Die Gartenlaube (1866)/Heft 48

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[745] No. 48.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ruine Wildenfels.
Erzählung von Friedrich Gerstäcker.
(Fortsetzung.)


Auf die rasche Frage des Vaters, ob Rosel auf dem nächtlichen Wege nach der Burg Bruno begegnet sei, antwortete sie: „Nein, Vater; seit gestern Abend habe ich ihn erst heute Morgen um neun Uhr wieder auf dem Weg gesehen. Aber ich begreife Dich selber nicht. Gestern grolltest Du ihm noch und warst böse, daß ich nur mit ihm gesprochen, und heute scheinst Du Deinen Sinn geändert zu haben. Wie kommt das?“

„Weil ich mein Kind keinem adligen Hungerleider zur Frau geben wollte,“ sagte der Wirth finster. „Die Sache hat sich indessen jetzt geändert und er hat, wenn ich auch für die Geschichte mit der Proceßsache keinen Pfifferling geben möchte, eine feste und anständige Stellung im Leben bekommen. Wärst Du ihm also noch so gut gewesen, wie ich früher glaubte, so –“

„Und weißt Du, Vater, welche Stellung er bekommen hat?“ frug das Mädchen und sah ihren Vater ernst und forschend an.

„Nun, gewiß weiß ich’s,“ erwiderte dieser, durch den Blick fast wieder außer Fassung gebracht.

„Beim Criminalamt.“

„Ja wohl, und wenn er da tüchtig ist, so kann er’s schon rasch vorwärts bringen. Der Gehalt wird freilich nicht so übermäßig hoch sein, aber lieber Gott, wo man erst einmal sieht, daß wirklich eine feste Grundlage da ist, kann man auch schon eher ein wenig nachhelfen.“

„Und weißt Du auch, Vater,“ flüsterte Rosel, indem sie auf ihren Vater zuschritt und ihre Hand auf seinen Arm legte, „daß ich, wenn ich wirklich seine Frau würde, auch kein Geheimniß vor ihm haben dürfte und möchte?“

„Rosel! rief der Vater erschreckt, indem er dem großen, angstvollen Blick seines Kindes kaum zu begegnen wagte, „was sollen all’ die dunklen Reden? heraus mit der Sprache! Du hast etwas auf dem Herzen, und ich will und muß es wissen.“

„Es ist auch vielleicht besser so,“ nickte das arme Mädchen leise vor sich hin, „Du mußt es wirklich wissen, denn nur dann ist noch Hoffnung möglich, wenn überhaupt –“

„Aber was ist Dir nur?“

„So höre, Vater. Kurz vor Mitternacht stieg ich auf die Ruine hinauf, ich sollte zum Zeichen, daß ich oben gewesen, einen der im Burghof selbst ausgetriebenen Schößlinge mit herunter bringen. Ich ging zu dem alten steinernen Tisch, der dort in der Mitte steht, und gerade, als ich darunter kauerte, um meine Aufgabe zu erfüllen, hörte ich plötzlich Stimmen und zwei Männer – mein Bruder und jener fremde Mensch, betraten den innern Raum. Angst und Bestürzung, was sie dahin geführt, ließen mich für einen Augenblick nicht recht zu mir selber kommen, ich wußte nicht gleich, sollte ich vortreten, sollte ich mich verborgen halten –“

„Dein Bruder?“ sagte Paul Jochus wie erstaunt, aber er selber fühlte, daß jeder Blutstropfen sein Antlitz verlassen haben mußte.

„Gleich darauf kamst Du,“ fuhr das Mädchen jetzt in furchtbarer Erregung fort, „ich verstand aus Deinen Worten, daß Du schon lange auf die Beiden gewartet, und dann verschwandet Ihr zusammen hinter der Mauer.“

„Und dann?“ sagte der Vater, doch er wußte kaum, was er sprach, denn seine entsetzlichste Ahnung war zur Wahrheit geworden.

„Dann folgte ich Euch,“ fuhr das Mädchen leise fort und durchlebte in diesem Augenblick noch einmal das ganze Entsetzen jener gräßlichen Stunde, „im Dunkeln tappte ich meine Bahn. Tief im Boden drin hörte ich Stimmen, steile Felsenstufen erreichte ich, die ich niederkletterte, ein abschüssiger schlüpfriger Weg lag vor mir und schon verließ mich der Muth, in dieser Finsterniß weiter vorwärts zu dringen, wo ich jeden Moment in irgend ein grausiges Gewölbe hinabstürzen konnte – da entdeckte ich dicht vor mir an der Wand einen Lichtschimmer, ich wagte mich noch die wenigen Schritte weiter vor und sah dann durch eine Oeffnung, die ein herausgebrochener Stein gelassen. O Vater, Vater, was um des Allerbarmers willen hast Du gethan? Was hab’ ich verschuldet, daß ich das Alles für Euch tragen muß?“

„Ich weiß nicht, wovon Du sprichst, was Du gesehen, gehört haben willst,“ stammelte der Mann. „Thörichtes Kind, die Aufregung in dem alten Gemäuer hat Dir die Besinnung geraubt; wer weiß denn, wen die Lust getrieben, da oben in der alten Burg um Mitternacht herumzuwandeln und Gespenster zu spielen; ich habe in meinem Bett gelegen und der Franz sieht mir wahrhaftig auch nicht so aus, als ob er sich eine Nacht Schlaf abstehlen würde, um da oben in dem alten Gemäuer spazieren zu gehen.“

Rosel sah den Vater einen Augenblick fest und starr an. Konnte sie sich geirrt haben? Wie im Flug schoß der Gedanke durch ihre Seele, aber es war auch nur ein Moment. Im nächsten schon fühlte sie mit furchtbarer Sicherheit die Wahrheit des Geschehenen, und sich in leidenschaftlicher Heftigkeit an des Vaters Brust werfend, rief sie aus:

„Vater, lieber, bester Vater, noch ist es vielleicht Zeit; rette Dich selber, rette Deinen Sohn vor jenem nichtswürdigen Verführer, der Euch in sein Netz gezogen!“

[746] Der Mann hatte fast unbewußt seinen Arm um sie geschlagen und hielt sie fest an sich gepreßt. Sie wollte das Antlitz zu ihm erheben, allein er hinderte es. Nicht jetzt durfte sie ihm in’s Auge sehen, wo Schreck, Angst und Trotz um die Oberherrschaft kämpften. Aber er vermochte es nicht über sich, dem eigenen Kind gegenüber eine wirkliche Schuld einzugestehen, nur Zeit wollte er gewinnen, um sich zu sammeln, um jede Spur einer Ueberraschung aus seinen Zügen zu verwischen, und dann erst, als er wenigstens glaubte, daß ihm das gelungen sei, ließ er sie los und sagte freundlich, ja herzlich:

„Du bist wirklich krank, mein armes Kind, ernstlich krank, und ich muß darauf bestehen, daß Du Dich in Dein Bett legst. Du sprichst wahrhaftig wie in Fieberphantasien.“

Rosel richtete sich auf und sah ihren Vater starr an.

„Also bist Du’s wirklich nicht gewesen, Vater?“ sagte sie dann und ein eisiges Lächeln zuckte um ihre Lippen, „den ich die Nacht oben in der alten Ruine gesehen habe?“

„Aber, liebes Herz, was soll ich Dir das noch zehnmal betheuern,“ sagte der Wirth, „ich habe die ganze Nacht geschlafen.“

„Und der Franz auch nicht?“

„Gewiß nicht, und wenn er oben gewesen wäre, so hätte er doch nie etwas Böses dort im Sinn gehabt.“

„Gott sei Dank!“ sprach das Mädchen mit einem aus tiefstem Herzen heraufgeholten Seufzer, „dann ist eine große Last von meiner Seele genommen und ich kann mir Ruhe vor meinem Gewissen schaffen. Jetzt darf ich auch wieder fröhlich sein und es kann noch Alles gut werden.“ Damit ging sie zu ihrem Kleiderschrank, nahm Hut und Tuch heraus und warf sich das letztere um.

„Und wohin willst Du noch heute Abend, Rosel?“ sagte der Vater scheu.

„Auf’s Criminalamt, Vater,“ sagte ruhig das Mädchen.

„Auf’s Criminalamt?“ rief Jochus erschreckt, „aber der Bruno ist ja noch gar nicht oben und heute erst auf’s Obergericht gegangen. Vor morgen Abend kann er, wie er mir auch sagte, nicht zurück sein.“

„Ich will auch nicht zum Bruno,“ erwiderte das junge Mädchen fest, indem sein Blick wieder den Vater traf, „sondern nur eine Anzeige oben machen, die wichtig genug ist.“

„Eine Anzeige, Rosel?“ frug der Wirth bestürzt.

„Ja, Vater, droben auf der Ruine nämlich treibt eine Bande von Falschmünzern ihr Wesen. Gestern Nachts habe ich sie belauscht und ihre Maschine gesehen und ihre Reden gehört; ich geh’ dann gleich selber mit hinauf und zeig’ ihnen den Platz, wo’s hinabgeht, daß sie gar nicht mehr fehlen können; dort finden sie das ganze Nest.“

„Rosel,“ rief der Vater in Todesangst, „misch’ Dich nicht in solche Geschichten! Was weißt Du von Falschmünzern oder derlei Dingen, und wenn Du auf’s Gericht mit einer solchen Klage kommst, glaubst Du denn nicht, daß es Dich und uns Alle in Ungelegenheiten bringen könnte?“

„Keinen unschuldigen Menschen, Vater, sei versichert,“ sagte das Mädchen ruhig. „Die Verbrecher mögen sich in Acht nehmen, aber uns kann nichts geschehen.“

„Und wenn – wenn Dein Bruder Franz nun doch –“ stotterte der Mann, „in jugendlichem Leichtsinn vielleicht – verführt –“

„Vater!“ schrie Rosel mit einem herzzerreißenden Ton des Jammers.

„Ich sag’ es ja nicht,“ sprach dieser erschreckt, „aber die Möglichkeit liegt doch vor – und Du möchtest doch Deinen eigenen Bruder nicht unglücklich machen wollen?“

„So soll ich nicht gehen?“

„Nimm Dir Zeit,“ sagte Paul Jochus, „auf einen Tag kommt’s ja nicht an, ich will noch heute Abend nach Hellenhof hinüber und mit Franz sprechen; ich kann mir’s nicht denken, aber wir dürfen auch nicht die Möglichkeit außer Acht lassen. Morgen früh sage ich Dir dann Antwort, Rosel. Nicht wahr, bis dahin redest Du mit Niemandem darüber?“

„Nein, Vater,“ erwiderte das junge Mädchen, indem sie ihr Tuch abwarf und wie gebrochen auf einen Stuhl sank. „Ich hätte auch heute zu Niemandem davon geredet,“ setzte sie fast tonlos hinzu, „es war eine leere Drohung, denn ich will – keine Vatermörderin werden.“

„Rosel!“ rief der alte Mann und wollte auf sie zueilen, allein sie streckte abwehrend den Arm gegen ihn aus.

„Laß mich, Vater, laß mich allein mit meinen Gedanken, geh’ zu Franz, geh’, so rasch Dich Deine Füße tragen, und bitt’ ihn um meinet-, um seiner seligen Mutter willen, daß er die Genossenschaft mit jenem Menschen aufgebe.“

Sie hatte das Gesicht mit ihren Händen bedeckt und ihr ganzer Körper zitterte. Der Vater stand vor ihr, er hätte noch so gern zu ihr gesprochen, doch er vermochte es nicht. Die Zunge klebte ihm am Gaumen, der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, und scheu und zerknirscht nahm er seinen Hut und verließ das Zimmer.


6. Die Verabredung.

Paul Jochus eilte wirklich, so rasch ihn seine Füße trugen, nach Hellenhof hinüber, denn was er schon seit heute Morgen im Geheimen befürchtet, war geschehen und es galt nun die Folgen der möglichen Entdeckung von ihren Häuptern abzuwenden. Er traf auch seine beiden Bundesgenossen, den Sohn und dessen Compagnon, zu Hause, aber in anderer Stimmung, als er selber sich befand. Jubelnd sprangen ihm die beiden jungen Männer entgegen, als er das Haus betrat, denn sie hatten ihn schon von oben kommen gesehen und ihm geöffnet, und wie sie nur erst wieder die beiden schweren Riegel vorgeschoben, um von keinem Unberufenen gestört zu werden, führten sie ihn in ihr kleines, abseit gelegenes und nur für besondere Zwecke bestimmtes Arbeitszimmer hinauf. Ja, in ihrer Ausgelassenheit bemerkten sie nicht einmal das niedergeschlagene Wesen des Alten, den sie überhaupt nicht zu Worte kommen ließen.

„Da sieh her, Vater,“ rief Franz ihm entgegen, indem er ihm zwei Fünfundzwanzig-Thalerscheine vorhielt, der eine ist ächt, der andere unächt; nun sage selber, welches der ächte ist.“

„Welches der ächte ist, weiß ich nicht,“ erwiderte der Wirth, während er nur einen flüchtigen Blick auf die Scheine warf, „aber so viel weiß ich, daß wir entdeckt und verrathen sind und auch die letzte Spur unserer Thätigkeit vertilgen müssen, so lange es noch Zeit ist.“

„Alle Teufel!“ rief Brendel, der junge Berliner, aus, indeß Franz den Vater erschreckt anstarrte. „Haben sie einen unserer Unterhändler erwischt? Gewiß den holzköpfigen Meier.“

„Nein,“ sagte der Wirth, „die Polizei weiß zum Glück noch nichts von unserer Arbeit, oder ich hätte vielleicht nicht einmal Gelegenheit bekommen, Euch zu warnen, aber von anderer Seite sind wir beobachtet worden.“

„Von anderer Seite?“ sagte Franz erstaunt. „Das versteh’ ich nicht.“

„Rosel ist hinter unser Geheimniß gekommen.“

„Rosel?“

„Na,“ nickte Brendel, „wenn erst ein Frauenzimmer darum weiß, wär’s freilich Zeit, daß wir einpackten.“

„Aber wie um Gottes willen ist das möglich?“

Paul Jochus erzählte den ihm in der gespanntesten Erwartung zuhörenden jungen Leuten die Erlebnisse der gestrigen Nacht und seine heutige Unterredung mit der Tochter, verschwieg ihnen auch nicht, daß sie die Hand des jungen Adligen ausgeschlagen habe, weil er von jetzt ab beim Criminalamt angestellt sei und sie vor ihrem künftigen Mann kein Geheimniß haben könne und wolle.

„Bah!“ rief Franz verächtlich, „wenn weiter Niemand darum weiß, als Rosel, so hat’s noch keine Gefahr. Daß die uns nicht verräth, ist sicher, und jetzt wahrhaftig können wir die Sache nicht aufgeben, wo wir gerade Alles erreicht haben, was wir wollen. Die Banknoten sind so vorzüglich ausgefallen, daß sie der Finanzminister selber nicht von den ächten unterscheiden sollte. Wir wissen jetzt, daß wir’s machen können, und sollen nun mit diesem Bewußtsein die Flinte in’s Korn werfen, weil meine eigene Schwester Mitwisserin geworden ist? Es wäre reiner Wahnsinn, wenn wir’s thäten.“

„Du kennst die Rosel nicht,“ sagte der Vater ernst, „sie grämt und härmt sich schon jetzt die Seele aus dem Leibe.“

„Aber sie darf uns nicht verrathen,“ rief Franz rasch, „denn sie hat selber die Früchte unserer Arbeit mit genossen, also Theil an dem Betrug genommen. Daß sie deshalb dem langweiligen Jungen, dem Herrn von der Haide, den Laufpaß gegeben, war [747] das Gescheidteste, was sie thun konnte, und wenn sie erst erfährt, daß wir eine Dame aus ihr machen können, wird sie selber mit der Sache einverstanden sein.“

Paul Jochus schüttelte den Kopf; er kannte das Mädchen besser.

„Das wird sie nicht, Franz,“ sagte er entschieden, „ich glaube, sie trüge lieber Hunger und Kummer, als die Mitschuld an etwas Derartigem.“

„Für so dumm hab’ ich sie nicht gehalten,“ sagte Franz verächtlich; „aber es bleibt sich gleich, wie sie darüber denkt, verrathen kann und darf sie uns nicht und wird es auch nicht, wenigstens nicht in der ersten Zeit, denn auf die Länge möchte ich selber keinem Weibermund vertrauen. Haben wir aber nur vierzehn Tage Zeit, so sind wir mit Allem fertig und brauchen nicht mehr zu arbeiten, und dann laß es unsere Sorge sein, uns aus dem Weg zu halten. Hier ist der Absatz der Noten in Masse ja doch nicht so leicht.“

„Wenn wir nur unsere Werkstätte wo anders hin verlegen und sie glauben machen könnten, daß wir es aufgegeben haben.“

„Das geht nicht,“ sagte Franz entschlossen, „und wo fänden wir wohl einen passenderen Platz? Indeß der ausgebrochene Stein muß heute Abend noch ersetzt werden, und würden wir selbst verrathen, so weißt Du doch, daß sie uns da unten nie erwischen könnten, denn den versteckten Ausgang kennt kein Mensch außer uns.“

Der Wirth stand unschlüssig am Tisch und betrachtete fast unbewußt das ihm vorgelegte Falsificat. Es war in der That meisterhaft gearbeitet und er selber nicht im Stande die ächte Note von der unächten zu unterscheiden. Selbst das Papier ließ nichts zu wünschen übrig, und er zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie von diesen Noten eine Masse auf den Markt werfen könnten, ehe eine Entdeckung möglich würde. – Und selbst dann – wer wollte wissen oder verrathen, woher es stammte – aber Rosel? Er konnte den Blick nicht vergessen, mit dem sie ihn angesehen – er konnte die Worte nicht aus dem Gedächtniß bringen – „was hab’ ich verschuldet, daß ich das Alles für Euch tragen muß?“ – und er mußte auch des Versprechens gedenken, das er ihrer sterbenden Mutter gegeben.

Sein Blick flog über das betrügerische Papier hin in’s Leere und andere Bilder tauchten vor ihm auf.

„Nun, was sagst Du, Vater?“ frug Franz triumphirend, „kann es etwas Vollendeteres geben? Die österreichischen Noten lassen sich mit diesen gar nicht vergleichen, und doch haben sie drei volle Monate gebraucht, bis sie nur dahinter kamen. Wär’s nicht reine Sünde einen solchen Vortheil aus der Hand zu geben?“

Brendel hatte indessen mit untergeschlagenen Armen und zusammengezogenen Brauen am Fenster gestanden und hinaus gestarrt. Jetzt sagte er finster:

„Ich will Dir etwas sagen, Franz, je länger ich über die Geschichte nachdenke, desto weniger gefällt sie mir. Deine Schwester mag mich nicht leiden, so viel ist sicher – Gott weiß, aus welchem Grunde, denn eine so abschreckende Larve trage ich doch nicht mit mir herum – aber deutlich genug hat sie’s wenigstens gezeigt. Wenn sie also wirklich Jemanden verräth, so bin ich das, und unter den Umständen –“

„Aber sie kann Dich doch nicht allein verrathen, ohne ihren Vater und Bruder mit preiszugeben,“ rief Franz heftig aus, „und beim ewigen Gott, wenn die Dirne wahnsinnig genug wäre, das zu thun –“

„Sie wird Euch nicht geradezu verrathen,“ sagte Brendel finster, „aber es wird auf andere Weise an den Tag kommen, verlaßt Euch darauf.“

„Und ein Vermögen, das vor uns auf dem gedeckten Tische liegt, sollen wir aus reinem Muthwillen mit den Füßen von uns stoßen?“ fuhr Franz auf.

„Vielleicht doch nicht ganz,“ erwiderte Brendel; „wir wissen jetzt, wie die Sache gemacht wird, und haben alles Nöthige dazu; es gilt also nur einen anderen Schauplatz zu suchen, auf dem wir das Begonnene beenden können.“

„Und wie wollen wir alle Instrumente und Pressen transportiren, ohne Verdacht zu erregen? Weißt Du noch, welche Mühe und Arbeit es uns gekostet hat, das Alles heimlich in die Ruine zu schaffen? und viel schwieriger wäre es jetzt, es von da wieder wegzubringen.“

„Das weiß ich Alles und ich wollte lieber, daß die Mamsell – doch es ist Deine Schwester und damit abgemacht – Du kannst es mir übrigens nicht verdenken, daß ich lieber in Amerika oder sonst in einer hübschen Gegend als im Zuchthaus sitze, und das blüht uns, sobald wir erwischt werden.“

„Das hat uns geblüht, solange wir die Arbeit begonnen,“ sagte Franz verächtlich, „aber sei nicht thöricht und folg’ nur dies eine Mal meinem Rath. Rosel hat einen Trotzkopf, ich weiß es, und ist dabei vom Vater so verzogen, daß sie gewöhnlich thut, was sie eben will – sonst wäre sie auch wahrhaftig nicht Nachts zur Ruine hinauf gegangen, aber sie ist auch klug genug, um zu wissen, wie weit sie gehen darf. Was sie nicht sagen will, behält die schon für sich. Der Vater muß jetzt mit ihr sprechen; er mag ihr meinetwegen versichern, wir hätten die Geschichte aufgegeben, brauchten aber etwa vierzehn Tage Zeit, um all’ die Spuren unserer früheren Arbeiten fortzuschaffen und zu vertilgen, wonach wir Beiden dann nach Amerika auswandern würden. Daß sie dann den Mund hält, darauf könnt Ihr Euch verlassen, und bis dahin sind wir mit Allem fertig und haben unser Schäfchen im Trockenen.“

„Das könnte gehen,“ sagte Brendel nachdenkend, „und was meinen Sie dazu, Jochus?“

„Ich glaube, der Franz hat Recht,“ nickte der Wirth, dem die Aussicht auf einen so raschen und reichen Gewinn zu verlockend entgegenwinkte, „darauf vorbereitet ist sie überdies schon, denn ich habe ihr ja gesagt, daß ich nur deshalb zu Dir hinüberginge, Franz, um Dich davon abzubringen.“

„Aber glaubt Ihr auch gewiß, daß wir in vierzehn Tagen mit der ganzen Arbeit fertig werden?“

„Sicher, vielleicht noch früher,“ nickte Brendel, „denn die Nächte werden jetzt von Tag zu Tag länger, und sowie ein wenig rauhes Wetter einsetzt, sind wir dort oben ganz sicher vor Störung.“

„Gut; dabei bleibt’s!“ rief Jochus nach kurzem Besinnen, denn er hatte in dem Forträumen der Werkzeuge jetzt auch eine vollständige Entschuldigung, wenn Rosel seine Abwesenheit von daheim ja noch bemerken sollte, „Sind denn die Vorbereitungen soweit getroffen, daß wir gleich an die Arbeit gehen können?“

„Daran fehlt’s nicht,“ nickte Franz, „verschaffe uns nur noch bis morgen Abend die hier auf dem Zettel bemerkten Gegenstände, die Du dann gleich mit auf die Burg hinaufbringen kannst.“

„Und sollen wir uns also morgen Abend dort wieder treffen?“ frug Brendel, der seine Bedenken nicht vollständig abgeschüttelt zu haben schien.

„Jedenfalls,“ rief Franz, „denn Zeit dürfen wir nun auch nicht mehr versäumen; jede Stunde ist kostbar.“

„Meinetwegen denn,“ gab Brendel seine Zustimmung, „aber so recht behaglich fühle ich mich nicht mehr hier, das kann ich Euch gestehen, und am allerliebsten versucht’ ich mein Glück an einer anderen Stelle. Wenn Ihr’s freilich nicht anders haben wollt, so können wir uns auch einmal ein paar Wochen auf eine Weiberzunge verlassen, denn ändern läßt sich die Sache doch nicht mehr, dann aber hält mich auch nichts mehr in der Nachbarschaft und ich will Gott danken, wenn ich den Rhein erst gesund hinter mir habe.“

„Da geht unser neugebackener Actuar,“ lachte Franz, der einen Blick durch das mit grünem Draht verstellte Fenster geworfen hatte, „wenn der wüßte, was hier gebraut wird, welch’ glänzende Empfehlung könnte er sich damit beim Criminalamt schaffen!“

„Spotte Du auch noch!“ sagte Brendel, während er neben ihn trat – „und wie sich der Lump spreizt, als ob er schon Justizminister wäre! Lauf’ Du mir nur einmal in den Weg, wenn mir die Füße erst nicht mehr gebunden sind!“

„Der thut keinen Schaden,“ lachte Franz, „wenn sie Alle so unschuldig wären, könnten wir uns getrost hier häuslich niederlassen. Ueberhaupt dürfen wir uns über unsere Polizei nicht beklagen; sie scheint wirklich froh zu sein, wenn man sie nur selbst zufrieden läßt.“

Jochus hatte seinen Hut schon wieder genommen, um nach Hause zurückzukehren, aber er blieb noch in der Stube stehen und sah selbst dem vorübergehenden jungen Manne nach, bis dieser oben in der Straße verschwand.

„Hast Du den Zettel, Vater?“

„Ja – ich werde es besorgen. Um wie viel Uhr treffen wir zusammen?“

[748] „Nicht später als neun,“ sagte Franz, „das Papier ist schon oben und wir können dann gleich beginnen. Also sprich mit der Rosel, sag’ ihr meinetwegen, wir wären zu Kreuz gekrochen und versprächen es nicht wieder zu thun,“ lachte er bitter vor sich hin, „es wär’ auch nur erst ein Versuch gewesen – na, Du wirst’s schon machen.“

Paul Jochus erwiderte nichts; das Gute, was noch in ihm lebte, die Erinnerung an Rosel’s verstorbene Mutter, arbeitete noch in ihm, aber die Gier nach Geld war mächtiger und wich keinem Schatten mehr. Er mußte, wie er sich einredete, das Begonnene nun auch durchführen, und während er ohne Abschied das Haus verließ, legte er sich im Geiste schon die Lüge zurecht, mit der er sein eigenes Kind beschwichtigen wollte – nicht um sie zu beruhigen und ihr den Frieden wiederzugeben, sondern um seine eigenen schlechten Handlungen sicher zu stellen und die Entdeckung von sich abzuwenden.

Wie trübe verbrachte indessen die arme Rosel daheim die Zeit! Wie schwer, wie entsetzlich schwer war ihr das Herz heute, wo Alles gerade hätte so gut sein können, wo endlich ihr heißes Gebet erhört worden, wo der Geliebte eine feste Stellung errungen hatte und sie Beide dem Ziele ihrer Wünsche näher waren! Durfte sie jetzt noch daran denken, ihm jemals anzugehören? – Dazu hätte sich die stolze Familie vielleicht herbeigelassen, dem jungen Mann die Verheirathung mit einem braven, unbescholtenen Bürgermädchen zu gestatten. Aber hätte sie es, die Tochter eines Verbrechers, wagen dürfen, in das ehrbare Haus einzutreten, hätte sie wagen dürfen, sich Bruno’s Mutter an das Herz zu legen und ihr den theueren Namen zu geben, der ihre ganze Seele füllte? – nie! Wie eine Ausgestoßene kam sie sich selber vor, so rein von Schuld sie ihr eigenes Herz auch wußte, aber wenn sie auch nichts weiter gesündigt hatte, so war sie doch die stillschweigende Mitwisserin jener furchtbaren Schuld, die in ihrer Brust vergraben bleiben mußte, denn konnte sie den eigenen Vater – den Bruder in’s Zuchthaus liefern?

So verbrachte sie den Abend und horchte auf jeden Schritt im Hause, ob der Vater noch nicht zurückkehre und wenigstens einen Trost bringe, daß ihre Bitten und Thränen – ja die absichtlich darin versteckte Drohung einer Klage, gefruchtet hätten. Noch war es ja vielleicht möglich, Geschehenes ungeschehen zu machen, wenigstens dem rächenden Gesetz gegenüber, wenn sie es auch nie aus dem eigenen Herzen reißen konnte. Sie wollte auch gern, o wie gern, Alles allein geduldig tragen, und nicht klagen und murren, wenn sie nur den Vater und Bruder vor dem Verderben bewahrt und einem ehrlichen Leben zurückgegeben hatte.

Endlich kam der Vater. Er wollte an ihrem Zimmer vorüber in sein eigenes gehen, aber sie ließ ihn nicht. Wie sie ihn draußen hörte, öffnete sie die Thür und sagte ängstlich:

„Wie ist es, Vater, warst Du drüben bei ihm?“

„Ja, Kind.“

„Und hast Du mit ihm gesprochen? o, komm’ herein und erzähle mir Alles, was er geantwortet hat.“

„’s ist Alles gut, Rosel,“ sagte der Wirth, indem er zu ihr in’s Zimmer trat und sie auf die Stirn küßte – er mochte ihr nicht dabei in’s Auge sehen, „ich hab’ mit ihm geredet, er hat’s eingesehen und wir wollen jetzt unser Möglichstes thun, um Alles, was noch von der Sache übrig ist, aus dem Wege zu schaffen. Noch weiß kein Mensch davon, als Du, und soll auch hoffentlich nie Jemand weiter davon erfahren.“

„Und der Fremde, was wird mit ihm?“ sagte Rosel und richtete sich rasch empor, um ihren Vater anzusehen.

„Er – er hat sich mit Franz gezankt,“ log der Vater, „weil er’s noch nicht aufgeben mochte. Als ihm der Junge aber erklärte, daß er mit der Sache nichts weiter zu thun haben wollte, meint’ er, dann ginge er nach Frankreich hinüber und versucht’s auf eigene Hand.“

„Laß ihn, Vater, o laß ihn gehen,“ bat das Mädchen, „sieh, ich will arbeiten, daß mir das Blut unter den Nägeln vorspritzt. Ich kann arbeiten; ich hab’s von Jugend auf getrieben und nichts Anderes in meiner Jugend gelernt. Und wie gern thu’ ich’s,“ setzte sie mit wehmüthigem Lächeln hinzu, indem sie ihr Haupt an seine Brust lehnte, „wenn es dann nur ehrliches Brod ist, was wir essen. Es wird auch gehen, Vater, habe nur guten Muth; Du bist jetzt so gut, Du trinkst nicht mehr und stehst Deinem Geschäft so ordentlich vor, daß Dich alle Menschen d’rum lieb haben, wir müssen uns vielleicht ein Bischen einschränken, aber was thut das? Die Bärbel brauchen wir auch nicht mehr in der Schenkstube, sie ist ein gutes Mädel, aber doch lässig, und man muß ihr fast die halbe Arbeit noch einmal nachmachen, das kann ich auch allein verrichten, und pass’ einmal auf, Deine Gäste sollen sich gewiß nicht beklagen, daß sie langsam bedient würden.“

„Meine gute Rosel,“ sagte der Vater, denn die kindliche Sorgfalt der Tochter stach ihm wie ein Messer in’s Herz und die Scham vor sich selbst trieb ihm das Blut in die Schläfe, „Du bist ein braves Kind, ganz wie Deine selige Mutter, so gut und fromm.“

„O, denk’ recht oft an die selige Mutter, Vater,“ bat das junge Mädchen, sich fester an ihn schmiegend, „recht, recht oft, Du weißt ja, wie lieb sie Dich und mich gehabt und wie schwer ihr das Sterben wurde, weil sie mich zurücklassen mußte und sich so um mich sorgte; denk’ recht oft an sie! willst Du mir das versprechen, Vater?“

„Ja, Rosel, ich will’s,“ flüsterte der Mann und wandte den Kopf ab, denn er fühlte, daß er jetzt ihren Blick nicht ertragen hätte.

„Dann wird auch noch Alles gut werden,“ lächelte das Mädchen unter Thränen vor, „Alles, Du sollst auch nie[WS 1] von mir eine Klage hören. Das verspreche ich Dir, Vater, und Du weißt, daß ich halte, was ich Dir einmal versprochen.“

„Ich weiß es, Rosel – ich weiß es – Du bist so von klein auf gewesen, wie Deine Mutter selig – aber nun laß auch das Weinen sein, Kind. Leg’ Dich jetzt zu Bett und schlaf ordentlich aus, und zeig’ den Leuten morgen wieder ein freundlich und ruhiges Gesicht. Du glaubst gar nicht, wie sie heute nach Dir gefragt und sich um Dich gesorgt haben. Der alte Registrator war drei Mal da, um Dir für die Orangenstöcke zu danken, und der Stadtschreiber selber ist den Mittag eigens darum heraus gekommen, um sich zu erkundigen, ob Dir der Marsch gestern Abend nicht geschadet hätte.“

„Der gute alte Mann!“ sagte Rosel leise, „ja, Vater – morgen geh’ ich wieder in die Wirthschaft hinunter, und sei versichert, mit recht leichtem, fröhlichem Herzen. Es soll mir Niemand ansehen, wie weh mir heute zu Muthe gewesen ist und was für eine schwere Nacht ich gehabt habe. Und gehst Du auch jetzt schlafen?“

„Nein, ’s ist noch zu früh,“ sagte Jochus, „und ich werde noch ein wenig hinunter sehen, denn Bärbel allein möcht’ ich die Stube nicht überlassen. Also gute Nacht, Rosel; die Thür geht so oft unten, ich glaub’, es sind viel Leute da. Schlaf’ wohl, Kind.“ Und mit den Worten küßte er sie noch einmal auf die Stirn und stieg dann die Treppe hinab.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Unglücksjahr in den Alpen.
Von Berlepsch.


Es war eine schlechte Reise-Saison. Die schwarzbefrackten Sommerkellner mit den glatt gesalbten Haardächern und knarrenden Glanzlederschuhen, diese polyglottischen Papageien, hatten schlechte Gelegenheit für ihre Rolle, mit Lords, Millionenmagnaten und den wirklichen oder eingebildeten höchsten Würdeträgern der Staaten und Stäätlein zu verkehren. Die im amerikanischen Kriege reich gewordenen Speculanten und Lieferanten, welche im verflossenen Sommer massenhafter als je nach Europa herüberkamen und im Vorübergehen einen „Schnauf“ Alpenluft mitnahmen, schützten zwar, während die Karthaunen in Deutschland donnerten, eine Anzahl schweizerischer Reiseorte dürftig vor völligster Verödung; und als das Schwert niedergelegt war und die Truppen heimkehrten, da kam zwar noch ein Herbst-Contingent, – aber der Himmel zog seine Schleußen und ließ das segnende Naß in so unerschöpflicher Freigebigkeit herniederströmen und verschleierte das Gebirge mit seinen unheimlichen Nebelmassen so dicht und anhaltend, daß die wenigen Nachzügler, welche das Hinausweh und die Cholera noch in die Berge getrieben hatte, ihre Koffer bald wieder packten und die Rückkehr antraten.

Und wunderbar! – als ob es prädestinirte Unglücksjahre

[749]

Die Taminaschlucht bei Fackelbeleuchtung.
Nach der Natur aufgenommen von R. Aßmus.

[750] gäbe; – so gering der Touristenverkehr war, so auffallend groß ist die diesjährige Liste der Unfälle, welche Menschenleben in den Alpen verschlangen. Der prachtvolle Sommer von 1865 (dieser gesegnete Weinkocher, wie so rasch kein zweiter kommen wird) hatte auch seine Quote Menschenseelen für den Alpengeist gefordert, aber die Verhältnisse waren ganz andere als heuer. Jene vorjährigen Unglücke ereigneten sich an Stellen, von denen der besonnene Berggänger vorausgesagt haben würde: „Hier gilt’s zuvor sein Haus bestellen.“ Die diesjährigen, numerisch und relativ den vorjährigen überlegen, sind mit wenigen Ausnahmen fast alle an Stellen begegnet, die an und für sich so gefahrlos, so allgemein frequentirt sind, ich möchte sagen wie die Schwellen unserer Wohnhäuser. Etwas Schreckliches, etwas Dämonisches waltete über der alpinen Schicksalschronik von 1866. – Eine heitere Schaar züricherischer Polytechniker verlegen einen ihrer Kneipabende (wie dies auch im Sommersemester anderer Jahre zu geschehen pflegte) in ein benachbartes am See gelegenes Wirthshaus, fahren in einem Dutzend Kähnen bei Tage dorthin, Professoren kneipen mit, man ist in prächtigster Laune und tritt, allerdings bei etwas dunkeler Nacht, die Rückfahrt mit den gleichen Fahrzeugen an. Alle fahren gut, nur ein Kahn füllt sich nach und nach mit Wasser, weil nicht genug gekalfatert, und sinkt, und mit ihm sinken zwei hoffnungsvolle Jünglinge, des Schwimmens unkundig, während die Anderen mit großer Anstrengung sich zu retten vermögen. – Weiter! – Ein junger Engländer zeichnet an der Axenstraße, hoch überm Vierwaldstätter See, auf einem Feldstuhle sitzend, sieht sich um, verrückt den Stuhl ein wenig, verliert das Gleichgewicht und stürzt in den See. Die Tiefe gab seinen Leichnam nicht zurück. – Ein preußischer Officier, Lieutenant von Wedell, den sein Genius in den Mordschlachten Böhmens schirmend deckte, macht zur Erholung noch eine Reise zu seinem am Thuner See lebenden Freunde und von dort Excurse in’s Gebirge. Er steigt auch die Allerwelts-Passage von Grindelwald über Wengernalp hinauf, allein, ohne Führer, will drüben in’s Lauterbrunnemthal hinab, sieht das Dorf links zu seinen Füßen freundlich winkend liegen, verläßt den breiten, sichern Reitweg und folgt einem ihm scheinbar näheren, weniger betretenen Fußpfade, kommt auf eine jener vertical zur Thalsohle abstürzenden Fluhen (Felsenwände), gleitet aus und – wird mit zerschmettertem Körper gefunden.

Er hatte keinen Führer! – Drei Engländer, von denen der Eine schon früher einer Besteigung des Montblanc beigewohnt hatte, wagen es, gleichfalls ohne Führer (reglementarisch soll für eine Montblanc-Besteigung jeder Reisende seinen eigenen nebst Träger haben) den Weg anzutreten. Man hatte sie in Prieuré (Hauptort von Chamounix) dringend gewarnt, aber sie hatten lachend der Warnung gespottet. Gespannten Blickes verfolgten mit dem Fernglase Führer und Fremde vom Thale aus die Wagefahrt; und wirklich! es schien, als wolle das Glück sie begünstigen. Da plötzlich rutscht der Eine und zieht, durch das Gletscherseil an seine Gefährten gefesselt, auch diese zum Sturz, sie verschwinden und die Zuschauer im Thal erkennen klopfenden Herzens: in diesem Augenblicke enden drei Menschenleben. Eine Schaar beherzter Männer macht sich auf; man sucht; zwei werden gerettet, – der Dritte schläft den Todesschlaf im Eisgewande des höchsten Bergriesen von Europa. – Noch ein anderer Sohn Albions kommt mit seiner Mutter und zwei Schwestern nach Chamounix, im October, will auch den „Monarchen“ (wie die Thalleute den Montblanc nennen) unter seine Füße zwingen, während man ihm, der späten Jahreszeit halber, abrathet. Indessen er findet zwei Führer, welche mit ihm gehen; auch eine seiner Schwestern hat anfangs die Absicht das Wagestück mit zu unternehmen, steht jedoch, bald einsehend, daß ihre Kräfte nicht ausreichen, davon ab und kehrt um. Unseliger Weise schlagen die Führer, weil der neue Schnee sie sehr im Fortkommen hindert, einen Weg ein, den man seit vielen Jahren nicht mehr gemacht hatte, der aber etwas näher sein mag. Auch diese Expedition steigt gut und glaubt ihres Sieges gewiß sein zu dürfen. Da löst sich droben eine auf glatter Unterlage von altem Firn ruhende Schicht neuen Schnees ab, wächst an Umfang und Fallkraft, wird zur Lauine und begräbt alle Drei! –

Das sind acht Menschenleben, die unerwartet, urplötzlich, im frohesten, freudigsten Lebensgenusse der jähe Tod ereilte. Mit ihnen ist aber die Trauerliste noch nicht geschlossen. Noch zwei Fälle sind zu erwähnen, deren Unglücksgeschichten zu den ergreifendsten gehören.

Der erste betrifft den Sturz des vortrefflichen Hugo Wislicenus (Doctor der Philosophie, Lehrer der altdeutschen Sprache am eidgenössischen Polytechnikum und der Universität so wie an der Kantonsschule in Zürich und am Lehrerseminar in Küßnacht), unweit der Tödi-Clubhütte am 8. August. Ueberangestrengt waren ihm die Sommerferien bis zur letzten Woche vorübergegangen, ohne ihm Tage der Erholung, der neuen Kräftigung an Geist und Körper zu schenken. Endlich war die Ferienarbeit über „das Nibelungenlied als Kunstwerk“ zum Abschluß gebracht, und der eifrige germanische Forscher wollte die noch wenigen freien Tage zu einer erfrischenden Wanderung in die ihm liebe große Alpenwelt benutzen. Auch er schied freudig von den Seinen, ohne die Ahnung des Nimmerwiedersehens und noch unentschlossen, welche Tour er machen wolle. Im Allgemeinen sollte das Glarnerland und einer der Paßübergänge nach Graubünden oder Uri sein Wanderziel sein. So verging die zweite Augustwoche. Als der durch seine große Gewissenhaftigkeit und pünktliche Pflichterfüllung stets sich auszeichnende junge Mann am Tage des Wiederanfanges der Lehrstunden nicht zurückgekehrt war und auch brieflich keine Gründe seines Nichtkommens gesandt hatte, brachen sein greiser Vater[1] und seine Brüder sammt einem Vetter und Schwager auf, den Vermißten auf verschiedenen Wegen zu suchen, seine Spuren zu verfolgen. Dem ältesten Bruder, der Professor der Chemie an den höheren züricherischen Lehranstalten ist, gelang es zuerst, in dem ganz im Hintergrunde des Linththales gelegenen Wirthshause zum Tödi den ersten sicheren Haltpunkt zu finden. Dort hatte der Gesuchte vom 7. zum 8. August übernachtet und seinen Namen in’s Fremdenbuch geschrieben und der Wirth erinnerte sich, daß dieser Herr zur Oberen Sandalp (vier Stunden höher) hinaufgestiegen sei, mit der Absicht über den Sandfirn und Sandgrath (eine Gletscherwanderung 8640 Fuß über Meer) am Fuße des Tödi vorüber hinab nach Dissentis in’s Vorderrheinthal zu gehen. Auch der Senn droben, ein gewisser Friedli, entsann sich des Gesuchten sogleich und theilte mit, daß der Fremde, vom Sandgrath ohne Führer herabkommend, frühzeitig am Nachmittage in seiner Hütte eingekehrt sei und sich erkundigt habe, ob er bei ihm allenfalls übernachten könne, worauf ihm zustimmende Antwort geworden sei. Es geht daraus hervor, daß Wislicenus eine oder zwei Stunden früher die Hütte passirt und allein ohne Führer versucht hatte, den Weg über den Sandfirn zu finden, dann aber, die Unmöglichkeit des Alleingehens erkennend, wieder umgekehrt und zur Hütte zurückgegangen war. Da, wie erwähnt, die Sonne noch hoch stand, so wollte der stets Thätige die Zeit nicht unbenutzt vorübergehen lassen. Es mochte ihn interessirt haben das gastliche Steinhaus kennen zu lernen, welches der Schweizerische Alpenclub jüngst erst für die Besteiger des Tödi am Grünhorn hatte erbauen lassen, und da es bis dorthin etwa noch drei Stunden und der Weg, wie er glaubte, ohne Führer zu finden war, so verließ er die Sandalphütte in dieser Richtung. Gegen Abend soll nach Aussage sämmtlicher Thalleute und der Sennen ein Unwetter im Gebirge losgebrochen sein, das an Wildheit und Zerstörungswuth kaum seines Gleichen gehabt habe. Schwarze Nebel stürmten herein, Blitz und Donner tobten in gräßlicher Entfesselung und die Atmosphäre schüttelte Schneemassen so dicht herab, daß am anderen Morgen an manchen Stellen der Schnee mehrere Fuß hoch lag.

Wislicenus war nach diesem Gewitter nicht wieder in die Sandalphütte zurückgekommen, und der Senn wähnte, er habe in der Clubhütte übernachtet und sei dann in irgend einer Richtung am anderen Tage weiter gewandert. – Nach diesen Mittheilungen mußte es den Suchenden leider fast zur Gewißheit werden, daß der Vermißte verunglückt, wohl nicht mehr am Leben sei. Von den tüchtigsten, ortskundigsten Führern geleitet, wanderten sie des Roethi und dem dahinter gelegenen Bifertenfirn zu und suchten zwei Tage lang bis über die Clubhütte hinaus, – aber vergeblich. Das einzige Resultat war das Auffinden einiger Spuren von Fußtritten und einem Alpenstock auf dem Bifertengrätli, und es blieb nichts übrig als anzunehmen, Wislicenus sei hier gewesen und auf dem darunter liegenden Gletscher in eine Spalte gestürzt. Weitere Nachsuchungen waren des frischen Schnees halber unmöglich [751] und unnütz und die Auffindungs-Expedition kehrte unverrichteter Dinge, nur durch die Gewißheit bereichert, daß der Gesuchte ein Opfer seiner Gebirgsliebe geworden sei, zurück. So zerschmetternd und bündig die Nachricht war, und so wenig man nur noch die leiseste Spur von Hoffnung nähren durfte, so begnügte sich der alte Vater nicht mit derselben; er wollte wissen, wo sein lieber, wackerer Sohn verunglückt sei, und das letzte und äußerste Mittel nicht unversucht lassen. Darum setzte er in der Glarner Zeitung einen Preis von vierhundert Franken für den aus, der seinen Sohn auffinde. Das regte die Forschlust aufs Neue bei den ohnedies theilnehmenden Thalbewohnern an, und endlich am 25. August meldete der Telegraph nach Zürich die Trauerbotschaft: Der Leichnam sei gefunden. Alle Angehörigen eilten hin.

Der Ort, an welchem, und die Lage, in welcher man den Körper fand, so wie der Zustand desselben und das zerstreute Umherliegen der Effecten ließen kaum einen Zweifel übrig, wie die Katastrophe vor sich gegangen sein möge.

Der Verunglückte mochte die Clubhütte bereits in Sicht gehabt und sich bemüht haben sie zu erreichen, als ihn der Nebel einhüllte und das Wetter ihn überfiel. Daß er mit letzterem und gegen den Schneesturm zu kämpfen hatte, davon zeugte sein bis oben hin zugeknöpfter Rock und das außer dem Halstuche noch umgebundene Taschentuch. Welch gräßliches Ereigniß aber ein Schneesturm im Gebirge ist, habe ich in meinem Alpenbuche[2] ausführlicher erzählt und verweise darauf. Da mag er in dem ihn umgebenden Aufruhr der Elemente die Richtung verfehlt haben, – die Kräfte mögen allgemach, trotz des ungemein starken Körpers und der ungeschwächten Dauerfähigkeit des dreißigjährigen jungen Mannes erlahmt sein (denn wer vermöchte wider solche Gewalten dauernd anzukämpfen?); – wahrscheinlich ein Fehltritt auf der zu passirenden Riesete (jäh hinabsinkende Gebirgsfläche von rutschendem Felsgetrümmer überdeckt) – und der Todessturz war da.[3] Es war dieses aber nicht ein einziger Moment des Zerschmettertwerdens, sondern wohl ein mehrere Minuten dauernder Kampf um Rettung. Denn als man ihn auf dem Rücken liegend unterm Schnee fand, war die Rückseite des Körpers und der Kleidung fast unverletzt, während die Stirn ganz mit Blut unterlaufen, das Nasenbein gebrochen, die Hände an ihren äußeren Flächen ebenso wie ein Knie und eine Hüfte abgeschunden und die Kleider an der Brustseite von oben nach unten aufgerissen waren. Er mag etwa zweihundert Fuß über die ob seiner Lagerstätte aufsteigende steile Riesete, auf der Bauchseite liegend mit dem Kopfe voran, herabgerutscht sein und vielfach den Versuch sich zu halten gemacht haben, bis er, endlich über eine noch steilere Felswand sich überschlagend herabstürzte und besinnungslos auf dem Rücken liegen blieb. Unbedingte Todes-Ursache dürfte der Sturz an und für sich noch nicht gewesen sein, man nimmt an, daß die letzten Lebensreste durch die Kälte des fußhoch über ihm sich aufthürmenden Schnees paralysirt wurden. Daß er diese Rutschfläche von etwa zweihundert Fuß zurückgelegt haben mußte, davon zeugten die längs dieser Riesete aufgefundenen zerstreuten, seiner Reisetasche entfallenen Gegenstände, Wäschestücke und Bücher.

Hugo Wislicenus war ein Mensch von ganz besonders innigem und treuem Gemüthe, von scharfem Verstande, vorwiegend ernst und zurückhaltend, aber in traulichem Kreise von herzlicher Fröhlichkeit und Offenheit; gewissenhaft, mild, schlicht und anspruchslos, ein vortrefflicher Sohn und Bruder, – ein Mensch und Freund, dessen Hingang Thränen werth ist. Er ruht auf dem Friedhofe zu Linththal. Die Hinterbliebenen wollen ihm eine Denktafel in der Nähe der Pantenbrücke setzen.

Dies ist seit zwei Jahren der zweite Fall, den die Lehrerschaft der züricherischen Hochschule zu beklagen hat. Auf gleiche Weise kam am 20. Juni 1864 Dr. Wilhelm Kabsch, Privatdocent der Botanik, am Hohenkasten im Kanton Appenzell ums Leben, wenn auch nicht durch die Wuth der Elemente zum Sturz geschleudert, so doch zunächst dadurch, daß auch er der Warnung mißachtet und keinen Führer mitgenommen hatte.

Möchten doch die wiederholten Unglücksfälle der letzten Jahre endlich einmal zur großen und allgemeinen Warnung werden, Wanderungen in höhere und wildere Gegenden der Gebirge nie ohne zuverlässige, kräftige und ortskundige Führer zu unternehmen. Schiller’s Tell sagt: „Den schreckt der Berg nicht, wer darauf geboren!“ Eben deshalb, weil der Aelpler im Gebirge geboren und aufgewachsen ist, weil seine Kräfte gestählt, seine Blicke adlergleich geschärft sind und sein ganzes Wesen gleichsam instinctiv ausgerüstet ist, – eben deshalb vertraue man sein Leben ihm an, der Schritt und Tritt und die Gefahren kennt, und glaube nicht, daß Kühnheit und Kräfte allein den Bergsteiger ausmachen. Zwischen dem Alpensohne und dem Manne des Flachlandes oder gar dem Städter liegt eine große Kluft der Fähigkeitsverwandtschaften.

Ein anderer Unglücksfall, eigentlich, unter genauer Betrachtung der Umstände, des Ortes und der Personen, der entsetzlichste von allen – ist der Tod der Gattin des Herrn Professor Delffs in Heidelberg und zweier Damen aus Irland im Taminathal. Da die Schreckensnachricht und ausführliche zahlreiche Schilderungen dieses Unglücks alle Zeitungen durchliefen, so dürfen wir uns darauf beschränken, hier nur zu näherer Verständigung eine gedrängte landschaftliche Schilderung der Unglücksstätte mitzutheilen.

Im sanct-gallisch-bündnerischen Rheinthale, dort wo Deutschlands schönster Strom seine eigentliche Hochgebirgs-Heimath Rhätien verläßt und in breitere Thal-Ebenen hinaus tritt, liegt in wunderbar schöner Umgebung das von Jahr zu Jahr mehr besuchte Bad Ragatz. Im Sommer ist es halb Stadt, halb Alpendorf, in welchem stolze Comfort-Hôtels über die steinbelasteten, alpenheimeligen Schindeldächer hervorragen, strotzender Modeluxus im schwerrauschenden Moiré-antique-Kleid sich mitten unter Ziegenheerden [752] und Geißbuben bewegt, würzige Heudüfte und harziges Waldesarom alle die halb und ganz ausrangirten süßen Kunstgerüche verdrängen, die aus der Salonatmosphäre sich auch in diese urgesunde Naturluft zu mischen wagen und wo veritabele Heerdenglocken Wagner’s reizenden Schalmeiengruß (genussesseligen Tannhäuser Andenkens) begleiten, den die Curcapelle herunterpotpourit. Nun! Dieser elegante, frequente Badeort empfängt sein 30° Réaum. warmes Wasser aus den heißen Quellen, welche in der Tiefe einer orcusähnlichen Schlucht hinter dem Pfäfferser Bade entspringen. Das hochromantische Taminathal und die längs dem brausenden Bergstrom geführte eine Stunde lange Kunststraße (letztere in den Jahren 1838 und 1839 erbaut) verbinden beide Punkte und vermitteln die Wasserleitung. Ich verweise schon jetzt auf die beikommende Abbildung, um denjenigen Lesern, die mit der unheimlichen Localität nicht bekannt sind, einigen Begriff von derselben zu geben. Hoch wie die Hallen einer Kirche wölben sich die schwarzen Marmorwände der Schlucht empor, nur durch einen schmalen Streifen das Tageslicht von oben einlassend. Unten in der Tiefe, die ganze Breite der Schluchtsohle ausfüllend, tobt und schäumt über Felsenblöcke die weißgraue, gletscherentsprossene Tamina und längs der einen Wand führt, wie unser Bild zeigt, jetzt ein Langsteg vom klosterartigen Badegebäude etwa fünfhundert Schritt in den Hintergrund dieser Schlucht zu den heißen Quellen. Ehe jedoch der schwindelnde Weg durch das Taminathal von dem Bade Ragatznach dem Bade Pfäffers dem Felsen abgerungen und dieser Langsteg in die eigentliche Quellenschlucht erbaut war, gab es Jahrhunderte lang keinen anderen Zugang zu derselben, als der luftige, mittels eines Korbes an einem Seile schwebend hinabgelassen zu werden. Und so wurden die Gicht- und Gliederkranken, welche sich entschlossen hier Linderung ihrer Leiden zu suchen, Jahrhunderte lang an einem Seil in den nächtlichen Abgrund hinabgelassen, ihnen Speise und Trank für einige Tage mitgegeben und geduldig krochen sie dann entkleidet in die großen Tümpel heißen Wassers hinein und blieben in denselben, so behaglich als die Umgebung es eben gestatten mochte, sitzen, bis man sie wieder an’s Tageslicht der Oberwelt heraufzog. Da nun die Quelle wirklich Wunder wirkte und auch hohe geistliche und weltliche Sünder hier Genesung suchten, so ließ der Abt Johann der Zweite von Mendelbüren um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in der Schlucht selbst ein hölzernes über der Tamina schwebendes Curhaus mit Zimmern, Badewannen und Lagerstätten erbauen, von welchem Gebäude man heutigen Tages noch in den Felsenwänden die ausgemeißelten Löcher erblickt, in welche die tragenden Balken eingelassen waren. Aber auch zu dieser vervollkommneten Einrichtung gab es noch kein anderes Mittel zu gelangen als das Seil. Endlich um die Mitte des sechszehnten Jahrhunderts wurde ähnlich der jetzigen Einrichtung eine schwebende Brücke etablirt, welche die Luftfahrt aufhob. Da wurden aber zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts die alten auf Querbalken ruhenden Häuser durch die fortwährenden feuchten Imprägnationen baufällig, Eismassen und Felsentrümmer, welche auf dieselben allfrühjährlich hernieder hagelten, beschädigten ebenfalls Dachung und Wände, und als im December 1629 mehrere Familien vor der damals grassirenden Pest sich hierher geflüchtet hatten, fing das Haus eines Tages Feuer und brannte bis auf den letzten Stumpfen ab. Solch eine Feuermasse in diesen schwarzen Hallen muß einen infernalischen Effect hervorgebracht haben. Noch heute pflegen Reisende, die Freunde der Schauer-Romantik sind, den Führer[4] zu veranlassen, statt der kleinen Laterne (für den Stollen zur Quelle) eine kräftige Fackel mitzunehmen, um unter dem rothen Colorit dieser Beleuchtung das Unheimliche der großartigen Umgebung zu erhöhen. Unser Künstler hat eine solche Fackelbeleuchtung auch zu unserer Illustration benutzt.

Unsere Leser erinnern sich, daß die drei Damen nicht in der Taminaschlucht, sondern in dem wohl eine Stunde langen Taminathal, auf dem sehr ebenen, genügend breiten Fahrweg verunglückt sind. Die Damen hatten die Schauer der Schreckensschlucht überwunden und den Rückweg nach Ragatz mit dem leichten Wägelchen, wie solche seit wohl dreißig Jahren die sehr lebhafte Communication zwischen Bad Pfäffers und Ragatz vermitteln, nicht nur angetreten, sondern fast beendet, als der Seitensprung eines scheuenden Pferdes den entscheidenden Schicksalsaugenblick herbeiführte und die drei Damen in die Schlucht hinabschleuderte.




Eine Werkstatt der Zeitgeschichte.


Die Journalistik leistet in unserer Zeit so Bedeutendes in Bezug auf Schnelligkeit in der Vermittelung der neuen und neuesten Nachrichten aus allen Weltgegenden, daß das Staunen des Laien nur zu gerechtfertigt erscheint, und der Reisende, welcher nicht gewohnt ist, nur mit dem „Bädeker“ in der Hand Station um Station an sich vorüberfliegen zu lassen, wird gewiß die Gelegenheit nicht versäumen, diejenigen Einrichtungen einer Zeitung in Augenschein zu nehmen, welche ihm den Genuß verschaffen, sich über Alles, was in der Welt Wichtiges vorgeht, tagtäglich zu unterrichten.

Wohl viele Leser der Gartenlaube haben noch nicht Gelegenheit gehabt, sich genauer von dem Getriebe zu unterrichten, durch welches die Herstellung eines politischen Tageblattes bedingt wird; ich glaube ihnen daher einen Dienst zu erweisen, wenn ich im Nachstehenden versuche, ihnen einen Einblick in diesen complicirten Mechanismus zu verschaffen, und dazu eine Darstellung von dem Geschäftsgang der Kölnischen Zeitung wähle, welche als eines der durch Einfluß und Umfang bedeutendsten unserer jetzigen politischen Organe auf das allgemeinste Interesse Anspruch hat.

Schon bei meiner Ankunft in Köln machte mich der Lohndiener meines Hotels auf das in der Breitestraße Nummer 76 und 78 gelegene große Gebäude aufmerksam, welches durch seine im Giebelfelde in großen Goldbuchstaben angebrachte Aufschrift: „Expedition der Kölnischen Zeitung“ seine Bestimmung andeutet. Am nächstfolgenden Tage ließ ich mich zum Zwecke der Besichtigung dieses Institutes wieder dorthin führen, trat durch ein geräumiges Vorhaus in das für den Portier bestimmte Zimmer und ersuchte denselben, mich bei dem Chef des Hauses zu melden. Schon die Einrichtung dieser Pförtnerstube zeugte von dem Geiste größter Ordnung und Pünktlichkeit, der das ganze Etablissement kennzeichnet. Ein Sprachrohr geht von dem Zimmer über die lange, den Garten des Hauses begrenzende Mauer bis in das Zimmer des Factors im Hintergebäude, um den geschäftlichen Verkehr zwischen dem im Vorderhause gelegenen Comptoir und der ziemlich entfernt von demselben befindlichen Druckerei abzukürzen. Eine an der Wand hängende gedruckte Tabelle enthält die Namen und Wohnungen der Zeitungsträger und -Trägerinnen, damit in Fällen, welche deren schnelles Zusammenrufen bedingen, wie bei dem Druck von Extrablättern, durch Nachfragen keine Minute Zeitverlust entsteht. Während der Nachtzeit schläft der Hausknecht im Zimmer des Portiers, doch ist der arme Schläfer wegen seiner Nachtruhe wenig beneidenswerth, da ihn die große Hausglocke gar manchmal aus den süßesten Träumen aufschreckt, besonders in politisch bewegteren Zeiten, in denen der elektrische Draht unaufhörlich Depeschen bringt.

Nach der bei dem Chef des Hauses eingeholten und von demselben in freundlichster Weise ertheilten Erlaubniß zur genauen Besichtigung des Etablissements, führte mich der Portier über einen langen, gepflasterten Hof in die Druckerei, woselbst der Factor es in zuvorkommenster Weise übernahm, auf meinem Rundgang mein Cicerone zu sein.

Ueber einen langen, mit Wachsteppichen belegten Corridor schreitend, begaben wir uns, um die Entstehungsweise der Zeitung systematisch, von ihren ersten Anfängen an, zu verfolgen, zunächst in das Redactionszimmer, hier weniger das innere Wesen einer Zeitungsredaction – darüber denken wir vielleicht später unsere Leser zu unterhalten – als vielmehr die äußere Thätigkeit derselben kennen zu lernen.

Es ist erst acht Uhr Morgens, aber schon sind die sämmtlichen Redacteure in voller Thätigkeit. Die französische und die [753] englische Post sind bereits eingetroffen; die angekommenen Correspondenzen werden redigirt; unbarmherzig fährt der Rothstift, dieses zeilenmörderische, gefürchtete Instrument der Herren Mitarbeiter, über einzelne Stellen hin, welche an Breitspurigkeit, Undeutlichkeit, unliebsamer Tendenz oder anderen unheilbaren organischen Fehlern leiden. Andere Briefe trifft ein noch schlimmeres Geschick: sie wandern ohne Weiteres in die Grabstätten der Papierkörbe, wo die neuen Ankömmlinge meist schon eine recht anständige Gesellschaft beisammen finden. Mit Windeseile lassen die Redacteure ihre Stifte und Federn über das Papier fliegen, um ihre eigenen Gedanken, sei es in Leitartikelform, sei es als Einleitung und Anmerkungen zu den aus allen Weltgegenden eingesandten Berichten zu fixiren. Aber kaum hat der Schreibende eine Seite beendet, so wird dieselbe schon von dem sogenannten Metteur en page, dem die Vertheilung der Manuscripte an die einzelnen Setzer und die Satzanordnung des politischen Theiles der Zeitung obliegt und der gleichsam jedem Gedanken der Herren Redacteure auf die Fersen tritt, eiligst hinweggenommen und in die Setzerei befördert. Eine halbe Stunde ist verronnen; athemlos kommt der Portier in’s Redactionszimmer und bringt die Berliner Post, darunter die langen Verhandlungen des preußischen Landtages, welche die Kölnische Zeitung durch ihre eigenen Stenographen aufnehmen läßt. Der Metteur en page, der den Redestoff aus dem Abgeordnetenhause vorläufig nur in quantitativer Beziehung zu schätzen weiß, giebt sein Votum dahin ab, daß die heutigen Verhandlungen zwei volle Columnen, oder acht Zeitungsspalten einnehmen würden. Sofort wird Rath gehalten, wie das bereits vorliegende und das noch in Arbeit begriffene Material zu vertheilen sei. Diese Berathung erfordert jedoch nur wenige Minuten, denn die Nothwendigkeit, daß das erste Blatt der Zeitung gegen elf Uhr Morgens fix und fertig sein muß, verdrängt alle kleineren Bedenken über Dieses und Jenes. Schleunigst begiebt sich der Metteur en page mit den Berichten über die Kammerverhandlungen in den Setzersaal zurück.

Wir folgen ihm bald dahin nach und finden ihn gleich beim Eintritt in den großen Setzersaal eifrig damit beschäftigt, die in eine Menge kleiner Stücke geschnittenen Kammerverhandlungsberichte an die entsprechende Anzahl Setzer zu vertheilen. Die bewunderungswürdige Erscheinung, daß auch die größten Sitzungsberichte sammt all’ den andern Tagesneuigkeiten oft schon eine Stunde, nachdem die Post sie gebracht hat, dem Auge des Lesers gedruckt vorliegen, findet ihre Erklärung, wenn man einen Blick in den großen Setzersaal und auf die in demselben entfaltete Thätigkeit wirft. In diesem Saale, der etwa fünfzig Fuß in’s Geviert mißt, sind nicht weniger als vierundfünfzig Setzer beschäftigt; außerdem arbeiten aber auch noch sechs in einem auf der zweiten Etage befindlichen kleinen Saale, so daß die Gesammtzahl derselben nicht weniger als sechszig beträgt. Mit solchen Kräften läßt sich bei geregelter Thätigkeit gewiß Bedeutendes leisten, aber dennoch bleibt unser Staunen gerechtfertigt, wenn man die Menge der bekannten kleinen, zum Theil sehr mühevollen Manipulationen berücksichtigt, welche vorzunehmen sind, bevor der Leser sein Blatt fix und fertig in die Hand bekommt.[5]

Hat der Setzer sein Manuscript abgesetzt, so wird bekanntlich ein Correcturabzug des Satzes gemacht, was, nebenbei bemerkt, in der Officin der Kölnischen Zeitung theils in der bisherigen Weise, mittels der Bürste, theils durch eine sehr einfache, aber sinnreiche Erfindung, mittels einer schweren, mit Filz bekleideten eisernen Walze geschieht, welche bei nur einmaligem, schnellem Hinrollen über den auf den gesetzten Lettern liegenden Correcturstreifen den schönsten Abzug liefert.

Zwischen Redaction, Setzerei und den Correcturzimmern wandert inzwischen unser Metteur en page emsig hin und her; aus den letzteren bringt er die Correcturstreifen den betreffenden Setzern zurück, nicht ohne denselben mitunter ein nichts weniger als freundliches Compliment des Correctors zu bestellen, dessen Jeremiaden über fehlerhaften Satz wohl in jeder Druckerei ebenso stereotyp sind, wie die Klagen der Setzer über die schlechte Handschrift der Herren Autoren, auf welche bekanntlich, mit einigen wenigen rühmlichen Ausnahmen, die Devise: „Docti male pingunt“ (Die Gelehrten sind schlechte Maler) paßt.

Den von den Fehlern gesäuberten Satz erhält nunmehr der Metteur en page zurück, um die Formirung desselben nach Kategorieen in Spalten und Columnen (ganze Seiten) zu bewerkstelligen.

Alles Druckfertige muß übrigens, bevor es in die Spalten- und Columnenform gebracht wird und in die Presse gelangt, in eignen Abzügen dem Chefredacteur zur Begutachtung vorgelegt werden, eine Weitläufigkeit, welche in der durch das Preßgesetz vorgeschriebenen Verantwortlichkeit des Redacteurs für jeden gedruckten Buchstaben der Zeitung, ja sogar für den Inhalt der Anzeigen, ihren Grund hat und sowohl für den technischen Betrieb des Zeitungsgeschäftes eine Fessel ist, als auch auf der geistigen Wirksamkeit der deutschen Presse leider noch immer wie ein Alp lastet.

Ist nunmehr das Geschäft des Formirens des Satzes beendigt und umfaßt der eiserne Rahmen die Lettern, so wird die auf solche Weise entstandene Zeitungsform an eine im Boden des Saales angebrachte Luke getragen und vermittels eines Hebewerkes bis in den Keller hinuntergelassen, wo sie sich auf dem daselbst befindlichen steinernen Waschtische der bekannten Reinigung zu unterziehen hat, bevor sie stereotypirt wird und in die Maschine kommt.

Gehen wir nun, um das Schicksal der Form systematisch weiter zu verfolgen, derselben bis in den Keller nach.

Wir steigen die Treppe hinunter und stehen, wie die Inschrift sagt, vor dem „Großen Maschinensaale“. Die darunter angebrachten Worte: „Verbotener Eingang“ bilden natürlich für uns kein Hinderniß: wir treten ein und befinden uns zunächst in derjenigen Räumlichkeit, in welcher die Zeitungsträger und -Trägerinnen, fünfzig an der Zahl, Klein und Groß, kurz vor Beginn ihrer Thätigkeit sich aufzuhalten pflegen und des Momentes harren, in welchem sie, mit einem Pack Zeitungen versehen, ihre städtische Wanderung antreten können.

„Sie haben jetzt,“ sprach der mich begleitende Factor der Druckerei beim Eintritt in den die Druckmaschinen enthaltenden und darum in den Druckereien schlechthin „Maschinensaal“ genannten großen Raum mit einem Anflug diabolischen Humors, „lange genug auf der Oberwelt geweilt und werden sich nunmehr in die Unterwelt begeben müssen, zu welchem Ende ich Sie der Obhut dieses modernen Charon anvertraue.“ Bei diesen Worten winkte er Jemanden zu sich heran, den er mir als den Obermaschinenmeister vorstellte und mit meinem Anliegen bekannt machte, worauf er sich mir freundlichst empfahl.

Im Gefolge meines neuen Führers durchschritt ich den großen Maschinensaal, dessen Besichtigung wir später vornahmen, und stieg in die unteren Räume hinab. Soeben gab eine an der Decke des Raumes, in welchen wir zunächst eintraten, befindliche Klingel das Signal, daß eine jener oben erwähnten Druckformen herabkommen werde, während zu gleicher Zeit einige auf die vorzunehmende Manipulation bezügliche Worte durch ein neben der eisernen Leitung für die Formen bis zum Setzersaale laufendes Sprachrohr herabgerufen und rasch beantwortet wurden. In demselben Raum, in welchem die Formen, d. h. der von denselben umschlossene Letternsatz, behufs deutlichen und reinen Drucks gewaschen werden, befindet sich ferner noch ein Hebewerk, welches das zum Druck der Zeitungen zu verwendende Papier in großen Quantitäten heraufbefördert. Der Papierverbrauch der Kölnischen Zeitung ist bei einer Auflage von zwanzigtausend Exemplaren natürlich ein sehr enormer; er beläuft sich auf durchschnittlich sieben Ballen oder fünfunddreißigtausend Bogen per Tag, was ein Capital von etwa achttausend Thalern monatlich repräsentirt.[6] Ein eigens eingerichtetes Bahngeleise führt die Papierballen auf einer schiefen Ebene vom Hofe direct in die unterirdischen Lagerräume, welche sich neben dem Zimmer ausdehnen, in dem wir uns augenblicklich befinden.

Treten wir nun in die Räumlichkeit ein, in welcher die Formen stereotypirt werden. Es dürfte wohl zweckmäßig erscheinen, bei diesem dem großen Publicum weniger bekannten Verfahren etwas eingehender zu verweilen.

[754] Dasselbe geht folgendermaßen vor sich. Nachdem die Feuchtigkeit der frisch gewaschenen Form auf einer warmen Ofenplatte verdampft ist, wird zur Anfertigung der sogenannten Mater oder Matrize geschritten, unter welcher Bezeichnung man das in einer Papiermasse reproducirte, vertiefte Bild der Druckform versteht, ähnlich, wie es der Bildhauer zur Vervielfältigung seines plastischen Kunstwerke durch den Guß aus Gyps anfertigt. Diese Matrize wird nunmehr in eine sogenannte Gießflasche gebracht, einen eisernen Behälter, welcher die flüssige Bleimasse aufnimmt, die, den ursprünglichen Satz reproducirend, die zum Druck zu verwendende Form bildet, welche nach ihrer constanten Beschaffenheit die stereotypirte Form genannt wird. Es ist natürlich, daß bei diesem Verfahren, obgleich es kaum zwanzig Minuten in Anspruch nimmt, noch eine Menge kleiner Einzelnheiten zur Anwendung kommen, welche jedoch mehr für den Techniker von Fach bedeutungsvoll sind.

Ist auf diese Weise die Zeitungsform je nach den Umständen zwei bis drei Mal stereotypisch vervielfältigt worden, so werden die erhaltenen Abgüsse mittels des im Nebenzimmer befindlichen, uns bereits bekannten Hebewerkes an die Druckerei hinaufbefördert und in die Druckmaschinen gebracht.

Steigen wir also aus unseren unterirdischen Aufenthaltsorten wieder hinauf in den großen Maschinensaal, um uns in dieser Räumlichkeit zu orientiren.

Wir befinden uns in einem aus zwei Abtheilungen bestehenden Raume, dessen Verbindung durch zwei hohe, bogenförmige Oeffnungen vermittelt wird. In dem ersten Raume sind zwei durch Dampfkraft getriebene große Schnellpressen aufgestellt, in dem zweiten befindet sich nur eine solche. Diese drei Pressen liefern zusammen in der Stunde achtzehntausend Abdrücke. Für das Auge des Laien ist es ein interessantes Schauspiel, diese Maschinen in Thätigkeit zu sehen. Wie auf ein geheimes Zauberwort fliegen die bedruckten Bogen rechts und links heraus; vier Knaben legen die weißen Bogen geschickt an die Cylinder, welche dieselben sofort der großen Walze zuführen, die zunächst der sich horizontal hin und her bewegenden Druckform befindlich ist, und, mit dem Bogen umkleidet, während ihrer Drehung den Druck desselben bewerkstelligt. Aber kaum hat das Auge Zeit, diesem mit reißender Geschwindigkeit bewerkstelligten Vorgange zu folgen, denn noch haftet der Blick an dem neu zugeführten unbedruckten Bogen, und schon verschwindet derselbe im Nu mit seiner reichen Beute an Neuigkeiten aller Art. Eine weitere Vervollkommnung der Schnellpresse bildet eine neu erfundene Vorrichtung an derselben, vermittelst welcher die Thätigkeit der vier Knaben, die früher an jeder Maschine nöthig waren, um die Bogen aufzufangen und zurecht zu legen, entbehrlich gemacht worden ist. Diese Vorrichtung besteht aus einem Gitter von feinen Holzstäben, welches sich auf und nieder bewegt, und zwar genau dem raschen Tempo folgend, in welchem die Bogen aus der Maschine herauskommen, so daß jeder derselben einen Druck erhält, welcher ihm sofort eine Stelle auf dem Häuflein seiner bereits erschienenen Brüder anweist. Durch diese an und für sich höchst einfache Vorrichtung, die übrigens in den meisten größeren Druckereien ähnlich angetroffen wird, ist wieder ein nicht unbedeutender Aufwand von Menschenkraft durch Maschinenthätigkeit verdrängt worden.[7]

Man kann stundenlang in sinnender Betrachtung vor diesen mit Riesenkräften arbeitenden Maschinen stehen, und erst beim eigenen Anschauen ihrer Thätigkeit und ihrer Leistungen begreift man die Möglichkeit der schnellen Vermittelung thatsächlicher Vorgänge aus den weitesten Entfernungen.

Es ist hier nicht der Ort und läuft unserem Zwecke entgegen, eine den Mann vom Fach befriedigende, ausführliche Beschreibung der Schnellpresse zu geben; unsere Skizze will nur, wie oben bereits bemerkt, bei den Eindrücken der äußeren Erscheinung verweilen und eine allgemeine Anschauung derjenigen Vorgänge vermitteln, welche bis zur Fertigstellung der Zeitung nothwendig sind.

Sehen wir uns etwas weiter in dem großen Maschinensaal um, zu welchem Ende wir die freundliche Beihülfe eines Herrn in Anspruch nehmen, welcher für die rechtzeitige Expedition der fertig gedruckten Zeitungen durch freundliche, oft auch, wenn es Noth thut, durch sehr energische Mahnungen an die betreffenden Kräfte und ernste Hindeutungen auf die Zeiger einer im Locale angebrachten Uhr Sorge trägt.

Wir wenden uns nunmehr der Thätigkeit derjenigen Leute zu, welchen die Expedition der fertig gedruckten Zeitungen obliegt. Ein Expedient und fünf Gehülfen besorgen dieses Geschäft, welches die größte Aufmerksamkeit und zugleich die größte Schnelligkeit erfordert, denn einestheils muß die durch das Expeditionsbuch vorgeschriebene Anzahl der nach den einzelnen Orten abgehenden und der Post abzuliefernden Exemplare sehr genau abgezählt werden, wenn keine Reclamationen eintreffen sollen, anderntheils müssen die einzelnen Postpakete sehr pünktlich expedirt werden, was bei der strengen Einhaltung der Abgangszeiten seitens der Post oft sehr schwierig ist. Zudem kann der Expedient in Bezug auf die ihm zur Couvertirung, Verpackung und Ablieferung gegönnte Minutenzahl wohl sagen:[WS 2]

„Eine kurze Spanne Zeit
Wird uns zugemessen!“

Die fertig gedruckten Bogen werden ab und zu durch Knaben von der Maschine auf die Faltetische gebracht, woselbst wieder andere Knaben das Einlegen der ersten, zweiten und dritten Blätter der Zeitung ineinander und dann das Falten mit einer durch längere Gewohnheit erlangten fabelhaften Geschwindigkeit besorgen. Gefaltet erhalten der Expedient und dessen Gehülfen die einzelnen Exemplare, welche jetzt, wie oben angegeben, behandelt werden, und zwar gleichfalls mit einer Schnelligkeit, die manchen Tropfen Schweiß zur Erde rinnen macht.

Sind nun die Zeitungen fertig verpackt, so werden dieselben in das am Ausgang des Druckerei-Gebäudes ihrer harrende Gefähr geschafft, dasselbe wird sorgfältig verschlossen, ein Expeditions-Gehülfe schwingt sich, das Zeichen zur Abfahrt gebend, auf den Bock neben den Kutscher, die Peitsche knallt und der Wagen rollt nach dem Central-Bahnhofe zur Ablieferung seines Inhalts auf den zur Abfahrt bereit stehenden Zug. Da sich jede Minute Verspätung durch gänzlichen Ausschluß aller Zeitungs-Pakete von der Weiterbeförderung rächen kann, so ist die Aengstlichkeit wohl erklärlich, mit welcher der Zeiger der Uhr im großen Maschinensaale beobachtet wird, bevor die Räder des Zeitungswagens mit seinem Inhalte über das Pflaster rollen.

Ist auf diese Weise nun das Erste Blatt fertig geworden und versandt, so tritt anscheinend eine Pause in den zum äußeren Betrieb der Zeitung nothwendigen Manipulationen ein, die Maschinen stehen still, die Ruhe in den Räumen, in denen dieselben aufgestellt sind, contrastirt auffallend mit dem eben noch daselbst durch sie verursachten Höllenlärm und mit der Geschäftigkeit so vieler Menschen. Aber diese Ruhe ist nur jene verhängnißvolle Ruhe vor dem Sturme, ausgefüllt durch die Vorbereitungen für den Druck des Zweiten Blattes, von welchem Nachmittags gegen vier Uhr bereits die ersten Abzüge zur Revision des Satzes den damit betrauten Beamten vorliegen.

„Das pünktliche Ineinanderspielen so vieler Kräfte erfordert wohl eine sehr strenge Controle?“ bemerkte ich meinem freundlichen Führer, worauf mir derselbe in sehr verständiger Weise erwiderte: „Allerdings hat dasselbe seine Schwierigkeiten, und ohne Aerger geht es bisweilen nicht ab, da wir jedoch bei der Verwendung der Kräfte dem Zufall nur einen sehr untergeordneten Spielraum lassen, vielmehr hauptsächlich, fast könnte man sagen mit Aengstlichkeit, darauf Bedacht nehmen, daß die betreffenden Posten nur durch solche Persönlichkeiten ausgefüllt werden, welche durchaus dafür befähigt sind: so können wir, obgleich uns Anfangs eine größere Mühe erwächst, später um so ruhiger das Geschäft seinen Gang gehen lassen, als wir auch in jeder Weise dafür sorgen, daß die Angestellten jahrelang auf ihren Posten bleiben und sich mehr oder weniger als lebendige Glieder eines großen Ganzen fühlen lernen.“

Durch ein Geschäft abgerufen, wies mich der Herr, welchem ich die vorstehenden Mittheilungen über die Einrichtung des großen Maschinensaales verdanke, wieder dem Obermaschinenmeister zu, unter dessen Führung ich meine Besichtigung des Etablissements fortsetzte. Da meinem Begleiter die Maschinen in Bezug auf ihre technische Zusammensetzung anvertraut sind, so erklärte er mir, auf meinen Wunsch, den Bau derselben bis in die kleinsten Theile, bei welcher Gelegenheit ich die Wahrnehmung machte, daß wir [755] auch zu leblosen Wesen in eine Art von Anhänglichkeitsverhältniß treten können, denn man hörte aus den Erläuterungen des Obermaschinenmeisters heraus, daß das leblose Räder- und Walzenwerk, dessen einförmige Bewegungen tagtäglich an seine Aufmerksamkeit und an die seiner fünf Gehülfen dieselben Anforderungen machen, einen Theil seines Wesens ausfüllen, daß er mit Leib und Seele seiner Thätigkeit obliegt. Mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit und Selbstzufriedenheit zeigte er mir seine Drehbank und Werkzeuge, vermittelst welcher er kleine Reparaturen an den Maschinen vornimmt; führte mich in den Raum neben dem großen Maschinensaale, in welchem zwei Dampfmaschinen, eine liegende und eine stehende, abwechselnd den Dienst versehen, um die sämmtlichen Maschinen des Gebäudes, zu denen auch mehrere in dem „Kleinen Maschinensaal“ befindliche Accidenz-Druckmaschinen gehören, im Gang zu halten; ließ mich einen flüchtigen Blick in die Räumlichkeit thun, in welcher noch mit sieben Handpressen aus „guter alter Zeit“ kleinere Drucksachen hergestellt werden, und theilte mir schließlich mit, daß die Kölnische Zeitung noch zwei neue große Maschinen anfertigen ließe, und zwar nach einer von ihm, dem Obermaschinenmeister, selbst erfundenen Construction, welche den Ansprüchen an Schnelligkeit, die durch das stete Wachsen der Auflage des Blattes mehr und mehr bedingt wird, bei Weitem besser entsprechen würde. Ob die großen Leipziger und Berliner Buchdruckereien an Umfang der Leistungen die Druckerei der Kölnischen Zeitung noch übertreffen, vermag ich nicht zu entscheiden, da ich dieselben nicht specieller kenne.

Vergegenwärtigen wir uns nun, nach Beendigung unseres Rundgangs, noch einmal alle die größeren und kleineren Manipulationen, welche tagtäglich zwei Mal zur Fertigstellung des Ersten und Zweiten Blattes, oft sogar, wenn drei Blätter erscheinen, drei Mal mit der Pünktlichkeit eines Riesenuhrwerks vor sich gehen, und erwägen wir alsdann, daß nur etwas mehr als zwei Stunden dazu erforderlich sind, bis der kaum geborene Gedanke flügge geworden ist und seinen Flug in alle Welt nimmt: so bleiben wir, trotz der genauen Kenntnißnahme der Ursachen dieser Erscheinung, dennoch in einem Staunen befangen über die gegenwärtige Leistungsfähigkeit der Presse. Wäre es dem menschlichen Geiste gegeben, bei dem, was ihm imponirend entgegentritt, sich all’ die einzelnen Factoren sofort zu vergegenwärtigen, deren es bedurfte, um im langen Laufe der Zeit aus rohen Anfängen das zu schaffen, was uns nur deshalb staunenerregend entgegentritt, weil wir es abgesondert von seinen einzelnen Stadien der Entwicklung wie eine reife Frucht vor uns liegen sehen, so würde natürlich keine, auch noch so gewaltige Erscheinung etwas Imponirendes für uns haben; aber eine gewisse Lässigkeit unserer Natur läßt die Meisten genügsam bei der äußeren Erscheinung verweilen, während es doch gerade bei Leistungen, wie die eben geschilderten, nahe liegt, auch diejenigen historischen Vorgänge einmal in’s Auge zu fassen, welche dieselben allmählich nicht nur möglich machten, sondern zur Nothwendigkeit reifen ließen. Eine eingehende Behandlung dieses Gegenstandes hieße jedoch eine Geschichte der Kölnischen Zeitung schreiben, und, da die Presse überhaupt im weitesten Sinne die hohe, freilich oft genug verkannte Aufgabe verfolgt, welche Hamlet für den Schauspieler in Anspruch nimmt: „dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen, der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild vorzuhalten,“ mithin der treueste Spiegel der Zeitereignisse ist, mit deren Schwankungen ihre Existenz auf’s Innigste zusammenhängt: so müßten zum Wenigsten alle wichtigeren historischen Ereignisse und Zustände mit in den Kreis unserer Betrachtungen gezogen werden, eine Ausgabe, welche in unserem Falle, da die Entstehung der Kölnischen Zeitung in das Jahr 1763 fällt, fast gleichbedeutend mit einer Geschichte der letzten hundert Jahre sein würde. So interessant und verlockend diese Aufgabe aber auch für den Eingeweihteren sein mag und so ersprießlich ihre Lösung für den Journalismus insbesondere werden könnte – wir müssen uns hier auf die folgenden, uns freundlichst gemachten kurzen Mittheilungen beschränken.

Als Vorfahr der „Kölnischen Zeitung“ ist die „Kaiserliche Reichsoberpostamts-Zeitung“ anzusehen, deren erste Nummer am 1. Januar 1763 „mit Seiner Römisch-Kaiserlichen Majestät allergnädigstem Privilegio“ in Köln herauskam. Diese Zeitung wurde von der Thurn und Taxis’schen Zeitungs-Expedition verlegt und in der Schauberg’schen, etwa seit 1720 in Köln bestehenden Buchdruckerei gedruckt. Es war mir interessant, einen Blick auf die vergilbten Blätter eines der Jahrgänge jener Zeitschrift zu thun, welche in gebundenen Exemplaren den langen Reigen der folgenden, wie der Schatten am Abend immer größer und größer werdenden Bände eröffnen und in einem der Correctorenzimmer aufgestellt sind. Der mir vorgelegte Band in klein Octav nimmt sich allerdings komisch genug aus, mit einem der letzten Jahrgange verglichen, und legt ein Zeugniß ab von den bescheidenen Ansprüchen, welche man vor hundert Jahren an den Journalismus machte. Freilich standen demselben damals noch nicht alle die großartigen Mittel zu Gebote, über welche er heutzutage verfügen kann: das Eisenbahn- und Telegraphenwesen lag noch „weit in nebelgrauer Ferne“; die Verbindung zwischen den nächsten Nachbarländern, ja, zwischen den Nachbarstädten war eine durchaus langsame, vielfach mangelhafte, und man mußte es als eine besondere Gunst des Glückes betrachten, wenn die wichtigsten Tagesbegebenheiten mit einer gewissen Regelmäßigkeit in die größere Oeffentlichkeit gelangten. In Betreff des Schneckenganges der Posten führe ich beispielsweise nur an, daß im Jahre 1771 ein aus Berlin vom 25. December 1770 datirter Brief erst am 1. Januar den Lesern der Kaiserlichen Reichsoberpostamts-Zeitung zu Gesicht kam; unter demselben Datum erschienen Briefe aus Hamburg, datirt vom 24., aus Turin vom 12. December und aus Constantinopel sogar vom 17. November. Einen seltsamen Begriff vom damaligen Handel und Wandel liefert der Umstand, daß in der bezeichneten Nummer der wöchentlich vier Mal erscheinenden Zeitung nur eine einzige kleine Anzeige enthalten ist.

Die Existenz der Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung dauerte nur bis 1791, in welchem Jahre die Franzosen sich des linken Rheinufers bemächtigten und, unbekümmert um das Privilegium des deutschen Kaisers Maximilian, eine französische Post errichteten. An die Stelle jenes Blattes mit dem langathmigen Titel trat nun eine von mehreren Thurn und Taxis’schen Postbeamten für eigene Rechnung verlegte, zuletzt von Franz Köntgen bei Schauberg’s Erben gedruckte „Kölnische Zeitung“, welche jedoch schon in dem „Beobachter“, dem „Verkündiger“, dem „Welt- und Staats-Boten“ und in dem „Journal général de politique, de littérature et de commerce“ vier in Köln bestehende Concurrenten hatte.

Im Jahre 1802 wurde diese „Kölnische Zeitung“, die nur einige Mal wöchentlich ausgegeben wurde, Eigenthum der Erben Schauberg und des Hrn. Nicolaus Du-Mont. Charakteristisch sind die Bedingungen des betreffenden Uebergangs-Vertrages. Köntgen, ein damals schon nicht mehr junger Mann, hatte auf Lebenslang zwei Kronenthaler monatlich zu erhalten; sollte die Zahl der Abonnenten auf 400 steigen, so wurde ihm ein halber Kronenthaler für den Monat mehr zugesichert, In demselben Jahre übertrug Nicolaus Du-Mont seinen Antheil an die Erben Schauberg, und 1805 ging für die Summe von 1400 kölnischen Reichsthalern das Eigenthum der Schauberg’schen Druckerei und der Zeitung an Marcus Du-Mont und dessen Gattin Katharina Schauberg über und nahm bald einen bedeutenden Aufschwung, ward aber 1809 von Napoleon unterdrückt, da der Gewalthaber in jedem Departement nur Eine Zeitung, und zwar eine Regierungs-Zeitung, dulden wollte. Allein so kräftig wußte Marcus Du-Mont, gestützt auf seine Rechtskenntnisse, seine Eigenthumsrechte zu vertheidigen, daß der Kaiser sie selbst anerkannte, ihm zum Ersatz ein Jahrgeld von viertausend Franken auswarf und ihm außerdem gestattete, ein Anzeigeblatt nebst dem „Mercure de la Roër“ (Ruhr) herauszugeben.

Kaum aber hatte die schmähliche Fremdherrschaft ihr Ende erreicht, als Tags darauf, nachdem die Franzosen aus Köln abgezogen, am 16. Februar 1814, der echt deutsch gesinnte Marcus Du-Mont freudenvoll seine Kölnische Zeitung wieder herausgab. Er wandte derselben seine ganze Thätigkeit zu und erwarb ihr besonders durch das literarische Beiblatt einen geachteten Namen.

Marcus Du-Mont starb gegen Ende des Jahres 1831. Wenige Wochen nach dessen Tode übernahm sein Sohn Joseph, erst zwanzig Jahre alt, die Leitung der Kölnischen Zeitung. Strebsam und verständig, wie er war, wandte er alle Sorge darauf, dieselbe nach allen Richtungen zu erweitern. Seit dem 1. April 1829 war sie sechs Mal wöchentlich erschienen und nahm bald darauf ihren ersten größeren Aufschwung, als die Juli-Revolution 1830 dem Blatte Gelegenheit bot, die Ereignisse in Frankreich dem Osten zuerst zu verkündigen, während das politische [756] Leben in Deutschland in Folge der französischen und belgischen Revolution an Regsamkeit sehr zunahm.

Joseph Du-Mont benutzte die günstige Lage der Stadt Köln in jeder Hinsicht, um seinem Blatte einen größeren Aufschwung zu geben, wobei er, von einer seltenen Verbindung geistiger Fähigkeiten unterstützt, ebensowohl die ideale, als die reale Seite seines Geschäftes im Auge hatte. Der Kreis der Mitarbeiter wurde fortwährend ausgedehnt, das Format mehrmals vergrößert, und die Kölnische Zeitung erschien zuerst unter allen deutschen Blättern (1838) mit einem Feuilleton, in welches sich das „Beiblatt“ verwandelt hatte. Aber je mehr die Kölnische Zeitung an Bedeutung zunahm, desto argwöhnischer wurde sie von der Censur überwacht. besonders seitdem Ende 1841 die Leitartikel auftraten, welche, trotz jener erst im Jahre 1848 verschwundenen albernen Tortur des Geistes, den bis dahin unerhörten Versuch wagten und consequent fortsetzten, das im „Schatten kühler Denkungsart“[WS 3] befangene politische Urtheil des deutschen Volkes zu reifen, und, neben der raschen Mittheilung der Tagesneuigkeiten, dem Blatte allmählich den Rang erwarben, den es zur Zeit in der deutschen Presse einnimmt. Seit dem Tage, an welchem der letzte der Censoren die dictatorische Machtvollkommenheit seines „Non imprimatur“ (darf nicht gedruckt werden) nicht mehr geltend machen durfte, ging die Abonnentenzahl einer fabelhaften Steigung entgegen, sank wieder in der politischen Abspannung seit 1850, namentlich in Folge der 1852 eingeführten Zeitungssteuer, welche nebenbei bemerkt für die Kölnische Zeitung gegenwärtig achtunddreißigtausend Thaler pro Jahr beträgt, hob sich jedoch mit dem neu erwachten politischen Leben der Völker und braucht gegenwärtig zwanzigtausend Exemplare. Außerdem erscheint die Kölnische Zeitung seit dem 5. October d. J. auch noch in einer auf der gleich hohen Rangstufe wie die Tagesausgabe gehaltenen für das Ausland bestimmten Wochenausgabe.

Wenn es Joseph Du-Mont gelungen ist, sein Blatt, das nicht einmal in einer Hauptstadt erscheint, zum verbreitetsten der gesammten deutschen Presse (wenigstens der großen politischen) zu machen, so wirkte dazu freilich die Gunst der Umstände, die Lage Kölns, das Aufblühen der Stadt und der Rheinlande unter preußischem Scepter mit, aber diese Gelegenheit würde wenig geholfen haben, wenn er sie nicht so umsichtig und rastlos benutzt hätte. Unermüdlich verbesserte er den technischen Betrieb des Blattes und erbaute 1846 in der Breitenstraße die stattlichen Gebäude, in welchen jetzt die Zeitung und die Buchdruckerei ihren Sitz haben. Joseph Du-Mont scheute weder Mühe noch Kosten, um die erfreulich fortschreitende Zeitung zu vervollkommnen, und gönnte sich, um die kleinsten Einzelheiten besorgt, bei Tag und Nacht keine Ruhe.

In demselben Geiste wird das Unternehmen, wie ich mich reichlich zu überzeugen die Gelegenheit hatte, auch nach dem 1861 erfolgten Hinscheiden Joseph’s mit einer Consequenz fortgeführt, welche den gerechtesten Anspruch auf unser Lob hat und zu der Hoffnung auf immer größere Resultate berechtigt, zumal wenn man bedenkt, welchen enormen Einfluß die Tagespresse sich zu erringen gewußt hat, und dabei berücksichtigt, daß die Kölnische Zeitung immer nur das eine schöne Ziel im Auge hat, durch ruhige, objective Beurtheilung der Weltereignisse eine versöhnende Macht zwischen den streitenden Parteien zu bilden und durch einen ganz ungeheuren Aufwand materieller Mittel der Mit- und Nachwelt das reichhaltigste Material zu liefern. Man kann von unserm Standpunkte aus und als entschiedener Demokrat nicht immer mit der Kölnischen Zeitung gehen, aber man muß an ihr anerkennen, daß sie in den schwierigsten Perioden unseres politischen Lebens ohne Furcht auf dem Kampfplatz für die gute Sache erschienen ist und zur Förderung unserer Zustände viel beigetragen hat.




Die Bergleute der Thierwelt.
I.
Der eigentliche „Bau“. – Die Städte des Prairiehundes. -Die strahlenförmigen Kammern der canadischen Beutelratte. – Die Trichter der Uferschwalbe. – Die Verheerungen des Schiffswurmes. – Die Fallthürspinnen. – Spinnenhöhlen mit Angelthüre. – Der Wespenbau und seine verschiedenen Etagen.


Je höher die Stufe der Civilisation ist, welche ein Volk erreicht hat, je vollkommener wird natürlich auch seine Baukunst entwickelt sein. In der Thierwelt scheint indessen dieser Maßstab nicht zu gelten; gerade bei vielen der niedrigst organisirten Thiere finden wir die künstlichst gebauten Wohnstätten. Die größeren Thiere richten sich meist gar keine besonderen Behausungen her; der Löwe und andere wilde Fleischfresser suchen sich Höhlen und sonstige Verstecke auf, zeigen jedoch nicht das geringste Talent, die gewählten Schlupfwinkel zu verbessern oder zu verschönern, viel weniger sich eigene Wohnungen zu bauen und auszustatten. Ganz ebenso verhält es sich mit dem klugen Elephanten und den übrigen Dickhäutern. Die Vögel dagegen sind bekanntlich Architekten par excellence und ihre Nester oft höchst kunstvoll ausgeführte Bauten. Gewisse Insecten aber, Bienen, Wespen, Ameisen u. a., übertreffen jene noch weit in ihren architektonischen Plänen und Verrichtungen, und selbst auf den untersten Staffeln der thierischen Schöpfung begegnen wir Beispielen des ausgebildetsten Bautalents.

Die einfachste Form von Thierbau ist eine größere oder kleinere Höhlung, der sogenannte Bau, sei es in der Erde, in Stein, in Holz oder sonst worin, wie sich viele Säugethiere, Vögel, einige Reptilien, mehrere Schalthiere, Mollusken, Spinnen und andere Insecten dergleichen zur Behausung anlegen. Bei uns sind die bekanntesten dieser Art von Thierwohnungen die Fuchs-, Kaninchen-, Dachs- und Maulwurfsbaue.

Der „Bau“ kann ein simpler Tunnel sein, an dessen hinterstem Ende das eigentlich Nest hergestellt ist, wie z. B. bei dem Kaninchen; er kann aber auch aus mehreren Kammern, Gängen und anderen Räumlichkeiten bestehen, welche zusammen eine vollständige Wohnung bilden, so u. a. die Festung des Maulwurfs. Diese gehört zu den interessantesten Thierbauten, wie sich die meisten unserer Leser noch aus den meisterhaften Schilderungen Carl Vogt’s erinnern werden.

Ein höchst wunderbares Thier derselben Kategorie ist der in Nordamerika an den Ufern des Missouri und seiner Nebenflüsse heimische Prairiehund oder Wishtonwish, wie er bei den Indianern heißt. Trotz seines Namens, der von den dort umherstreifenden Jägern und Trappern herrührt, darf man sich jedoch unter dem kleinen Thiere nicht etwa eine Hundeart vorstellen, es ist vielmehr ein Nager aus der Sippe des europäischen Murmelthiers. Der Prairiehund, welcher in Rudeln gesellig zusammenlebt, baut sich unter der Erde förmliche Dörfer und Städte, die einen ziemlichen Umfang einnehmen, oft sich über mehrere englische Meilen erstrecken, ja manchmal weite Ländergebiete füllen. Diese Städte bestehen aus einer Menge kleiner Erdhügel von verschiedener Höhe; manche erheben sich wohl sechszehn Zoll über den Boden, andere kaum einen Zoll. Die Form des Hügels ist die eines abgestumpften Kegels mit einer Grundfläche von zwei bis drei Fuß im Umkreis.

Der Eingang zu dem Bau liegt entweder auf dem Gipfel oder an der Seite des Hügels. Anfangs geht die Oeffnung ein bis zwei Fuß vollkommen senkrecht hinunter, von da läuft sie in schräger Richtung abwärts. Die meisten Prairiehunde nehmen immer je einen Bau ein, um den man sie in ewiger Beweglichkeit umherspielen sieht, jetzt den Kopf aus dem Eingangsloche hervorsteckend, dann, bei jedem sich nähernden Schritte, ihn rasch wieder hineinziehend, um ihn bald abermals zum Vorschein zu bringen. Es sind überaus muntere Thierchen, haben aber viele Feinde. Namentlich werden sie von Eulen und Klapperschlangen verfolgt, die häufig den Bau des Prairiehundes zu ihren eigenen bequemen Schlupfwinkeln wählen und darin dann blutige Verwüstungen anrichten. Trotz dieser Nachstellungen ist das Thier außerordentlich fruchtbar; es vermehrt sich erstaunlich schnell, und wenn es einmal von einem Orte Besitz genommen hat, so erstrecken sich die kleinen Erdhaufen, welche den Eingang ihrer Höhlen bezeichnen, bald, so weit nur das Auge sehen kann. Den Winter bringt es in einem Halbschlafe zu; die Eingänge zu einem Baue werden dann sorgfältig verstopft und jedes einzelne Thier macht sich ein festes,

[757]

Post im Schnee.
Nach einem Oelgemälde von C. Dahlen.

[758] rundes Nest von trockenem Gras, mit einem einzigen kleinen Luftloch. In dies warme Lager hüllt er sich ein und schläft darin weich und sicher.

Ein ganz eigenthümlich ausgerüstetes Thier aus dem Mäusegeschlecht darf hier nicht unerwähnt bleiben. Es ist die canadische Beutelratte. Von Gestalt halb Ratte, halb Maulwurf, besitzt sie ihr charakteristisches Merkmal in zwei großen, ovalen Taschen oder Beuteln, an jedem Backen einer, die, wenn mit Nahrung angefüllt und straff gespannt, wie ein aufgeblasener Ballon, dem Thiere einen äußerst seltsamen Anblick verleihen. Diese Beutel öffnen sich in den Mund und stellen eine tragbare Speisekammer vor, in welcher die Ratte ihre verschiedenen Nahrungsvorräthe aufstapelt, um sie je nach Bedürfniß und Neigung zu verzehren. Wie der Maulwurf wirft das Thier kleine Erdhügel auf und zwar immer in regelmäßigen Zwischenräumen, stellenweise alle zwanzig bis dreißig Fuß, an andern Orten ganz dicht bei einander. Für das Nest ist im Bau selbst eine eigene kreisrunde Kammer von etwa acht Zoll im Durchmesser hergerichtet, wo Mutter und Kinder auf einem bequemen Lager ruhen, das aus trockenem Gras und den weichen Bauchhaaren des Thieres selbst bereitet wird. Von diesem Mittelpunkt und Allerheiligsten der Wohnung läuft nun eine große Anzahl von Gängen aus, von denen Tunnel in’s Freie führen. Offenbar erfüllt diese complicirte Anordnung des Baues einen Doppelzweck: einmal dem Thier Gelegenheit zu geben, sich bei nahender Gefahr nach allen Seiten hin retten zu können, und sodann direct zu den Orten zu leiten, wo es seine Hauptnahrung findet. Gelingt es der Beutelratte, in einen Garten zu kommen, alsdann wehe den darin stehenden Pflanzen! Vor ihren langen, scharfen, vorstehenden Schneidezähnen sind die festesten Wurzeln nicht sicher und rasch genug Stauden und Gewächse dem Verderben preisgegeben. –

Auch unter den Vögeln giebt es Ingenieure und Bergleute, die sich Wohnhöhlen in die Erde oder in Baumstämme graben. Wir nennen von den in unsern Breiten lebenden nur die Uferschwalbe, den Seetaucher, den Sturmvogel und die verschiedenen Baumspechte.

Die Uferschwalbe, ein zierliches kleines Thier, das kleinste seiner bei uns heimischen Verwandten, trifft als einer der ersten Frühlingsboten oft schon im März an unsern Flußufern und Seeküsten ein, wo Jedermann ihre Höhlen kennt. Auf den ersten Anblick scheint das Thierchen mit seinen zarten Füßen und dem winzigen Schnabel zu Ingenieurarbeiten nicht eben geeignet, und kein Mensch würde es für fähig halten, in ziemlich harten Sandstein sich Gänge und Canäle zu bohren. Und doch ist dies der Fall; die Uferschwalbe höhlt sich ihre Wohnung in Sandstein aus, an dem die härteste Messerklinge zu Grunde geht. Die Art und Weise, wie der kleine Mineur dabei zu Werke geht, ist sehr interessant.

Mit seinen scharfen Klauen sich an der Sandklippe festhaltend, schlägt er seinen Schnabel so lange in den Stein, bis er eine gehörige Partie des harten Sandes gelockert hat und dieser zu Boden gerollt ist. Bei dieser vorbereitenden Arbeit bleiben die Krallen ganz unbetheiligt und können auch nicht mithelfen, weil er sich mit ihnen an der Sandbank anklammern muß. Sowie das gebildete Loch, das meist so kreisrund ist, als wäre es mit Hülfe des Cirkels gemacht worden, den nöthigen Umfang hat, um den kleinen Körper des Thieres aufzunehmen, verrichtet dieser selbst das fernere Werk und höhlt, sich unaufhörlich drehend, den Bau tiefer und weiter aus. Dabei nimmt der Vogel alle möglichen Stellungen ein; bald hängt er mit seinen Krallen am Rande der Höhle, während der Schnabel vom Mittelpunkt nach außen zu weiter bohrt, bald liegt er auf dem Rücken, bald steht er tief im Innern des Loches, welches die Gestalt des Trichters bekommt, in der Mitte tiefer und enger, als nach dem Rande zu. Alle Bauten der Uferschwalbe, die man untersucht hat, sind an ihrem untersten Ende mehr oder weniger gewunden. Hier in einer Tiefe von zwei bis drei Fuß wird das Nest gemacht, ein Bett von Heu und den weichsten Brustfedern von Gänsen, Enten und anderen Vögeln. Wunderbar ist die Sauberkeit und Genauigkeit, mit welcher die Uferschwalbe den Sand entfernt, den sie unterminirt; niemals fällt nur ein Körnchen aus der Wand der Höhle oder wird etwa der Grund und Boden derselben alterirt. –

Betrachten wir die furchtbaren Werkzeuge, mit denen viele Thiere gewaffnet sind, so wundern wir uns nicht über die Arbeiten, welche sie damit vollführen. Womit aber bringen manche Mollusken ihre wunderbaren Bauten und Zerstörungen zu Stande? Sieht man doch nicht den geringsten Apparat, der ihnen dabei behülflich sein könnte! Wie z. B. gelingt es dem zarten Pholas mit seiner Schale, welche so dünn ist wie Papier und so zerbrechlich wie Oblate, tiefe Höhlen in Felsen zu bohren, die so hart sind wie Kiesel? Man hat darüber verschiedene Ansichten aufgestellt; Einige behaupten, das Thier sondere innerhalb seiner Schale eine Säure ab, die auf Kreide und Kalk zerstörend einwirke, Andere meinen, daß die Löcher lediglich durch die Reibung der Schale gemacht werden, wieder Andere, daß sie den Füßen ihre Entstehung verdanken. Jedenfalls ist eine der beiden letzteren Annahmen die richtige, denn die Säure würde Holz oder Sandstein, in dem das Thier sich ebenfalls einbohrt, nicht afficiren. Höchst wahrscheinlich wird der Fels durch eine unaufhörliche Reibung mit den Füßen oder durch beständige kreisförmige Bewegungen der Schale ausgehöhlt, – eine Procedur natürlich von unbeschreiblicher Langsamkeit. Allein bei so vielen Operationen ist ja die Zeit das wichtigste Element. Sei nun das Verfahren welches es wolle, so viel steht fest, daß das Thier an allen Küstenbauten, an Schiffsländen, an den Schiffen selbst, an Wogenbrechern etc. oft furchtbaren Schaden anrichtet.

Vielleicht noch gräßlicher sind die Verheerungen, welche der Schiffs- oder Pfahl-, auch Bohrwurm[WS 4] hervorbringt, ja geradezu fast unglaublich. Holz von jeder Art und Beschaffenheit wird von ihm zerstört und seine Höhlen befinden sich darin oft so dicht neben einander, daß ihre Scheidewände kaum dicker sind als ein Blatt Briefpapier. Während der Schiffswurm noch bohrt, füttert er den Tunnel mit einer dünnen kalkhaltigen Muschelschale aus und bietet so eine merkwürdige Aehnlichkeit mit den Gewohnheiten der großen weißen Termitenameise dar. Hat das Thier einmal ein Stück Pfoste in Beschlag genommen, so vernichtet es dasselbe so vollständig, daß, zöge man die Muschelfütterung aus dem Holze heraus und wöge jedes einzeln, der mineralische Bestandtheil ebenso schwer sein würde wie der vegetabilische. Der Pfahlwurm hat schon unzählige Schiffbrüche verursacht, denn ohne daß man es merkt, frißt er Planken und andere Holztheile der Schiffe so aus, daß der geringste Zusammenstoß mit anderen Fahrzeugen den stolzen Bau zertrümmert.

Vor uns liegt ein Stück dieses wurmzerfressenen Holzes, derart von den Höhlen des Weichthieres zersetzt, daß ein halbwegs derber Griff mit der Hand es zerbrechen würde. Und dieses Stück Holz gehörte zu einem Hafenbau, von welchem vielleicht Hunderte von Menschenleben abhingen, und war von den unermüdlichen Mineurs so im Verstohlenen ausgehöhlt worden, daß nur ein glücklicher Zufall die Verwüstung entdeckte und gewissem großem Unheile zuvorkam! Um einen Begriff von dem Umfange der Verheerungen zu geben, welche der Schiffswurm stiftet, erwähnen wir, daß die englische Regierung allein für die Wiederherstellung des von ihm in den Häfen von Plymouth und Devonport in einem Jahre angerichteten Schadens achttausend Pfund Sterling aufzuwenden hatte. –

Von den Spinnen sind ebenfalls mehrere Arten zu den Höhlenbauern zu rechnen, die sogenannten Fallthür-Spinnen (Röhrenspinnen), die man in verschiedenen Erdstrichen antrifft. Eine derselben, in Westindien zu Hause, gräbt ein schief abwärts gehendes Loch von etwa drei Zoll Länge und einem Zoll Durchmesser in die Erde. Diese Höhle füttert sie mit einem zähen dicken Gewebe aus, das herausgenommen einem ledernen Beutel nicht unähnlich ist; was aber das Merkwürdigste ist, das Haus besitzt eine förmliche in Angeln gehende Thür, wie der Deckel mancher Seemuscheln, und sie und ihre Familie öffnen und schließen diese Thür beim Aus- und Eingehen. Manche solcher Spinnenwohnungen erfreuen sich sogar zweier jener Thüren. Die an dem einen Ende ist etwas locker und unregelmäßig, wie dieses Ende des Nestes überhaupt, hingegen die andere wunderschön abgerundet und sehr glatt mit erstaunlicher Genauigkeit in die Oeffnung passend. Die Fallthürspinnen sind Nachtthiere; Tags über halten sie sich still in ihren Höhlen und gehen nur nach Dunkelwerden auf Raub aus. Sobald Jemand die Thür aufhebt, eilt die Spinne, die „für Fremde nie zu Hause ist,“ herbei, hakt sich mit ihren Hinterfüßen an das seidene Futter der Thür fest, klammert sich mit den Vorderbeinen [759] an die Seitenwand der Höhle und versperrt so die Thür. Nur offenbare und unwiderstehliche Gewalt vermag die Spinne aus ihrem Hause zu vertreiben, das sie auf das Tapferste zu vertheidigen pflegt. Man kann die Erde unter ihrem Loche ausgraben und das ganze Nest forttragen, ohne daß das Thier es verläßt; auf diese Weise hat man einzelne Exemplare dieser höchst merkwürdigen Bauten aus der Erde ausgehoben und genauerer Beobachtung unterworfen.

Eine vorzügliche Baukünstlerin ist eine in Südaustralien lebende Art von Röhren-Spinnen. Ihre Höhle ist so gleichmäßig rund und glatt, als wäre sie auf einer Töpferdrehschreibe ausgerundet; ihre Thür ein regelmäßiges Halbrund mit einer bis über die Mitte der Oeffnung reichenden Angel. Um den Eingang zu verbergen, ist die ganze Thür ebenso wie die Erde umher mit kleinen Erhöhungen bedeckt, so daß es fast unmöglich wird, die Fugen des Eingangs ausfindig zu machen. Auch die Gestalt der Thür ist merkwürdig. Nach der Angel zu ist sie verhältnißmäßig dünn, auf der anderen Seite dick, solid und schwer, so daß schon ihr eigenes Gewicht genügt, einen festen Verschluß zu sichern. Die Angel selbst ist kein besonderer Theil des Baues, sondern nur eine Fortsetzung der seidenen Röhre, welche die Höhle ausfüttert.

Sehr viele Insecten bauen sich zu gewissen Perioden ihres Lebens in Holz, Sandstein, Erde, in Blätter und Stengel, in Früchte und Blüthen verschiedener Pflanzen ein. So u. v. a. mehrere der bei uns heimischen Ameisenarten, die zum Theil sich sehr umfängliche und verwickelte unterirdische Wohnungen anlegen. Von allen hierher zu zählenden Insecten aber erreicht wohl keines die Baukunst unserer gemeinen Wespe. Jedenfalls ist keiner unserer Leser, der nicht schon ein Wespennest gesehen hätte, aber nur wenige dürften Gelegenheit gehabt haben, dessen Entstehung zu verfolgen.

In den ersten Tagen des Frühlings verläßt die Wespe den Ort, wo sie den Winter verbracht hat, und recognoscirt eifrig die Gegend. Sie fliegt weder hoch noch schnell, sondern gleitet langsam und sorgfältig umher, prüft jeden Erdhang und kriecht in jede Spalte, an der sie vorüberkomme. Endlich findet sie ein Loch, das eine Feldmaus gebohrt hat, oder trifft vielleicht auf die verlassene Höhle eines größern erdbauenden Insects, schlüpft hinein, bleibt eine Weile darin, kommt wieder heraus, schwärmt außen darum herum, geht wieder hinein und scheint ihren Entschluß zu fassen. Sie befindet sich in der That auf der Wohnungsjagd und alle ihre Bewegungen, ihr ganzes Gebahren ähneln sehr dem einer sorgenden Hausmutter, die sich eine neue Wohnung aussucht. Hat sie endlich einen passenden Platz erspäht, so beginnt sie, in einiger Tiefe von der Oberfläche, eine Kammer zu bauen, indem sie den Boden ausbricht und ihn Stück für Stück hinausschafft. Wenn sie derart ein Zimmer nach ihrem Geschmack angelegt hat, fliegt sie davon und begiebt sich nach irgend einem ihr bekannten alten Zaune, der, wenn auch noch nicht verfallen, doch vollkommen dürr und mürbe ist. Auf ihn läßt sie sich nieder und nagt, mit aller Anstrengung ihrer Kräfte arbeitend, die Holzfasern heraus, bis sie ein kleines Bündel davon zusammengebracht hat, das sie mit unsäglicher Mühe zu einer Art von breiähnlicher Masse zerkaut und zusammenknetet. Mit dieser fliegt sie nach ihrem Loche zurück. Und so geht es fort, bis sie von dem Präparat, das, durch eine leimartige Flüssigkeit zusammengeklebt, dem Papiermaché zu vergleichen ist, soviel besitzt, um damit sich an die Auskleidung ihrer Wohnung machen zu können. Dies geschieht nun folgendermaßen. Zuerst wird das Dach ihrer Kammer ausgefüttert, denn die Wespe baut stets von oben nach unten, dann formt sie die Breikugel, die sie aus den Fasern gebildet hat, zu einem Blatte, marschirt rückwärts und walzt es mit ihren Kiefern, ihrer Zunge und ihren Füßen so lange breit, bis es fast so dünn wie Seidenpapier geworden ist. Ein einziges Blatt dieses Papiers würde indeß nur eine sehr gebrechliche und vergängliche Wandverkleidung liefern, welche die Erde nicht vom Herabfallen in das Nest abhalten könnte. Demgemäß ruht das Thier nicht eher, als bis es fünfzehn oder sechszehn Lagen übereinander angebracht und damit die Wand beinahe zwei Zoll dick gemacht hat. Die einzelnen Lagen sind aber nicht mit einander in Berührung gebracht, wie z. B. die verschiedenen Schichten der Pappe, sondern zwischen jeder Lage befinden sich kleine Zwischenräume.

Sobald endlich die Wandverkleidung fertig ist nimmt der Bau der Stadt selbst seinen Anfang, die aus mehreren über einander hängenden Terrassen besteht. Die Biene fügt ihre Waben senkrecht aneinander, die Wespe hängt sie horizontal nebeneinander auf und in einer viel leichteren und eleganteren Weise, als die Bienenwaben aneinander gefügt sind. Jede Terrasse ist wirklich eine schwebende Etage, die mit zwölf bis dreißig etwa einen Zoll langen und einen Viertel Zoll im Durchmesser haltenden Stäbchen aus demselben Material wie das Dach befestigt wird. Jedes Stäbchen hat eine sehr gefällige Form, in der Mitte sich verjüngend, nach oben und unten breiter werdend, jedenfalls um die Tragkraft zu erhöhen, und die Terrasse selbst ist kreisrund und besteht aus einer ungeheuren Anzahl von Zellen, welche aus dem beschriebenen Papiere zusammengesetzt sind und in Gestalt und Größe den Bienenzellen gleich kommen; jede ist ein mathematisch genaues Sechseck und nirgends nur eine Haarbreite unausgefüllten Zwischenraumes. Diese Zellen dienen indeß nicht als Honigtöpfe, wie bei den Bienen, denn, mit Ausnahme einiger ausländischen Arten, bereitet die Wespe keinen Honig, sondern lediglich dem Aufziehen der Brut. Sämmtliche Zellen öffnen sich nach unten, während ihr gemeinschaftlicher Boden eine ebene Fläche herstellt, auf der sich die Insassen der einzelnen Zellen ergehen können. Sobald eine junge Wespe aus ihrer Wiege ausgeflogen ist, wird die Zelle unverweilt gereinigt und dann sofort ein neues Ei hineingelegt. Jetzt hilft die junge Generation thätig beim Weiterausbau des Hauses mit. Neue Terrassen entstehen, die durch Säulen mit den obern zusammenhängen, die Außenwände werden erweitert und Ausgangs des Sommers sind meist zwölf bis fünfzehn verschiedene Zellenetagen vollendet. Die zuletzt gebauten Zellen sind größer als die früher hergestellten; sie sind zum Aufziehen der männlichen und weiblichen Wespen bestimmt. In allen den vorher construirten Zellen nämlich waren nur geschlechtslose Thiere enthalten, welche die eigentlichen Arbeiter sind, während die Männchen, wie im Bienenstocke, sich mit dergleichen niederen Beschäftigungen nicht abgeben. Jede Etage umschließt über tausend Zellen, so daß sich in einem Wespenneste mehr als fünfzehntausend einzelne Zellen befinden. Réaumur hat berechnet, daß ein einziges Nest im Jahre mehr als dreißigtausend Wespen hervorbringt, nur zu tausend Zellen angenommen, von denen jede nach und nach drei Generationen großzieht. Wenn der Winter hereinbricht, ist gar oft der so erfinderisch ersonnene und so kunstvoll ausgeführte Bau noch nicht durchaus vollendet, dient aber jetzt nur noch, um einigen halberstarrten Weibchen Quartier zu geben. Doch auch sie verlassen ihn im nächsten Frühjahr, um nie dahin zurückzukehren; denn niemals wird ein Wespennest öfter als einen einzigen Sommer benutzt.

Soviel von den Bergleuten und Ingenieuren der Thierwelt; in einem zweiten Aufsatze wollen wir von einigen der Thiere erzählen, die, nicht Höhlenbauer, sich entweder in über der Erde hängenden Behausungen ansiedeln oder, und zwar aus den mannigfaltigsten Stoffen, das bauen, was wir im gewöhnlichen Sinn mit dem Worte „Nest“ bezeichnen.




Blätter und Blüthen.


Heine’s Krankheit. Maximilian Heine, Heinrich Heine’s Bruder, dem die Gartenlaube bereits verschiedene Erinnerungen an den großen Dichter verdankt, macht über die Krankheit desselben, die so viel besprochen und so viel beschrieben worden ist, die nachstehenden interessanten Mittheilungen:

„Ich habe die feste Ueberzeugung, und Heinrich starb auch mit derselben, daß Paris und die Behandlung der früheren französischen Aerzte sein Leben um viele Jahre verkürzt haben. Heinrich Heine’s zarter Organismus, ein Gehirn- und Nervensystem, das in steter Vibration sich befand, das durch das leiseste Geräusch, Klopfen, Clavierspielen, ja Vogelzwitschern auf das Schmerzhafteste aufgeregt wurde, eine so reizbare, sensitive Natur wurde allezeit mit den schwächendsten Mitteln mißhandelt. Die Herrschaft des damals in Frankreich sehr verbreiteten Systems von Brousson hatte seine verderblichen Folgen.

Aderlässe, Blutegel, Abführungen und dergleichen schwächende Mittel genügten, den Zustand des außerdem noch von täglicher Migraine geplagten Kranken trostlos zu machen. Fern von der lebenzehrenden Residenz Paris, in den Händen eines hippokratisch gebildeten deutschen Arztes, hätten wir den großen Dichter länger behalten. Zuletzt war alle Behandlung nur palliativ geworden; immerfort Opiate zur Bekämpfung und Erleichterung der Krämpfe und Kolikschmerzen. Und dennoch hat sich in diesem von [760] Schmerzen unterwühlten Körper ein frischer, sprudelnder, heiterer Geist voller Witz, Ironie, Satire und epigrammatischer Schärfe bis zum letzten Lebenshauche erhalten! Seine Füße waren gelähmt, so wie die Augenlider, aber nicht die Sehkraft.

Er bedurfte stets der größten Pflege. Eine seiner Wärterinnen, eine Mulattin, nahm ihn wie ein Kind auf die Arme und legte ihn vom Bett auf den Divan. Ich war einmal Zeuge, wie er also vom Divan auf das aufgemachte Bett zurückgebracht wurde. „Max,“ sagte er lächelnd zu mir, „wenn Du nach Deutschland kommst, so kannst Du erzählen, wie ich in Paris auf Händen getragen werde.“

Zur selben Zeit fragte ihn sein Arzt: „Wie ist Ihr Geschmack?“ – „Gar keiner,“ antwortete er, „wie der von Herrn Scribe.“ Was Heine so oft von seiner Matratzengruft gesprochen und was noch öfter von den Journalisten und Feuilletonisten mit so vieler Emphase ausgebeutet wurde, darf man in dieser Beziehung ja nicht so buchstäblich nehmen. Sein Krankenzimmer war mit allem Comfort, dessen ein Kranker bedurfte, ausgestattet, die Pflege zweier Dienerinnen vortrefflich, und ein liebevolles, treues Weib, die so schön besungene Mathilde, wußte ebenso gut die kranken Tage des Dichters zu erheitern, wie sie ihm in gesunden Tagen eine lebensfrohe Gattin gewesen ist.

Mathilde Heine, ein echtes Pariser Kind, war überglücklich, wenn sie mit ihrem „Henri“ auf den Boulevards von Paris flaniren, die Theater besuchen und alle möglichen Delicatessen der Restaurants theilen konnte. Mit Recht sang Heinrich von ihr:

„Du bist mein Weib und Kind zugleich.“

Die Klatschpublicistik hat dennoch diese vortreffliche Frau mit Bitterkeiten nicht verschont. Bald soll sie den Genius ihre Mannes nicht begriffen haben, bald soll sie an seinem Krankenbette nicht hingebend, nicht aufopfernd genug gewesen sein. Kein wahres Wort! Sie war ganz Französin, die mit ihrem natürlichen Esprit den Heine’schen Humor vollkommen verstanden hat und, ohne alle Sentimentalität, ein sorgsames, ihren Gatten höchst liebendes, herzliches Weib gewesen ist. Sie waren Beide leider nicht sparsam, verstanden nichts von ökonomischen Berechnungen; denn in diesem Punkte war Mathilde dem großen Dichter allzu ähnlich. Wie konnten da bei den reichlichsten Einkünften die Finanzen blühen, zumal da noch schmeichelnde Emigranten jeder Nation das so gastliche Haus auszunutzen verstanden haben!!

Auch der in einem Gedichte neben Mathilde erwähnten Pauline will ich dankbar gedenken, die als Gesellschafterin und Haushälterin der Frau so viele Jahre zur Seite gestanden und bei der Wittwe des Dichters treu verblieben ist.

Mathilde Heine lebt in Paris in guten Verhältnissen, vollständig sorgenfrei und ist noch immer belle femme.

So krank Heinrich auch war, so schlecht die Nacht gewesen sein mochte, zur bestimmten Zeit des Morgens kam sein Secretair, dem er dictirte. Späterhin erschien auch sein Vorleser; auch empfing er dann liebe Besuche, trotz des großen Bedürfnisses nach Ruhe.

Eines Tages kam ich zu ihm, und er fühlte sich sehr matt. Nichtsdestoweniger rief er sehr lebhaft aus: „Schade, daß Du nicht früher gekommen bist; ist Dir nicht eine schwarzgekleidete Dame auf der Treppe begegnet?“

„Allerdings,“ sagte ich.

„Das war Madame Dudevant, mein bester Freund, George Sand, und ich hätte gern gewünscht, daß Du ihre Bekanntschaft gemacht hättest. Sie war wenigstens eine Stunde bei mir, plauderte viel, und so todtmüde ich auch bin, ich wollte, sie wäre länger geblieben.“

Sein letzter Arzt war Doctor Grubi, ein denkender, tiefgebildeter, humaner Mann, der ihn, so lange die Palliative der ärztlichen Kunst ausreichten, hinhielt. Sein Geist bedurfte nie der Medicin.

Einige Jahre, nachdem ich Paris verlassen und unser Briefwechsel ununterbrochen gedauert hatte, erhielt ich in St. Petersburg plötzlich folgenden Brief von Dr. Grubi, dessen Schriftzüge von größter Aufregung zeugten:

„Mit größtem Bedauern melde ich Ihnen, geehrter Herr College, das Ableben Ihres Bruders in Paris. Er ist heute um fünf Uhr Morgens verschieden, in Folge von Schwäche durch ein heftiges Brechen herbeigerufen.

Mit Hochachtung Ihr ergebener College

     Paris, den 17. Februar 1856.
Dr. Grubi.“




Die Redensarten der Völker scheinen nicht ohne Einfluß auf deren Thun und Treiben zu sein. Oder vielmehr beide hängen wohl gemeinsam von den Geistes- und Charaktereigenthümlichkeiten der verschiedenen Völker ab. Deshalb bringe ich den Gegenstand hier zur Sprache. Mögen Erfahrenere, Weitgereiste, wie z. B. Freund Gerstäcker, dieses Thema erwägen und weitere Beiträge dazu liefern!

Der Russe wiederholt immer das Wort „Nitschewo“, zu Deutsch „thut nichts!“ Dies Wort erklärt das Großwerden der russischen Nation, deutet aber auch die Grenze seines Wachsthums an. Mit Nitschewo stürmt der Russe auf die feindlichen Batterien los, läßt sich haufenweise niedermähen, bataillonsweise vom Schnee begraben (im Krimkriege), im Winter über ungangbare Alpen hetzen (unter Suwarow) und dergleichen mehr. Aber die Redensart „thut nix!“ taugt nicht dazu, um für die Dauer große Dinge zu gründen oder durchzuführen.

Der Türke sagt zu Allem: „jok, jok!“ zu Deutsch: „das ist mir gleichgültig!“ Nun in der That, wo man den Boden des türkischen Reichs betritt, da sieht man auch, daß diesen Leuten Alles gleichgültig ist. Wege, Brücken und Städte verfallen; die geldbringendsten Unternehmungen werden eines augenblicklichen Vortheils wegen zerstört; die besten Industriezweige durch alberne Steuern unmöglich gemacht; das ganze Reich verödet. „Alles gleichgültig!“

Der Spanier hat zwei stehende Redensarten „quien sabe?“ („wer weiß es?“) und „mas or menos“ („mehr oder weniger“). Nun ist klar, daß ein Volk, welches immer „wer weiß es?“ fragt, sich schließlich des Denkens entschlagen lernt und in die Hände von Leuten fallen muß, die ihm vorsagen und vorschreiben, was es denken und wissen soll. Daß diese Denkträgheit und Autoritätsgläubigkeit der Hemmschuh der gesammten spanischen Entwickelung ist, hat Buckle (Geschichte der Civilisation) schlagend bewiesen. – „Mehr oder weniger“ drückt[WS 5] ebenfalls die Neigung aus, nichts Bestimmtes zu denken, zu sagen und zu thun. Es deutet auf dieselbe geistige Schlaffheit hin.

Das Lieblingswort der Neugriechen ist „Dembirasi“, das heißt: „es wird wohl noch gehen, früher oder später, auf diese oder jene Weise, wenn nicht heute, so doch morgen, übermorgen oder über’s Jahr!“ (Friederike Bremer, Leben in der alten Welt.) Diese Redensart oder die Charaktereigenthümlichkeit, welche dahinter steckt, hemmt in Griechenland hauptsächlich den Fortschritt in Unternehmungen, die Verbesserung aller Arten von Angelegenheiten.

Ganz anders der Nordamerikaner der Vereinigt-Staaten-Republik. Sein Lieblingswort ist „go ahead!“ („geh’ vorwärts, immer drauf los!“) Er sagt nicht, wie wir: „ich meine, glaube, halte dafür“, sondern „ich rechne“, „I calculate“, wodurch er gewissermaßen sich selbst zwingt, seine Gründe mathematisch abzuwägen und zusammen zu stellen. In demselben Geiste setzt er, zu seinen Aussprüchen gern hinzu: „It is a fact“. („das ist eine Thatsache!“) womit er sich in die Nothwendigkeit versetzt, sie auch thatsächlich zu beweisen. – Alle drei Redensarten sind bezeichnend für den Grundcharakter dieser rastlos rührigen, illusionsfreien, positiven Nation.

Der Deutsche hat sehr viele Redensarten, nützliche und schädliche, doch meist nur auf kleinere Kreise beschränkte, wie z. B. der „gehorsame Diener“ in unseren mitteldeutschen Gegenden, welcher viel Schuld an der einheimischen Charakterlosigkeit haben dürfte. Von allgemeiner bei uns herrschenden Redensarten ist besonders das verderbliche „ich thue nicht mit“ der deutschen Kinder zu erwähnen. Ueberall, wo deutsche Knaben spielen, giebt es wenigstens einen oder zwei, welche ihr hohes persönliches Selbstbewußtsein dadurch an den Tag zu legen suchen, daß sie „nicht mit thun“. Als Erwachsene setzen sie dieselbe Redensart in anderer Form fort. Dies ist die Hauptursache, weshalb in Deutschland nichts Gemeinsames zu Stande kommen kann und weshalb überall, wo Deutsche beisammen sind, auch Spaltungen unter ihnen eintreten. „Ich thue nicht mit!“ muß ausgerottet werden, wenn die deutsche Einheit zu Stande kommen soll. Eine andere, durch ganz Deutschland verbreitete Redensart ist nicht salonfähig. Sie findet sich in der classischen Literatur gedruckt nur einmal. Und doch ist sie für unser Volk von größter Wichtigkeit. So lange der Deutsche zu dieser Redensart noch fähig ist, ist er noch nicht verloren. Sobald er zu ihr greift, ändert sich sein ganzes Wesen; er wird energisch, feurig, durchgreifend und ist fortan jeder andern Nation gewachsen.
R.




Die Post im Schnee. (S. S. 757.) Wieder ein Blatt aus unserer Galerie moderner Künstler und Bilder, abermals aus jener Schule am Niederrhein, in der das Genre in seinen verschiedenen Abstufungen eine besondere Pflege findet. Das Bild illustrirt eine Zeit, die nun bald völlig entschwunden sein wird, denn wo sonst als in Gegenden, die fern abliegen von den großen Strömungen des Weltverkehrs und seinen neuen Bahnen, oder auf den steilen Straßen tief in unwegsamem Gebirge tritt uns das stattliche Viergespann des Postwagens in seiner antiquirten Herrlichkeit noch entgegen? Eine Composition von höchster Lebendigkeit, denn sehen wir nicht das tolle Schneetreiben, das die Bahn verweht, in all’ seinem Ungestüm leibhaftig vor uns? Sehen wir nicht, wie die Pferde einsinken in den fußtiefen Schnee, wie sie sich stemmen und schnauben und arbeiten, das Gefähr wieder frei zu machen und neu in Gang zu bringen? Sehen wir nicht, wie das Decemberwetter gleich spitzen Nadeln Menschen und Gäulen in’s Gesicht schlägt? Gewiß, der Künstler, eines der jüngeren Mitglieder der Düsseldorfer Schule, C. Dahlen, hat es verstanden, die Situation auf das Wirkungsvollste zur Anschauung und Geltung zu bringen, so daß – und dies bleibt immer ein Hauptverdienst jedes Kunstwerkes – das Bild sich selbst erklärt und alle Erläuterung durch das Wort überflüssig macht.




Erklärung. Hierdurch erkläre ich, daß allein und ausschließlich die deutsche Verlagsbuchhandlung von C. Latour u. Werkmeister, 35 Canal-Street in New-York, das Recht des Nachdrucks meiner Novellen, Romane u. s. w. innerhalb des Gebiets der Vereinigten Staaten von Nordamerika von mir erworben hat und bevollmächtigt ist, jeden anderweitigen Nachdruck gerichtlich zu verfolgen.

Gera, im October 1866.
Karl Wartenburg.




Berichtigung. In einem Theile der Auflage ist in Nr. 46 – Erklärung der Bilder zu Fritz Reuter. – der Druckfehler „Alte Camelien“ anstatt „Alte Camillen“ stehen geblieben, was wir hiermit berichtigen.
D. Red.




Kleiner Briefkasten.


S. W. in Wiesbaden. Es ist mir der ehrenvolle Auftrag geworden, den aus einunddreißig Thalern bestehenden Ertrag einer Lotterie, welche drei junge Mädchen aus in Wiesbaden ansässigen fremden Familien veranstaltet haben, zu Weihnachtsgaben für in Folge des Krieges verwaiste Kinder zu verwenden. Gewiß ist der Gedanke außerordentlich dankenswerth und ich drücke den menschenfreundlichen anonymen Spenderinnen damit herzlich die Hand, aber die Natur der Sache wird mir nur gestatten, mit den Geschenken arme Waisen in der Nähe bedenken zu können. Hoffentlich sind Sie damit einverstanden; jedenfalls aber erwarte ich erst ihre Antwort.
Ernst Keil.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Sein Vater ist der als freier theologischer Forscher durch sein Bibelwerk berühmte und vielen Lesern der Gartenlaube bekannte Prof. Gust. Ad. Wislicenus.
  2. Die Alpen in Natur- und Lebensbildern von H. A. Berlepsch; Verlag von Costenoble.
  3. Der mit Wislicenus, dem Vater, befreundete Redacteur dieser Blätter erhielt von demselben eine briefliche Mittheilung über dessen Gang zur Unglücksstätte, aus welcher wir das Nachstehende hier einfügen: „Ich reiste Freitag den 29. September, nachdem der Tödiwirth uns angezeigt, daß die oberen Gegenden schneefrei und das Wetter günstig sei, mit meinen Söhnen Johannes und Ulrich nach dem Tödiwirthshause ab. Am andern Morgen früh fünf Uhr brachen wir mit den Führern Thut, Vater und Sohn, und begleitet von den wackern Wirthsleuten und drei ihrer Verwandten, welche unsern lieben Hugo, den sie lebendig und todt bei sich aufgenommen haben und dessen Grab sie schmücken und erhalten, wie einen Bruder ansehen und dadurch unserer Familie auf das Freundschaftlichste verbunden worden sind, nach der Unglücksstätte auf. Der Weg führt in einer Felsenöde über die untere Sandalp etwa fünftausend Fuß bergauf, meist auf Gestein, zuletzt nur noch auf Felsgetrümmer. Auf der untern Sandalp waren noch Sennen; die obere, welche aber auf geradem Wege nicht berührt wird, war bereits verlassen. Wir stiegen am Bifertengletscher hinauf, und langten etwa um zwölf Uhr am Ziele an, indem ich meinerseits, meinem Alter gemäß und dazu durch Kummer und eine vorhergehende fast schlaflose Nacht geschwächt, den Weg um eine bis zwei Stunden verlängerte. Die Gegend zwischen Bifertengrat und Grünhorn, welche mein Hugo hatte durchschreiten müssen, besteht aus Gletscher und Felstrümmern, welche letztere aber auch den Gletscher an seinem untern Theile nur überdecken, was man beim Steigen gelegentlich an den offenen Eisspalten wahrnimmt. Der Abhang, welchen er herabgestürzt ist, besteht aus sehr steil abschüssigem Felsgetrümmer, an welchem man nur mit Mühe und Vorsicht hingehen kann. Diese ‚Rieße‘ (Riesete), wie man dergleichen hier nennt, geht mehrere hundert Fuß hoch, und vielleicht eben so breit, neben dem Grünhorn von der steilen Felswand des Tödigipfels herab. Man muß nothwendig über sie gehen, wenn man auf das Grünhorn und in die Clubhütte gelangen will. Der Steinhaufen, welchen die Finder gerade oberhalb des Hauptes des Aufgefundenen errichtet hatten, war noch vorhanden. Der Sturz ist in dem gelben Streifen der verschieden gefärbten Rieße geschehen. Mein Sohn Ulrich fand etwas weiter oben noch ein Taschentuch seines Bruders, hinter einen Stein festgeklemmt. Johannes holte den Alpstock aus der Clubhütte, welche alle außer mir bestiegen, wohin denselben die spätern Finder gestellt hatten. Ein besonderer Felsabhang findet sich in der Fallbahn nicht, dagegen einige größere, fast mannshohe Blöcke. Noch lag ein Theil des Schnees dort, aus welchem der Verunglückte gezogen worden war. Die von dem dritten Finder, der aber nicht gleich anfangs nahe dabei gewesen war, ausgegangene Angabe, daß derselbe die eine Hand unter dem Kopf gehabt, erklärte Thut Sohn, der ihn zuerst gefunden, entschieden für unwahr. Die Kleider waren durch Rutschen hinaufgeschoben gewesen, die Reisetasche hatte, ebenso gewaltsam aufwärts gezogen, unter dem Nacken, der Kopf auf bloßem Gestein gelegen, Arme und Beine nach unten in natürlichem Verhältniß. In den Seitentaschen des Ueberziehers hatten sie noch Brod und Fleisch gefunden. All diese Umstände sprechen für augenblickliche und dauernde Bewußtlosigkeit, wenn nicht für augenblicklichen Tod, noch entschiedener, als wir früher meinten. Leider hatte ich mich, allerdings bereits sehr erschöpft und um den Rückweg selbst etwas besorgt, von den Begleitern bestimmen lassen, aus Rücksicht auf sie ein Stück vor der Rieße im Schutze einiger Felsblöcke zurückzubleiben, von wo aus ich indeß die Stelle ganz nahe vor mir hatte, so daß ich Alles gut sehen konnte. Ich gedenke im nächsten Jahre von der nähern Obersandalp aus die Stätte mit mehr Muße und gründlicher in Augenschein zu nehmen. So schmerzlich mir das Alles ist, lebe ich doch darin dem Andenken meines lieben Hugo und genüge dem Drange, mir Alles, was seinen Tod betrifft, so klar als möglich zu machen und immer wieder vor Augen zu führen. Dann soll auch die Denktafel an schöner Stelle bei der Pantenbrücke in den Felsen gefügt werden, wo bekannte und unbekannte Freunde, wenn sie die Gegend besuchen, des lieben und edeln Todten und unser gedenken mögen. G. A. Wislicenus.
  4. Die Regierung des Cantons St. Gallen läßt, da der Staat Eigenthümer der Quellen und der Badegebäude ist, ein Eintrittsgeld von einem Franken von jedem Besucher erheben.
  5. Wie erstaunlich schnell auch andere Buchdruckereien ihre Arbeiten liefern, davon ist die Leipziger Officin, welche den Druck der Tages-Ziehungslisten der sächsischen Landeslotterie besorgt, ein eclatantes Beispiel. Vormittags drei Viertel auf elf Uhr ist der Schluß der Ziehung und schon ein Viertel zwölf Uhr sind die erwähnten Listen gesetzt, corrigirt, gedruckt, gefalzt, couvertirt, adressirt und frankirt auf der Post zur Reise durch das Land.
    D. Red.
  6. Die Gartenlaube, bekanntlich doch nur eine Wochenschrift, bedarf im Jahre für fünfzigtausend Thaler Druckpapier mehr als die Kölnische Zeitung.
    D. Red.
  7. In der Staatsdruckerei in Wien sahen wir einmal achtunddreißig Druckmaschinen von einem einzigen Manne gehandhabt. Alle übrigen Manipulationen: Zerschneiden des Papiers ohne Ende, das benutzt wurde, Auffangen der Bogen etc. verrichten die Maschinen selbst.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Alles, Du selbst auch, nie (korrigiert nach: „Hüben und Drüben“. Neue gesammelte Erzählungen von Friedrich Gerstäcker. Arnoldische Buchhandlung, Leipzig 1868, Zweiter Band, S. 168)
  2. Zitiert nach „Lebenspflichten“ von Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748–1776).
  3. wird Hans Adolf v. Thümmel († 1851) zugeschrieben.
  4. Der Schiffsbohrwurm ist kein Wurm, sondern wie der erwähnte „Pholas“ eine Muschel.
  5. Vorlage: rückt