann kam die kleine Giovanna zur Welt: ‚Barborin,‘ sagte die Frau Gräfin, ‚wenn Du auch keine Milch mehr hast für die kleine Creatur, Dein Herzblut, weiß ich, würdest Du für sie hergeben; darum sollst Du im Hause bleiben.‘ O Du barmherziges Herz meines Heilands, wenn ich das Alles vorausgewußt hätte, lieber wäre ich auf die Galeeren gegangen, als das Kind großfüttern und hernach den Jammer an ihm erleben!“

„Sag’ endlich, um was sich’s handelt, Alte,“ unterbrach sie Eugen ungeduldig, „die Zeit ist kostbar.“

„Ihr habt Recht, Herr. Aber man sagt auch: ‚Zeit, Geduld und Geld besiegt die ganze Welt‘, und dann wieder: ‚Wer Alles erträgt, ist ein Heiliger oder ein Esel‘. Darum schreibt nur, was ich Euch vorsagen will. Denn meine Geduld ist am Ende.“

„Liebe Frau Gräfin –“ wiederholte der Fremde.

„‚Ich, die Euch hier schreiben läßt,‘“ fuhr die Alte fort, „‚bin Eure alte, treue Barborin und wollte Euch nur melden, daß Ihr auf eine ganz erbärmliche und schändliche Weise betrogen seid, von Jemand, der – Gott verzeih’s ihm! – wie ein Türk und Heide an Eurem Kinde thut, da er Euch und dem Herrgott doch versprochen hat, sie auf Händen zu tragen.‘ Habt Ihr das? Gut! Und nun schreibt weiter: ‚Nämlich, es ist eine Lüge und abscheuliche Verleumdung, daß meine junge Gräfin den Verstand verloren haben soll, und darum sei sie hier in diese Einöde gezogen und wolle keine Menschenseele sehen und sprechen, nicht einmal Vater und Mutter. Sondern im Gegentheil‘ – und das könnt Ihr unterstreichen – ‚sie hat ihre fünf Sinne so richtig beisammen, wie ich selbst und Eure gräfliche Gnaden, mit aller Ehrerbietung sei es gesagt, und daß sie von der Villa fort ist und hier im Castell eingemauert, das hat Er auf dem Gewissen, den ich nicht nennen will, weil er mir angedroht hat, mich niederzuschießen, wie eine tolle Hündin, wenn ich das Geheimniß ausschwatzen würde. Ach aber, man könnte mich sieben Tode sterben lassen, ich müßte endlich den Mund aufthun, oder es bricht mir das Herz stückweise, Tag für Tag den Jammer mit anzusehen, wie nämlich meine junge Gräfin weder ißt, noch trinkt, noch schläft, als wollte sie sich selber muthwillig unter die Erde bringen; denn wohl heißt es: sage mir, wie Du lebst, und ich sage Dir, wie Du stirbst, und daß es so nicht lange fortgeht und mein armer Engel entweder seinen letzten Athem aushaucht, oder zuletzt wirklich noch toll und wahnsinnig wird, das begreift Jeder, der sie kennt und sieht, und auch wohl Er, der an Allem schuld ist, und der’s wohl so haben will, sonst würde er sich endlich erbarmen. Darum, meine liebe gnädige Frau Gräfin, wenn Ihr Eure Tochter retten wollt‘ – habt Ihr das? – nun kommt erst die Hauptsache. Aber, die weiß ich selbst noch nicht. Denn, wenn ich auch schreibe, die Eltern sollen kommen und meine junge Gräfin aus dem Castell mit sich fortnehmen, wird sie selbst auch mit wollen? Denn Ihr müßt wissen, Herr Capitän, sie spricht nur von Büßen und Sterben, und daß sie die Welt nie wiedersehen wolle, armes Herzchen! und daß sie nichts auf Erden mehr freuen könne. Ach, Er hat es schon erreicht, der Erbarmungslose, daß eine Schwermüthigkeit [779] über sie gekommen ist, schwarz wie das Grab, und es wäre besser gewesen, er hätte ihr damals gleich ein Messer in’s Herz gestoßen, als daß er sie so mit ihren eignen zweischneidigen Gedanken drei Jahrelang hinmordet!“

Da faltete sie wieder die Hände im Schooß und schluchzte leise vor sich hin. Eugen hörte, wie draußen eine Ziegenheerde den Steinbruch hinunterkletterte und die Stimme des Hirten in einer Art Singsang den Thieren zurief. Nun kam der Bursch näher, trat einen Augenblick in die Thür der Hütte, verschwand aber sogleich wieder, da die Heerde hastig bergab lief. Eugen wußte nicht, ob er, da er im Schatten stand, dem Hirten sichtbar geworden war. Die Alte mußte er jedenfalls bemerkt haben.

„Laß mich Alles wissen,“ sagte er rasch, „und spute Dich, Barborin. Man könnte uns hier stören, und dann wäre ich vielleicht nicht mehr im Stande, zu helfen. Was hat sich zugetragen, das die Gatten einander so feindlich gemacht hat? Es ist kaum zu glauben, daß ein Mann das Herz haben kann, seine schöne, junge Frau lebendig zu begraben[WS 1], wenn sie wirklich unschuldig und bei gesundem Verstande ist.“

Die Alte sah ihn groß an und schien einen Augenblick zweifelhaft, wie weit sie ihn in’s Geheimniß einweihen sollte. Dann nahm sie wieder mit ihren vom Alter verkrümmten Fingern eine Prise und sagte, indem sie an die Thür trat, dem Ziegenhirten nachzusehen: „Unschuldig? Wer ist unschuldig, lieber Herr? Der Gerechte fällt sieben Mal jeden Tag, und die Strafe hinkt, aber endlich kommt sie doch an. Wollt Ihr, daß ein armer Engel von achtzehn Jahren, den man gezwungen hat, einen Mann zu nehmen, ohne daß das Herz dazu Amen sagt, nun gar kein Herz mehr haben soll? Noch dazu, wenn sie ihres schon verschenkt hat und nicht mehr Herrin darüber ist. Ich höre noch, wie sie zu mir sagte: ‚Barborin,‘ sagte sie, ‚wenn ich den Marchese heirathen soll und nicht Gino‘ – so hieß nämlich ihr Vetter, den sie schon als kleines Mädchen geliebt hat – ‚Du wirst sehen, Barborin, es giebt ein Unglück!‘ Das sagte sie, und weil ich sie kannte und ihren Vater auch, und wußte, daß der von seinem Willen niemals abzubringen ist, ‚Täubchen,‘ sagt’ ich, ‚mein einziges Herz, ja wohl giebt es ein Unglück, aber die alte Barborin hat nicht das Herz, es mit anzusehen, und darum will ich fort nach meiner Heimath, wo ich geboren bin‘ – das ist nämlich ein kleiner Flecken, drei Stunden von der Stadt – ‚und da will ich für meine Giovanna beten Tag und Nacht,‘ sagt’ ich, ‚und der Herrgott wird wissen, was er giebt und nimmt.‘ So sagt’ ich und ließ mich auch nicht mehr halten, denn die Hochzeit war nahe, und Gino, der eben Lieutenant in der Marine geworden war, konnte nicht nach Mailand kommen, der alte Graf aber ließ nicht mit sich reden und auch die Gräfin war für den Marchese, weil er nämlich ein so angesehener Officier war, und sehr reich und auch sonst ein Galantuomo. Aber fragt danach ein Herz von achtzehn Jahren? Die erste Liebe ist die beste, heißt’s im Sprüchwort. Und so ging ich fort und wollte nichts mehr hören und sehen von Allem, was sich nun zutrug, und richtig, ein ganzes halbes Jahr lebt’ ich auch zu Hause, als wäre gar keine Contessina auf der Welt, nur an meinem schweren Herzen konnt’ ich merken, daß nicht Alles in Ordnung war.

Nun denkt Euch meinen Schrecken, als ich plötzlich einen Brief bekomme, worin steht, ich sollte auf der Stelle mich in einen Wagen setzen und nach der Villa des Marchese kommen, die junge Frau habe mich nöthig. Im ersten Augenblick dacht’ ich an frohe Hoffnungen und sagte bei mir selbst: Am Ende hat sie sich doch besser drein gesunden, als sie dachte, und wenn nun gar erst ein Kindchen da sein wird –! Aber ich machte doch die Reise mit schlimmen Ahnungen. Den Brief hatte nicht meine Giovanna geschrieben, sondern er, und wie sich endlich hinkam – es war schon dunkler Abend – empfängt mich der Spitzbube, der Taddeo – das Auge trug er damals verbunden, sonst war er schon ganz so garstig wie heut’ – und führt mich nicht zu meiner jungen Herrschaft, sondern, eh’ ich mich noch besinnen und den Staub aus meinen Kleidern schütteln konnte, geradewegs zum Marchese.

Ich hatte ihn früher nur ein paar Mal gesehen, fand aber doch keine große Veränderung auf seinem Gesicht, nur freilich – von Vaterfreude keine Spur!

‚Barborin,‘ sagte er, ‚ich habe Euch kommen lassen, daß Ihr der Marchesa Gesellschaft leisten sollt. Denn sie ist krank, im Gemüth nämlich, und Ihr seid Ihr von Kindheit an treu gewesen und sie hat Zutrauen zu Euch.‘ ‚Himmlische Barmherzigkeit,‘ sagt’ ich, ‚wie ist das nur zugegangen, Herr Marchese? Meine kleine Giovanna, die so munter war,‘ sagt’ ich, ‚und das ganze Haus lustig machte mit ihrem Lachen!‘ – ‚Ja,‘ sagte er und seufzte dabei, daß ich ein rechtes Mitleiden mit ihm hatte, ‚es ist geschehen!‘ Dann erzählte er mir kurz, ein Dieb sei bei Nacht in ihr Gemach gedrungen, er, der Marchese, sei zwar noch zur rechten Zeit herbeigeeilt, um ihn zu verscheuchen, aber es habe einen Kampf gegeben zwischen dem Räuber und Taddeo, der dabei ein Auge verloren, und der Schreck und die Aufregung seien die Ursache, daß die Marchesa in Tiefsinn verfallen sei, Niemand sehen und sprechen und an einen Ort fliehen wolle, wo sie mehr in Sicherheit wohnen könne, als in der offenen Villa oder selbst in der Stadt. Darum gedenke er morgen nach seinem Schloß am Gardasee aufzubrechen und dort zu bleiben, bis sich die Angst der armen Frau beruhigt habe.

Das sagte er mir, und mit einem so stillbetrübten Ton, dabei sehr resolut und fest, daß ich auch Alles glaubte und am wenigsten gewagt hätte, eine Einwendung zu machen. Ich sagte ihm, ich sei Willens, meine junge Herrschaft nicht zu verlassen, bis sie mich wieder entbehren könnte, worauf er nickte und seinem Kammerdiener befahl, mich zu ihr zu führen. Aber wie fand ich den armen Engel! Nicht wiederzuerkennen! Bleich und stumm, keine Thräne, keine Klage, daß ich heftig erschrak, denn man sagt mit Recht: Wer noch wimmert, kann wieder gesund werden. Werdet Ihr glauben, daß sie nicht eine Miene veränderte, als sie mich sah? Und auf all’ mein Zureden nur Kopfschütteln und Abwenden und endlich geradezu der Befehl, sie allein zu lassen. Ach, du himmlische Mutter der Gnaden, wie das einer treuen alten Person in’s Herz schneidet! Und am andern Tage ging’s richtig fort, ich mit der Marchesa im Wagen, Taddeo auf dem Bock und neben ihm die Küchenmagd Martina, die Alle für einfältig hielten, weil sie nicht viel redete und dabei erbärmlich stotterte, obgleich sie klüger ist als Manche. Der Marchese war zu Pferde und blieb immer hinter dem Wagen. Und so ging’s Tag und Nacht mit frischen Pferden, bis wir in das gottverlassene Kerkerloch einfuhren, und wie der Wagen über die Zugbrücke rollte, war mir’s doch, als wenn ich Erdschollen auf einen Sarg nieder rollen hörte. Die Marchesa schien nichts zu hören noch zu sehen. Sie lag die meiste Zeit mit geschlossenen Augen im Wagen, und auch hier oben warf sie sich gleich auf ein altes Canapee und blieb wie eine Todte, nur daß sie dann und wann einen Bissen aß. Mit ihrem Gemahl wechselte sie in all’ der Zeit keine Silbe. Und kaum waren wir unter Verschluß, so ritt auch der Herr wieder fort und der garstige Mensch, der Taddeo, war unser Castellan und Kerkermeister.

Ihr könnt denken, daß mir das Alles nach und nach wunderlich vorkam. Ich fragte den Taddeo – aber die Wand da giebt mehr von sich als der. Desgleichen meine junge Herrschaft. Doch schon am ersten Abend, wie ich mit der Martina am Heerde zusammensitze, denn die Marchesa hatte mich wieder fortgeschickt, da kam ich hinter Alles, denn ich kann die Martina ganz gut verstehen, wenn es auch Zeit braucht, bis sie sich explicirt hat. Wer meint Ihr, wer der Dieb gewesen, der meine Frau so erschreckt haben sollte? Niemand anders als Gino, und der Schrecken sah der Freude so ähnlich wie Geschwisterkinder. Der Marchese war gerade abwesend von der Villa, auch waren sie noch nicht lange draußen. Die Eltern wollten ihr Kind so bald nicht fortlassen. Aber dort auf dem Lande, sagte Martina, sei die junge Marchesa sehr traurig gewesen, nachdem sie sich in der Stadt lange Gewalt angethan. Ach, Herr Capitano, was wollt Ihr? Man ist nur Einmal achtzehn Jahre und nur Eine Liebe ist die erste. Also leben sie in der Villa ganz still etwa eine Woche hin und der Taddeo war schon damals so eine Art Haushofmeister, da sitzt die Martina am Abend in der Küche und plötzlich tritt ein Bauernbursch mit einem Zettel herein, legt den Finger auf den Mund, und da er sieht, daß sie allein ist, schiebt er ihr den Zettel unter die Schürze und fort! Sie sah gleich an der Aufschrift, daß es an die Marchesa war, und bringt’s ihr, und die wird über und über roth vor Freude, armes Herzchen! und schreibt rasch zwei Worte auf ein Blatt und bedeutet ihr, das soll sie dem Boten geben, wenn er sich wieder blicken lasse. Der aber kam erst am folgenden Abend; wahrscheinlich fürchtete er den Taddeo. Und besser wär’s gewesen, er wäre nie wiedergekommen. [780] Denn kein Teufel in der siebenten Hölle ist so pfiffig, wie der einäugige Spitzbube, und damals hatte er noch obendrein seine beiden Diebslichter im Kopf.

Was soll ich Euch viel sagen, Herr? Am folgenden Abend schlich der Herr Gino in’s Haus, auf einem ganz sichern Wege, wie er meinte; aber schon war Alles verloren und verrathen. Denn er war erst ein paar Stunden droben bei seiner armen Geliebten, die nun eines Andern Frau war, so wird die Hausthür aufgebrochen und der Marchese -– der Taddeo nämlich hatt’ es ihn nach Mailand wissen lassen – stürzt herein, nein, stürzt nicht, sagt Martina, sondern fährt wie ein Racheengel, einen Blitz in der Hand – seinen Degen nämlich – an ihr vorbei und hinauf, daß sie erst meint, es habe neben ihr eingeschlagen. Aber sie rafft sich noch rasch genug zusammen, um hinauf zu eilen, womöglich ihrer armen Herrschaft zu Hülfe. Lieber Himmel, wie hätte das arme Geschöpf ihr helfen können gegen den Wüthenden! Denkt nur, lieber Herr, wie sie oben in das Zimmer unserer Frau tritt, da sieht sie den Herrn Marchese mitten auf dem Teppich stehen und er rührt kein Glied, nur der Degen in seiner Hand zitterte so stark, daß die Klinge beständig hin und her blitzte, weil eine Lampe von der Decke herabhing. Und dabei sprach er kein Wort und die Frau auch nicht; sie saß nämlich auf einem Stuhl neben dem Bett und, sagte die Martina, sie war weiß wie Kreide, aber furchtsam sah sie gar nicht aus, vielmehr wie wer schon gestorben ist und es kann ihm nichts mehr geschehen. Das sah die Martina Alles, denn Keines hatte sie kommen hören und sie stand im Schatten neben einem großen Schrank.

Plötzlich hörte man draußen ein Geschrei, denn das Fenster stand offen, und Taddeo’s Stimme war ganz deutlich zu unterscheiden, wie er schrie: ‚Verfluchter Mörder! Hülfe! Hülfe!‘ und in demselben Augenblick machte der Marchese eine Bewegung gegen den Stuhl bin, und schüttelte die Faust mit dem Degen, als wollte er seine Frau durch und durch rennen. Aber, sagt Martina, da schlug sie nur die Augen gegen ihn auf und sah ihn an, als ob sie sagen wollte: thu’s! thu’s nur, wenn Du das Herz hast! Und er – den Blick konnte er nicht aushalten; da nahm er seinen Degen, stemmte die Klinge gegen den Fußboden und zerbrach ihn – krak! – und die Stücke warf er zum Fenster hinaus. Und da ging die Thür auf und Taddeo kam herein, scheußlich anzusehen, sagt Martina, so blutig wie ein Metzger vom Kälberstechen, und trug was in jeder Hand, in der einen sein eines Auge, das hatte ihm bei dem Raufen unten der arme Ertappte ausgeschlagen, in der andern eine goldene Taschenuhr an einer kleinen Kette. ‚Hier, Excellenza,‘ sagte er; ‚das ist Alles, was dabei herausgekommen ist. Er selbst ist entsprungen, der maledeite Mörder!‘ – Damit gab er dem Marchese die Uhr und kehrte sich um, und wie er draußen war, heulte er vor Schmerz und Wuth, und die Martina, die ein mitleidiges Herz hat, lief ihm nach, ihm Umschläge um seine Wunde zu machen, aber er sprach kein Wort mit ihr über die ganze Sache, weil er sie für zu dumm hielt, sondern fluchte und schäumte nur, und die Nacht that Keins in der Villa ein Auge zu. Was die Herrschaft noch mit einander geredet, kann nur Gott wissen. Viel war es in keinem Fall, sagt Martina. Denn sie hörte bald darauf den Herrn in sein Zimmer gehen und sich da einschließen. Dasselbe that auch die Frau. Sie öffnete nicht und antwortete auch nicht, als Martina gegen Mitternacht hinaufging, um nach ihr zu sehen. Aber das Licht brannte die ganze Nacht bei ihr, und man hörte keinen Laut durch’s Haus, als nur das Wüthen und Aechzen des Taddeo.

Morgens früh kam der Marchese in die Küche und sagte der Martina, es sei ein Dieb in der Nacht eingebrochen, sie möge diese Anzeige, die er aufgesetzt, in den nächsten Ort tragen, wo ein Gensd’armerie-Posten war, und zugleich diese Briefe auf die Post. Darunter war einer an den Grafen und die Gräfin und der andere an mich. Da ging er in Taddeo’s Kammer und schickte ihn ebenfalls zum nächsten Feldscheer mit seinem blutigen Gesicht. Und drei oder vier Tage darauf, als ich hinkam, war’s schon im besten Heilen, aber freilich, ein frisches Auge konnten ihm alle Doctoren der Welt nicht ancuriren, und darum hatte er nun einen Haß auf unsere Frau, daß ich glaube, wenn der Marchese ihm gesagt hätte: wirf sie bei lebendigem Leibe in einen Kessel mit siedendem Wasser, er hätte es gethan, der giftige Hund. Darum konnte der Herr ihm ruhig das Castell übergeben, als er fortritt. Ich aber wußte nun genug. Am andern Morgen, gleich in aller Frühe, ging ich zu meiner Frau, obwohl sie mich nicht gerufen hatte. Sie lag wachend im Bett, und ich sah’s ihr wohl an, daß sie nicht viel geschlafen hatte. Da sagte ich ihr, daß ich Alles wisse und sie solle sich nur zufrieden geben, kein Mensch in der Welt könne es ihr verdenken, daß sie ihrem armen Geliebten nicht gleich den Laufpaß gegeben, und wenn man mich so gezwungen hätte, einen alten Mann zu heirathen, dem hätt’ ich’s noch viel ärger gemacht. ‚Und gewiß,‘ sagt’ ich, ‚wenn der Herr Gino erst weiß, wo Ihr steckt, Himmel und Hölle bietet er auf, um Euch zu befreien, und müßt’ er das Castell an allen vier Ecken in Brand stecken, oder sich durch den Felsen einen Gang zu Euch graben,‘ sagt’ ich. – Aber wenn Ihr glaubt, lieber Herr, daß all’ meine guten Worte sie nur so viel getröstet hätten, so irrt Ihr Euch. Es war, wie wenn ich’s in den Ziehbrunnen gesprochen hätte. Erst als ich so zufällig erwähnte, unser Kerkermeister sei wieder fortgeritten, fragte sie, indem sie hastig vom Bette aufsprang: ‚wohin?‘ Und da ich’s nicht wußte, fing sie, am ganzen Leibe zitternd, zu klagen an: ‚Er wird ihn suchen, gewiß, er wird nicht ruhen, bis er ihn gefunden hat, und dann ist’s sein Tod!‘ – ‚Oder Eures Herrn!‘ tröstete ich sie, ‚und dann seid Ihr frei.‘ – Aber sie wollte nichts hören, und diese ganze Woche, bis endlich der Marchese wiederkam, war Euch ein wahres Fegefeuer vor Angst und Elend. Da aber brachte er Briefe mit von ihren Eltern, die beruhigten sie. Der Marchese war die ganze Zeit in der Stadt gewesen, schrieb die Mutter, und hatte seine Geschäfte geordnet, auch seinen Abschied genommen als Militär, um nur für die Genesung seiner Frau zu leben, wie er ihnen vorgespiegelt. Und dann Bitten und Ermahnungen, sich doch nicht ihrer Schwermuth hinzugeben, und die besten Worte, und ob die Mutter nicht kommen dürfe. Auch aus der Stadt allerlei Neuigkeiten, und darunter, daß ihr Vetter Gino sich in Genua eingeschifft habe, weil die Flotte nach Afrika geschickt werde, und das war der beste Trost von Allem. Denn nun war er vor der Rache des Marchese für eine Weile sicher. Sie selbst gab mir den Brief zu lesen, sprach aber nichts dabei, wie sie denn überhaupt in den drei Jahren wenig Worte von sich gegeben hat, außer wenn sie betet. Ach, Herr Capitano, ein Tiger, ein Krokodil würde blutige Thränen weinen, wenn sie die arme Frau so still und blaß wie eine Sterbende herumwanken sähen, und dieses Ungeheuer, ihr eigner Mann –“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Apostel der Wahrheit.


Mitten in die Hauptbegebnisse des jüngsten deutschen Krieges fiel der wohl von Manchem in stiller Sammlung begangene fünfundzwanzigjährige Gedenktag eines Ereignisses, das, zwar nicht vom Donner der Kanonen in alle Lande hinaus verkündet, doch auch der Anstoß wurde zur Erneuerung eines alten gewaltigen Kampfes, des Kampfes um eines unserer edelsten Güter, um religiöse Freiheit. Am 29. Juni war es ein Vierteljahrhundert, daß die sogenannte „lichtfreundliche“ Bewegung ihren Anfang nahm; der Mann, welcher die äußere Veranlassung dazu gab, der als der eigentliche Vater der aus dem Schooße des Protestantismus hervorgegangenen freireligiösen Agitation zu betrachten ist; welcher in einem Umfange wie kein Anderer von ihrem Entstehen an bis auf den heutigen Tag durch Schrift und Wort und durch die Macht seiner Persönlichkeit für sie gewirkt, ihre weitere Ausbreitung gefördert, mit unbeugsamem Muthe ihr Recht vertheidigt und für sie gelitten hat; er gehört in die Reihe jener Geisteshelden, die ihr ganzes Leben einsetzen, die Menschheit aus dem Dunkel des Wahnglaubens zum Lichte des freien Gedankens emporzuringen, das allein ihrer würdig und zugleich ihr unveräußerliches Recht ist. Wer die Geschichte der religiösen Kämpfe unseres Vaterlandes in den letzten Jahrzehnten auch nur einigermaßen. kennt, der weiß, daß hier nur Uhlich gemeint sein kann; mit einer Charakteristik

[781]

Vater Uhlich.

dieses unermüdlichen Apostels der Wahrheit trägt die „Gartenlaube“ ihren Lesern nur eine längst fällige Schuld ab.

Uhlich war es bekanntlich, der am 29. Juni 1841 jene Zusammenkunft sechszehn freisinniger preußischer Pastoren nach Gnadau in der preußischen Provinz Sachsen berief, welche sich zum Schutze der durch das Verfahren des Bischofs Dräseke gegen den Prediger Sintenis bedrohten protestantischen Lehrfreiheit zu dem Verein der „protestantischen Freunde“ oder der „Lichtfreunde“ verbanden. Er war es, der den Standpunkt der protestantischen Freunde, das Festhalten am Recht der freien Entwickelung in der protestantischen Kirche, sowohl als Ordner und Hauptredner auf den vielen lichtfreundlichen Versammlungen, welche bald eine ungeahnte Bedeutung erlangen sollten und im Jahre ihres Verbots 1845 an den verschiedensten Orten Deutschlands von vielen Tausenden besucht waren, sowie als Redacteur der „Blätter für christliche Erbauung von protestantischen Freunden“ verfocht. Uhlich wurde die Seele und der Mittelpunkt der spätern freigemeindlichen Bewegung und ist es bis jetzt geblieben.

Der Bildungsgang des Mannes ist ein so interessanter und lehrreicher, daß wir eine in großen Zügen gegebene Schilderung desselben unsern Lesern nicht vorenthalten dürfen. Ein gläubiges Kind kirchlich-frommer Eltern, kam Uhlich durch den Unterricht eines freisinnigen Predigers und ähnlich gesinnter Lehrer bereits als Knabe zu der Ansicht, daß man in der Religion wie in allen Dingen „vernünftig“ sein müsse. Die rationalistischen Professoren, unter deren Leitung er in Halle Theologie studirte, bestärkten ihn in den gewonnenen Anschauungen. Am christlichen Rationalismus aber hielt er als Landpfarrer, als Führer der „Protestantischen Freunde“ und als Prediger an der Katharinenkirche in Magdeburg fest, kämpfte bis zu dem Augenblick, wo man ihn gewaltsam aus der kirchlichen Gemeinschaft drängte, für freie Entwickelung innerhalb der Staatskirche und vermochte sich von dem historischen Christenthum selbst noch nicht loszusagen, als er zum Sprecher der neugebildeten freien Gemeinde in Magdeburg gewählt wurde. Allerdings war sein Rationalismus immer entschiedener geworden: Jesus, der ihm noch 1843 in den „Bekenntnissen“ in einem mysteriösen Halbdunkel vorgeschwebt hatte, als ein Mittelding zwischen Gott und Mensch, von dem er nicht wisse, wer er eigentlich sei, erschien ihm immer menschlicher, die Bibel wissenschaftlich unbegründet, bis ihn endlich die freie, von dem äußeren Zwange der Kirchengemeinschaft völlig unabhängige Forschung auf den rein menschlichen Standpunkt der Religion führte, von welchem aus das Christenthum nichts weiter als eine der Entwickelungsphasen der Religion ist, die der Kritik des heutigen Geschlechts nicht entzogen bleiben kann. Jetzt predigte Uhlich die Vernunftreligion schlechthin. Seine Vernunft aber hielt noch am persönlichen Gott fest. Dies schien ihm eine jener Forderungen der Vernunft, die geglaubt werden müssen, wenn sie auch nicht bewiesen werden können.

Neuer Kämpfe und Anstrengungen bedurfte es, um auch diese letzten Schranken des anerzogenen Glaubens zu überwinden und ihn in seiner heutigen Ansicht zu befestigen. Nach dieser unterliegt die Religion dem Gesetze, das die ganze Welt beherrscht, der Bewegung. Es giebt für dieselbe keine ewig feste, unbewegliche und unveränderlich starre Grundlage, sondern sie gehört ganz in den Fluß der übrigen menschlichen Dinge hinein. Alle vorhandene Religion ist nichts anderes, als das Erzeugniß früherer Vernunft, so daß die heutige lebendige Religion lebendiger Menschen [782] nichts anderes sein darf, als das Erzeugniß heutiger Vernunft, in der ja schon der unvergängliche Theil des Erbes früherer Vernunft liegt. Denken, nicht Glauben, ist auch in der Religion die Regel. Geltung in ihr kann nur das Erkannte, Gewußte, auf sichern Thatsachen Ruhende haben. Das Vermuthete, Geahnte gehört nicht in die Religion der Gemeinschaft hinein, bleibt Jedem anheimgestellt. Die Thatsachen der Natur und des Menschenwesens sind die Grundlagen der Religion. Es giebt keinen persönlichen Gott außerhalb der Welt, sondern Gott ist in den Dingen selbst; er ist mit der Welt eins. Er blickt uns aus der Blume an und umweht uns im Luftstrom, er rauscht uns in der Welle zu und in dem Baume strebt seine Kraft vor uns empor, in meinem Auge webt und pocht sein Leben, in meinen Gedanken ist er die gesetzgebende, ordnende Macht, in meinem Gewissen redet seine Stimme. Gottes Wort steht am klaren, nächtlichen Himmel und seine Buchstaben sind die schimmernden Sterne, Gottes Wort spricht in den ziehenden Wolken, es redet im Wald und im Felde.

Am schwersten fiel es Uhlich die letzten Consequenzen zu ziehen in der Frage vom Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und an ein Wiedersehen nach dem Tode. Er beschreibt in seinem Sonntagsblatte, wie ihm die Hoffnung, in einem Jenseits seine Entschlafenen wiederzusehen, ein gar freundlicher und tröstlicher Gedanke gewesen sei. Aber sein Entwickelungsgang trieb ihn auch in dieser Frage unaufhaltsam vorwärts und brachte ihn zu der Ueberzeugung, daß alle durch die Orthodoxie verbreiteten Vorstellungen von einem künftigen Leben sich wissenschaftlich nicht begründen lassen. Der menschliche Geist in seiner hohen Kraft und Begabung ist ihm das Wundervollste, das sich in dem großen Reiche der Dinge darstellt, aber auch er entspringt aus dem gleichen Mutterschoße der Welt, dem Thier und Pflanze entspringt, und Niemand hat irgendwo ein Zeichen wahrgenommen, daß er ohne Leib bestehen könne.

Es ist klar, daß, sowie Uhlich’s jetzige Anschauung von Gott und der Welt eine offenbar pantheistische ist, seine Ansicht über den menschlichen Geist als eine materialistische bezeichnet werden kann. Es ist hier nicht die Stelle, ein Urtheil über diese Ansicht zu fällen. Wenn aber die Gegner eine solche Anschauungsweise für das „volle Gegentheil von Sittlichkeit“ erklären, so werden sie sowohl durch Uhlich’s Sittlichkeitslehre, als auch ganz besonders durch seine und seiner Anhänger Sittlichkeit auf’s Glänzendste widerlegt. Die Summe der besten Gedanken, über welche heute die Menschheit verfügt, ist Uhlich’s Religion. Sie ist ihm die Hingebung an diese Gedanken, als die Beherrscherinnen des Gemüths und des Lebens. Seine Predigt strebt zu sein eine Darreichung aus diesem Schatze zur Befriedigung des ewigen Verlangens nach dem Wahren, Guten und Schönen. Sie lehrt die Grundsätze der Gerechtigkeit, der Liebe, der Menschenwürde. „Was du willst, daß dir die Leute thun sollen, das thu’ ihnen und umgekehrt. Liebe die Menschen und beweise ihnen deine Liebe mit der That, denn das Wahre, Gute, Schöne, wonach deine Seele strebt, mußt du in möglichst weiten Kreisen pflanzen und pflegen, anders kannst du dir selbst nicht genügen; das allgemeine Wohl ist deine Seligkeit, also laß dich von der Liebe regieren. In allen Dingen das Höchste streben ist dein Beruf und dein Glück.“

Uhlich’s sittlicher Standpunkt wird am besten durch folgende von ihm selbst in neuester Zeit geschriebene Worte bezeichnet: „Eins steht fest und bleibt fest stehen, nämlich, daß ich ein guter Mensch sein muß; das ist die unverrückliche Thatsache des innern Lebens; ich sage, daß gerade die sittliche Nothwendigkeit die allerentschiedenste Thatsache ist, ebenso gut Thatsache der Menschennatur, als wir die Thatsachen in der uns umgebenden Natur finden.“ Mit Recht beruft sich Uhlich auf Jesu Ausspruch: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Welcher Prediger der Staatskirche möchte sich rühmen, die Gebote seines Heilands in umfassenderer Weise zu erfüllen als Uhlich? Uhlich predigt die Nächstenliebe nicht nur, er beweist sie durch die That. Wem es vergönnt war, persönlichen Verkehr mit ihm zu pflegen, der kennt seine Aufopferungsfähigkeit, seine große Uneigennützigkeit, seinen durch nichts zu ermüdenden Eifer, jede Noth zu lindern und jedem Bedrängten zu helfen. Mögen Andere predigen: „Segne die, die dir fluchen, und thue denen Gutes, die dir Böses gethan haben,“ Uhlich handelt nach diesem Gebot. Von den Theologen der protestantischen Kirchenzeitung, welche seine Lehre eine „materialistische Erniedrigung der Religion, welche von Gottesfurcht und Sittlichkeit das volle Gegentheil ist“, nennen, erklärte er, daß „diese Männer so wacker für die Freiheit der Religion streiten, wie es nur eben ihr Standpunkt zuläßt.“ Wenn man vor Uhlich’s Scheiden aus der Staatskirche gewagt hat, ihn, den entschiedensten Feind jedes Scheinwesens, der Unehrlichkeit und Heuchelei aus selbstsüchtigen Zwecken zu beschuldigen, so muß dieser der Wahrheit auf’s Schmählichste in’s Gesicht schlagende Vorwurf von dem an Leiden so reichen Leben des Mannes, der für seine Ueberzeugung erst vor Kurzem im Gefängniß gelitten, verstummen. Nur ein edler Mann vermag die Gemüthsruhe und innere Zufriedenheit selbst im Gefängniß zu bewahren, welche aus jeder Seite von Uhlich’s vor Kurzem erschienenem Tagebuche über seine letzte Gefängnißhaft „Drei Wochen im Gefängniß“ hervorleuchtet. –

Als Sohn eines Schneiders in Köthen ist Uhlich also ein Kind des Volks, zu dessen treuesten Führern er gehört. Sein reichbewegtes Leben ist, soweit dasselbe der Oeffentlichkeit angehört, allgemein bekannt. Darum können wir hier auf jede weitere Darstellung desselben verzichten. Seine Kämpfe mit dem Magdeburger Consistorium führten 1846 zu seiner Amtssuspension. Seit dem folgenden Jahre den freien Gemeinden angehörend, hat keiner für ihre weitere Ausbreitung so viel gewirkt als Uhlich, aber auch keiner mehr für sie gelitten, als er, der als Führer immer im Vordertreffen des Kampfes stand.

Wegen Anmaßung geistlicher Amtshandlungen stand Uhlich in einem einzigen Jahre dreißig Mal vor Gericht. Nachdem er, sowie sein College Sachse, zwei Jahre lang in den Gemeinden außerhalb Magdeburgs ungestört gepredigt hatte, wurden sie plötzlich im Frühjahr 1852 auf den Bahnhöfen polizeilich in Empfang genommen, im Wartezimmer bewacht, bis der nächste Zug nach Magdeburg zurückging, und dann heimspedirt. Uhlich ertrug diese widerwärtigen Chicanen mit gewohntem Gleichmuth wie elementare Ereignisse, die man nicht ändern kann. 1854 wurde die Magdeburger Gemeinde gänzlich geschlossen; Uhlich lehrte nun im Stillen unter den Festgebliebenen und deren Jugend weiter, bis ihm die neue Aera eine neue öffentliche Entfaltung seiner Wirksamkeit gestattete.

Uhlich steht jetzt im achtundsechszigsten Lebensjahre, silberweißes Haar bedeckt sein Haupt, Leiden mannigfacher Art schwächen seinen Körper. Aber der Greis erglüht noch von demselben Feuereifer für die Wahrheit, welche den Jüngling beseelte, und ist noch immer einer ihrer muthigsten Streiter. Als ihr Apostel zieht Uhlich noch heute von Ort zu Ort, um die Finsterniß zu bekämpfen und das Licht zu verbreiten. Wo eine neue Gemeinde entstehen will, ruft man ihn; weit über die Grenzen des Vaterlandes hinaus verlangt man seine Mitwirkung; in Belgien, wo sich seit einigen Jahren der freie Gedanke zu regen beginnt, hat er bereits persönlich bei der Constituirung einer freireligiösen Gesellschaft mit geholfen; französische, schweizerische, italienische Gesinnungsgenossen haben Verbindung mit ihm gesucht. In dem Bunde der einhundertundsechszehn deutschen freireligiösen Gemeinden ist Uhlich nebst Baltzer, dem Prediger Albrecht in Ulm und zwei schlesischen Juristen Vorstandsmitglied. In dem von ihm herausgegebenen vielgelesenen „Sonntagsblatt“, das sich seit 1849 unter allen Fährlichkeiten, Postdebitsentziehung, Beschlagnahme während eines ganzen Jahres, Hinausdrängung aus Preußen unter Manteuffel behauptet und sich sein Publicum in ganz Deutschland gewonnen und erhalten hat (die Auflage beträgt gegen viertausend), führt er den Kampf gegen jede Bedrückung der religiösen Freiheit und Verletzung der Rechte der freien Gemeinden mit gewohnter Unerschrockenheit fort und vertritt deren allgemeine Interessen nach allen Richtungen hin.

Diese umfassende Thätigkeit ist jedoch nur ein Theil von Uhlich’s öffentlicher Wirksamkeit. Wer glaubt, daß sich diese auf das freireligiöse Gebiet beschränkt, hat von Uhlich eine durchaus falsche Vorstellung. Wo in Magdeburg ein Kampf für Wahrheit, Freiheit und Recht auszufechten ist, wo sich eine Gelegenheit bietet, Bildung und Aufklärung unter dem Volk zu verbreiten, da eilt Uhlich herbei. Auch in politischer Beziehung, in der man ihm früher, besonders wegen seiner Thätigkeit im Jahre 1848 als Mitglied des linken Centrums der Nationalversammlung, eine etwas übertriebene Neigung zum Vermitteln vorgeworfen hat, gehört er jetzt der entschiedensten Richtung der freisinnigen Partei an. Obgleich seine sich immer gleich bleibende, des agitatorischen Feuers entbehrende Ruhe und eine für die politsche Debatte mitunter zu [783] gemüthliche Breite ihn nicht immer zum Parteiredner geeignet erscheinen lassen, dürfen doch die großen Verdienste, die er sich durch unzählige Anregungen in politischen und communalen Fragen erwirbt, hier nicht unerwähnt bleiben.

In dem Magdeburger Arbeiterbildungsverein ist Uhlich eines der eifrigsten Vorstandsmitglieder und einer der thätigsten und geliebtesten Lehrer. Seine Beredsamkeit, die ihn zum Volkslehrer ersten Ranges stempelt, feiert hier ihre schönsten Erfolge, und mag er nun von der Geschichte Magdeburgs, von den deutschen Kaisern, von seinen Reisen, von der Großartigkeit der Natur, von der Schönheit der Blumen oder den Leistungen der Dampfmaschine erzählen, die Arbeiter lauschen mit gespanntester Aufmerksamkeit seinem klaren und anschaulichen Vortrage. Bedenkt man nun, daß Uhlich nicht nur in dem Magdeburger, sondern auch in den benachbarten Bildungsvereinen der gesuchteste Redner ist; daß er in den Winterhalbjahren populäre Abendvorträge über wissenschaftliche Gegenstände vor einem aus beiden Geschlechtern gemischten Publicum hält; daß das Sprecheramt der Magdeburger freien Gemeinde ihm die verschiedenartigsten Pflichten auferlegt, die er alle mit gleicher Gewissenhaftigkeit erfüllt, und daß er sich außerdem an allen gemeinnützigen Dingen auf’s Lebhafteste betheiligt: so begreift man kaum, wie es möglich ist, daß die Kräfte eines Menschen für eine solche Thätigkeit ausreichen, und sollte meinen, daß auch der Gegner dieser in ihrer Art vielleicht einzigen Leistungsfähigkeit und Thatkraft seine Achtung nicht versagen könnte.

Uhlich besitzt nicht den philosophischen Geist eines Wislicenus, die pikante Schreibweise eines Bernhard König, die dichterische Phantasie eines Baltzer, das zündende Feuer eines Sachse. Er verdankt seine Erfolge seiner unerschütterlichen Ueberzeugungstreue, seinem nicht wankenden Mannesmuthe, seiner unermüdlichen, vor keinem Hinderniß zurückschreckenden Thätigkeit, seinem versöhnenden, auch dem erbittertsten Gegner gegenüber sich gleichbleibenden Milde und Sanftmuth, zum großen Theil aber dem eigenthümlichen Charakter seiner Beredsamkeit, welche mit einer bisher nicht übertroffenen Volksthümlichkeit, Klarheit, Einfachheit und Gemeinverständlichkeit des Ausdrucks eine anmuthige, tief poetische, von der Wärme der Ueberzeugung belebte Darstellungsweise verbindet und dadurch den Verstand und das Gemüth des wissenschaftlich gebildeten Mannes wie des einfachen Arbeiters in gleicher Weise befriedigt.

Wie so viele bedeutende Männer und Vorkämpfer für neue Bahnen und Richtungen, hat auch Uhlich gerade in seinen näheren Umgebungen nicht allemal die ihm gebührende Anerkennung gefunden. Erlaubte sich doch im vorigen Jahre in der Stadtverordnetenversammlung derselben Stadt, welche Uhlich 1848 zu ihrem Ehrenbürger ernannt hat, ein Mitglied von einem „gewissen Uhlich“ zu sprechen, und während nach seiner Amtssuspension zu seinen Ehren Magdeburgs Breiter Weg von jauchzenden Menschen wogte und aus tausend Fenstern wehende Tücher ihm ein Willkommen zuwinkten, gehen ihm jetzt viele von den Männern, die ihn damals mit königlichen Ehren empfingen, scheu aus dem Wege. Daß Uhlich durch derartige Erfahrungen von seiner Liebe zu den Menschen nicht das Geringste eingebüßt hat, daß sich in seiner Schrift „Zehn Jahre in Magdeburg“, in welcher er seine Erlebnisse von 1845 bis 1855 schildert, nicht eine Spur von Verbitterung zeigt, ist ein neuer Beweis für die unverwüstliche Güte und Milde seines Charakters. Ihn entschädigt in reichem Maße die Liebe des treuen Volks, welches ihn in den schwersten Zeiten nicht verließ und ihm bis auf diesen Augenblick eine Verehrung zollt, um die mancher Fürst ihn beneiden könnte. Wo Uhlich erscheint, da zieht der Mann aus dem Volke seine Mütze tiefer als vor dem Herrn Oberbürgermeister, und „Vater Uhlich hoch!“ rufen mit begeistertem Jubel die Männer und Frauen des Volks, wenn Uhlich gesprochen. Möge der verehrte Mann, von dessen Thätigkeit ich nur ein schwaches Bild zu geben vermochte, der Sache, für die er kämpft, noch lange in ungeschwächter Kraft erhalten bleiben!
J. L.




Der Pfadfinder des Meeres.
Von M. M. v. Weber.
(Schluß.)


Bereits im Jahre 1801 hatte ein Oberst Capper in einem Werke „Ueber Winde und Monsoons“ die Vermuthung ausgesprochen, daß Stürme sich nach gewissen Gesetzen bilden und bewegen, und dieser Vermuthung auch gewisse Formen gegeben. E. W. Radfield in New-York veröffentlichte 1831 die weitere Verfolgung dieser Idee auf Grund einer großen Anzahl von in den Vereinigten Staaten gemachten Sturmbeobachtungen. In dieser Arbeit zeigen diese Gesetze zuerst jeden Sturm in Gestalt eines großartigen Wirbelwindes, dessen Durchmesser von wenigen bis auf Hunderte von Meilen steigen kann, in dessen Mitte verhältnißmäßige Windstille herrscht, während an seinem Außenringe die wildeste Luftbewegung tobt. Dieser ganze riesige Hexentanz erscheint als in seiner Gesammtheit nach einer Richtung fortschreitend, die auf beiden Hemisphären fast stets vom Aequator nach den Polen hin liegt. Die Beobachtungen von Marsden und Capitän Beecher beleuchteten auf englischen Observatorien diese Gesetze näher, Major Reid verfolgte sie in Westindien; die Pfade einer großen Anzahl solcher Luftcharybden wurden ermittelt und der Golf von Mexico als der Hauptheerd dieser Revolutionen für den atlantischen Ocean gefunden, die mit denen im Völkerleben das schwindelnde Drehen gemein haben. Sie erhielten den Namen „Cyclonen“.

Die tiefste wissenschaftliche Consolidirung, die besten Grundlagen von fruchtbringenden Ideen erhielt die Vorstellung von diesen gewaltigen Erscheinungen durch einen der größten, vielleicht den ersten Meteorologen aller Zeiten, unsern schon genannten Landsmann Dove, der seine Forschungen in einem berühmten Werke: „Das Gesetz der Stürme“, niederlegte. Jeden „Cyclon“ umgeben nun gewisse Erscheinungen am Barometer, die ihn gleichsam mit sichtlichen Signalen eingrenzen, so daß man jeden Cyclon auf der Weltkarte wandelnd erblicken könnte, wenn es möglich wäre, die Quecksilbersäule in allen Barometern eines großen Landstrichs gleichzeitig spielen zu sehen.

Da man nun die Richtung der Drehung und des Fortschreitens der Cyclonen im Allgemeinen erkennen kann, so bedarf es nur der Bestimmung seines Durchmessers und der Schnelligkeit seiner Bewegung, mittels einiger an verschiedenen Orten angestellter, einem Observatorium rapportirter Beobachtungen, um einige Zeit, die sich auf mehrere Stunden, ja zuweilen noch länger ausdehnt, voraussagen zu können: „Die und die Orte werden um die oder jene Zeit Sturm von der oder jener Richtung und Gewalt haben.“ Das Barometer liefert diese Beobachtungen, die Telegraphie trägt sie in dem meteorologischen Observatorium zusammen. Von diesem aus fliegt aber sogleich die Kunde, daß Sturm naht, diesem weit voraus nach den bedrohten Hafenplätzen und Küstenstrichen und sofort werden an diesen Signale aufgehißt oder Fanale entzündet, welche den Schiffen befehlen, Maßregeln zu ihrer Sicherung zu treffen. Wie in den hochpoetischen Thüringer Waldmärchen der getreue Eckhardt, die stillen Schläfer in grünumhegten Waldhäusern warnend, vor dem „Wilden Heere“ herzieht, so fliegt in unserer Zeit die wissenschaftliche Idee der wilden Jagd der Natur voraus und befiehlt den Schiffern, ihre Segel zu falten, die Anker fest in den Grund zu schlagen, oder, die gefährlichen Küsten fliehend, das hohe Meer zu suchen.

Maury’s Bestrebungen gingen dahin, diesen „getreuen Eckhardt des Meeres“ auf jeder gefährlichen Klippe der Küsten zu postiren; die Nachrichten von der „wilden Jagd“ sollte ihm ein großes System correspondirender meteorologischer Observatorien liefern. Sie wurden, wie gesagt, von den Regierungen wenig unterstützt.

Da meldeten im Jahre 1852 zwei Schiffe, die, arg beschädigt, im Hafen von New-York einliefen, daß sie zwei Tage vorher einen der schönsten Dampfer der nordamerikanischen Flotte, den „San Francisco“, der Truppen nach Californien führte, mit seiner reichen Ladung an Menschenleben in großer Noth gesehen hätten. Ein mächtiger Orcan hätte die Gewässer des Golfstromes [784] an der Ostküste von Florida zu bergeshohen Wellen aufgewühlt, auf denen das schöne Schiff, entmastet, mit beschädigter Maschine, hülflos, aber pfeilschnell vor dem Sturme hingetrieben sei.

Es galt dem Schiffe Hülfe zu senden. Wie aber vor Allem es zu finden?! Maury war zugegen. Fast zur selben Stunde lieferte ihm das Observatorium zu Washington die Thatsachen, die den Lauf des in Frage befindlichen Orcans bestimmten. In sicheren Streichen wurde er auf eine Karte eingetragen, mit der ausgerüstet zwei Dampfavisos in See gingen. Zwei Tage später lief in New-York die frohe Botschaft ein, die Avisos hätten, den vorgeschriebenen Cours haltend, fast genau auf der von Maury in der Unendlichkeit des Weltmeers bezeichneten Stelle, das Schiff im Augenblicke des Sinkens getroffen und wären glücklich genug gewesen, alles Lebende an Bord zu retten.

Einige Stunden Unsicherheit des Suchens hätten über fünfhundert Menschen das Leben gekostet! Die Thatsache machte ungeheures Aufsehen unter den seefahrenden Nationen und öffnete mit Einem Schlage alle Gemüther den Ideen Maury’s. Das Resultat war das Zusammenbringen des „Internationalen meteorologischen Congresses“ zu Brüssel im Jahre 1853, auf dem durch Feststellung eines allgemeinen Logbuchs den sämmtlichen meteorologischen Beobachtungen zur See auf der ganzen Welt vergleichbare Form gegeben wurde. Auch die Auspostirung des „getreuen Eckhardt“ wurde beschlossen, aber nur die Regierungen von Nordamerika und von England (und von Frankreich zum Theil) haben den Beschluß bis jetzt ausgeführt.

In den Händen des energischen, gelehrten und geistvollen Admiral Fitzroy erhielt das System von Sturmsignalen, durch welche England seine Küsten warnend umgiebt, einen bewunderungswürdigen Organismus. Sobald eine der ungefähr hundert meteorologischen Observationsstellen in England die Anzeichen eines Sturmes empfängt, hat sie davon telegraphische Nachricht an das Central-Observatorium zu Greenwich zu geben. Diese Depeschen gehen allen andern, selbst den Staatsdepeschen, im Range vor. Das Greenwicher Observatorium construirt aus den verschiedenen Beobachtungen, die ihm zufließen, sofort den ungefähren Lauf des Cyclon, und wenig Minuten darauf erheben sich, telegraphisch angewiesen, an den bedrohten Küstenstellen die sorgfältig dafür construirten, fern hinaus in’s Meer sichtbaren Tag- und Nachtsignale. Ein mit der Spitze nach oben aufgehißter großer Konus bedeutet „Sturm aus Nord“, in umgekehrter Lage „Sturm aus Süd“ u. s. w., ein Cylinder zeigt „Symptome der Sturmbildung“ an. Bei Nacht ersetzen Constellationen von Lichtern diese Zeichen.

Nicht immer folgt den Indicien ein heftiger Sturm, nicht immer berührt er genau die bezeichneten Stellen, aber besser, daß zehn Mal umsonst Vorsichtsmaßregeln getroffen werden, als daß ein Mal der rasende Windgeist die Schiffe im Schlafe überfalle.

Leverrier proponirte 1855 ein ähnliches System der Küstensicherung dem Kaiser Napoleon und 1860 wurden die Sicherheitssignale zu Dünkirchen, Havre, St. Malo, Dieppe, Cherbourg, Brest, Nantes u. s. w. vom Pariser Observatorium aus dirigirt. Es konnte nicht fehlen, daß, besonders im Anfange, die alten „Meerwölfe“, die ein Gran Praxis für schwerer erklären als ein Pfund Wissenschaft, zu des alten Admiral Fitzroy’s curiosen Zeichen lachend die Köpfe schüttelten. Auch hier sollte ein finstres Ereigniß der Aufklärung mehr Jünger schaffen, als viele Jahre Weisheitsprediger. Im Juli 1858 verkündeten die Fitzroy’schen Signale an einem klaren, ruhigen Morgen in der Nähe von Newcastle die Bildung eines Cyclons. Keine der gewöhnlichen praktischen Wetterregeln bestätigte die Prophezeiung und von über hundert Fischerbarken, die zu Tynemouth lagen, verließen mehr als achtzig, der Signale spottend, den Hafen. – Am Abend war die Küste meilenweit mit ihren Trümmern und mit Leichen bedeckt und nur die zehn bis zwölf Barken, die, den Signalen gehorchend, sich hatten verhöhnen lassen, waren gerettet.

In diesem Augenblicke stehen außer den einheimischen etwa hundert internationale Observatorien mit Paris und Greenwich in Rapport, die jeden Tag früh acht Uhr ihre Berichte erstatten, aus denen die nützlichen Schlüsse gezogen und an die betheiligten Orte telegraphirt werden.

Den Segen, den die Inslebenführung dieser Ideen, zu deren Hauptträgern Maury gehört, hervorbrachte, in Millionen von Pfunden Sterling ausdrücken zu wollen, wäre vergebliches Bemühen. Nur eine Ahnung davon, von welch’ unermeßlichem Einflusse jede sichernde Maßnahme dieser Art sein muß, soll es gewähren, wenn wir hier nach den officiellen Quellen des englischen Schiffbruch-Register mittheilen, daß ungefähr dreimalhunderttausend Schiffe das Meer befahren und die Verfrachtungen von und nach England allein jährlich 1400 Millionen Centner, im Werth von 3500 Millionen Thaler betragen. Jährlich scheitern durchschnittlich eintausendfünfhundert Schiffe an der englischen Küste allein, von denen fünfhundert total verloren gehen! Vier- bis fünftausend Menschen gerathen dabei in entschiedene Lebensgefahr und achthundert bis eintausend Menschen kamen bis vor Kurzem elend dabei um.

Nun wohlan! Es darf ein leuchtendes Resultat kräftigen Strebens genannt werden, daß, seitdem die Fitzroy’schen Sturmsignale, in Verbindung mit der frei aus der Thatkraft der englischen Nation heraus geschaffenen edelsten aller Flotten, der der Lebensrettungsboote, bestehen, dieser Verlust an Menschenleben fast auf die Hälfte herabgedrückt worden ist! Der in stillem Gemache grübelnde Geist der Wissenschaft, das Wirken hinter der bleichen, in tiefer Nacht über das schweigende Blatt gebeugten Denkerstirn, giebt aus dem offenen Grabe des brüllenden Oceans fünfhundert Gatten, Väter, Brüder jährlich, an der Küste Englands allein, der Liebe und dem Vaterlande zurück!! –

„Nichts Heiliges giebt’s für den Sapeur,“ sagt das französische Sprüchwort, das sich auch mit: „Der politische Fanatismus kennt keine Propheten“ übersetzen läßt. Der treue Herr Helfer in Meeresnöthen, der Erkenner der Stürme des Himmels, verechnete sich im Laufe des großen politischen Orcans, der Amerika durchtobte. In den Südstaaten geboren, in südstaatlichen Ideen aufgezogen, neigte der Bekämpfer der Elemente stark auf die Seite der Sclavenbarone und verlor demzufolge nicht allein seine einträgliche und, was ihm wichtiger war, hülfsquellenreiche Stellung am Observatorium in Washington, sondern auch Hab’ und Gut und den Rest seiner durch rastlose Thätigkeit untergrabenen Gesundheit, so daß er, fast vom Nöthigen entblößt, nach England kam.

Die siegreichen amerikanischen Freistaaten kannten auch kein Dankgefühl für ihren berühmten Mitbürger, der ihr politischer Gegner gewesen war. Zum Glück und zu ihrer Ehre ließen sich die anderen seefahrenden Nationen die Gelegenheit nicht entgehen, wirksam Maury’s segensreiches Schaffen anzuerkennen.

Französische und englische Blätter forderten laut auf, ihm die Mittel zu neuem Wirken zu gewähren. Am offensten aber reichte ihm ein Fürst von klarem Blick und offenem Herzen für die Anerkenntniß geistiger That, der Großfürst Constantin, Großadmiral von Rußland, die Helferhand, indem er ihm am 27. Juli 1861 von Petersburg aus schrieb:

„Mein theurer Capitän Maury! Die Nachricht, daß Sie einen Dienst verlassen haben, der Ihren großen und erfolgreichen Arbeiten so viel verdankt, hat auf mich und meine Waffengefährten einen sehr peinlichen Eindruck gemacht. Ihre unermüdlichen Forschungen haben die großen Gesetze enthüllt, welche die Strömungen in Luft und Ocean regieren, und Ihr Name ist durch sie unter diejenigen gereiht worden, die zu allen Zeiten nicht allein die Männer von Fach, sondern Alle, die ein Herz für große menschliche Bestrebungen haben, mit Dankbarkeit und Ehrfurcht nennen werden!

Es ist kaum nöthig, daß ich erwähne, wie wohlbekannt Ihr Name in Rußland ist, und obwohl wir noch oft genug Barbaren genannt werden, so verstehen wir doch in Ihrer Person edle und uneigennützige, der Wissenschaft und der Menschheit geleistete Dienste zu ehren. Aufrichtig die Unthätigkeit bedauernd, zu der Sie das politische Wirrsal in Ihrem Vaterlande verurtheilt hat, fühle ich mich getrieben, Sie zu zeitweiliger Uebersiedelung hierher dringend einzuladen, wo Sie Ihren so nützlichen Lieblingsbeschäftigungen in Frieden nachgehen können. Ihre Stellung hier soll eine vollkommen unabhängige sein, keine Bedingungen oder Verträge sollen Sie binden und es soll Ihnen freistehen, jeden Augenblick über den Ocean heimzusteuern, wenn Sie es nicht vorziehen sollten, in diesem Winkel der baltischen See Anker zu werfen. Es würde mir ein besonderes Genügen gewähren, für Ihr materielles Wohlergehen hier zu sorgen und Ihnen Ihre neue Heimath so comfortable als möglich zu machen. Es versteht sich, daß Ihnen die Mittel zur Verfügung gestellt werden sollen, die Ihnen gestatten, Ihre Forschungen in gewohnter Weise fortzusetzen. [785] Ich erhoffe nun Antwort von Ihnen, und das Vergnügen, bald hier einen so berühmten Seeofficier zu begrüßen, dessen persönliche Bekanntschaft zu machen ich begierig bin und den Rußland mit Stolz auf seinem Boden willkommen heißen wird. Glauben Sie, theurer Capitän Maury, daß Ihnen alles Gute wünscht Ihr ergebener Constantin, Großadmiral von Rußland.“

Was Maury veranlaßte, auf dies prächtige Document fürstlichen Respectes vor selbstgeschaffener Größe ablehnend zu antworten, ist unbekannt geblieben; gewiß ist, daß dies den Großfürsten nicht abhielt, vier Jahre später tausend Guineen zu einem Ehrengeschenke für Maury zu steuern. Auch Frankreich richtete durch den Prinzen Napoleon eine ähnliche, aber ebenfalls abgelehnte Einladung an Maury, der fortfährt als freier Privatmann von seiner Thätigkeit in London zu leben. Das erwähnte Ehrengeschenk, zu dessen Ansammlung Holland aufgefordert hatte, wurde, dreitausend Guineen an Werth, Maury am 5. Juni dieses Jahres durch den Präsidenten des Institutes von England, Sir John Pakington, bei einer zu seiner Ehre veranstalteten Festlichkeit überreicht. Nicht Epaulette und Ordensstern glänzten hier, aber alle Fächer des Wissens, alle Arten des Ruhmes hatten sich beeifert, ihre Sterne um die Tafel zu gesellen, an der des mittellosen von Amt und Würden vertriebenen Maury bescheidene Gestalt präsidirte. Die Fürsten im Reiche des Wissens und Kennens tagten, um einem Ebenbürtigen, einem jener wahrhaft von Gottes Gnaden der Welt Gegebenen zu zeigen, daß er ihrem Herzen lieb sei, wie ihrem Kopfe werth, ein echter Finder der Pfade der Humanität.




Unbekanntes von einem Allbekannten.
Von August Diezmann.


Die Herren in der Gesellschaft des jungen Herzogs von Weimar führten in der sogenannten „lustigen Zeit“, d. h. in den ersten Jahren nach dem Antritt der Regierung Karl August’s und nach der Ankunft des Dr. Goethe in Weimar, über ihre Fahrten und Abenteuer in und bei Ilmenau, namentlich in dem Dorfe Stützerbach, eine Art Tagebuch, in welchem sie gemeinschaftlich, d. h. Einer nach dem Andern, das gemeinschaftlich Erlebte niederschrieben. Die Schilderungen und Erzählungen, die in jenes seltsame Tagebuch eingetragen wurden, trugen ganz und vollständig den „genialischen“ und burlesken Ton, welcher damals in jener Gesellschaft herrschte und der nicht gar selten bis an die äußerste Grenze der Natürlichkeit und Ungenirtheit ging. Man legte die Worte und Ausdrücke, deren man sich bediente, durchaus nicht auf die Goldwage, und namentlich sollen die Einzeichnungen, die Karl August selbst lieferte, durch witzige und derbe Natürlichkeit sich vor allen andern hervorgethan haben.

Als Goethe des überlustigen Treibens überdrüssig war und auch seinen fürstlichen Freund von demselben abwendig zu machen und zu ernsterm Streben zu veranlassen suchte, deshalb mit ihm die Reise nach der Schweiz und zu Lavater 1779 unternahm, hielt er für nöthig, jenes Tagebuch, die Erinnerung an alle die Thor- und Tollheiten, zu vernichten, damit es nicht etwa in unrechte Hände gerathe, die einen nicht wünschenswerthen Gebrauch davon machen könnten. Jedenfalls ist, so viel Mühe man sich auch gegeben hat, keine Spur von jenem Denkmal einer völlig eigenthümlichen Zeit aufgefunden worden. Goethe selbst giebt ein Bild derselben in seinem prächtigen Gedichte „Ilmenau“; auch wissen wir, daß manche der Herren, selbst der Herzog und Goethe, bisweilen die halbe Nacht hindurch mit den Bauermädchen in der Schenke zu Stützerbach in einem Local tanzten, dessen Decke so niedrig war, daß ein Mann von einiger Länge mit dem Kopfe anstoßen mußte; alles Andere ist unbekannt. Nur die Erinnerung an einen Vorgang hat die Tradition in Ilmenau bis vor mehreren Jahren bewahrt. Der alte Kaufmann Hetzer, ein Freund Goethe’s, erzählte bisweilen davon, so ist die Sache auch mir durch den jetzt ebenfalls verstorbenen Medicinalrath Fitzler bekannt geworden und ich theile sie hier mit, weil man daraus abnehmen kann, welcher Art die übermüthigen Späße waren, die man damals in jenen höchsten Kreisen in Ilmenau und der Umgegend liebte.

Karl August war mit seinen Getreuen und vielen andern Geladenen in Ilmenau angekommen und es sollte eines Tages eine große Jagd veranstaltet werden. Auch war bestimmt worden, daß der Aufbruch sehr früh am Morgen erfolge und daß ein Jeder pünktlich auf dem bezeichneten Sammelplatze sich einfinde. Da die Gesellschaft, wie gesagt, sehr zahlreich war, so hatte es Mühe gekostet, dieselbe in dem damals noch sehr kleinen Ilmenau unterzubringen. Wohl oder übel hatte endlich Jeder der Herren ein Plätzchen gefunden, der Dr. Goethe in der kleinen Mühle ganz in der Nähe. Spät am Abend aber, als Alle sich längst zur Ruhe begeben, kam Knebel, der immer zu einem Schabernack bereit war, auf den Gedanken, dem am andern Tage jedenfalls zu erwartenden Vergnügen noch einen Extraspaß hinzuzufügen und diesen gegen Dr. Goethe zu richten, zur Strafe für die vielfachen Neckereien, die derselbe gegen die Andern fortwährend ausführte. Dieser, der Freund des Herzogs, sollte verhindert werden, am andern Morgen rechtzeitig auf dem Sammelplatz sich einzufinden. Knebel begab sich also zu dem Besitzer der kleinen Mühle, in welcher Goethe wohnte, und trug ihm sein Anliegen vor. Der Müller schüttelte zwar bedenklich den Kopf, wagte aber doch auch nicht, dem ihm unbekannten Herrn vom Hofe etwas abzuschlagen, zumal derselbe alle Verantwortlichkeit für die Folgen übernahm und der Müller aus Erfahrung schon wußte, welcher Ton in der hohen Gesellschaft herrschte. Er versprach also, wie von ihm verlangt wurde, nicht nur den Dr. Goethe nicht zu wecken, sondern auch die Nacht über seine Mühle nicht stehen zu lassen, damit der Schlafende durch das Aufhören des regelmäßigen Geräusches nicht gestört werde; er half auch, die Fensterläden vor dem Stübchen Goethe’s in aller Stille von außen zu schließen und die Thür desselben mit einer großen Anzahl von Getreide- und Mehlsäcken zu verbarricadiren, sodaß dieselbe von innen nicht geöffnet werden könne. Knebel ging nicht von dannen, bis er sich überzeugt hatte, daß alle seine Anordnungen genau nach Vorschrift ausgeführt worden waren.

Goethe schlief während der Zeit vortrefflich; er schlief weiter und – verschlief richtig die Zeit des Aufbruchs, weil er darauf rechnete, daß der Wirth, wie er demselben, befohlen, ihn zu rechter Zeit wecken werde. Alle Andern fanden sich pünktlich auf dem Sammelplatze ein, so daß bald nur der allgemein vermißte Dr. Goethe fehlte. Man wartete auf ihn. Man wartete lange, Goethe kam nicht. Da verlor endlich Karl August die Geduld und schickte einen Jagddiener mit dem Befehl zurück, den Säumigen zu holen und so lange dicht vor der Mühle auf seinem Jagdhorn zu blasen, bis Dr. Goethe auf den Ruf sich melde, und ihn dann mit sich zu bringen. Der Diener eilte, wie ihm befohlen, zurück und begann vor der Mühle zu blasen. Goethe hörte die Horntöne und setzte sich im Bett auf. In diesem Augenblick machte der Bläser draußen eine Pause, um zu sehen, ob der Vermißte sich melde. Goethe aber sah, daß es noch ganz finster war, meinte geträumt zu haben und legte sich wieder nieder.

Da begann der Mann draußen von Neuem seine Weckrufe hören zu lassen. Goethe erkannte, daß er nicht geträumt, sprang aus dem Bette und eilte an das Fenster. Hier überzeugte er sich sofort, daß der Laden geschlossen war, der doch offen gewesen, als er sich zur Ruhe begeben. In heftigem Aerger stieß er den Laden mit Gewalt auf, durch einen Stuhl, wie man sagt, und sah mit eignen Augen, daß es bereits zu tagen anfing. Dann rief er dem Waldhornbläser unten zu, er möge nur kurze Zeit warten, er werde sogleich selbst erscheinen. Er kleidete sich in der That so rasch als möglich an und wollte forteilen, aber als er die Thür zu öffnen versuchte, merkte er, daß sie nicht aufgehe, weil draußen schwere Gegenstände vor derselben lagen. Er kehrte also an das Fenster zurück und rief dem wartenden Jagddiener zu, er möge allein zurückkehren und Sr. Hoheit dem Herzog melden, er könne nicht kommen, wenn er nicht erst befreit werde, denn er werde durch einen mächtigen Zauber im Zimmer festgehalten. Der Diener eilte mit dem erhaltenen Auftrag zurück zu dem ungeduldigen Herzoge, während Goethe neue, aber vergebliche Anstrengungen machte, seine Freiheit zu gewinnen. Noch war er damit beschäftigt, als der Herzog, der den Zusammenhang der Sache wohl ahnen mochte, [786] lachend mit der ganzen Jagdgesellschaft zurückkam und vor der Mühle erschien. Zunächst wurde der Müller vor den regierenden Herrn citirt, der ihn zornig mit der Frage anließ, warum er seinen Gast und Freund in dem Hause da gewaltsam zurückhalte und ihn hindere, an der Jagd theilzunehmen. Der Müller leugnete, den Herrn in seinem Hause zurückgehalten zu haben, und mußte darauf den Herzog und dessen Gefolge zur Wohnung Goethe’s geleiten. Als sie da vor der Thür ankamen und die Verbarricadirung derselben sahen, fragte Karl August zornig, wer das gethan habe. Der Müller wagte es nicht, den mitanwesenden Schuldigen zu nennen, zumal derselbe ihm zublinzelte, er möge nur schweigen und leugnen.

„Nun, Du entgehst mir und Deiner Strafe nicht,“ sagte Karl August. „Jetzt schaffe zunächst die Säcke hinweg, damit der Gefangene befreit werde.“

Der Müller legte sofort Hand an und räumte die Säcke hinweg von der Thür des Zimmers Goethe’s, so daß dieser herausgelassen werden konnte.

„So hab’ ich Dich befreit,“ rief ihm der Herzog zu, „und da Du gelitten hast durch den Verbrecher da, magst Du auch seine Strafe bestimmen.“

„Zunächst muß jedenfalls ermittelt werden,“ antwortete Goethe, „ob er wirklich der Schuldige ist.“

„Gestehe,“ fiel der Herzog gegen den Müller ein, „hast Du das gethan, oder wer ist der Schuldige?“

„Ich weiß nicht,“ antwortete der Müller mit einer Armensündermiene, „wer es gethan hat.“

„Müller, gestehe Deine Schuld!“ entgegnete Karl August.

„Ich bin unschuldig!“ antwortete der geängstigte Mann.

„So muß ein Gottesgericht entscheiden,“ fiel Goethe ein. „Befehlen Eure Hoheit, ihn der Feuer- und Wasserprobe zu unterwerfen.“

„Also sei es!“ entgegnete Karl August. „Hinaus auf die Wiese mit ihm!“

Diener faßten den zitternden Mann, der nicht wußte, was mit ihm geschehen sollte, und führten ihn auf eine kleine Wiese hinter dem Hause, neben der Ilm. Die ganze Gesellschaft folgte.

„Ein mäßiges Feuer hier angezündet!“ befahl der Herzog den Dienern, die sich beeilten, einen Arm voll Holz von einem in der Nähe liegenden Haufen herbeizutragen. Dies wurde übereinander gelegt und dann angezündet.

Der Müller sah angstvoll diesen gefährlichen Vorbereitungen zu. Als der allerdings kleine Holzstoß brannte, befahl der Herzog:

„Nun kleidet den Schuldigen aus, vollständig!“

Die Diener gehorchten und bald stand der Müller nackt und bloß vor dem Feuer und der lachenden vornehmen Gesellschaft.

Dann rief ihm der Herzog in gebietendem Tone zu:

„Durch diese geweihten Flammen springst Du! Verletzen sie Dich nicht, so ist Deine Unschuld zur Hälfte dargethan und Du hast dann nur noch durch die Fluthen hier zu gehen. Verschlingen auch sie Dich nicht, so ist es ein Beweis, daß Du wirklich schuldlos an dem Verbrechen warst! Man führe ihn zu den reinigenden Flammen!“

Der Müller wurde neben das kleine Feuer gestellt, aber er hatte doch nicht den Muth, durch die emporzüngelnden Flammen zu springen.

„Rasch, Müller!“ fiel der Herzog ein. „Oder man zwingt Dich!“

Da nahm der Müller all seinen Muth zusammen und sprang mit leichter Mühe, ohne sich im mindesten zu beschädigen, durch die ungefährlichen Flammen.

„Sehr gut!“ rief der Herzog. „Nun hinunter in das Wasser!“

Ohne sich lange zu besinnen, trat der Müller in die seichte Ilm, lief rasch durch dieselbe hindurch und flüchtete sich von da in sein Haus. Alle lachten laut und Goethe sagte:

„Er ist wirklich unschuldig und wir haben die Pflicht, ihn für seine Angst zu entschädigen. Geben wir ihm ein entsprechendes Schmerzensgeld.“

„Das soll und muß geschehen,“ entgegnete der Herzog. „Vorher aber,“ wendete er sich an die Diener, „bringt ihm seine Kleider in’s Haus!“

Einer der Diener ging mit den Kleidungsstücken des Müllers in die Mühle. Karl August aber fuhr fort zu den Jagdgenossen:

„Ich gebe einen Louisd’or. Jeder der Herren giebt wenigstens einen Laubthaler.“

„Der Schuldige,“ fiel Goethe ein, „denn er ist unter uns, giebt zwei Laubthaler!“

„So sei es!“ bestätigte der Herzog.

„Ja,“ fuhr Goethe fort, „auch muß der Schuldige die heutige Geschichte selbst in das ‚Tagebuch von Stützerbach‘ schreiben.“

„Richtig,“ setzte Karl August hinzu, „auch das hier gesammelte Geld dem armen Müller übergeben und ihn um Verzeihung für das Ganze bitten!“

„Ich bedanke mich für die gnädige Strafe,“ sagte der vortretende Knebel, indem er das eingesammelte Geld nahm und nach der Mühle zu ging.

„Du, Knebel?“ fiel Goethe ein. „Es soll Dir reichlich vergolten werden!“

„Aber nun auf zur Jagd!“ befahl der Herzog. „Die schönste Morgenzeit ist schon vorbei!“

Und die Gesellschaft eilte fröhlich von dannen, dem nahen Walde zu.


Wenn Goethe dictirte, ging er in seinem langen weißlichgrauen dicken Schlafrocke und großen wollenen Hausschuhen, die Hände meist auf den Rücken gelegt, um den schmalen langen Tisch langsam herum, der in seinem Stübchen heute noch so steht, wie er immer stand, und an dem der Secretair saß. Demjenigen nun, welchem er u. A. ‚Wilhelm Meister’s Wanderjahre‘ in die Feder sagte, erschien, wie er mir selbst erzählte, das immer Treffende des Ausdrucks, die schöne Form der Rede, die Sicherheit und unfehlbare Richtigkeit des Periodenbaues so wunderbar und unbegreiflich, daß er anfangs meinte, Goethe müsse entweder das Ganze auswendig gelernt oder irgendwo im Zimmer ein Papier haben, auf dem Alles schon geschrieben stehe und in das er gelegentlich bei seinen Rundgängen blicke. Er benutzte deshalb die erste Gelegenheit, als Goethe einmal das Zimmer plötzlich verlassen mußte, um überall nachzusehen, ob irgendwo ein solches Papier liege. Da keine Spur davon zu entdecken war, mußte er, was er bezweifelt hatte, glauben, daß Goethe das, was er dictire, vollständig, klar und geordnet im Kopfe trage und daß seine Herrschaft über die Sprache und namentlich den Satzbau eine unbeschränkte sei. Er sprach bei Gelegenheit seine Bewunderung darüber gegen Goethe’s Freund, den sogenannten Kunst-Meyer, aus, der indeß in seinem Schweizer-Dialekt entgegnete: „Das isch noch gar nichts. Ich fuhr einmal mit ihm nach Jena und später von da nach Weimar zurück. Da hat er mir im Wagen ‚die Wahlverwandtschaften‘, die noch nicht geschrieben waren, von Anfange an bis zum Ende so vollständig erzählt, daß auch nicht ein Komma d’rin fehlte, als lese er mir die Geschichte aus einem Buche vor.“

Derselbe Secretair bemerkte ferner, daß Goethe, wenn er, wie es sehr häufig, oft aller zehn Minuten geschah, im Dictiren unterbrochen wurde, durch seinen Bedienten, durch den Barbier, durch einen irgend etwas meldenden Schauspieler etc., mit den Leuten freundlich sprach, sich sogar Stadtneuigkeiten erzählen ließ, dann aber den vorher angefangenen Satz unfehlbar richtig vollendete, ohne einmal zu fragen, wo er stehen geblieben sei.

Und noch eine dritte Bemerkung machte der Secretair, der anfangs auch nicht wußte, was er dabei denken sollte. Goethe hielt nämlich im Dictiren bisweilen inne. Er bewegte dann die Hände hin und her, als theile er Befehle aus, und murmelte dabei: „Hm! hm! So, so! Ja, ja!“ Endlich kam der Secretair auf die Vermuthung, der große Dichter weise den Personen, von denen er erzählte und die deutlich vor seinem geistigen Auge standen, die passende Stellung an, wie er den Schauspielern auf der Bühne solche Anweisungen gab.

Der oben erwähnte Kunst-Meyer wurde von Goethe bekanntlich nach Italien gesandt, damit er dort bestimmte Kunststudien mache und die Resultate derselben, zunächst für die ‚Horen‘, niederschreibe. Schiller aber wußte aus Erfahrung, daß Meyer zwar umfassende Kenntnisse besitze, auch richtig zu denken vermöge, aber gut zu schreiben gar nicht verstehe. Er veranlaßte deshalb Goethe, seinen Freund zu vermögen, daß er vor der Reise bei einem Sprachlehrer in Jena eine Zeit lang Unterricht im deutschen Styl nehme. Meyer that, wie ihm empfohlen worden war, und besuchte die Lehrstunden eine ziemliche Zeit lang regelmäßig, [787] ohne indeß bemerkenswerthe Fortschritte im ‚deutschen Styl‘ zu machen. Er selbst erkannte dies und erzählte später gern davon. „Ich fragte mich,“ sagte er, „bischt du denn nur zu dumm? Haschst trotz aller Lehrstunden keinen deutschen Styl gelernt! Aber, ich denke, es schadet nichts. Warum schreibt man denn? Um seine Gedanken deutlich und verständlich auszudrücken. Das kann ich; das thue ich. Wozu denn noch ein Styl?“ –

Haben die Leser jemals etwas von der thüringischen Helena gehört? Diese Helena war die von allen Seiten umworbene ungemein schöne Tochter des Gastwirths in Kötschau (halbwegs zwischen Weimar und Jena). Goethe’s Sohn August hatte sie entdeckt und seinen Vater auf die Schöne aufmerksam gemacht. Der Letztere ließ von da an, bei allen seinen Reisen nach und von Jena, in Kötschau halten, kehrte aus längere oder kürzere Zeit in dem Gasthause ein und nahm Speise und Trank zu sich. Das Mädchen nun, das sehr wohl wußte, der vornehme Herr, ‚der Herr Geheimderath‘, finde sie hübsch und kehre nur ihretwegen so oft in dem Gasthause ihres Vaters ein, eilte hinweg, sobald sie den Wagen Goethe’s anfahren sah. Sie wusch und putzte sich und kam dann, um persönlich den Herrn ‚Geheimderath‘ zu bedienen, weil er das sehr gern sah. (Frage an die Goethe-Gelehrten: Kam Goethe durch diese Helena auf die Idee, welche er in den vierundzwanzig prächtigen Stanzen seines ungedruckten und undruckbaren ‚Tagebuchs‘ behandelt hat? –

Als der bekannte russische Staatsrath von Struve in Weimar sich aufhielt, wurde er namentlich dem Personal der dortigen Bibliothek äußerst lästig, nicht nur weil er die Bücher, die er benutzen wollte, immer selbst suchte, sondern auch andere Ansprüche machte, die nicht wohl erfüllt werden konnten. Ueberdies brachte er alle Fremden, die er in Weimar auf der Straße traf, namentlich alle Russen, in die Bibliothek und führte sie daselbst überall umher. Entfernten sie sich dann und wollten den Bibliothekdienern ein Trinkgeld geben, so fuhr Struve mit dem Bemerken dazwischen, es sei hier weder nöthig noch üblich Geschenke zu geben. Ein Bibliothekdiener, der sich lange über dies Verfahren des vornehmen Russen geärgert hatte, verlor endlich die Geduld und bemerkte, als er wiederum Fremde hinderte, ein Trinkgeld zu geben: „Herr Staatsrath, das geht Ihnen nichts an. Wenn die Herren mir etwas schenken wollen, so dürfen Sie das nicht hindern.“ Der Staatsrath beschwerte sich darüber bei dem Bibliothekar Kräuter, der bekanntlich lange Goethe’s Secretair gewesen war und der entgegnete: Die Fremden hätten allerdings in der Bibliothek nichts zu zahlen, wenn sie aber freiwillig etwas geben wollten, so habe Niemand das Recht, sie daran zu hindern. Darauf hin drohete Struve, den diese Antwort mächtig verdroß, bei dem Chef der Bibliothek, dem Geheimrath von Goethe, Beschwerde zu führen. Kräuter aber kam ihm zuvor und theilte die Sache noch denselben Tag Goethe mit.

„Ja, ja,“ meinte dieser, „die Russen werden uns sehr bald auf die Hühneraugen (er brauchte einen anderen populären, noch viel stärkern Ausdruck) treten und dann noch verlangen, daß wir uns bedanken.“ –

Viele Jahre lang war in dem Hause Goethe’s ein verwachsener armer Mann, seines Handwerks ein Tapezierer, mit für ihn passenden leichten Arbeiten beschäftigt, und Goethe ließ ihm wöchentlich eine gewisse Summe, als Unterstützung, zahlen. Später konnte der arme Kleine nichts verrichten, als höchstens die Teppiche im Beginn des Winters legen und sie im Frühjahr wieder aus den Zimmern nehmen. Als ihm schließlich auch dies zu beschwerlich war, hatte er nur die eine Aufgabe, jeden Morgen zu einer bestimmten Stunde in das Zimmer Goethe’s einen großen Krug frischen Wassers zu bringen. – Dieser kleine verwachsene Tapezierer, Werner hieß er, hatte die Marotte, stets und überall in Knüttelversen, auch Goethe gegenüber, zu reden. In der Regel achtete Goethe nicht auf den seltsamen Schwätzer, bisweilen aber lächelte er über den wunderlichen Kauz. Einmal, nicht lange vor seinem Tode, wurde das läppische Versgeplauder dem alten Herrn zu arg, und er sagte, nachdem er dem Buckeligen eine ziemlich lange Zeit kopfschüttelnd zugehört hatte:

„Er ist ein Esel, lieber Werner!
Mein Ohr zu schonen endlich lern’ Er;
Das Reimgeklapper unterlass’ Er,
Sonst holt ein And’rer mir das Wasser.“

Der Kleine sah freudig erstaunt den hohen Herrn an und wollte eben seiner Freude über die Anrede laute gereimte Worte geben, aber Goethe winkte heftig nach der Thür zu. Werner ging überglücklich und erzählte dem ersten Bekannten auf der Straße: „Heute besauf’ ich mich. Der Herr Geheimderath hat mit mir in Versen gesprochen. Er war ganz ungewöhnlich gnädig und herablassend. Er hat mich einen Esel genannt. Ein solches Glück passirt Unsereinem nicht immer. Und reimen konnte er, beinahe besser wie ich. – Heute trinke ich mir einen an.“ Und der kleine Buckelige eilte in das erste beste Wirthshaus, um seinen Vorsatz auszuführen.




Die Nacht in Tirol.


In Tirol war es, aber ich werde mich hüten, der Geistlichkeit und der Gensd’armerie daselbst das Thal und den Berg zu verrathen, wo ich eine gar trostreiche heimliche Freude erlebte. Denn trostreich ist es gewiß, wenn in einem Lande, das man kaum anders, als mit Bedauern über die pfäffische und polizeiliche Verkümmerung des Volksgeistes nennt, ein fröhliches Beispiel uns zeigt, daß selbst in dieser Felsenburg finsterster Intoleranz das Volksgemüth seinen Zug nach der alten Lustbarkeit noch nicht ganz aufgegeben hat. Erfreulicher würde allerdings eine offene, männliche Opposition gegen das allzu strengväterliche Regiment gewesen sein; da aber in den Volkskreisen eine solche vor der Hand zu den Unmöglichkeiten gehört, so wollen wir einstweilen mit der „heimlichen Freude“ fürlieb nehmen.

Bekanntlich wurde die vom Papste Pius dem Neunten ausgesprochene Erklärung von der entschiedenen Unbeflecktheit der heiligen Jungfrau Maria vor etwa zwölf Jahren von der Geistlichkeit namentlich in Oesterreich zu einer Reihe von neuen kirchlichen Festlichkeiten, aber zugleich auch zur immer weiteren Befestigung des Priestereinflusses auf das Familien- und Gemeindeleben ausgenutzt. Wenn nun dies in allen, auch den sonst gern als die lichthelleren gepriesenen Kronländern geschehen konnte, was mußte da gar erst in Tirol möglich sein! Dort stopfte man, damals das letzte Loch zu, durch welches noch ein irdischer Zugwind in die dumpfige Schwüle hätte eindringen können, welche vom treuen Bund des Klerus und der Polizei dem Lande als das Dienlichste empfohlen und aufgezwungen worden war. Damals verbot man überhaupt alle Tanzmusik und damit Tanz und weltlichen Gesang. „In meinem Sprengel hört man außer der Kirche keinen Ton mehr!“ So rühmte sich der Pfarrer, dem wir trotzdem das Herzeleid bereiten müssen, die folgende Ausnahme von seiner Behauptung zu erzählen.

Im Sommer 1856 lebte ich mehrere Monate im Gebirge bei einem meiner Freunde, der dort als praktischer Arzt ansässig war. Eines Tages waren wir, um einen Krankenbesuch zu machen, über den Berg nach W. gewandert. In dem lieblichen Thalkessel hatten wir uns bei einem guten Glase Bier bis gegen Abend verweilt. Es war ein Sonntag und zugleich Kirchweihtag, d. h. stille Kirchweih, ohne Sang und Klang. Die Geistlichkeit hatte es eben durchgesetzt, daß angeblich zur Verhinderung der herkömmlichen Raufereien die Feier sämmtlicher Kirchweihen auf einen und denselben Tag gelegt und ein strenges Verbot irgend welcher Tanzmusik erlassen worden war. Mit Dunkelwerden machten wir uns auf den Heimweg. Es war vollständig Nacht geworden, als wir auf der Höhe des Berges ankamen. Alles war still in der Natur. Da hörten wir plötzlich merkwürdige Töne, wie von stampfenden Rossehufen, und ein dumpfes Gebrause. Nach ein paar Schritten konnten wir nicht mehr zweifelhaft sein, daß ein ganz nahe gelegener Holzschuppen uns Aufschluß über den Ursprung des Getöses geben könne, da überdies ein durch einen Spalt in der Breterwand dringender Lichtstrahl uns bereits verrathen hatte, daß dort etwas Geheimes begangen werde. Nichts natürlicher, als daß uns die Lust überkam, uns die Sache in der Nähe anzusehen. Wir traten dicht an den Schuppen heran. Aus dem untern dunkeln Raume trat uns Jemand entgegen.

[788] „Guten Abend,“ sagten wir.

„Guten Abend.“

Alles war mäuschenstill und stockfinster.

„Was wollt’s es denn?“ fragt die Stimme aus dem Dunkeln.

„Nun, da wird ja getanzt und da wollten wir halt auch ein Bischen mitthun.“

„Da wird nit tanzt,“ war die kurze Antwort.

„Na, Ihr glaubt wohl gar, wir wären d’ Standari (Gensdarmen)? Das braucht’s nit zu fürchten! Kennt’s mi denn nit? Ich bin ja der Doctor von Au und das ist mein Freund.“

„Ach so, der Docter seid’s? Na, da kommt’s nor aufi!“

Und wir stiegen nun mit ihm eine Art Hühnerleiter hinauf, in die Beletage, wo jeder Ton und jeder Lichtschein verschwunden war, so lange wir mit dem Sicherheitsposten verhandelten. Erst als dieser nach oben gemeldet, welch’ unschädliche Störenfriede wir seien, ging plötzlich wieder das einzige Licht auf, das in einer Stalllaterne brannte und über das man bei unserem Nahen einen henkellosen Eimer gestülpt hatte, der offenbar zu diesem Zweck bereit stand.

Welches Bild dieses so sorgsam geschirmte Flämmchen beleuchtete? Eine Kirchweih im Holzschuppen! Nichts fehlte ihr, als die lachende Sonne und der blaue offene Himmel dazu. Aber Beides hatten diese Kirchweihgäste vermeiden müssen, um heimlich Tanz und Gesang dafür einzutauschen. Lautlose Völlerei wäre ihnen im Dorfe drunten gestattet gewesen. Da aber ihr Herz sich nach der altlieben schalkhaften Fröhlichkeit sehnte, zu welcher Citherklang und Tanztact gehören, so mußten sie wie Schelme in der Nacht in der einsamen Berghütte zusammenschleichen. Trotzdem war Alles so gut vorbereitet, daß auch hier die Freude eine vollständige wurde. Die Musik hatte sich an den ihr gebührenden Platz am großen Tisch in der einen Ecke postirt, und zwar bestand sieb aus einem Citherspieler, der sein selbstgefertigtes riesiges Instrument meisterhaft handhabte, und einem neben ihm auf einem Barrenbalken sitzenden tactfesten Burschen, der mit einem Schlittenschellengeläute die anregende Begleitung dazu besorgte; Diese beiden Tonkünstler und ein neben ihrem Tisch aufgepflanztes ansehnliches Faß Bier hielten die Lebensgeister des Völkchens munter, das hier in den verschiedensten Gruppen sich wohlig beisammen fühlte. Da saßen und lehnten die älteren Männer, denen das Pfeifchen so gut schmeckte, die rüstigeren, die den Einschank am Faß besorgten, und die jungen Bursche, mit denen die Mädchen am liebsten verkehrten, während die älteren Frauen wie gutherzige Sittenwächterinnen vollzufrieden dazwischen saßen. Da stiegen uralte Schnaderhüpfl aus den Gräbern, in welche der Pfarrer und der Gensdarm sie hin gebannt, munter hervor, der Nagelschuh suchte die Schlittenrolle zu übertäuben, und Niemand dachte daran, dem Kuß in Ehren zu wehren.

Wie wohl waren wir hier aufgehoben! Einmal als Gäste in die Heimlichkeit mit hereingezogen, verspürten wir nichts von dem kältenden Anhauch, mit dem sonst der Tiroler Landmann alle „Herren“ und alles „Herrische“ von sich zurückhält. Die jungen Leute führten uns ihre schönsten Tänze vor und luden uns ein, Theil an ihrer Lust zu nehmen. Zwischen Gesang und Tanz und manchem guten Wort zum trefflichen Trunk verrauschte die Zeit, und nichts störte die köstlichen Stunden. Es war ein recht treuherziger Abschied, zu dem uns Alle die Hand reichten, als wir nach Mitternacht aufbrachen, um die Leutchen allein ihre Kirchweih ganz zu Ende feiern zu lassen.

„Wie ist es Dir zu Muthe? Welch’ Gefühl nimmst Du von dem lustigen Abenteuer mit fort?“ fragte mich mein Freund, ‚der Docter von Au‘, als wir, aus dem Bereich der Kirchweihmusik gekommen, unsere Straße wieder erreicht hatten.

Sieh, antwortete ich, wenn ich diese Menschen betrachte, wie sie von der Natur körperlich so gut ausgestattet und wahrlich auch geistig nicht stiefmütterlich bedacht sind, so überkommt mich Zorn und Leid über den verwahrlosten Zustand, in welchem sie dahinleben müssen. Wie viel Mühe und Aufwand würde mehr daran zu wenden sein, dieses Völkchen seiner Begabung gemäß zu einem Musterschlag von Menschen zu erziehen, als jetzt seine Verdummung kostet?

„Leider hast Du Recht,“ erwiderte mein Freund, „und die Trauer um dieses Volk wird noch größer, wenn wir sehen, welche Talente es in seinen untersten Kreisen schon besaß und noch heute geradezu versteckt. Wer kennt nicht den Peter Anich und Blasius Hueber, zwei Bauern, welche, ohne irgendwelche Anleitung, nicht nur die erste gute Karte von Tirol entwarfen, sondern Erd- und Himmelskugeln verfertigten, die ihrer Zeit als Wunderwerke angestaunt wurden. In der Malerei und Bildnerei herbergt Tirol nicht blos viele kleine Meister auf den Dörfern, sondern hat auch größere allgemein bekannte Künstler erzeugt. Rechne dazu, welche Tüchtigkeit dieses Volk in seinen Landesvertheidigungen bewährte, welches Selbstgefühls es sich so oft fähig erwies, und denke nun, wenn man zu diesen Volkstugenden der Tapferkeit, der Vaterlandsliebe und des Ehrgefühls das alte heitere Volksleben erhalten und dem Bildungstrieb die Wege nur wenigstens unverrammelt gelassen hätte, welch’ ein Bild müßte heute Tirol und sein Volk bieten!“

Und dies Alles, grollte ich, opfert man der Herrschsucht und dem möglichst ungestörten Wohlsein einer zahllosen Geistlichkeit!

„Darin irrst Du; die Stellung der Priester an sich und zum Volke ist eine ganz andere,“ belehrte mich der Doctor. „Die geistliche Zwingherrschaft, unter welcher die Pfarrer so viel wie die Unterthanen leiden, geht von den Bischöfen und zuhöchst vom Erzbischof von Salzburg aus. Die meisten Geistlichen sind arme Söhne dieses Volks und treten mit ihrem Amt, oft in hochgelegenen, im Winter kaum zugänglichen Dörfern, von aller Welt und Weltfreude getrennt, den langen Leidensweg ihres ganzen Lebens an. Zu ihren Entbehrungen kommen nun noch die von den Liguorianern eingeführten gemeinschaftlichen Bußübungen der Geistlichen eines bestimmten Bezirks, um in düsteren, mystischen Feierlichkeiten die Abtödtung alles Irdischen in ihnen zu vollenden. Ohne innern Halt durch eine gediegene wissenschaftliche Bildung, und ohne die äußere Hülfe einer kräftigenden Literatur, tritt dann der arme geknickte Pfarrer vor das Volk – und kennt nichts Besseres, als es denselben Weg zum Himmel zu führen, auf dem er sich selbst zu befinden glaubt. Und das ist die Quelle, aus der die Verkümmerung des Volksgeistes am üppigsten fließt.“

Großer Gott, was Alles mag in den Augen solcher Unglücklicher als Sünde erscheinen!

„Das geht allerdings weit. Wenn auch Klerus und Polizei Hand in Hand manche wirklich häßliche alte Volksunsitten beseitigt haben, so sind mit dem Unkraut auch viel unschätzbare Blumen und Blüthen des Volksthums mit vertilgt worden. Der sicherste Zufluchtsort der Volkspoesie war bei den Sennerinnen auf den Almen. Dort konnten Klerus und Polizei sie nicht so streng überwachen, aber ebendarum sorgten sie dafür, daß sämmtliche Sennerinnen von ihren Alpen vertrieben wurden – und mit ihnen die Cither und das frische Lied der Berge, das alles Denken und Fühlen, alles Jubeln und Zürnen des Volks verarbeitende Schnaderhüpfl.

„Der traurigste Erfolg der Verkirchlichung des gesammten Lebens in Tirol ist aber der Einfluß der Missionen mit ihren öffentlichen Bußübungen. Wie die Liguorianer für die Geistlichen, so haben deren jesuitische Genossen, die Redemptoristen, für das Volk diese Zerknirschungsfeierlichkeiten eingeführt. Da sitzen nun die armen Mädchen, in denen der Geist der Jugend seine natürliche Kraft äußern möchte, und lauschen den entsetzlichen Worten des Priesters, der ihnen vordonnert, daß jede weltliche Freude dereinst mit Martern der Hölle gebüßt werde, – und welche Legenden, welche heiligen Lügen, welche gräßlichen Schilderungen von Fegefeuer, Hölle und Teufel muß das arme Volk anhören und glauben! Und es glaubt sie mit Zittern und Zagen – es weint und jammert laut – die Wirkung auf die von aller Freude leeren Gemüther, denen kein Strahl des allgütigen, allerfreuenden Himmels das trübselige Einerlei der Tageslast erhellen und erheitern darf, ist schon oft eine so furchtbare gewesen, daß über die Unglücklichen das letzte Unglück Herr wurde: der Wahnsinn! Wenn alle Fälle dieses Unglücks hinausgedrungen wären in’s große Deutschland, der Schmerzensschrei wäre so mächtig geworden, daß sich kein Spott gegen ihn herausgewagt hätte. Wer Das mit ansehen muß, lieber Freund, der erst kann einen Abend, wie wir ihn dort in dem Holzschuppen erlebt haben, als einen großen Trost schätzen, der ihn mit der Zuversicht stärkt, daß wenigstens noch ein Thal übrig ist, in welchem die Gesundheit des Volksgemüths ihre Unverwüstlichkeit beweist. Das ist für mich der Werth dieses Abends gewesen und wird mir dieses Abenteuer unvergeßlich machen.“

[789]

Heimliche Kirchweih in Tirol.
Aus dem Skizzenbuche eines Münchner Künstlers.

[790] Wir waren daheim angekommen; tief bewegt sagten wir uns Gute Nacht. Am andern Morgen verließ ich das Thal.

Das war vor zehn Jahren. Was ist seitdem aus Tirol geworden? Zwei neue Kriege haben das Land erschüttert und das Volk zu den Waffen gerufen; es hat die Treue und Tapferkeit der Männer bewährt. Aber dem Geiste des Volks ist darum kein Licht aufgegangen. Die wenigen muthvollen Kämpfer gegen die hereinbrechende Nacht standen zu verlassen da, der vereinten Macht des Staates und der Kirche gegenüber: denn das bedeutet das Concordat, das beide zu Parteigenossen gegen jedes aufflackernde Flämmchen von rettender Wahrheit und Freiheit macht. Der deutsche Nationalgeist hat sich erhoben und die Tiroler jubelnd bei seinen Festen begrüßt. Als Turner, Schützen und Sänger schloß das deutsche Volk sie wie halb verloren gewesene und nun ganz wiedergefundene Brüder in die Arme – und was ist heute der Dank für den Kuß der Frankfurter Jungfrau, der dem Land Tirol galt? Die Protestantenhetze, der Sieg der „Glaubenseinheit“ Tirols!

Und wenn wir nun gar heute auf das Land blicken, das aus Deutschland hinausgeworfen und der vollen Gewalt der Jesuiten preisgegeben ist, die nun endlich von Deutschland frei sind – so bleibt uns nichts übrig, als gepreßten Herzens mit Schiller’s Worten die Frage an das allwaltende Schicksal:

„Wann wird der Retter kommen diesem Lande?“

F. H.




Ruine Wildenfels.
Erzählung von Friedrich Gerstäcker.
(Fortsetzung.)


Scheu, als ob sie den ganzen Spuk des alten Schlosses auf ihren Fährten wüßte, floh Rosel nach der Stadt zurück, mit der freilich schwachen Hoffnung, den Vater dort zu finden. Er war noch nicht zurückgekehrt, und immer noch, als Bärbel und die anderen Dienstleute schon lange in ihren Betten lagen, saß sie lauschend an dem nach dem Garten hinaus führenden Fenster und horchte auf das geringste Geräusch, bis ihr die Augen endlich vor Mattigkeit und Schwäche zufielen.

Und dort im Stuhl, fröstelnd vor Kälte, denn es hatte die Nacht scharf gefroren, erwachte sie, als eben der erste Sonnenstrahl auf die Wipfel der Bäume fiel. Dabei war ihr, als ob gerade eine Thür geschlossen würde. Sie fuhr empor und horchte – tiefe Stille lag auf dem ganzen Haus. War ihr Vater zurückgekehrt? Sie lauschte auf den Gang hinaus, ob sie irgend ein Geräusch hören könne, aber nichts regte sich, nur die draußen hängende Uhr hob aus und schlug Sieben. Sie warf sich ihr Umschlagetuch über die Schultern und trat auf den Gang hinaus. Die Mädchen mußten unten sein; sie konnte Niemanden hören, und vorsichtig schlich sie hinüber zu ihres Vaters Thür.

War er daheim? Leise klopfte sie zum ersten Mal an, und als keine Antwort erfolgte, stärker.

„Wer ist da?“ antwortete die Stimme des alten Jochus. „Bist Du es, Carl? Ich setz’ Dir meine Stiefeln gleich hinaus.“

„Ich bin’s, Vater.“

„Wer?“

„Ich, die Rosel.“

„Die Rosel? Alle Wetter, Mädel, was thust Du denn schon auf und was willst Du? Warte einen Augenblick, ich muß mich erst anziehen; ich mache Dir gleich auf.“

Rosel erwiderte nichts. Fest in ihr Tuch eingewickelt, stand sie draußen auf dem kalten Gang und horchte dem monotonen Ticken der Schwarzwälder Uhr. Es dauerte gar so lange, bis der Vater drin mit seinem Anzug fertig wurde. Jetzt endlich trat Jemand an die Thür, der Riegel wurde zurückgeschoben und Rosel stand auf der Schwelle. Fast unwillkürlich warf sie den Blick im innern Raum umher, vielleicht nur um zu sehen, ob sie allein wären, aber sie sah auch zugleich, daß das Bett des Vaters wohl ineinander gedrückt und die Decke zurückgeschlagen war, als ob es eben verlassen worden, doch das konnte sie nicht täuschen; das Bett war in dieser Nacht nicht berührt und der Vater jedenfalls erst am Morgen – vielleicht eben in diesem Augenblick – von seiner nächtlichen Wanderung zurückgekehrt.

„Aber Rosel,“ sagte Paul Jochus erstaunt, indem er sie kopfschüttelnd betrachtete, „Was hat Dich denn so früh aus den Federn getrieben und weshalb weckst Du mich so zeitig? Ist etwas vorgefallen, oder bist Du selber krank?“

„Nein, Vater,“ sagte Rosel und es wurde ihr schwer, zu sprechen, denn der Athem versetzte ihr die Brust, „ich bin wohl – aber – willst Du mir eine Frage beantworten?“

„Recht gern, Kind,“ entgegnete der Wirth, allein der Blick, der die Tochter dabei traf, strafte die bereitwilligen Worte Lügen, denn er flog scheu und mißtrauisch über sie hin; „was hast Du nur?“

„Du weißt, was ich neulich mit Dir besprochen habe, Vater,“ fuhr Rosel fort, „wie Du mir versprochen hast, daß Du dem Franz helfen wolltest, Alles – dort oben – aus dem Weg zu räumen, daß das unselige Geschäft aufgegeben sei und jener Mensch, den uns des Himmels Zorn hierher gesandt, Hellenhof verlassen wolle. Ist das geschehen?“

„Aber, liebes Herz,“ sagte der Vater mit einem erzwungenen Lachen, „um das zu fragen, hättest Du doch wohl auch noch ein paar Stunden warten können.“

„Ist das geschehen, Vater?“ drängte die Tochter.

„Gewiß ist’s,“ sagte der Mann halb unwillig, „der Brendel ist freilich noch nicht fort; er mußte erst seinen Paß zum Visiren zum französischen Consul schicken, und das hat ihn etwas aufgehalten, doch morgen reist er ab.“

„Und in der Ruine ist keine Spur jenes – jener Arbeit zurückgeblieben?“

„Nein, Kind, Alles glatt und sauber.“

„Gott sei Dank!“ stöhnte Rosel aus voller Brust, „so will ich denn die Angst auch gern umsonst getragen haben.“

„Was hast Du nur, weshalb denn Angst und vor was?“

„Nichts, Vater,“ sagte das Mädchen freundlich, „wenn der Franz die böse Sache aufgegeben hat, so ist Alles gut und es betrifft nicht uns, sondern fremde Menschen.“

„Aber was denn, Kind?“ frug der Wirth, der sich doch nicht ganz sicher fühlen mochte, „so sag’ mir doch, was Du hast und um was Du besorgt warst?“

„Um nichts, Vater, und ich danke dem Himmel, daß es um nichts war.“

„Aber ich bitte Dich darum.“

„Ich möchte nicht gern das Vergangene berühren und Dir weh thun.“

„Du hast mich nun neugierig gemacht, und ein Geheimniß ist’s doch nicht.“

„Ich weiß es nicht, Vater, aber ich glaube es nicht. Der Bruno war gestern Nachmittag wieder hier im Garten –“

„Hm,“ sagte der Wirth, der jetzt die Aufregung des Mädchens zu errathen glaubte, bedeutend beruhigt, „so – und bist Du freundlich mit ihm gewesen?“

„Weshalb soll ich unfreundlich mit ihm sein?“ sagte Rosel traurig. „Er ist brav und gut und wir leiden Beide gleich viel; er wird auch nicht wiederkommen. Es war das letzte Mal.“

„Aber was – was hat denn das mit der Ruine zu thun?“ frug der alte Jochus kopfschüttelnd.

„Er ist jetzt beim Criminalamt, Vater,“ sagte Rosel, doch leise und scheu, „und da – da erwähnte er zufällig, daß sie –“

„Daß sie – was?“ rief Jochus rasch.

„Mir jagte es Anfangs, als ich es hörte, einen Schreck ein,“ sagte das arme Mädchen, „aber so hat das ja nichts mit uns oder mit dem Franz zu thun – sie sind einer Falschmünzerbande auf der Spur und Alles, um was ich Dich bitten wollte, ist: mach’, daß der fremde Mensch, der Brendel, bald von Hellenhof wegkommt, damit der Franz keine Gemeinschaft mehr mit ihm hält.“

[791] Jochus war todtenbleich geworden, die Kniee zitterten ihm und er sank wie gebrochen in einen Stuhl.

„Vater!“ rief Rosel erschreckt und ein furchtbarer, entsetzlicher Verdacht stieg in ihr auf; „Vater, um Gotteswillen, hast Du mir in Allem die Wahrheit gesagt?“

„Was haben sie entdeckt?“ frug der Alte, der sie mit dem linken Arme von sich schob, mit harter, rauher Stimme, „sage mir Alles, Mädel, Du – Du weißt nicht, was davon abhängt.“

Rosel stand vor ihm, starr und thränenlos, sie brauchte keine Frage mehr an ihn zu thun, in diesen angstverzerrten Zügen lag die ganze Schuld und Sünde des Mannes, den sie hätte lieben und verehren sollen, nur zu deutlich vor ihr, und mit jetzt vollkommen ruhiger, aber eiskalter Stimme sagte sie:

„Was ich weiß, ist sehr wenig: einer Falschmünzerbande will man auf die Spur gekommen sein, deren Hauptsitz man hier in der Nähe vermuthet. Einer der Hehler oder Verbreiter ist vorgestern ertappt und verhaftet worden. Er hatte bis jetzt noch nicht gestanden.“

„Verhaftet – wo?“

„Ich weiß es nicht.“

„Durch wen?“

„Durch Herrn von der Haide,“ sagte das Mädchen kalt.

„Teufel!“ knirschte der alte Mann durch die Zähne, aber jetzt war auch keine Zeit mehr, Rücksichten zu nehmen oder etwas zu verheimlichen, was, wie er recht gut wußte, sonnenklar vor dem Auge der Tochter lag, denn ihr Blick ließ sich nicht mehr mißverstehen. Er sprang auf, fuhr rasch und hastig in seinen Rock, griff nach seinem Hut und eilte, ohne der Tochter Lebewohl zu sagen, die Treppe hinab und durch den Garten hinaus auf den Weg nach Hellenhof.


8. Die Entdeckung.

Paul Jochus hatte schon lange das Zimmer verlassen, und Rosel stand noch immer am Fenster, wohin sie getreten, um ihm durch den Garten nachzusehen. Wußte sie doch genau, welchen Weg er nehmen würde und wohin ihn seine hastigen Schritte trugen. Und wie sonderbar war ihr dabei zu Muthe! Sie sah Alles, was um sie her vorging, aber es schien gar nicht zu ihr zu gehören oder mit ihr in Verbindung zu stehen.

Unten im Garten, gerade unter dem Fenster lag das große, prachtvolle Bouquet, das sie gestern noch selber gepflückt, und sie wunderte sich jetzt, was da vorgegangen sein konnte, daß man Jemandem in ihrem Garten Blumen gestreut hätte, ohne daß sie selber davon wisse.

Da ging Bärbel in den Garten, um vom Gemüsebeete etwas Petersilie zu holen. Was hatte die fremde Person, die so wunderbar in einen Regenbogenschein gekleidet war, in ihrem Garten zu thun? Sie wollte das Fenster öffnen, um ihr zuzurufen; allein sie vermochte es nicht mehr. Sie hob den Arm und brach dann, ehe sie nur den Fenstergriff erfassen konnte, lautlos und ohnmächtig, wo sie stand, zusammen.

Dort lag sie wohl eine Stunde lang, bis das Mädchen hinauf kam, um das Zimmer zu reinigen, denn die Thür stand nur angelehnt.

Bärbel schlug jetzt Lärm im Haus, aber Rosel kam rasch wieder zu sich, und es war, als ob sie gerade in dieser Betäubung der Sinne, in dem vollen Vergessen des Geschehenen wieder frische Kräfte gesammelt habe.

Man hatte sie auf ihr Bett getragen und wollte jetzt nach dem Doctor laufen; doch Rosel litt es nicht. Sie fühlte sich wieder vollkommen wohl; nur eine merkwürdige Schwäche sei über sie gekommen, als sie dort drüben im Zimmer habe aufräumen wollen. Das wäre eine Ohnmacht gewesen, weiter nichts und jetzt vorüber. Man sollte nur ihr Fenster ein wenig öffnen, daß die frische kalte Morgenluft herein käme, das würde ihr mehr helfen als alle Doctoren der Welt.

Wie stürmte indessen der sonst so ruhige Wirth, Paul Jochus, auf der Straße hin, die nach Hellenhof führte! Das Entsetzliche, das bis jetzt nur immer als Schreckbild vor seiner Seele gestanden, war geschehen – war endlich eingetroffen, ihre Arbeit verrathen – verrathen im letzten Augenblick, wo sie sich Alle am Ziel ihrer Wünsche und Hoffnungen sahen, und nur der eine Gedanke jagte ihn vorwärts, daß es vielleicht selbst jetzt noch nicht zu spät sei, dem größten Unglück, einem Ertappen auf frischer That, vorzubeugen. Wußte er doch recht gut, wie schwer es sein würde, überzeugende Beweise gegen sie beizubringen, wenn nichts Thatsächliches vorlag, um sie zu überführen.

Die Bauern, die ihm unterwegs begegneten und ihn kannten, blieben in der Straße stehen und sahen ihm erstaunt nach. Was hatte der Mann so zu laufen? War irgendwo ein Unglück geschehen? Einige riefen ihn an, er hörte sie gar nicht, oder achtete wenigstens nicht darauf, – aber er fühlte doch zuletzt, daß er sich, besonders in der Nähe der Stadt, nicht auffällig benehmen dürfe, und mäßigte seine Schritte.

Endlich hatte er die Außengebäude von Hellenhof erreicht und bog hier in einen Seitenweg ab, der nur zwischen Gärten hinführte und ihn, von wenigen Menschen gesehen, zu der Wohnung seines Sohnes bringen konnte. Aber dort lag Alles still; die Bewohner schliefen noch nach ihrer nächtlichen Arbeit, und er mußte eine ganze Weile an der Thür pochen, ehe er die Beiden so weit ermuntert hatte, daß sie ihm öffneten. Wie rasch war jedoch jede Müdigkeit vorüber, als sie die Schreckenskunde hörten, die er brachte! Einer ihrer Helfershelfer entdeckt und verhaftet! Wer und wo? Betraf es auch wirklich sie? Doch sie durften kaum daran zweifeln, denn durch den glücklichen Erfolg, den sie bis jetzt gehabt, übermüthig gemacht, waren sie leichtsinniger vorgegangen, als sie eigentlich gesollt.

Und was nun?

Der Gefangene – wer es auch sein mochte – hatte nach Aussage des Actuars noch nichts gestanden, und es war nicht wahrscheinlich, daß er das so rasch thun würde, denn nur durch standhaftes Leugnen konnte er sich vor Strafe sichern, oder diese doch jedenfalls erleichtern. Allein sie wußten nicht, welche Beweise gegen ihn vorlagen, und konnten das auch nicht erfahren, denn schon eine einfache Frage hätte den Verdacht auf sie lenken müssen. Wie lange Zeit blieb ihnen nun selbst, um nicht allein ihr Product in Sicherheit zu bringen, sondern auch jede Spur zu vertilgen, die einen Verdacht auf sie lenken konnte? Franz meinte, daß sie, was auch geschehen möge, unter jeder Bedingung die Nacht abwarten müßten, Brendel aber, den eine merkwürdige Unruhe erfaßt zu haben schien, drang darauf, auch keine Stunde länger zu versäumen und ohne Weiteres an die Arbeit zu gehen, Zwei Mal wären sie jetzt gewarnt worden, das dritte Mal geschehe es nicht, und vor Abend gedenke er wenigstens, Hellenhof weit genug im Rücken zu haben, um von den Aussagen keines Menschen mehr gefährdet zu werden.

Sie hatten ja auch weiter nichts zu thun, als die schon fertigen und noch in der Ruine liegenden Pakete mit Banknoten in Sicherheit zu bringen und die wenigen noch unvollendeten so weit zu zerstören, daß ein Erkennen des Fabricats daran unmöglich wurde. Alles Andere ließen sie dann stehen und liegen, und wurde es wirklich aufgefunden, nun was that’s? Das Gericht bekam nur den Beweis in die Hände, daß dort ein Vergehen gegen Paragraph So und So des Strafgesetzbuches stattgefunden, wer es aber begangen und wo sich der jetzt befinde, könnte man aus den todten Werkzeugen nie errathen.

Franz sträubte sich noch. Er schlug vor, einen Spaziergang nach verschiedenen Seiten zu machen. Sie wollten sich trennen, um nicht zusammen gesehen zu werden, und sich dann mit der Abenddämmerung oder allenfalls schon Nachmittags in der Ruine treffen. Auf die wenigen Stunden könne es jetzt nicht ankommen, denn liege der geringste Verdacht gegen sie überhaupt vor, so würde man sie wahrlich nicht so lange unbelästigt gelassen haben, sie wären schon jetzt verhaftet worden. Brendel hatte indeß keine Ruhe; er drang mit seiner Meinung zuletzt durch, denn Paul Jochus selber fühlte sich von einer unsagbaren Angst überkommen, die ihm keine Ruhe ließ. Es wurde deshalb besprochen, gleich nach der Ruine aufzubrechen, und Jochus selbst sollte voranschreiten, während die beiden Compagnons indessen im Hause selbst Alles vernichteten, was bei einer Durchsuchung auch nur den geringsten Verdacht gegen sie erwecken oder einen solchen bestätigen könnte. Besonders hatten sie noch einige Probestiche verschiedener Noten im Besitz, die, als jetzt völlig werthlos, augenblicklich im Ofen verbrannt wurden. Ebenso vernichteten sie alle Papierproben, die zu Banknoten hätten benutzt werden können, und legten andere harmlose Arbeiten, die theils ganz, theils halb vollendet waren, [792] absichtlich auf ihren Tischen aus, um einer etwaigen Untersuchung zu zeigen, womit sie beschäftigt wären.

Erst als sie das Alles beendet und sich genau überzeugt hatten, daß nicht das Geringste zurückgeblieben sei, was ihnen hätte gefährlich werden können, verließen sie das Haus, um dem vorangegangenen Wirth auf einem anderen Wege zu folgen, der durch die jetzt verlassenen Weinberge führte. Sie nahmen sich dabei vollkommen Zeit. Jedenfalls würden sie sich mehr beeilt haben, wenn sie die Thätigkeit gesehen hätten, die sich heute Morgen im Criminalamt entwickelte.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Der falsche Paganini. Wilhelm Just, Inspicient des Wiener Hofburgtheaters, den der Intendant des Welttheaters erst vor ein paar Jahren in den Ruhestand versetzt hat, galt in seiner Jugend für ein Universalgenie in seinem Vaterlande Preußen. Er war Sänger und Schauspieler, Tragiker und Komiker, zärtlicher Vater und dummer Junge, erster Held und komische Mutter, Decorateur, Musikus, Balletmeister und Lampenputzer – das heißt, er war Factotum und darum eine Perle für jede Provinz. Aber leider hatte er kein Sitzfleisch, war bald hier, bald dort und fast immer auf der Wanderschaft, als ob seine Füße in den Sandalen des ewigen Juden steckten.

So finden wir ihn auch nach langer Wanderschaft in einem öffentlichen Garten zu Breslau, in welcher Stadt gerade der große blasse Dämon Paganini seine Zaubertöne aus der Teufelsgeige lockte. In einer entlegeneren Partie des Gartens steht Just mit einer alten Violine und giebt den Spatzen und Stieglitzen ein wahres Katzenconcert zum Besten, indem er mit der Possirlichkeit eines Affen alle Gesten und Manieren Maestro Paganini’s nachahmt.

„Was in aller Welt treiben Sie denn?“ ruft lachend ein Bruder Studio, den der Zufall zu diesem sonderbaren Concert geführt. „Sie geigen ja, als ob Sie zum St. Veitstanz aufspielen müßten.“

„Ruhe, Publicum!“ erwiderte Just mit komischer Grandezza, ohne sich in seiner musikalischen Uebung beirren oder unterbrechen zu lassen. „Ich bin Maestro Nicolo Paganini und studire ein neues Concert auf der G-Saite ein.“

Der Studiosus lehnte sich an einen Kastanienbaum und schien sich an diesem originellen Spaß zu amusiren; denn „wie er sich räuspert und wie er spuckt, hatte Just dem Maestro trefflich abgeguckt,“ und als der falsche Paganini nach dem letzten Bogenstrich sich stolz und gravitätisch gegen ihn verneigte, rief er ihm im tiefsten akademischen Bierbaß ein Bravissimo zu. Dann nahm er neben ihm auf dem Gartenbänkchen Platz und erlaubte sich, nach dem Namen der unbekannten Größe zu fragen, deren Bekanntschaft er hier gemacht.

„Nicht unbekanntbekannt ist Wilhelm Just, so weit die deutsche Zunge reicht!“ perorirte dieser.

„Dann reicht die deutsche Zunge nicht bis Breslau,“ sagte lachend der Student, „denn ich höre den Namen Wilhelm Just zum ersten Male, aber wetten könnte ich, daß der Träger dieses Namens ein vacirender Schauspieler ist, der bei unserem Stadttheater ein Engagement zu finden hofft?“

„Die Wette wäre nur zur Hälfte gewonnen. Ein vacirender Mime bin ich allerdings, aber ich suche und will kein Engagement, mein Herr Studiosus: Paganini läßt sich nicht engagiren, denn keine Direction der Welt kann ihn bezahlen.“

„Paganini – Sie?“

„Hahaha! merken Sie was, mein Herr Studiosus? Nicht der echte Paganini, der falsche will ich sein! Das ist eine kolossale Idee, die mich zum Nabob und jeden Theaterdirector zum Crösus machen muß! Ich brauche nichts als ein Stück! O, hätte ich einen Dichter, der mir eine Parodie schreibt, ich würde ihn noch um tausend Jahre unsterblicher machen, als sich Schiller und Goethe gemacht!“

„Ich pränumerire mich auf diese verlängerte Unsterblichkeit!“ bemerkte lachend der Student. „Mit Ende der Woche haben Sie die Parodie!“

„Mensch, Engel, Gott!“ rief entzückt der Schauspieler, indem er den Studenten stürmisch in die Arme schloß. „Ein Honorar von einer halben Million für dieses Werk!“

Der junge Studiosus hielt Wort.

Nach wenigen Tagen hatte Just die Parodie und zog als ‚falscher Paganini‘ durch alle Gauen der deutschen Bühnenwelt.

Tausende, und unter ihnen Maestro Paganini selbst, lachten über den Spaß, bis aus dem neuen Spaß ein alter wurde und der falsche Paganini sich mit dem echten in’s Meer der Zeit verlor.

Der junge Dichter aber ist im Laufe der Jahre einer unserer begabtesten und geachtetsten Dramaturgen geworden, es ist Heinrich Laube, und sein Verdienst um die deutsche Bühne hat ihm den ehrenvollsten Wirkungskreis angewiesen; doch die halbe Million für sein Erstlingswerk hat ihm Wilhelm Just nicht gebracht, aber er brachte ihm sich selbst, und das ist immerhin ein Erfolg; denn für einen umsichtigen Schauspieldirector ist ein tüchtiger Inspicient wahrlich kein kleines Capital.




Für den Weihnachtstisch. Unter der großen Schaar von strahlenden Büchern, welche alljährlich beim Herannahen des Festes sich einzustellen pflegen, wird unzweifelhaft ein von Albert Träger (in Leipzig bei J. G. Bach) herausgegebenes Album „Deutsche Kunst in Bild und Lied“ in besonderem Grade die Aufmerksamkeit des Publicums erregen. Prachtwerke dieser Art zeichnen sich leider häufig genug dadurch aus, daß in und an ihnen die Hand des Künstlers und des Buchbinders durch buntfarbigen Glanz und geschmackvolle Ausstattung die Dürftigkeit eines matten und langweiligen Inhalts verdecken muß. Träger’s Album dagegen läßt uns auf jedem Blatte den ordnenden und sichtenden, wachenden und schaffenden Geist eines wahren Dichters erkennen, dem es darum zu thun gewesen, im schimmernden Modegewande auch eine werthvolle poetische Gabe zu bieten. Von der beträchtlichen Anzahl deutscher Lyriker, welche der gemüth- und anmuthvolle Sänger aus allen Gegenden des Vaterlandes um sich versammelt hat, scheint ihm jeder mit Freuden sein Bestes geliefert zu haben. Und so quillt und klingt denn eine solche Fülle von ernsten und heiteren Weisen, von ergreifenden Tönen und schönen Gedanken so frisch, so reich und mannigfaltig zwischen den meistens gelungenen Bildern hervor, daß das Buch in der That seine Bestimmung erreicht: ein erwärmender Hauch, ein duftiger Blüthenstrauß oder ein erheiternder und erhebender Lichtstrahl aus dem Reiche der Poesie zu sein an trüben und öden Wintertagen.




Noch einmal Uhlich. Eben vor Schluß unserer Nummer ging uns noch die gewiß vielen unserer Leser erfreuliche Mittheilung zu, daß bei der Ende November d. J. in Magdeburg abgehaltenen Wahl es Uhlich’s Freunden zum ersten Mal gelungen ist, seine Wahl zum Stadtverordneten in der dritten Classe durchzusetzen, aber nur nach sehr großen Anstrengungen, erst bei dem engeren Scrutinium und mit einer äußerst geringen Majorität.




Als Weihnachtsgeschenke empfohlen!


Bock, Buch vom gesunden und kranken Menschen. 7. Aufl. broch. 1 Thlr. 22½ Ngr., eleg. geb. 2 Thlr.

Gartenlaube, 1859. 1860. 1862. 1863. 1864. 1865. broch. à 2 Thlr., eleg. geb. in gepr. Decke à 22/3 Thlr.

Saphir, M. G., Wilde Rosen. Dritte Auflage. Prachtvoll geb. mit Goldschnitt 2 Thlr. 15 Ngr.

Schefer, Leopold, Für Haus und Herz. Hinterlassene Gedichte. Herausgegeben von Rud. Gottschall. Eleg. geb. 1 Thlr. 27 Ngr.

Stolle, Palmen des Friedens. Eine Mitgabe auf des Lebens Pilgerreise. Vierte Auflag. eleg. geb. 1 Thlr. 15 Ngr.

Traeger, Gedichte. Fünfte, sehr vermehrte Auflage. Prachtvoll geb. mit Goldschnitt 11/3 Thlr.

Carl Maria v. Weber. Ein Lebensbild von Max Maria v. Weber. Drei Bände. Mit Portrait broch. 6 Thlr. 25 Ngr.

Wislicenus, Gustav Adolph, die Bibel. Für denkende Leser betrachtet. broch. 2¾ Thlr.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Verkleinerung von Barbara im mailändischen Dialekt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: begaben