Die Gartenlaube (1868)/Heft 8

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 8.   1868.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



In sengender Gluth.

Von F. L. Reimar.
(Schluß.)

Das Wort des Mädchens brachte Alfred zu sich selbst zurück und erinnerte ihn an die, welche gebrochen auf ihre Kniee gesunken war. „Helene, vergieb auch Du mir,“ sagte er weich und trat zu ihr heran, „ich konnte nicht anders!“

Sie war nicht fähig zu sprechen und winkte nur flehend mit der Hand, daß er sie allein lasse.

Am andern Tage empfing Rosalie auf ihrer Villa den Besuch des Bankiers, der in Geschäftssachen mit ihr zu reden hatte. Als dieselben erledigt waren, frug sie den Bankier in nachlässigem Ton nach den Neuigkeiten der Residenz.

„Hm, das Neueste vom Neuen möchte sein,“ antwortete Melsing, „daß es zwischen Lossau und seiner Braut zu einem entschiedenen Zerwürfniß gekommen sein soll. Ich erfuhr heute Morgen, daß sie plötzlich die Residenz verlassen hat und zu ihrer verheiratheten Schwester gereist ist und daß man an einem völligen Bruch des Verhältnisses nicht zweifelt.“

Er konnte es nicht lassen, sie bei seinen Worten scharf zu beobachten, aber keine Miene des schönen Gesichts verrieth Freude oder gar Triumph; nicht einmal die geringste Ueberraschung spiegelte sich darauf ab; es war, als ob die Nachricht sie vollkommen unberührt lasse.

„Nun ja, da hat die Welt allerdings Stoff zur Verwunderung und zur Krittelei!“ warf sie nur in ruhigem Ton hin. – „Und was haben Sie Weiteres zu erzählen, Herr Melsing?“

Der Bankier war im Innern außer sich vor Erstaunen. Er hatte einen Kitzel darin gefunden, der Erste zu sein, welcher der Baronin den Eclat berichtete, an dem sie, wie er gleich der ganzen Stadt wußte, schuld war, und den Eindruck auf sie zu beobachten – und nun begegnete er dieser gänzlichen Gleichgültigkeit! Ihm ward nahezu unbehaglich in ihrer Nähe, und sie erschien ihm fast wie eine schöne, aber unheimliche Sphinx.

Auch als der Bankier sie verlassen hatte, gab Rosalie sich durchaus keinem Ausbruch der Empfindungen hin; nur um ihren Mund zuckte ein leises, aber beinahe dämonisches Lächeln, als sie die Worte sprach: „Ich wußte es ja, daß es so kommen mußte!“

Dann gab sie ihrer Dienerschaft Befehl, daß an dem heutigen Tage Niemand zu ihr gelassen werden sollte, als der Legationsrath von Lossau, den sie erwarte.

Von ihrem Boudoir aus konnte sie den Weg übersehen, welcher von der Residenz hierher führte, und am Fenster sitzend spähte sie aus, bis sie in der Ferne einen Reiter entdeckte, in welchem ihr scharfer Blick sofort Alfred erkannte. Sie erhob sich von ihrem Sitz und richtete ihre glühenden Augen nach oben: „Ich danke Dir, mein Gott,“ murmelte sie, „daß Du diese Stunde der Rache hast kommen lassen!“ Dann trat sie auf den Balcon hinaus.

Der Reiter kam näher und näher; sie erkannte, wie Alfred’s Gesicht vor Freude und Entzücken leuchtete, als er ihrer ansichtig ward; sie sah, wie er aus der Ferne grüßte, und neigte selbst ihr Haupt, um ihn willkommen zu heißen. Noch ein Augenblick – und er sprengte in den Hof.

Rosalie hatte sich gewandt, um in ihr Zimmer zurückzutreten und ihn dort zu empfangen; bei der raschen Bewegung aber glitt das Tuch, welches sie um ihre Schultern geworfen hatte, herab und flatterte über den Rand des Balcons. Das Pferd, dadurch erschreckt, sprang auf die Seite und Alfred, der im Begriff gewesen war, es anzuhalten, griff unwillkürlich heftig in die Zügel. In demselben Augenblick bäumte das Thier sich hoch auf, machte einen furchtbaren Satz und schleuderte den unglücklichen Reiter auf das Pflaster des Hofes. Rosalie, die Zeuge der ganzen schrecklichen Scene gewesen war, stieß einen markerschütternden Schrei aus und stürzte dann, ihrer eigenen Sinne kaum mächtig, zu dem Verunglückten hinunter. Auch die Diener eilten herbei, und in der nächsten Minute schon war Alfred aufgehoben, in’s Haus und nach dem mit halberstickter Stimme ausgesprochenen Befehl der Baronin auf deren Zimmer getragen, wo man ihn auf ein Ruhebett legte.

Das Bewußtsein war noch nicht zurückgekehrt, indessen keine Verletzung wahrzunehmen, und ein älterer unter den Dienern, welcher den Schrecken und die Angst der Herrin sah, bemühte sich ihr Trost einzusprechen: „Er ist sicher nur von dem Fall betäubt, gnädige Frau,“ sagte er, „und wird bald aus seiner Ohnmacht erwachen!“

Sie blickte den einfachen Mann an, als hätte er ihr eine himmlische Verheißung gebracht, und es war, als sei von diesem Augenblick ihre frühere Zuversicht zurückgekehrt. Sie ließ Alle hinausgehen, denn sie wollte allein mit Alfred, allein Zeuge seines Erwachens sein.

Es währte auch nicht lange, da kehrte mit einem tiefen Athemzuge das Leben in seine Brust zurück; er seufzte noch ein paar Mal, griff mit der Hand nach der Stirn und schlug dann die Augen auf.

„Alfred!“ drang es über ihre Lippen mit weichem, innigem und doch wieder jubelndem Tone, „Alfred!“

Wie ein elektrischer Schlag fuhr es durch seinen Körper; er schloß noch einmal die Augen, öffnete sie dann wieder und begegnete den Blicken Rosaliens, die sich über ihn beugte.

[114] „Rosalie,“ flüsterte er, „ist das ein Traum, oder umgiebt mich die Seligkeit des Himmels?“

„Nein, Alfred,“ entgegnete sie, „es ist Wahrheit, daß Sie leben!“

Bei dem Klang ihrer Stimme war ihm das volle Bewußtsein zurückgekehrt; er sprang auf, stürzte zu ihren Füßen und umfaßte leidenschaftlich ihre Kniee.

„Ich lebe nur,“ rief er, „weil ich bei Dir bin, Rosalie, und will auch nur leben, um eins sein zu dürfen mit Dir!“

Sie trat von ihm zurück und bedeckte ihre Augen mit der Hand.

„Gott im Himmel,“ sagte sie bebend, „was ist das?! Kenne ich, kennst Du mein Herz noch?“ und dann wieder ließ sie die Hände von ihrem Gesicht sinken, blickte auf Alfred und brach fast wie mit einem Schrei in die Worte aus: „Nein, das ist kein Haß mehr – ich fühl’s, ich liebe ihn!“

In der nächsten Secunde hielt er sie in seinen Armen, bedeckte sie mit seinen flammenden Küssen und stammelte vor Seligkeit trunken ihren Namen. Einen Augenblick lang überließ auch sie sich dem vollen Ausbruch der Leidenschaft, dann aber riß sie sich aus seinen Armen.

„Und nun in dieser Stunde, Alfred,“ sprach sie, „will ich Dir sagen, daß Gott ein Wunder gethan hat an meinem Herzen, denn dies Herz – höre es wohl, Alfred! – dies Herz hat Dich gehaßt bis in den Tod!“

„Rosalie!“ rief er erbleichend.

„Von jener Stunde an,“ fuhr sie fort, „wo Du mich einst verließest, habe ich nur den einen Gedanken, das eine Gebet der Rache gehabt, und nicht fester war ich überzeugt von Gottes Barmherzigkeit, als davon, daß ein Tag kommen würde, der mir die Rache brächte. Nicht ich brauchte sie zu vollziehen! Das Schicksal selbst that es und in jedem Schritt, der Dich dem Verderben näher brachte, erkannte ich seine Fügung. Als ich Dich zuerst an der Spielbank wiedersah, als ich auf eine Karte mit Dir setzte, wußte ich, daß sie gewinnen würde, denn, Alfred, ich spielte um den Einsatz meines Lebens! Und so wollte ich nicht, ich mußte Dir hierher folgen – als Dein Verhängnis!, das sich stumm und sicher vollzog. Heute endlich, heute war der Tag gekommen, wo ich Dich zerschmettern, Dich vor mir im Staube sehen wollte, wie einen Wurm, den ich zertreten durfte!“

Ein Beben flog durch seine Glieder und schüttelte sie wie im Fieber.

„Und nun, Rosalie, und nun?“ fragte er athemlos.

„Als ich Dich niederstürzen sah,“ fuhr sie fort, „Deinen Tod vor Augen hatte, da war mir, als ginge ein plötzlicher Riß durch mein Herz und durch mein ganzes Leben – und nun, Alfred, nun ist mir, als wäre ich selbst gestorben und feierte meine Auferstehung!“

Ihre Augen, welche eben noch in wildem Feuer geglüht hatten, nahmen plötzlich den Ausdruck einer wunderbaren Weichheit an und wie in einer Verklärung stand sie vor Alfred, der hingerissen auf das schöne Weib blickte.

„Ja eine Auferstehung feiern wir Beide,“ rief er, „eine Auferstehung von Zweifel, Irrthum und Sünde! Die Liebe ist unsere Erlösung geworden – sie wird unser Leben sein!“

Er war wieder vor ihr niedergesunken, und während sie sich zu ihm niederbeugte und ihn umfaßt hielt, ruhte sein Kopf an dem Herzen aus, das vor einer Stunde noch von tödlichem Haß gegen ihn erfüllt war. Was kommen, was werden sollte – daran dachten Beide nicht in diesen Augenblicken, so wenig wie an das, was gewesen war. Die Vergangenheit war versunken und die Zukunft hatte keine Macht über sie; für sie war nichts da, als die Gegenwart, die flammende, berauschende, beseligende Gegenwart!

Als er sie spät am Abend verließ, um nach der Stadt zurückzukehren, trat sie wieder wie am Nachmittage auf den Balcon hinaus, und wieder sah er ihre Grüße und dankte ihr mit strahlenden Augen; und als er schon weit entfernt war, sah er noch durch die Dunkelheit das weiße Tuch, womit sie ihn, das letzte Lebewohl zuwinkte. „Bis morgen nur!“ jubelte es in seinem Herzen und „bis morgen!“ sagte auch sie sich, als er ihren Blicken entschwunden war. Es war ein Zauber über Rosalien gekommen, der ihr ganzes Wesen verwandelt hatte.

Sie zählte am folgenden Tage die Stunden, die Minuten, welche sie noch von dem Wiedersehen trennten, und verbrachte sie doch wieder in seliger Erwartung. Da hörte sie plötzlich auf dem Corridor Schritte – hatte ihre Sehnsucht ihn doch früher hergelockt, oder war es seine eigene Ungeduld, die der festgesetzten Stunde vorangeeilt war? Wie es auch kam – sie empfand jubelnd, daß er da war, und sprang auf, um ihm entgegen zu eilen.

In demselben Augenblick öffnete sich die Thür, und erbleichend taumelte sie zurück. Der Eintretende war nicht Alfred.

„Hermann,“ stammelte sie, „was führt Sie zu mir?“

Er blickte sie schmerzlich an: „Sie wissen es, Rosalie!“

„Hermann, Sie sind der Verkünder meines Schicksals! So sagen Sie mir: ist Alfred todt? Ich kenne jetzt kein anderes Unglück!“

„Nein, Rosalie, er ist nicht todt; ich habe ihn verlassen strahlend und glücklich,, in dem siegestrunkenen Bewußtsein, Sie zu lieben, von Ihnen geliebt zu werden!“

Der alte Muth kam ihr zurück, und sie richtete sich hoch auf: „Was er sprach, ist Wahrheit! Das Band, welches einst zerriß, ist neu geknüpft worden, und keine Macht der Welt kann es wieder zerreißen!“

„Sie sprechen im Taumel der Leidenschaft, Rosalie!“

Sie blickte ihn stolz an: „Diese Leidenschaft ist mein Leben geworden und nur mit meinem Leben wird sie enden!“

„Auch Alfred spricht so; aber es giebt noch etwas Höheres als die Leidenschaft.“

„Und was nennen Sie so?“

„Die Liebe, Rosalie!“

„Die Liebe? Sie glauben Sie doch nicht – –“

Er ließ sie nicht ausreden und ergriff ihre beiden Hände. „Ja, ich weiß,“ sagte er, „daß Sie Alfred lieben; aber ich frage Sie: was soll aus Ihrer und seiner Liebe werden, Rosalie?“

„Fragen Sie, was aus der Sonne werden wird, wenn sie scheint?“ entgegnete sie.

„Nein, denn ich weiß – daß sie untergehen muß!“

„Hermann, Ihr Herz kennt keine Liebe!“ schrie sie auf.

Eine Secunde lang ruhten seine Augen mit einem unsäglich traurigen Ausdruck auf ihr; dann aber sagte er:

„Sie sind eine verheirathete Frau, Rosalie.“

„Hermann, um Gottes Barmherzigkeit willen mahnen Sie mich nicht an das Elend meines Lebens! Wissen Sie, daß diese Ehe eine unglückselige war, vom ersten Anbeginn bis auf die heutige Stunde?“

„Dennoch – so groß Ihr Unglück sein mag – Ihre Religion verbietet Ihnen die Scheidung,“ sprach er.

Sie verhüllte ihr Gesicht mit den Händen und es drang ein tiefes Stöhnen aus ihrer Brust.

„Was führte Sie mit dem Manne, dessen Namen Sie tragen, zusammen?“ fragte er nach einer Pause.

„Der Zufall, meine eigene Verlassenheit, vielleicht auch mein trübes Schicksal!“ entgegnete sie. „Wir lernten uns in dem Bade kennen, wohin ich mit der Dame gereist war, zu der Sie mich sandten, als – als ich von Lossau ging. Weil die Welt meine Schönheit pries, bewunderte auch er mich und warb um meine Hand. Ich sagte ihm, daß mein Herz ihm nicht gehöre, ihm nie gehören könne, aber er blieb bei seiner Werbung, und weil ich immer und immer das eine Ziel im Auge hatte und glaubte, es in der neuen Lebensstellung sicherer erreichen zu können, nahm ich seine Anträge an. Eine Zeit lang fesselte ihn noch der Reiz des Besitzes, dann aber, als er sah, daß es bei meinen ausgesprochenen Worten blieb, wurde auch er kälter, suchte Ersatz für seine Enttäuschungen auf Wegen, die ihn auch um meine Achtung brachten, und es kam so weit, daß ich der Stunde fluchte, wo ich sein Weib geworden war. Endlich trennten wir unser Schicksal von einander und ich führe jetzt nur noch seinen Namen.“

Er hatte ihr mit tiefer Bewegung zugehört.

„Rosalie,“ sagte er innig, „es ist noch Rettung möglich für Sie wie für Ihren Gatten! Vergebung vermag den tiefsten Riß zu heilen, die entferntesten Herzen zu vereinigen.“

„Haben Sie denn vergessen, daß für mich nur ein Riß zu heilen war, nur eine Vergebung möglich ist?“ fragte sie fast kalt.

„Und diese Vereinigung verbietet Ihnen die Ehre, Rosalie!“ sagte er plötzlich mit starker Stimme. „Ich selbst verbiete sie als Haupt der Familie Lossau, der zu wachen hat, daß kein unaustilgbarer Flecken an dem reinen Namen haftet. Ein Lossau darf nicht die Hand ausstrecken nach einer Frau, die eines Andern Weib ist!“

[115] Bleich, zitternd, keines Wortes mächtig, sah sie ihn an – und doch war es wieder, als drängen ihre Blicke weit über ihn hinaus und starrten in einen Abgrund von Elend und Verzweiflung. „Das war’s – das war’s – das tödtet mich!“ stammelte sie endlich.

Er faßte ihre Hand und sagte mit milderem Ton: „Rosalie, Ihr und Alfred’s Herz sind mir theurer als mein eigenes und ich erliege fast selbst der Qual, die ich Ihnen bereiten muß, aber so wahr ein Gott im Himmel lebt, ich konnte nicht anders! Sie stehen an einem Abgrund – ich muß Sie retten! An Alfred habe ich mich vergebens gewandt, darum rede ich jetzt zu Ihnen. Ihr Herz ist größer als das seinige – Sie werden mich fassen und mit starker Hand sich selbst und den Geliebten vor dem Verderben schützen!“

„Ja, ich fasse und verstehe Alles!“ murmelte sie, indem sie mit der Hand nach dem Herzen fuhr.

„Rosalie, ich kenne ein edles Mädchen, das ein Recht hat auf Alfred’s Liebe und dessen Herz fast gebrochen ist durch seine Leidenschaft für Sie. Geben Sie die Unglückliche dem Leben, Alfred seiner Ehre wieder!“

Eine Weile kämpfte sie einen furchtbaren Kampf.

„Glauben Sie,“ fragte sie dann, „daß Alfred neben ihr glücklich sein könnte?“

„Ja, Rosalie, es ist meine heilige Ueberzeugung!“

Sie preßte die Hände vor’s Gesicht und athmete schwer; endlich trat sie auf ihn zu und ergriff seine Hand. „Sie haben nicht umsonst gesprochen, Hermann!“ sagte sie.

„Ich wußte es!“ sagte er erschüttert. Dann schwiegen Beide.

„Das Leben behält Ihnen noch eine große Aufgabe vor, an der Ihre starke Seele sich ausrichten wird,“ begann er endlich tröstend.

Nicht ihr Mund, nur ihre Augen vermochten zu fragen.

„Die Rückkehr zu Ihrem Gatten, die Versöhnung mit ihm!“

Sie wendete sich mit Heftigkeit ab. „Nicht das – nicht das! in dieser Stunde nicht das! Gönnen Sie meiner Seele Frieden, daß sie beschließen kann, wie Alles werden soll, mir selbst Einsamkeit!“

Er drückte ihr noch einmal in tiefer Bewegung die Hände und wandte sich dann zum Gehen. Als er schon die Thür erreicht hatte, eilte sie ihm nach, erfaßte seine Hand und sank an ihm nieder.

„O Hermann, Hermann!“ schluchzte sie, „wenn ich doch in Ihrer Hut, in dem stillen Frieden von Lossau geblieben wäre! Mitten in dem Strom der Welt und dein Taumel der Leidenschaft habe ich oft daran gedacht, wie an ein verlornes Paradies. Mein Leben war meine Strafe, daß ich es verlassen hatte! Hermann, haben Sie mir Alles vergeben, was ich Ihnen gethan habe?“

Er war keines Wortes, keiner Erwiderung fähig, aber er legte die Hand auf ihr schönes Haupt, und sie fühlte, daß er sie segnete. – Als sie allein war, kam es wie eine ungeheure Erschöpfung über sie, aus der sie zuerst der Eintritt eines Dieners weckte, welcher ihr einen Brief brachte. Er war von ihrem Gatten. Nachdem sie ihn gelesen hatte, zuckte ein bitteres Lächeln um ihre Lippen und sie murmelte: „Ist es doch fast, als ob das Schicksal selbst Hermann das Wort reden wollte und seinen Vorschlag unterstützte!“

Dann legte sie das Schreiben bei Seite.

Nach einer Stunde etwa erschien Alfred. Mit heftiger Ungeduld eilte er auf die Geliebte zu und schloß sie leidenschaftlich in seine Arme. Sie widerstrebte nicht, aber sie erwiderte auch nicht seine Liebkosungen, sie sah ihm nur mit unsäglicher Zärtlichkeit in die Augen. Dennoch kam ihm ihr ganzes Wesen verändert vor.

„Ist Hermann hier gewesen?“ fragte er unruhig.

„Ja, Alfred!“

Seine Stirn runzelte sich: „Er war gestern während meiner Abwesenheit angelangt; – ich konnte ihn nicht zurückhalten! Sein strenger Sinn vermag unsere Liebe nicht zu begreifen, aber auch nicht zu erschüttern, nicht wahr, Rosalie?“

„Nein, er hat sie nicht erschüttert!“ sagte sie.

„Aber er hat Dich mit Warnungen, mit Vorstellungen gequält?“ fuhr er besorgt fort, „unmögliche Forderungen an Dich gestellt?“

„Er verlangte, ich solle zu meinem Gatten zurückkehren, Versöhnung mit ihm suchen.“

Alfred stieß einen Laut der Entrüstung aus.

„Und hier,“ fuhr sie fort, „hier ist ein Brief von meinem Gatten selbst, der das Nämliche von mir fordert. Seine Familie, er selbst wünscht, daß dem Eclat unserer Trennung ein Ende gemacht werden möge, und verspricht alles Mögliche, wenn auch ich das Vergangene vergessen wolle.“

„Und Du, Rosalie, und Du?“

Sie trat zu dem Tische, worauf der Brief lag, nahm ihn in die Hand und zerriß ihn.

„Das ist meine Antwort!“ sprach sie.

Entzückt schloß er sie in seine Arme. „Ich wußte es, Rosalie, daß Du mir jetzt angehörst bis in den Tod!“ rief er.

„Bis in den Tod!“ wiederholte sie, indem sie ihn leidenschaftlich umfing.

Mit dem ganzen Feuer ihrer Natur gab sie sich nun noch einmal dem Beisammensein mit dem Geliebten hin. Alles schien vergessen zu sein, was sie kaum noch bedrängt und beängstigt hatte, und sie riß auch Alfred zu einer gleichen Trunkenheit hin: er wußte nicht mehr, ob er Stunden in Minuten, oder Minuten in Stunden gelebt hatte.

Endlich aber sagte Rosalie plötzlich: „Nun laß uns Abschied nehmen, Alfred! Du mußt zur Stadt zurück und ich – muß allein sein!“

Wie er auch bat, sie drängte ihn zum Gehen, und er sah sich gezwungen, sie zu verlassen; doch wie gestern tröstete er sich mit dem Abschiedswort: „Bis morgen nur!“

Das Wort wiederholte sie heute nicht, doch wie gestern stand sie und sah ihm lange nach, als er auf dem Wege dahinschritt; und als er ihren Blicken entschwand, sprach sie mit ihrer tiefen und doch so wunderbar weich klingenden Stimme:

„Adios Alfredo!“ – Dann ging sie in ihr Zimmer zurück und sagte ihrem Diener, daß sie für den Rest des Abends ungestört bleiben wollte.

In später Stunde schellte sie ihm noch einmal und übergab ihm ein Billet, das in der Frühe des nächsten Morgens zur Stadt gebracht werden sollte; es war an Hermann von Lossau gerichtet. Darauf legte sie sich zur Ruhe.

Zu der von ihr bestimmten Stunde empfing Hermann am folgenden Tage den Brief. Er enthielt nur die Zeilen:

„Hermann, ich halte mein Versprechen – aber ich sterbe daran! Gott mag mir vergeben: ich kann nicht anders! Ich fühle es wie meine arme Mutter, daß ohne Liebe kein Leben mehr ist. Mein Tod macht Alfred frei; – auf Ihre Seele lege ich die Verantwortung für sein Glück. Mein letztes Gebet wird ein Segenswunsch für Sie sein. Rosalie.“

Als Hermann die Worte überflogen hatte, überfiel ihn ein namenloser Schrecken und eine tödtliche Angst trieb ihn nach der Villa, die er in der kürzesten Zeit erreichte.

Schon beim Ueberschreiten der Schwelle bemerkte er das erschrockene Hin- und Hereilen der Diener, begegnete überall verstörten Gesichtern und kaum vermochte er die Frage nach der Herrin des Hauses hervorzubringen, kaum zu begreifen, was ihm erst allmählich aus den verworrenen Antworten klar wurde. - Man hatte heute früh die Baronin auf ihrem Lager todt gefunden, wahrscheinlich war sie an einem Herzkrampf gestorben, woran sie in letzter Zeit häufig gelitten habe. Die weinende Gesellschafterin fügte hinzu, daß man neben ihrem Bette ein leeres Opiumfläschchen gefunden habe, was darauf deute, daß sie in der Nacht von jenem Leiden befallen, worden sei und das gewöhnlich gebrauchte Mittel selbst angewandt habe.

Hermann mußte sich an die Mauer lehnen, um nicht umzusinken. Dann forderte er, sie zu sehen, und man ließ ihn in das Gemach treten, wo sie auf ihrem Bett lag, bleich, ruhig und wunderbar schön. Kein Zug des Schmerzes, des Kummers entstellte das Gesicht, welches von einem fast glücklichen Lächeln verklärt war. Seine ganze Festigkeit und Mannheit brach zusammen vor diesem Anblick, und mit einem Aufschrei unendlichen Jammers sank er an dem Lager nieder. Dort lag er lange in heißem Gebet und in Thränen; dann stand er auf, deckte leise ein Tuch über das Gesicht der Todten und ging hinaus zu den Dienern, denen er sagte, daß er ein Freund der Verstorbenen sei und als solcher für alles Nöthige sorgen, alle traurigen Pflichten übernehmen würde. Auch dem Arzt, nach dem man in der ersten Verwirrung, als man sich noch nicht von ihrem Tode überzeugen mochte, geschickt hatte, ging er entgegen und sagte ihm, daß seine Hülfe zu spät sei.

Alfred war außer sich, als er die Nachricht erfuhr, die Hermann selbst ihm brachte, indem er dabei der Auslegung der Dienerschaft folgte; seine Verzweiflung grenzenlos.

„O, wer jetzt sterben könnte, sterben wie sie!“ rief er aus; „der Tod ist eine Wollust!“

[116] „Aber das Leben eine hohe, heilige Aufgabe,“ sagte Hermann ernst, „die jetzt ihren Mann an Dir fordert. Denke daran, was Du einem edlen Herzen schuldig bist!“

„Helene!“ rief Alfred schmerzlich. „Wie kann sie mir, wie kann ich ihr noch angehören?“

„Sie trägt eine große Liebe im Herzen, und, Alfred, die verzeiht und überwindet viel. Gelobe mir, daß ihre Liebe nicht ihr Unglück werden soll.“

Alfred sah seinem Bruder lange in die ernsten Augen, dann legte er langsam, aber entschlossen seine Hand in die Hermann’s: „Ich gelobe es Dir!“ sprach er tonlos.

Als Hermann seine Aufgabe erfüllt sah, als er der Wiedervereinigung Alfred’s mit Helenen gewiß war, kehrte er auf sein stilles Gut zurück. Wirken, schaffen und für das Wohl Anderer zu sorgen, war ihm Bedürfniß und das einzige Heilmittel für seine Seele.

Die gewohnte Ruhe und Fassung, selbst eine gewisse äußere Heiterkeit fand er wieder, aber in seinem Herzen verstummte nie eine Stimme, welche ihm zuflüsterte: „Sie war das Licht Deines Lebens!“




Welchem der beiden Gedichte gebührt der Preis?[1]


Entsagung und Trost.

Geträumt hab’ ich in meiner jungen Zeit
Von Trommelwirbeln, von Trompetenschall,
Von Schwerterklirren und von Büchsenknall,
Von Heldenthum und von Unsterblichkeit;
Und fieberkrank erhob ich meine Hand,
Um Kränze von dem Baum des Ruhms zu pflücken,
Nach Thaten brannte ich, um in den Sand
Der Zeit für ewig meine Spur zu drücken.

Nach fremden Zonen trieb es mich zu geh’n,
Die Berge dünkten mir zu Haus zu flach,
Zu eng die Thäler und der Rhein ein Bach;
Ich wollte Alpen, Meer und Welten seh’n,
Trotz bieten wollt’ ich Stürmen und Orkan,
Der Tropen Pracht mit eignen Augen schauen,
Gen Westen zieh’n in’s neue Canaan
Und am Ohio Mais und Weizen bauen.

Und überall, wohin ich ging und kam,
Fand ich ein Weh; so einsam lag kein Land,
Daß nicht den Weg zu ihm die Sorge fand,
Und wo kein Baum gedieh, gedieh noch Gram.
Und magst Du zieh’n nach Süd und Nord,
Gen Ost und West, nach allen Winden,
So wirst Du stets dasselbe Losungswort,
Die Arbeit und des Lebens Mühsal finden.

Dasselbe Kämpfen um Dein täglich Brod,
Das sich nicht lohnt so schwer verdient zu sein,
Erwartet Dich am Hudson wie am Rhein,
Ihr Bürgerrecht hat überall die Noth.
Und häufst Du auch durch langer Jahre Fleiß
Reichthümer auf, – wo ist für ganze Haufen
Von Gold ein Arzt, der Dir ein Mittel weiß,
Nur einen Jugendtag zurückzukaufen?

Zwar darf’s Dich reizen, auf dem rauhen Pfad
Des Ruhms zu wandeln, der Vergessenheit
Ein Denkmal und ein ewig Lob dem Neid
Ab zu ertrotzen durch berühmte That;
Doch Deinem Ehrgeiz, Deiner Ruhmbegier
Wird bald aus Ueberdruß der Flügel sinken,
Wenn Du die Thoren anblickst, die mit Dir
Sich bücken, um Unsterblichkeit zu trinken.

Und war Dir sonst ein Königreich zu klein,
So reicht gar bald ein Acker Landes hin,
Ein schützend Dach, ein Scheit in dem Kamin,
Ein Weib und Kind, um glücklicher zu sein
Als ein Tyrann, deß Launen über Draht
Bis an die Grenzen eines Erdtheils eilen,
Dem doch zuletzt kein dienender Senat
Beschließen kann, ihn von dem Tod zu heilen.

Drückt Dich auch oft und beugt Dich Deine Last,
Und wird es Dir um’s Herz verzagt und bang,
So tröste Dich: Das Leben ist nicht lang
Und kurz der Pfad, den Du zu wandeln hast;
Dann kommt der Tod, er klopft an Deinem Thor,
Wie er gethan am Thore Deiner Väter;
Er kommt Dir wie ein alter Hausfreund vor,
Besuchen wird er Deine Kinder später.

Er spricht zu Dir: „Mein Freund, Du hast geträumt,
Gestritten und gesorgt, – es ist jetzt Zeit,
Um auszuruh’n, Dein Ruhbett ist bereit,
Ein einsam Haus hab’ ich Dir eingeräumt!“
Du horchst und hauchst den Athem in den Wind.
Ob Gras Dein Grab bedeckt, ob Marmorplatten,
Es steht darauf geschrieben: Eitel sind
Die Dinge – und das Leben blos ein Schatten.

Konrad Krez in Steboygan,
Staat Wisconsin in Nordamerika.


Ein Menschenherz.

In ein verlass’nes Zimmer trat ich jüngst,
Das schon seit Jahren keines Menschen Fuß
Berührt, auch meiner nicht. Dumpf war die Luft,
Wie Grabeshauch; durch blinde Scheiben fiel
Das Licht des Tages matt und bleich herein,
Mißfarb’ge Ringe malend an der Wand,
Dran der Tapete Zierrath längst erblaßt,
Und dichter Staub, der Moder alter Zeit,
Wie Asche lag auf Teppich, Stuhl und Tisch …

Unheimlich war es in dem öden Raum,
Und dennoch traf es mich wie Frühlingshauch,
Wie Duft im Mai, wenn junge Rosen blüh’n!
Denn einst in dieses schweigsame Gemach
Aus dem Gewühl des Lebens flüchtet’ ich,
Um hier im Arm der Liebe auszuruh’n.
O, welche Küsse wurden hier getauscht,
Welch süßes Flüstern klang durch diese Stille,
Wie Lied der Nachtigallen, das, leisathmend,
In’s heil’ge Schweigen sich der Nacht verliert!
Ja wohl, das sind dieselben Kissen noch,
Auf denen einst die Liebste sich gewiegt,
Wenn sie mit weichen Armen mich umschlang,
Der Spiegel das, verwittert und umflort,
Der einst ihr Bildniß mir zurückgestrahlt
In ihrer Lockenfülle goldner Pracht,
Und hier, o Gott, hier ist ja noch die Uhr,
Auf schwankem Bronzesockel abgestellt,
Die einst mir meines Glückes Stunde wies! …

Und wie ich jetzt der Uhr mich nähern will,
Den rostzernagten Zeiger zu betrachten,
Und wie mein Fuß mit ungewissem Schritt
Den morschen Estrich rührt, daß Staub aufwirbelnd
Zur Decke steigt –
Da plötzlich regt sich’s in der todten Uhr,
Der Pendel bebt in leisen Schwingungen,
Ein ächzend Dröhnen geht durch das Gehäus,
Die Räder stöhnen, o so mild, so müd,
Wie Todesseufzer einer kranken Brust,
Und leise, leise pickt die Uhr, ein, zwei,
Dreimal – und wieder steht sie still …

Und ich gedachte an ein Menschenherz,
Das, wenn der Lenz des Lebens abgeblüht,
In dumpfer Stille jahrelang verharrt,
Unstörbar, gleich der abgelaufnen Uhr;
Doch naht Erinn’rung alter Zeiten sich
Mit schwankem Fuß und deckt die Gräber auf
Vergang’ner Wonnen, dann noch einmal pocht es
In grimmem Schmerz, ein, zwei, dreimal, und steht
Dann still auf ewig …

Robert Prutz
in Stettin.
[117]

Der Edelmarder auf der Jagd.
Originalzeichnung von C. Deiker.

[118]

Charaktere aus der Thierwelt.

Von Gebrüder Adolf und Karl Müller.
2. Der Edelmarder.

Der erste Schnee („eine Neue“), ist während einer Novembernacht gefallen und deckt durchschnittlich einen viertel Fuß das Feld. Rasch, ehe die Sonne auf den Lichtungen des Waldes und auf Aesten und Zweigen der Bäume ihn bei dieser geringen Kälte schmilzt, hinaus und hinauf in die stillen Waldberge, an die steilen, felsigen Abhänge, in die Schluchten, den Ufern der Forellenbäche entlang, um die jungen Fichten- und Kiefernhegen herum, kreuz und quer durch den Hochwald und über Haidestriche oder über Waldwiesen drunten im Thal; ja, hinaus in den Wald, um dem schlauesten, gewandtesten und mörderischsten, aber auch zugleich schönsten Mitgliede der Marderarten, dem werthvollen Edelmarder, nachzuspüren. Wir kennen seine Künste, die ihn Mißtrauen und Vorsicht auf seinem Heimgang vor Tagesanbruch gelehrt haben, und rüsten uns darum zur ausdauernden und mühsamen Verfolgung. Ein guter Steiger, mit Handbeil und Baumsäge versehen, an der Leine den scharfen „Caro“ führend, begleitet uns. Bald nimmt uns der Wald in seinen stillen Dämmerkreis auf, und wir entwerfen den Plan für die beginnende Suche. Wir umkreisen Hügelgruppen und Dichtungen, spüren Waldwege und Wiesengründe ab.

In einer tiefen Schlucht, hart am Rande des unter Wurzeln und Gestein rieselnden Bächleins, entdeckte der sichere Blick des Steigers die Spur des Edelmarders. Leuchtenden Blickes deutete er auf die deutlichen Abdrücke der leicht behaarten Sohlen. Wir folgten rasch, denn so lange keine Dickung berührt wird oder der Marder nicht „gebaumt“ ist, haben wir keine Schwierigkeiten vor uns; sorgfältig traten wir jedoch die Spuren zur Controle aus oder, um mit dem Jäger zu reden, wir „gingen sie aus“. Bald verlor sich die Spur in einer Fichtendickung. Anstatt in diese einzudringen, umkreisten wir sie und nahmen die Spur jenseits oder abseits, wo sie wieder zu Tag trat, von Neuem auf. In das Stangenholz führend, verschwand sie uns mit einemmal. Jetzt hieß es: aufgepaßt! Die Stauden wurden genau untersucht und weiterhin ward der Schnee am Boden geprüft, bis wir den durch die Sprünge des Marders in kleinen Bällchen abgefallenen Schnee wahrgenommen hatten und von diesem Merkzeichen uns leiten ließen. Wir legten so eine Strecke von nahezu dreihundert Schritten zurück. Plötzlich sahen wir uns außer Stand gesetzt, das untrügliche Zeichen der von dem Marder eingehaltenen Richtung wahrzunehmen. Wir hielten schärfere Umschau und siehe da, es fielen uns einige Bröckchen Erde und Reisig auf der blendenden Schneedecke in die Augen. In ahnungsvoller Hoffnung blickten wir empor, und richtig! droben in einer Höhe von dreißig Fuß stand gerade über dem verrätherischen Merkmal ein Eichhornnest, in welchem unfehlbar der überlistete Schlaukopf sein Tagesschläfchen hielt. Einige Schläge wider den Stamm der jungen Buche weckten und trieben den Schläfer aus. Mit geschwungenem Schwanz sprang er in eiligen Sätzen von Ast zu Ast empor. Wahrlich, ein schöner Anblick! Ganz anders nehmen sich hier im Freien die schlangenartigen Windungen des wieselartigen, beinahe zwei Fuß langen Körpers und die gewaltigen, energischen, mit Sicherheit auch auf die kleineren Aeste ausgeführten Bogensätze aus, als in den engen Behältern der zoologischen Gärten die beschränkten Bewegungen nach rechts und links.

Man sieht es dem Flüchtling an, wie sehr ihm im luftigen Bereich des Gezweiges nicht blos seine Kletterfähigkeit, sondern auch der rasche Ueberblick zu Statten kommt. Wo ein Büschel dürren Laubes hängt, sucht er sich vor dem feindlichen Auge zu verbergen; wo der Ast einen Knorren hat, drückt und kauert er sich nieder. Und wenn er gar, einmal aufgescheucht, ein Astloch erreicht, in das er sich einzwängen kann, so bleibt er darin hocken, bis das Beil oder die Säge ihn an das Tageslicht fördert. Ein muthiger Steiger mußte einst zwei in einem und demselben Astloch steckende Edelmarder an den Schwänzen fassen und herausziehen. Den ersten warf er zu Boden, damit die drei unter dem Baum anstehenden Schützen Gelegenheit fänden, ihre Kunst zu erproben, und als diese sämmtlich ihn gefehlt hatten, zog er den zweiten hervor, schwang ihn, um seinen Kopf und schlug ihn gegen den Stamm, daß ihm Hören und Sehen verging.

In unserem Falle nun bedürfen wir keiner weiteren künstlichen Mittel, sondern schießen den Flüchtling entweder im Klettern oder den sich nach Rettungswegen umsehenden Stillsitzenden vom Baum herunter. Springt er nach dem Sturz als Angeschossener noch fort, so fängt und würgt ihn der Hund.

So leichtes Spiel, wie diesmal, haben wir aber nicht immer. Oft reicht aller Jägerscharfsinn nicht aus, um den sogenannte „Widergänge“ machenden und sehr weite Strecken fortbaumenden Edelmarder zu entdecken. Einst standen wir unter einer alten Eiche, nachdem der Marder ausgehauen und erlegt war, und konnten uns nicht erklären, wie er auf den Baum gekommen sein mochte, da die Spur acht Schritte vom Stamm entfernt endigte und die Eiche auf einer großen Blöße stand. Endlich lösten wir das Räthsel. Der Schlaue hatte, um Aufsehen zu vermeiden, den schwierigeren, aber ungewöhnlichen Weg eingeschlagen, indem er vom Boden auf einen herabhängenden Zweig gesprungen und dann dem hohlen Aste zu geklettert war. Auf der höchsten Stufe der Gewandtheit, Kraft und Ausdauer zeigt sich der Edelmarder bei der Verfolgung des Eichhörnchens.

Wir stiegen abermals in das Gebirg, in die schweigsame Nacht einer Nadelwaldung. Aber jetzt lag kein Schnee, sondern der Mai hatte bereits alle seine Pracht entfaltet. Auch die den Schwarzwald gleichsam wie helle Luftgeister begleitenden Lärchenbäume zierte die ganze Entfaltung ihres jungen lachenden Grüns. Ihre dunklen Schwestern, die Edeltannen und Fichten, waren eben erst im Ausbruch ihrer neuen Kreuztriebe begriffen. Doch, was fiel hier von dem Lärchenbaume herab? Es ist ein junger Blüthentrieb, der zu andern auf dem Boden zerstreuten Lärchen- und Fichtenzweigen herabgefallen ist. Was bedeutet das? Da fiel wieder einer zu unseren Füßen – und sieh! nun traf’s uns von oben auf Kopf und Rücken, als würfen Elfen uns um und um, wie einst das Gefolge des Ritters „Harald“, wie es unser großer Dichter Uhland so schön besingt. Aber wir, im Panzer der Nüchternheit des neunzehnten Jahrhunderts, sind gegen allen Elfen- und Nixenzauber gefeit und entdeckten die Geister alsbald über uns in Form unserer ebenso niedlichen wie schädlichen Waldteufelchen Eichhörnchen. Ein Pärchen war da droben emsig beschäftigt, junge Blüthen und Nadeltriebe der äußeren Zweige zeitweilig mit ihren händeartigen Vorderfüßen auf ihren Ast zu holen, Affen gleich in sitzender Stellung das Zarteste zu fressen und das Andere in kindischer Sorglosigkeit herabzuwerfen.

Im Verborgenen aber hatte ein Edelmarder das Eichhornpaar von einer benachbarten Fichte aus beschlichen und fuhr eben mit einem Satze zwischen die begierig Tafelnden. Welch’ ein Schreck ergriff diese! Sie warfen sich grunzend und pfeifend vor unseren erstaunten Augen die bedeutende Höhe von siebenzig und mehr Fuß kopfüber von Ast zu Ast herab bis zur Erde; der Marder ihnen nach. Die Verfolgten theilten sich, das eine diesen, das andere jenen Stamm hinauf. Eines ersah sich der Verfolger zum Opfer aus, denn ein Eichhörnchen ist dem Edelmarder ein Leckerbissen. Auf Tod und Leben ging nun die Hatze Baum auf Baum ab; hier über uns hinweg über eine Reihe Wipfel, dort ringelförmig um die Stämme herum. Alles versuchte das geängstigte Thierchen: es entwickelte seine ganze Behendigkeit, die ihm der außerordentliche Bau seiner Schlüsselbeine und Kletterfüße mit den stets feuchten Sohlen giebt; es gebrauchte den Fächerschwanz wie ein Segel und Ruder der Luft, sich von den höchsten Aesten herab zur Erde stürzend – Alles vergebens.

Der Marder, wenn auch nicht so behende, doch durch überwiegende Kraft und Ausdauer des ausnehmend starten Muskelbaues seiner Läufe unterstützt, folgte unermüdet, ja mit immer teuflisch zunehmender Gewalt dem gejagten Opfer. Schon schien dessen Schnellkraft abzunehmen – die Sprünge wurden seltener, das Aufraffen nach einem niedergehenden Satze war nicht so plötzlich mehr, der Abstand bei einem aufwärtsgehenden wurde kürzer, schwerfälliger – immer kleiner ward der Raum zwischen Marder und Eichhörnchen, dessen Herzschlag der unsere gleichsam begleitete. Meistere deine Angst menschlicher Leser! Auch wir fühlten, was du fühlst; längst schon [119] nahmen wir Partei für das verfolgte Thierchen. Noch einen Augenblick Stille! – Sieh’, nun erreichte das Eichhorn den ausgelichteten Theil eines Tannenschlags. Dort standen die Bäume in weiten Abständen von einander. Jetzt erfolgte von einer Randtanne ein Sprung wahrer Todesangst. Bravo, er ist ihm glücklich auf die Zweigspitze der nächsten Tanne im Lichten gelungen – der nacheilende Marder springt zu kurz und muß nun, zur Erde gefallen, von unten den Baum hinauf. Das Eichhorn aber war bereits auf dem Wipfel der Tanne angelangt und warf sich mit einem zweiten, ihm von oben leichter fallenden Sprunge auf den zweiten Baum. Aber nun schnitt unser lautes „Hallo!“ den Räuber plötzlich von seiner Verfolgung ab; überrascht drückte er sich auf einen Tannenast regungslos hin, uns mit seinen Spitzbubenaugen anblinzend. –

Nun könnten wir durch ein „Gespenst“, das heißt durch ein Kleidungsstück über einem unweit des Baumes aufgepflanzten Stocke, den Marder auf seinen Baum bannen, um ein Jagdgewehr zu holen und ihn herunter zu schießen, wenn wir den in gar manchen Naturgeschichten eingeschlichenen Fabeln abergläubisch Gehör geben wollten. Allein ganz abgesehen von unserer Erfahrung, welche dies Mittel als erfolglos erkannt, schonten wir den Marder, weil wir wußten, daß er in irgend einer hohlen Eiche oder in einem alten Neste eines Eichhorns, einer Elster oder eines Raubvogels seine Jungen zu versorgen hat. Freilich ist’s wahr, daß er keine Gnade verdient, denn er ist ein durchaus schädlicher Lauerer, Schleicher und Mörder.

In der Abenddämmerung und im Dunkel der Nacht verfolgt er hauptsächlich die Schleichwege mit der seiner Art eigenen List. Sobald das wache Auge und die sichernde Nase am Rande des Astlochs oder des Nestes die Gegend sicher befunden, beginnt das Spähen, Lauschen und „Winden“ nach schlummernden Vögeln und deren Nestern. Leise und vorsichtig bewegt er sich auf den Aesten hin und naht sich der schlummernden Taube auf Sprungweite, dann fährt er mit wohlgezieltem Satz zu, packt den Vogel und hält sich oft nur mit einer Pfote noch am Gezweig, um den Sturz in die Tiefe zu vermeiden, der ihm übrigens nicht schadet, weil er entweder unterwegs ein Aestchen fängt oder unten mit den Füßen aufspringt.

Ein andermal hat er den Wechsel der alten „Geis“ mit dem „Kitzchen“ ausgespürt, oder er sieht sie unter sich vertraut sich „äßen“. Unbemerkt schleicht er von Ast zu Ast und fährt wie ein Blitz aus heiterer Höhe dem ahnungslosen Kitzchen in den Nacken, um es zu würgen. Ein Schrei, ein plötzliches Zusammenbrechen des erschreckten Thierchens, das Herbeieilen der Mutter, die vergebens ihre Vorderläufe zum Prügeln und zur Abwehr des Mörders gebrauchen würde, weil ihr Junges sie hindert, das Davonrennen des sich aufraffenden Kitzchens, wenn es stark genug dazu ist, sein Hinstürzen und Verenden – alles Dies geschieht in unablässiger Folge. Aeltere Rehe dagegen, die im Winter zuweilen von dem hungrigen Edelmarder überlistet werden, tragen den Festgebissenen weite Strecken mit sich fort, schütteln ihn ab, indem sie ihm ein Stück Haut ihres Nackens oder Halses lassen, oder der Reiter springt aus erregter Furcht bei längerer Dauer des Rittes von selbst ab und verzichtet auf die Beute.

Neben dem Blutdurst spielen Jähzorn und Eifersucht im Leben des Edelmarders eine bedeutende Rolle. Ende Januars und im Februar, wo gewöhnlich mehrere Männchen um die Gunst des Weibchens werben und seiner Spur nachschnüffeln, finden heiße Kämpfe statt. Die Männchen stürmen wüthend auf einander ein, schlagen mit den Vordertatzen, beißen schreiend gleich den Steinmardern um die Wette, daß die Wollfetzen und Haare davonfliegen. Der Besiegte eilt plötzlich in hastiger Flucht davon, noch eine Strecke von dem Sieger verfolgt; hierauf kehrt dieser zu dem Weibchen zurück und wird huldvoll empfangen, während jener sich begnügen muß, in respectvoller Entfernung den Schmerz seiner Niederlage und den noch größeren der Entsagung zu verwinden, und endlich sich entschließt, anderwärts als ritterlicher Freier und Kämpe aufzutreten. Bei gleicher Stärke der Männchen dauern indeß die Kämpfe lange und wiederholen sich allnächtlich. Das Weibchen sitzt oft lange zwischen den sich gegenseitig fürchtenden und den ernstlichen Zusammenstoß meidenden Männchen. Nähert sich der eine Bewerber, so hält ihn der andere durch eine Drohung oder einen herausfordernden Sprung im Schach, bis die Eifersucht sie zu entscheidendem Kampfe zwingt. Es ist Thatsache, daß die Eifersucht sie Hunger leiden und die Raubgier beherrschen lehrt. In mondhellen Nächten überzeugt man sich von ihrer Ausdauer in Liebeshändeln.

Freilich angenehmer ist der Beobachtungsstand bei stillem Sommerwetter in der Nähe des Edelmardernestes, wenn man das anmuthige Familienleben beschauen will, das sich vor unseren Blicken entfaltet und ein Gegenstück zu dem Familienleben der weißkehligen Vettern und Basen der Edelmarder, nämlich der Steinmarder, bildet, welches letztere die Gartenlaube vielleicht in einem spätern Artikel zu schildern gedenkt.

Adolf Müller.


Zum Wohle des Schulkindes.

Lebensluft spendende Zimmerpflanzen.

Kohlensäure heißt eine farblose Luftart, welche das Leben und die Gesundheit des Menschen sehr bedeutend schädigen kann. Dies ist zumal dann der Fall, wenn sie in größerer Menge in die Lungen eindringt oder sich im Blute anhäuft. Ja sie kann, indem sie beim Einathmen ein krampfhaftes Zusammenziehen des Kehlkopfes bewirkt, schnellen Tod durch Ersticken veranlassen.

Die Kohlensäure ist aus zwei Stoffen, aus Kohlenstoff und Sauerstoff, zusammengesetzt und bildet sich vorzugsweise beim Verbrennen kohlenstoffhaltiger Substanzen, und zwar ebenso beim schnellen Verbrennen mit Lichtentwickelung (wie im Ofen), als auch bei langsamen, fast unmerklichen Verbrennungsprocessen (wie bei der Fäulniß und Gährung). Auch innerhalb unseres Körpers, und zwar im Blute, wird immerfort, in Folge von Verbrennung guter brauchbarer und schlechter unbrauchbarer Stoffe, Kohlensäure erzeugt. Damit diese nun in unserem Blute sich nicht in solcher Menge anhäuft, daß sie der Gesundheit schadet, wird sie fortwährend an mehreren Stellen des Körpers durch bestimmte Organe aus dem Blute entfernt. Dies geschieht vorzugsweise in den Lungen und durch die Haut. Beim Ausathmen und mittels der Hautausdünstung wird demnach unser Blut von der schädlichen Kohlensäure befreit. Wenn also viele Menschen längere Zeit in einem geschlossenen Raume beisammen sind, so muß natürlich die Luft in demselben immer reicher an Kohlensäure, dadurch die Luft verschlechtert und zum Athmen immer untauglicher werden. Wird nun gar noch in diesem von Menschen erfüllten Raume Etwas verbrannt (z. B. Kohlen oder Holz im Ofen, Lichte), so steigert sich die Kohlensäurebildung immer mehr.

Daß in Schulen, zumal im Winter und bei Ueberfüllung des Locals mit Schülern, viel Kohlensäure entwickelt wird und daß deshalb die Schule, wenn sich hier dieses giftige Gas in widernatürlicher Menge anhäuft, die Schuld am Krankwerden der Schüler tragen kann, ist wohl nicht zu bezweifeln. Daß sodann die baldige Entfernung der Kohlensäure aus den Schulstuben eine unerläßliche Pflicht ist, dürfte ebenfalls klar sein.

Sowie nun das Einathmen von Kohlensäure dem Menschen verderblich ist, so kann er ohne Einathmen einer andern Luftart gar nicht leben, und diese ist der Sauerstoff oder die Lebensluft. Es befindet sich dieses zum Leben ganz unentbehrliche farblose Gas in der atmosphärischen Luft und wird mit Hülfe des Athmens in unsere Lungen geschafft. Hier tritt dasselbe in’s Blut ein und strömt mit diesem nach allen Theilen des Körpers hin, um brauchbare und unbrauchbare Blutbestandtheile zu verbrennen (wobei sich Wärme und Kohlensäure entwickelt). Innerhalb der Lungen geschieht also Zweierlei: ein Theil der Lebensluft, welche sich in der eingeathmeten atmosphärischen Luft befindet, tritt in den Blutstrom ein; dafür tritt aber ein Theil der Kohlensäure aus dem Blutstrome heraus in die Lungenbläschen und wird ausgeathmet. Sonach muß also die ausgeathmete Luft weniger Sauerstoff und weit mehr Kohlensäure enthalten, als die eingeathmete.

[120] Die Pflanze steht zum Sauerstoffe und zur Kohlensäure in einem solchen Verhältnisse, daß daraus dem Menschen der allergrößte Vortheil erwächst. Denn ohne die Pflanzen könnten wir Menschen gar nicht leben; sie liefern uns nämlich die unentbehrliche Lebensluft und schaffen zugleich die für uns verderbliche Kohlensäure weg. Dies thun sie aber dadurch, daß sie die Kohlensäure aufnehmen und zerlegen. Wie oben schon gesagt wurde, besteht nun aber die Kohlensäure aus Kohlenstoff und Sauerstoff, beim Zerlegen derselben durch die Pflanze werden also diese beiden Stoffe von einander getrennt. Der freigewordene Sauerstoff dringt in die atmosphärische Luft und macht diese so für den Menschen athembar; den Kohlenstoff dagegen behält die Pflanze für sich und verbraucht denselben zu ihrem Aufbaue.

Aber nicht alle Pflanzentheile haben die Fähigkeit, die Kohlensäure zu zerlegen und uns Menschen Sauerstoff zu liefern. Auch findet diese Zerlegung nicht zu allen Tageszeiten statt. – Nur die grünen Pflanzentheile, also hauptsächlich die Blätter, sind im Stande den Sauerstoff aus der Kohlensäure zu entwickeln, und dies können sie auch nur am Tage, mit Hülfe des Sonnenlichts. Es ist diese Entwickelung von Sauerstoff sehr leicht zu beobachten: man braucht nur grüne Blätter von Pflanzen mit frischem Wasser zu übergießen und dem Sonnenlichte auszusetzen. Sie bedecken sich dann mit zahllosen Gasbläschen, und diese bestehen aus Sauerstoff. – Im Dunkeln geben dagegen die grünen Pflanzentheile Kohlensäure anstatt des Sauerstoffs von sich. Blüthen, Früchte und Wurzeln liefern stets, auch im Lichte, Kohlensäure. Pflanzen in Schlafzimmern sind also stets nachtheilig, mögen sie blühen oder nicht. Dagegen müssen Blattpflanzen im Wohnzimmer wegen ihrer Sauerstofferzeugung von Vortheil für den täglichen Bewohner des Zimmers sein. – Sonach wirkt jeder nachtheiligen Anhäufung von Kohlensäure in der Atmosphäre (durch das Athmen der Menschen und Thiere) die Pflanze vermöge ihrer zersetzenden Wirkung, welche das Blattgrün (Chlorophyll) bei Tage auf die Kohlensäure ausübt, entgegen.

Diese Fähigkeit der Pflanze könnte nun recht gut, wie ich meine, zum Vortheil derjenigen Menschen angewendet werden, die sich in größerer Anzahl täglich längere Zeit in einem geschlossenen Locale aufhalten und eine mit Kohlensäure reichlich geschwängerte Luft athmen müssen. Ganz besonders dürfte sich für Schulen, welche zur Zeit meist mit Schülern überfüllt sind, außer gehöriger Ventilation, die Aufstellung von Blattpflanzen in den Schulstuben empfehlen. Man bedenke, wie viele Zeit seines Lebens der Mensch in der Schule verlebt, und zwar gerade zu einer Zeit, wo er zur Entwickelung seines Körpers neben kräftiger Nahrung die beste Luft bedarf. – Auch die aufgestellten Pflanzen würden sich, ebenso wie die Schüler, in der Schule recht wohl befinden. Sie könnten sich aus der großen Menge ausgeathmeter und ausgeschwitzter Kohlensäure eine hübsche Portion Kohlenstoff zu ihrem Gedeihen zu Gemüthe ziehen und dafür die Schüler reichlich mit Lebensluft bedenken.

Pflanzen in den Schulstuben, und überhaupt in bewohnten Räumen, könnten aber außer zu dem genannten Hauptzwecke (nämlich die schädliche Kohlensäure zu entfernen und Sauerstoff zu liefern) auch noch zu einigen Nebenzwecken dienen. Zuvörderst wirkt wohl auf die meisten Menschen, und sicherlich auch auf die Lehrer und Schüler, die Nähe von hübschen, gut gedeihenden Pflanzen angenehm-gemüthlich ein. – Sodann ließen sich die Pflanzen vom Lehrer auch zeitweilig zum Anschauungsunterrichte, ebenso in den niederen wie in den höheren Classen, benutzen. Die verschiedenartige Entwickelung der Blätter, die Gestaltung und Färbung derselben, das allmähliche Wachsthum der ganzen Pflanze etc. wird sicherlich das Interesse der Kinder erregen, wenn sie vom Lehrer darauf aufmerksam gemacht werden. Sie werden dadurch die Pflanzen auch lieben lernen und in ihrem spätern Leben sicherlich nicht so leicht Baumfrevel treiben. – Auch die Pflege der Pflanzen, ihre Ernährung und überhaupt ihre Behandlung könnte zum Gegenstande nicht nur des Unterrichts, sondern auch der Beschäftigung für die Schüler gemacht werden. Das richtige Bewässern, die vorsichtige Reinigung der Blätter, das Umsetzen in neue Erde und größere Töpfe und dergl. könnte einzelnen Schülern übertragen werden, und diese Beschäftigung könnte Neigung zum Gartenbau etc. hervorrufen. Man würde mit Freuden wahrnehmen, daß die gepflegten Pflanzen bald die Lieblinge der Schüler werden. – Sogar zur Einnahmequelle zum Besten der Schule könnte diese Pflanzenzucht in Schulzimmern werden. Denn die hier in der Regel ausgezeichnet gedeihenden Blattpflanzen würden sehr gut verkauft und das dafür gelöste Geld würde zu guten Zwecken verwendet werden können.

Von den Pflanzen, die sich zur Aufstellung in Schulstuben besonders eignen, sind zu empfehlen: Epheu, Gummibäume, Philodendren, Fächer- und Phönix-Palmen, Dracänen, Begonien, Clerodendren, Galadien etc.

Bock.


Beim Dichter der „Studien“.

Im Jahre 1856 führte noch keine Eisenbahn von Wien nach dem schönen Salzkammergute. Wir fuhren mit dem Dampfer Germania stromaufwärts.

„Durch Linz reisen, ohne Adalbert Stifter[2] kennen zu lernen, den gefeierten Autor der ‚Studien‘, jener wald- und naturfrischen Novellen, die in den vormärzlichen vierziger Jahren das gebildete deutsche Lesepublicum so sehr entzückten – das thue ich nicht!“ sagte A. C. , und es hielt nicht schwer, mich für dieselbe Meinung zu gewinnen. Wir kannten in Wien eine ihm innig befreundete Familie, mit deren Gruß und Botschaft wir an seine Thür klopfen konnten. Ich glaube, daß es dessen kaum bedurfte. Schon lebte der Dichter zwischen seinen Büchern, Bildern und Cacteen, im Angesichte des herrlichen Donaustromes, wo in den Sommermonaten täglich hundert Reiselustige an seinen Fenstern vorüberzogen, ein einsames, halb und halb verschollenes Dasein. Dauerte es doch lange, ehe wir nur seine Wohnung erfragen konnten.

Es war am 6. August um sechs Uhr Abends, als wir bei ihm vorsprachen. Er empfing uns in der Wohnstube seiner Gattin scheu und freundlich zugleich. A. C. verstand es vortrefflich, die Scheu zu bannen, und damit steigerte sich auch die Freundlichkeit zu immer offenerer, wärmerer Mittheilung.

Er sieht aus wie ein Bauer und spricht wie ein Cavalier, hatte ein Herr gesagt, der ihm einmal in Gesellschaft beim Erzherzog-Statthalter begegnet war und den ich über ihn ausfragen wollte. Es war etwas Wahres an den Worten, die mir als Quintessenz einer geistreichen Kritik gegeben wurden. Stifter selbst gestand, daß er eine gewisse Befangenheit in Gegenwart der Menschen, die man die Vornehmen zu nennen pflegt, niemals habe überwinden können.

„Wenn ich auch,“ sagte er, „auf dem ganzen Wege von meiner Wohnung bis zu dem Hause des großen Herrn über die allgemeine Menschenwürde nachdenke und selbst den möglichen Fall in Betracht ziehe, daß ich ein weiserer, vielleicht ein besserer Mensch bin, oder doch wenigstens ebenso weise, ebenso gut wie er – hilft mir doch das Alles nichts! So wie ich in den Kreis der vornehmen Leute trete, wiederholt sich in mir regelmäßig die Empfindung des Schuljungen, wenn der Director, der Pfarrer oder etwa gar der Bischof vor ihm steht. Es dauert immer eine Weile, ehe ich mein Gleichgewicht und mit diesem meine Sprache wiederfinde.“

So weit paßt das Gleichniß des Herrn also halbwegs; die andere Hälfte hingegen möchte ich dahin abändern, daß es wenigstens in Oesterreich wenige Cavaliere giebt, die so sprechen, wie Stifter sprach, wenn er die „bäuerliche Scheu“ überwunden hatte. Schon bei diesem ersten Zusammentreffen führte er in wahrhaft hinreißender Weise Einzelbilder aus seinem Leben, aus Literatur, Kunst und Poesie mit einer Lebendigkeit an uns vorüber, daß die Stunden nur so dahinflogen und es halb elf Uhr war, ehe wir uns erhoben, um Abschied zu nehmen und nach unserem Hotel zu gehen. Er nahm uns das Versprechen ab, welches wir nur zu gern gaben, auf der Rückreise wieder bei ihm einzusprechen.

Mein in dieser Weise begonnener Verkehr mit Adalbert Stifter blieb bis zum Jahre 1803 ein ununterbrochener. Ich brachte jeden Sommer auf irgend einem schönen Punkte des Salzkammergutes zu und verweilte jedesmal auf der Hin- oder [121] Rückreise einen bis zwei Tage in Linz, um mehrere Abendstunden bei ihm zu bleiben. In der Zwischenzeit tauschten wir fleißig Briefe aus. Die Bekanntschaft verwandelte sich in Freundschaft, als ich nach einem schmerzlichen Verluste, der mich betroffen, zwei Wochen in Linz Quartier nahm, um mich an dem täglichen Verkehr mit dem edlen Manne zu erlaben, zu kräftigen, aus der Apathie des Kummers zu erheben.

In dieser Zeit war es mir vergönnt, tiefe Blicke in seine Seele zu thun und die Ueberzeugung zu gewinnen, daß bei ihm der Mensch in vollkommenster Harmonie mit dem Dichter, ja über diesem stand. Seine Wahrheitsliebe, seine Herzensgüte, die antike Ruhe, mit der er sich über alles Kleinliche erhob, konnten ihre Wirkung auf ein halbwegs empfängliches Gemüth nicht verfehlen. Man war besser, wenn man von ihm ging, und wurde es mehr und mehr, wenn man über das, was er gesagt, nachdachte.

Stifter’s Aussprache war provinciell; er kam nie ganz über die oberösterreichische Accentuirung hinaus. Aber einerseits war mein Ohr daran gewöhnt, anderseits war der Fluß seiner Rede ein so ununterbrochen schöner, boten sich ihm die idealsten Bilder, die reinsten Redewendungen so ungesucht dar, waren seine treuen, gütigen Augen ein so freundlicher Wegweiser zur gespanntesten Aufmerksamkeit, daß es, mir wenigstens, unmöglich schien, durch ein mehr oder weniger offenes a oder e unangenehm berührt zu werden.

Der Bildungsgang des Dichters ist kein leichter und ebener gewesen. Mühselig genug hatte sich, wie er mir in gemüthlichem Gespräche nach und nach in Bruchstücken, ich möchte sagen anekdotisch erzählte, der lernbegierige Jüngling so weit fortgeholfen, daß er mit Schmalhans als Küchen- und Kellermeister in Wien studiren konnte. Die Gabe, was er wußte, Andern mitzutheilen, verschaffte ihm anfangs in obscuren Familien einige schlecht bezahlte Unterrichtsstunden oder den untersten Platz an einem Mittagstische. Die Familie von Collin, deren ich oben ohne sie zu nennen erwähnte, war die erste Stufe zu seinem besseren Fortkommen. Das Haus war angesehen durch die Erzieherstelle, welche Heinrich von Collin bei dem jungen Herzog von Reichstadt bekleidet hatte, dessen Spielgenossen seine Söhne waren; angesehen durch Matthias von Collin den Dichter, dem in der Caroluskirche ein Denkmal gesetzt worden war, und auch dadurch, daß zur Zeit des Wiener Congresses viele literarische Notabilitäten, wie die Gebrüder Schlegel, Varnhagen von Ense u. A., in ihm aus und ein gingen, und so ward Adalbert Stifter durch seinen Eintritt als Lehrer in diese Familie den gebildeten Ständen näher gerückt. Frau von Collin, eine äußerst originelle, lebhafte Dame, trug nicht wenig dazu bei, daß der unbehülfliche junge Studiosus sich ein wenig Lebensart aneignete.

„Weder Menschen noch Hunde, Stühle und Tische, nichts was nicht festgenagelt war, war vor ihm sicher,“ erzählte mir die alte Dame selbst. „Er stieß überall an, er rannte Alles nieder! Aber – da er ein prächtiger Mensch war und ein vortrefflicher Umgang für meinen Ludwig, rein und sittig wie ein junges Mädchen, so hab’ ich mich auch d’ran gemachr und hab’ nicht nachgelassen, bis er sich seine Tölpeleien alle abgewöhnte. Und als ich es nach Jahr und Tag erreicht hatte, sagte ich eines Tages zu ihm: ,So, lieber Stifter, nun sind wir unseres Lebens sicher, wenn Sie sich unter uns bewegen, und hoffentlich sind nun auch meine Gläser, Teller, Spiegel etc. vor Ihren Ellbogen sicher; jetzt müssen Sie auch hübsch fleißig die Abende bei uns zubringen, wenn wir zu Hause sind. Das soll beiden Theilen zu Statten kommen: Sie lernen von uns Manieren, wir lernen von Ihnen den hundertsten Theil von dem, was Sie wissen, das ist für uns Frauenzimmer (sie meinte sich und ihre Tochter) genug.’“

Stifter küßte ihr die Hand, war nicht im Entferntesten beleidigt über ihre Aeußerung und nahm sich vor, so viel „Manier“ wie möglich zu lernen. Wie weit er es damit gebracht, darüber giebt sein Ausspruch weiter oben einige Erläuterung.

Um jene Zeit war die einzige Erholung, die der junge Mann sich nach angestrengter Thätigkeit gönnte, an einem oder dem andern schönen Sonntagsmorgen eine Fußwanderung in die reizenden Umgebungen Wiens, am liebsten in die dichten Waldungen hinein zu machen, und nie kam er von solchen Ausflügen ohne ein neues Landschaftsbild in seiner Zeichenmappe zurück, die er stets mit sich führte. Der arme junge Studiosus war Landschaftsmaler, und nicht selten rieth man ihm, alle Wissenschaft an den Nagel zu hängen und Künstler zu werden. Niemand ahnte, daß er auf seinen Wanderungen auch ein Schreibebuch mit sich führte und stundenlang an irgend einem Hügelabhang saß, um im Angesichte seiner gottbeseelten Freundin Natur auch „Studien“ mit der Feder zu machen. Nie wagte er sich mit einer dieser Arbeiten an’s Tageslicht, ja, wenn sein warmes Herz ihn drängte, der Wohlthäterin, die er so hoch verehrte, oder deren Tochter zu festlichen Gelegenheiten ein Gedicht zu widmen, verlor er gewöhnlich im herbeigesehnten Augenblick den Muth das Vollendete zu überreichen.

Ich weiß nicht, in welchem Jahre und durch wessen directe Empfehlung – indirect kam ihm so ziemlich alles Gute durch Collins zu – Stifter aufgefordert ward, dem jungen Fürsten Schwarzenberg, dem unter dem Namen Landsknecht, wegen seiner Schrift „aus dem Wanderbuche eines verabschiedeten Landsknechts“, bekannten, Unterricht in der Mathematik zu geben. Die Fürstin, Wittwe des alten Feldmarschalls, der gegen Napoleon den Ersten gefochten, leitete die Erziehung ihrer Söhne und die Geschäfte ihres Hauses, ihrer Familie selbst. In Stifter’s Reminiscenzen umleuchtete eine Art Heiligenschein das Haupt dieser hohen Dame. Er konnte nie ohne Rührung in Blick und Ton von ihr sprechen.

So viel ist gewiß, daß diese edle Frau dem menschlichen Geiste ein höheres Recht einräumte, als irgend eine ihrer Standesgenossen es that, es vielleicht jetzt noch thut. Sie war die zweite Frau, welche an Adalbert Stifter’s Erziehung Hand anlegte. Sie ging, seit sie Wittwe geworden war, nie in Gesellschaft und legte die Trauerkleider nie ab. Zweimal die Woche war aber ihr Haus der Sammelpunkt der schönen Welt.

An einem dieser Abende empfing sie den hohen Adel, die Gesellschaft, die eigentlich die ihrige war; an dem andern versammelte sie Gelehrte und Künstler um sich. Man sagt, sie habe sich selbst über diesen Punkt wie folgt geäußert: „Mardi je vois les autres; samedi je vois les miens.“ (Dienstags sehe ich die Andern, am Sonnabend die Meinigen.) Wie dem auch sei: Stifter, der Lehrer und Freund ihres Sohnes, durfte an dem einen dieser Tage nicht fehlen und ward noch außerdem an manchem Abend in ihren Salon gerufen, wenn die Fürstin mit ihrer Gesellschafterin, der damals jugendlichen und höchst interessanten Barbara Glück, als Schriftstellerin unter dem Namen Betty Paoli bekannt, allein war. Die Sommermonate brachte die Fürstin gewöhnlich in ihrem Landhause in der Brühl nächst Wien zu, wohin Stifter zwei-, dreimal die Woche regelmäßig als Lehrer, Gesellschafter und gern gesehener Gast wanderte.

An einem solchen Tage saß er in schöner Abendstunde auf einer Bank in dem entlegensten Theile des Gartens und schrieb. Die Fürstin hatte Besuch; eine Nichte, die sie sehr liebte, war bei ihr. Stifter hatte eine lange Weile geschrieben, als er, durch nahende Schritte aufgescheucht, rasch aufstand und das Weite suchte, d. h. durch einen entgegengesetzten Weg auf und davon lief. Aber in der Hast des Entkommens entfiel das nicht tief genug versenkte Manuscript seiner Rocktasche, ohne daß er es gewahr ward. Der bäuerliche Dichter war ab und zu auch etwas dichterisch zerstreut. Er wechselte den Rock, ohne den Verlust zu bemerken, um sich in vorgeschriebener Toilette an dem Theetische seiner hohen Gönnerin einzufinden.

„Wissen Sie was, lieber Stifter,“ redete die Fürstin ihn an, „heute müssen Sie vorlesen, Betty ist heiser und meine liebe Nichte fürchtet sich. Wir haben da etwas zurecht gelegt. Nun sehen Sie aber, daß Sie Ihre Sache gut machen; wir wollen sehr aufmerksam sein.“ Dabei legte die Nichte mit schalkhaftem Lächeln seine „Feldblumen“ (eine der Novellen in seinen Studien) vor ihn hin.

„Wie mir dabei geschah, kann ich Ihnen nicht schildern,“ erzählte Stifter. „Anfangs brachte ich keinen Laut hervor und hätte weinen mögen wie ein Kind! Als ich aber die Fürstin ansah und sie mir mit schöner Freundlichkeit über den Tisch herüber die Hand reichte, wich auch alle Scheu von mir. Ich packte meine ,Feldblumen’ an und warf sie den hohen Herrschaften in so leidenschaftlicher Art zu Füßen, daß die Fürstin, als ich geendet, vor Ueberraschung kein Wort hervorbringen konnte. Betty Paoli aber sprang auf, nahm meinen Kopf in ihre Hände, küßte mich auf die Stirn und rief:

‚Durchlaucht! Ich hab’ doch Recht gehabt! Der Stifter ist ein Dichter!‘

Nun war es aber auch mit dem Geheimthun vorbei! [122] Alles, was ich fertig hatte, mußte aus meiner treulosen Rocktasche hervorkommen und wurde mit einem wahren Beifallssturm aufgenommen.“

So geschah es, daß Stifter’s „Studien“ das Tageslicht schauten[3] und eine Zeitlang auf dem großen Büchermarkte eine nicht kleine Rolle spielten. Ihr Erfolg und der Geldgewinn, den dieser mit sich führte, haben dem Leben des Dichters eine andere Richtung gegeben. Eine Weile hochgetragen von den Wogen der Bewunderung, hat er den Rausch befriedigter Eitelkeit gekostet. Da aber seine eigenen Mittheilungen über diesen Gegenstand hier abbrachen, maße ich mir kein Urtheil darüber an, wie er sich auf diesem Höhenpunkte seiner im Uebrigen einfachen Lebensweise benahm. Ich weiß nur, daß er sich eben um jene Zeit in das arme Mädchen verliebte, welches seine Gattin ward, und da er sie bald darauf heimführte, liegt die Vermuthung nahe, daß Ruhm und Gewinn von ihm als Mittel zu diesem Zwecke verwendet wurden. Als ich ihn kennen lernte, hatte das große Publicum ihn mehr als zur Hälfte vergessen und der Büchermarkt andere Werke, andere Namen in die Höhe geschnellt. „Sein Ruhm kann ihn nicht übermüthig gemacht haben, da die Vergessenheit ihn nicht bitter machte,“ dachte ich.

Wie einfach, wie rührend erzählte er mir die Geschichte seiner ersten Liebe!

„Ich hatte nichts und war nichts. Die Mutter des Mädchens zweifelte daran, daß je etwas aus mir werden, daß ich je etwas haben würde. Das kränkte mich und ich ging fort, ohne von dem Mädchen das Versprechen der Treue annehmen zu wollen. Im Stillen hoffte ich freilich, Alles gut zu Ende zu bringen. Die Mutter zwang sie aber zu einer andern Heirath. Sie ward sehr unglücklich und starb früh. – Ich habe sie einmal als blasses, schwindsüchtiges Weib wiedergesehen; das Herz wollte mir brechen, als ich der vergangenen Zeit gedachte!“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Wenn ich Ihnen sage, ich habe das Mädchen so geliebt, daß es ganz hell in mir und um mich ward, wenn sie mir nahe kam – verstehen Sie das?“

Ein ander Mal, als von seinem Bekanntwerden mit seiner Frau die Rede war, sagte er: „Mir wurde ganz heiß, als ich sie zuerst erblickte!“

Eines Abends, als wir so beisammen saßen und Stifter eben recht im Zuge war, mir seine Ansichten über Kunst und Künstler darzulegen, klingelte es an seiner Thür.

„Mein Mann ist nicht zu Hause!“ sagte Frau Stifter rasch zu ihrer Ziehtochter, die dem Dienstmädchen diesen Bescheid überliefern sollte.

„Wie so nicht zu Hause, liebe Frau?“ fragte er, sich unterbrechend, „ich bin ja zu Hause!“

„Nun, ich meinte, Du wolltest nicht gestört werden.“

„Das ist das Richtige, liebe Frau, und das soll auch gesagt werden.“

„Ja, ja! das verdrießt aber die Leute!“

„Die uns kennen, verdrießt es nicht, und die es verdrießt, um die bekümmern wir uns nicht.“

Stifter sagte immer „wir“, „uns“. Er las seiner Frau alle Briefe vor, die er empfing, alle, die er abschickte, und grüßte seine Freunde auch schriftlich immer in Gemeinschaft mit seiner Frau. Er that das seit dem Zeitpunkte, wo er sie über dem Gedanken, „daß sie seiner nicht werth sei“, brütend gefunden hatte.

Während eines längeren Aufenthaltes, den er einmal zur Frühlingszeit in Wien nahm, als eben Jenny Lind anwesend war, trafen sie mit dieser oft in Gesellschaft zusammen. Die Künstlerin entzückte der Dichter, der für Musik ein eben so inniges Verständniß hatte, wie für Malerei und Alles, was Kunst heißt. Jenny Lind war aber auch ein durch und durch gebildetes, edles Mädchen, sittig und fein in Haltung und Rede. Er unterhielt sich viel und gern mit ihr. Da bemerkte er, daß seine Frau verweinte Augen hatte. Er fand den Grund ihres Kummers leicht heraus und reiste am nächsten Morgen mit ihr nach Linz zurück, ohne Jenny Lind wiedergesehen zu haben.

Diesen tiefen sittlichen Grundton seines Wesens übertrug Stifter auf Alles und Jedes, was er in den Kreis seines Urtheils zog. Mit dieser Forderung trat er an jedes Kunstwerk, an jede Action heran.

Französisches Leben wie französische Literatur hielt er sich fern. „Was soll ich mich befassen mit Sachen, die mir zuwider sind!“ Meine Gewohnheit, französische Worte in die deutsche Rede zu streuen, rügte er streng, und als ich mir das einmal in einem Briefe zu Schulden kommen ließ, schickte er diesen umgehend zurück und schrieb darunter: „Verdient keine Antwort.“

Unter den großen Musikern erschien ihm Mozart als der größte. „Er ist so kindlich und so göttlich zugleich, daß man ihn nur mit Homer vergleichen kann.“ Unter den alten Schriftstellern war Aeschylos sein Liebling. Seine Verehrung für die alten Griechen war unbegrenzt.

„Selbst die Gräuel, wenn sie solche schildern, lösen sich in hohe Erkenntniß des Göttlichen auf, und dem Sünder folgt die Strafe im Gewissen rächend nach, findet er sie auch im Leben anders nicht.“

Unter den Dichtern seines Vaterlandes stellte er Grillparzer am höchsten. Er kannte und liebte ihn persönlich. Ueber Hebbel äußerte er sich sehr scharf: „Ich sage nicht, daß er ein schlechter Dichter ist – nein, beileibe! er ist gar kein Dichter. Er wirft mit Mühlsteinen um sich, und weil ihn das gewaltig anstrengt, hält er dafür, daß es gewaltig wirkt. Ein Glück ist’s, daß er keinen Einfluß auf Literatur und Welt gewonnen hat, sonst müßte sich ein Ehrenmann wohl die Mühe nehmen, gegen ihn aufzutreten. So läßt man die Mühlsteine fallen und geht vorbei.“ Hebbel’s „Judith“ machte eben damals volle Häuser und war der Gesprächsstoff aller Gebildeten Wiens. Stifter nannte die Judith eine Mißgeburt und den Holofernes einen Hanswurst.

„Dem Künstler,“ sagte er, „darf nichts schön erscheinen, was nicht vollkommen wahr und rein ist. Moralische Kraft ist ihm die Hauptbedingung des Charakters überhaupt, und ohne diese erkennt er jenen nicht an. Der Dichter darf nicht an den Effect denken, den sein Werk beim Publicum hervorbringen dürfte; der Schauspieler darf mit keinem Blick verrathen, daß die Zuschauer für ihn da sind; nur so können Beide die künstlerische Vollendung anstreben. – Was wir in der Gegenwart zumeist als Kunstwerk bewundern, in der Dichtkunst sowohl, wie in der Musik, Bildhauerei und Malerei, ist sehr oft nur Virtuosenthum, große technische Fertigkeit, die mit allerlei Mitteln schlagende Effecte hervorbringen soll. Ein wahrhaft künstlerisches Gebilde muß dagegen, mit dem geringsten Aufwande äußerer Drittel, durch die aus der Tiefe herauf arbeitende Idee, in kindlicher Einfalt groß, seinen Zweck erreichen. Dieser Zweck ist nicht, das Auge zu blenden und den Geist zu bestricken, sondern das Menschenherz zu rühren, zu erheben und folglich zu bessern.“

Mariam Tenger.     




Bilder aus dem Berliner Rechtsleben.

Von F. K.
I.

Das in Preußen zur Herrschaft gelangte Centralisationsprincip hat eine Justizbehörde geschaffen, die unter ihren Schwestern hervorragt, wie Goliath unter den Philistern, ich meine das Berliner Stadtgericht. Keine Behörde der Welt ist in so kolossalem Maßstabe angelegt. Gegen zweitausendzweihundert Beamte sind dem großen Mechanismus eingefügt, der, von einem Präsidenten und drei Directoren geleitet, mit einer Präcision und Schnelligkeit arbeitet, an der sich manches kleine Gericht ein Beispiel nehmen könnte. Das Ganze, bei dem mehr denn siebenmalhunderttausend Menschen Recht nehmen, zerfällt in drei Abtheilungen: die für Civil- und Vormundschaftssachen in der Jüdenstraße, eine Criminalabtheilung am Molkenmarkte und eine andere im sogenannten Lagerhause, jenem alten Residenzschlosse der ersten brandenburgischen Kurfürsten. Die Abtheilungen selber sind wieder in Commissionen und Deputationen so vielfach zergliedert, daß es dem Publicum unmöglich ist, das Ganze zu durchschauen, und dies ist ein schwerer

[123] Mangel; selbst wir jüngeren Juristen bedurften einer langen Zeit, ehe wir in diesem Chaos heimisch wurden.

Wie männiglich bekannt, hat der preußische Jurist die Ehre, dem Staate fünf bis zehn Jahre unentgeltlich zu arbeiten; dafür darf er das Gericht wählen, an dem er beschäftigt sein will, und wer das Berliner Stadtgericht ausersieht, thut wohl daran. Denn nirgends bietet sich eine solche Fülle von Rechtsfällen der interessantesten Art, wie hier. Ich habe allen Abtheilungen angehört und kann wohl sagen, daß noch jetzt jeder Tag zu neuen Beobachtungen Stoff bringt. Wer also von den Lesern der Gartenlaube ein wenig hinter die Coulissen des Berliner Lebens schauen möchte, den bitte ich, mich zu begleiten. Beginnen wir mit dem Molkenmarkte, wo die strafende Göttin der Gerechtigkeit, die Binde über beiden Augen, ihren Wohnsitz aufgeschlagen hat, allerdings mit ziemlich schlechtem Geschmacke, falls nicht besagte Binde die Schuld daran trägt. Die Gebäude selber sind so enge und finster, wie nur irgend möglich, in den Zimmern herrscht eine Atmosphäre, die aus einer Mischung von Actenstaub und Gefängnißluft besteht und füglich Criminalparfüm genannt werden könnte, da es noch an einem technischen Ausdrucke dafür fehlt. In diesen Räumen habe ich ein volles Jahr zugebracht und so manchen heiteren, aber auch verzweifelt ernsthaften Criminalfall kennen gelernt, die erstere Art vorzugsweise auf der Commission für sogenannte Uebertretungen.



Unsere Criminalstatistiker stellen bekanntlich den Satz auf: In den Städten wächst die Zahl der Verbrechen analog der Zunahme der Bevölkerung. Das mag richtig sein, wo es will; in Berlin steht aber die Sache so, daß seit etwa zwanzig Jahren die Bevölkerung um ein Drittel gewachsen ist, die Verbrechen dagegen sich zweimal verdoppelt haben. Worin diese traurige Erscheinung ihren Grund hat, kann hier nicht erörtert werden; sie wird den Leser aber Ahnen lassen, welch’ ein kolossaler Apparat dazu gehört, ein solches Material zu bewältigen. Will er auch den äußeren Eindruck gewinnen, so muß ich ihn schon bitten, sich mit mir zwei Treppen hoch nach der Commission für Voruntersuchungen zu bemühen und sich auf düstere, angreifende Scenen gefaßt zu machen.

Wir betreten einen langen, schmalen Corridor, der durch eine eiserne Thür von den Gefängnissen der Stadtvogtei getrennt ist und scherzweise die Kegelbahn genannt wird. Diesen Gang, auf dem die Zimmer für etwa dreißig Untersuchungsrichter liegen, passiren sämmtliche Verbrecher Berlins, in jenen Zimmern habe ich die schwere Kunst des Inquirirens geübt, nach der ich mich, offen gestanden, nicht zurücksehne. Es gehören starke Nerven und eine langjährige Gewohnheit dazu, bei allem Elende unberührt zu bleiben, welches uns hier Schritt für Schritt entgegenkommt. Man sieht die fahlen Gesichter der Untersuchungsgefangenen, die zum Verhöre geführt werden, man hört das Geschrei derer, die, zum ersten Male zu schwerer Strafe verurtheilt, nach den Gefängnissen zurückwandern, und ist empört über die schlechten Witze der Schließer, welche den Transport bewerkstelligen. Mich beschleicht jedesmal ein unbehagliches Gefühl, wenn ich an meine Lehrzeit in jenen Räumen zurückdenke; schon der erste Tag hatte mir diese Beschäftigung verleidet. Ein hübscher, intelligenter, junger Mann von anständiger Familie war in schlechte Gesellschaft gerathen; junge Leute mit vornehm klingenden Namen hatten ihn an ihren Ausschweifungen Theil nehmen lassen und seine vom Vater sehr liberal ausgestattete Börse derartig geplündert, daß er sich zu kleinen, nach und nach immer höher werdenden Veruntreuungen aus der Casse seines Principales hinreißen ließ und endlich zu dem letzten Mittel, der Wechselfälschung, griff, die ihn vor den Untersuchungsrichter brachte. Die Reue und die Verzweifelung des jungen Mannes waren grenzenlos, und das Elend seiner allgemein geachteten Eltern läßt sich nicht beschreiben. Er verfiel einer langjährigen Gefängnißstrafe, die er noch in der Stadtvogtei verbüßt.

So hatte ich Gelegenheit, lange mit ihm zu verkehren und sein im Grunde gutes Gemüth kennen zu lernen. Eine vorzügliche Führung im Gefängnisse trug ihm die Vergünstigung ein, seine Familie alle vierzehn Tage sehen zu dürfen; dieser Besuche, die oft unter meiner Aufsicht stattfanden, werde ich immer gedenken. Sie haben mir die volle Ueberzeugung verschafft, daß der junge Verbrecher, dem nur das Gesetz nicht verzeihen durfte, dereinst ein achtbares Mitglied der Gesellschaft sein wird. Möge er mir nach abgebüßter Strafe die Freundschaft erhalten, welche er mir während derselben bewiesen hat, und diese Zeilen als Dank dafür ansehen.

In den Untersuchungsgefängnissen sind stets siebenhundert bis achthundert Gefangene detinirt, zu denen die Herren Langfinger natürlich das Hauptcontingent stellen. Ein hervorragendes Mitglied dieser ehrenwerthen Gilde, mit dem ich lange herumexperimentiren mußte, ehe er ein Geständniß ablegte, hat mich gegen Belohnung mit Schnupftabak, den die Gefangenen bekanntlich sehr lieben, und mit Butterbroden mit der inneren Verfassung seiner Corporation bekannt gemacht. Was ich davon behalten, will ich hier kurz erzählen.

Mein „Machulke“, denn dies ist der technische Ausdruck für Strafgefangene, besaß außer seinen Standeseigenschaften, von denen Schweigsamkeit nicht die letzte war, einen außerordentlich gesegneten Appetit, für welchen die schmale Gefängnißkost niemals hinreichte. Als ich einmal mit ihm in meinem Zimmer verhandelte, sah er die belegten Butterbrode, aus denen mein Frühstück bestehen sollte, so sehnsüchtig an, daß ich sie ihm offerirte und ihm für die Zukunft dergleichen mehr versprach unter der Bedingung, mir seinen Lebenslauf mitzutheilen. Kauend begann er: „Bis zu meinem dreiundzwanzigsten Lebensjahre war ich unbestraft; ich diente damals bei einem hiesigen Regimente und hatte nur noch ein Jahr meiner Militärzeit vor mir, als mich das Unglück ereilte. Von einer anstrengenden Marschübung in die Caserne zurückgekehrt, hatte ich kein Brod mehr, denn alle vier Tage ein Commißbrod war für meinen Appetit viel zu wenig. So brachte mich der Hunger dazu, einem Cameraden ein Stück Brod zu entwenden. Dies wurde entdeckt und vom Unterofficier, der mich nie leiden mochte, trotz aller Bitten meiner Cameraden gemeldet. Ich kam sechs Monate auf die Festung und in die zweite Classe. In das bürgerliche Leben zurückgekehrt, verwandte ich die kleine Summe, welche ich von meinen inzwischen verstorbenen Eltern geerbt hatte, dazu, ein kleines Schankgeschäft zu kaufen. Mein Erwerb ging so gut, daß ich heirathete und mir eine recht zufriedenstellende Existenz gründen konnte, wenn die Polizei nicht hinter meine Bestrafung gekommen wäre. Mir wurde die Concession entzogen – und so war ich ein Bettler. Denn so gern ich arbeiten wollte, kein Mensch mochte mich nehmen, nachdem meine Vergangenheit bekannt geworden. Der geringe Erlös aus meinem kleinen Waarenbestande war bald verzehrt; ich selbst fiel dem Laster in die Arme. Es fanden sich Bekannte aus der Strafsection, mit denen ich zusammen ,Geschäfte machte’.“

„Womit fingen Sie denn an?“ unterbrach ich ihn.

„Wir waren ,Schottenfeller’,“ erwiderte er, „wir räumten die Waschböden auf und machten dabei sehr gute Geschäfte, wohl über ein Jahr lang.“

„Nun, und wie kamt Ihr damit zu Ende?“

„Wir schärften (hehlen, verkaufen) damals die Söge (gestohlenes Gut) bei dem bekannten ,Galgenkönig’; es dauerte aber nicht lange, so brannten die Lampen (die Polizei entdeckte den Hehler), und der Galgenkönig pfiff (gestand) Alles. Ich bekam zwei Jahre Zuchthaus und der Galgenvogel sechs Jahre, worüber ich mich noch heute freue. In Brandenburg lernte ich einen Drücker (Taschendieb) kennen, der mich überredete, mit ihm Geschäfte zu machen, wenn wir wieder nach Hause kämen.“

„Das verstanden Sie ja aber nicht!“

„O Herr Referendar, darin haben wir uns geübt; er zeigte uns Alles, besonders das Uhrendrücken.“

„Wie kann man sich denn dagegen schützen?“

„Nur dadurch, daß man einen zugeknöpften Ueberrock trägt. Wir haben eine kleine, haarscharfe Zange, mit der wir uns unbemerkt heranschleichen und die Kette dicht am Knopfloche durchschneiden. Wenn sie dann herunterhängt, so ziehen wir damit die Uhr heraus. Einmal sprang sie mir ab und ich wurde gefaßt. Dafür habe ich fünf Jahre im Zellengefängniß abgemacht. Wenn ich jetzt nur nicht wieder dahin käme! Als ich wieder draußen (in Freiheit) war, traf ich den Galgenkönig abermals, der mir Leute zuführte. So haben wir denn zwei Jahre lang Geschäfte gemacht, ich und die von hinten (seine gleichfalls in der Stadtvogtei befindlichen Complicen) als Macha (practicirende Diebe); der Galgenkönig hat baldowert (die Gelegenheit zu Diebstählen ausgekundschaftet), und jetzt will sich der Gannew (Schurke, Verräther) [124] noch auf uns putzen (die Schuld auf uns wälzen). Kriege ich den wieder, so wag er sich hüten! Er weiß auch, wo die Söge von dem Einbrüche ist, den wir zuletzt machten; ich habe mit ihm kassibert (kleine Zettel zugesteckt, meist beim Spaziergänge im Gefängnißhofe) und geklopft (durch Pochen Buchstaben andeuten, aus denen dann die Worte entstehen), denn er sitzt über mir; er hat aber nicht geantwortet.“

Unsere Zeit war um, ich mußte ihn zurückschicken. Wiedersehen werde ich ihn schwerlich – er ist zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurtheilt und wird sein Leben wahrscheinlich im Zuchthause schließen.

Es ist eine der traurigsten Erscheinungen für den Menschenfreund, daß der einmal bestrafte Verbrecher fast ausnahmelos für diese Welt verloren ist. Niemand will ihn um sich sehen und Niemand vertraut ihm; auf das Laster angewiesen, wandelt er seine abschüssige Bahn bis an sein Ende. Wie viele Menschen könnten doch gerettet werden! Man sendet Missionäre in ferne Länder, um „Seelen zu gewinnen“, während man diese hier auf allen Gassen finden kann und doch nicht finden will. Zwar giebt es einen Privatverein für diese Zwecke, aber was kann er thun, wenn ihm jede Staatshülfe mangelt, wie soll er da wirken, wo die Gesetze den bestraften Verbrecher durch Verwaltungsmaßregeln der peinlichsten Art einschränken, durch die sogenannte Polizeiaufsicht? Läßt sich der Observat nach neun Uhr auf der Straße sehen, so wird er bestraft; entfernt er sich ohne polizeiliche Erlaubniß auch nur einen Tag aus Berlin, so ist ihm das Gefängniß gewiß. Kein Meister mag sich der Unannehmlichkeit aussetzen, ihn in Arbeit zu nehmen, da die Polizei jeden Augenblick nach ihm fragen kann und dem Arbeitgeber seine eigene Wohnung verleidet. Wann wird in diesen Dingen die Humanität zum Durchbruch kommen! Wann wird man aufhören, in unseren Strafanstalten durch das Disciplinarmittel der Stockschläge, durch die Anrede „Du“ und durch pietistische Versuche den kleinen Funken von Ehrgefühl, der auch in der Brust des gröbsten Verbrechers glimmt, zu ertödten, da man diesen Funken doch so ängstlich nähren und mehren sollte! – Wenn ich die Leser bitte, noch weiter an meinen Criminalerlebnissen Antheil zu nehmen, so geschieht dies unter dem Versprechen, jetzt weniger düstere Bilder aufzurollen. Man thäte Unrecht daran, den Molkenmarkt zu verlassen, ohne wenigstens die berüchtigten Berliner Bauernfänger kennen zu lernen, deren Leben und Treiben eines humoristischen Anstriches nicht entbehrt. Die Natur ihres Industriezweiges macht es nöthig, Societätsverhältnisse einzugehen. Zu dem Behufe vereinigen sich ihrer fünf bis sechs; einer von ihnen ist der „Schlepper“, die anderen sind die „Macher“. Der Schlepper wandelt nun durch die Straßen der Menschen, um seine Opfer zu suchen. Etwa am Neuen Museum oder unter den Linden sieht er Einen, „der nicht von hier ist“, in tiefe Betrachtungen versunken stehen. Er nähert sich ihm und knüpft ein Gespräch an. Der biedere Fremdling offenbart nun sogleich, er sei aus Kyritz oder Perleberg gekommen, um eine Stelle als Comptoirdiener oder dergleichen zu suchen.

„Ei, das trifft sich ja prächtig,“ antwortet der Bauernfänger; „da ist mein Schwager, ein angesehener hiesiger Kaufmann, der sucht einen Lagerverwalter mit monatlich dreißig Thalern Gehalt und freier Station. Einem Manne von Ihrer Bildung kann es ja nicht schwer fallen, auch diesen Posten zu bekleiden. Wir könnten sofort zu ihm gehen, allein er kommt leider erst morgen von seiner Reise zurück; bis dahin können wir uns ja Berlin ein wenig ansehen.“

Der Vogel wäre also „auf den Leim gegangen“. Zuerst wird die neue Bekanntschaft durch einige Seidel besiegelt, die der noble Berliner trotz allen Sträubens seines Gefangenen bezahlt.

„Nun, wenn Sie durchaus bezahlen wollen, so kommen Sie jetzt in ein anderes Local; wir treffen dort Herren aus Ihrem neuen Geschäfte.“

Der Provinciale, immer noch im siebenten Himmel seiner dreißig Thaler pro Monat, willigt mit Freuden ein. Durch ein Labyrinth von Straßen und auf Umwegen gelangen sie in ein Local, in dem die Macher schon warten. Der neue Ankömmling wird vorgestellt, man scherzt und ist guter Dinge. Zuletzt kommen die Kartenkunststückchen an die Reihe. Einer von der sauberen Gesellschaft mischt ein Spiel Karten, zeigt eine derselben, wirft sie nebst zwei andern verdeckt auf den Tisch und behauptet, Niemand würde aus den drei Karten diejenige rathen, welche er vorhin gezeigt. Nichts scheint aber leichter, als dies. Jemand setzt einen Thaler und gewinnt; er gewinnt öfter und fordert den zukünftigen Lagerverwalter auf, doch auch ein wenig zu Pointiren. Bier und Kümmel machen fleißig die Runde, ein Thaler nach dem andern wandert aus der Tasche des armen Geprellten, der auch das Letzte, seine Taschenuhr, auf das Spiel setzt, in der Hoffnung, seine verlorene Baarschaft wieder zu gewinnen. Ist nichts mehr an ihm zu gewinnen, so wird ein Streit provocirt, in dessen Verlaufe das Opfer zur Thür hinausgeworfen wird. Aber auch die Bauernfänger verlassen schleunigst den Ort ihrer Schandthat, um anderswo zu theilen, wobei natürlich der Schankwirth nicht zu kurz kommt. In unserm speciellen Falle hatten sie sogar eine Droschke zur Flucht benutzt, und dies wurde ihr Verderben. Der Kutscher hatte aus ihren Gesprächen Namen wie „Kanonenheber“ und dergleichen behalten und dies der Polizei mitgetheilt, die ihre Kunden gar bald zu finden wußte.

Selten habe ich gesehen, daß ein Gefangener über den Verlust seiner Freiheit so ergrimmt war wie diese Kerle; draußen, wie sie es nennen, hatten sie ein vergnügtes, lustiges Leben geführt, und jetzt wollte ihnen die Isolirhaft und die Gefängnißkost sehr wenig schmecken. Mit unglaublichem Raffinement verstanden sie es, die Untersuchung zu verdunkeln. Der Herr, welcher den ehrenvollen Beinamen, den ich soeben anführte, von seinen Collegen erhalten hatte, wußte sehr geschickt eine kleine Scheere in seine Zelle zu schmuggeln, mit der er über Nacht Haar und Bart derartig zustutzte, daß ihn der „Gemachte“ in der That nicht bestimmt zu recognosciren vermochte. Er hatte sich aber gewaltig verrechnet. Die abgeschnittenen Rudera seines Gesichtsschmuckes wurden im Ofen seiner Zelle vorgefunden und der Herr selber so lange in Untersuchungshaft behalten, bis er sich wieder im Status quo ante befand und auf das Bestimmteste recognoscirt wurde. Die ganze Gesellschaft sitzt jetzt im Zuchthause; den geprellten Provincialen sah ich neulich als wohlbestallten Hausknecht in einem hiesigen Hotel. Hoffentlich ist er klüger geworden und läßt sich von Anderen nicht mehr die Volte schlagen.

Da ich hier einmal von der Gaunersorte der Bauernfänger! spreche, so will ich noch einen Streich erzählen, welcher unlängst durch dies Gelichter hier verübt worden ist.

Ein Fremder, nennen wir ihn Herrn v. L., der sich Berlin besehen wollte, eilte zunächst in das Neue Museum und fand sich, wie gewöhnlich, in dem eben gekauften Kataloge nicht zurecht. Fragend blickt er sich um. Ein eleganter Herr, der seine Verlegenheit bemerkt, wendet sich mit gewinnender Höflichkeit au ihn, um ihm ein wirklich geistreicher Führer durch das Museum zu sein. Der Fremde ist entzückt und sinnt auf Dank. Aber der Herr lehnt mit äußerster Artigkeit ein Frühstück ab, erwähnt indeß beiläufig, daß Freunde ihn in der Weinstube von Borchardt, Ewest etc. erwarten. Was ist natürlicher, als daß Herr v. L. auf die Bemerkung hin, jeder Reisende müsse eigentlich diese Locale kennen lernen, sich anschließt, schon der liebenswürdigen Gesellschaft halber. Dort trifft man die Freunde, Alles vornehme junge Leute mit guten Namen, die den Fremden sehr herzlich empfangen und ihn sein „zu Hause“ gänzlich vergessen machen. Hier wird mit dem Geschmack vornehmer Gourmands gefrühstückt und mit Gold bezahlt. Während man noch bei einer Havanna sitzt, erscheint plötzlich ein galonnirter Diener, der die Herren für den heutigen Abend zum Balle bei Frau v. B. einladet. „Mein Gott, das paßt prächtig; Sie, Herr v. L., müssen mit, wir führen Sie ein; Sie werden sich vortrefflich amusiren, und jetzt diniren wir zusammen.“

Herr v. L., der allerdings nicht zu den Scharfblickendsten zu gehören scheint, ist schnell überredet.

In heiterster Champagnerlaune betritt er das Festlocal.

Freilich kommt ihm die „Gnädige“ etwas sonderbar vor; auch fällt es ihm auf, daß sie die einzige alte Dame, daß die Beleuchtung mangelhaft, die Musik mehr als schlecht ist und daß die Möbel einen ganz ungebildeten Geschmack verrathen; indeß er ist in einer fremden Residenz und die jungen Damen sind um so reizender, – alle so liebenswürdig, so interessant, – ein bischen frei, – man merkt: man ist in der großen Welt! Dagegen ist der Champagner vortrefflich und die Gastgeberin äußerst freundlich! Ohne Unterlaß wird getrunken – und die reizenden jungen Damen nehmen das hier nicht übel, sind nicht so prüde, wie in kleinen Städten! Ah, wie schön, wie schön! Es lebe Berlin! – [125] Und von Allen die Schönste: jenes herrliche junge Mädchen mit der junonischen Büste und den Feueraugen!

Eine größere Pause folgt dem Tanz und dafür wird zur Abwechselung ein gemüthliches Spielchen arrangirt. An der Seile der schönen Amanda pointirt Herr v. L., gewinnt erst, verliert dann, läßt Amanda spielen, die diesen Abend auch unglücklich setzt, und verläßt endlich mit etwas wüstem Kopfe die Gesellschaft.

Am andern Morgen war Herr v. L. kahl wie eine Kirchenmaus. Kaum hatte er seinen Rausch verschlafen, so stellen sich die Herren, die merkwürdiger Weise seine heimathlichen Verhältnisse jetzt ganz genau kennen, lärmend ein, beklagen seinen Verlust und machen ihm schalkhafte Vorwürfe darüber, daß er im Begriff stehe, die schönste Blume ihres Kreises, die herrliche Amanda, ihnen zu entführen; denn nach den gestrigen Vorgängen sei Jeder

Offene Wintertafel

von einer tiefen gegenseitigen Liebe überzeugt u. s. w. Herr v. L. ist in diesem Gedanken völlig berauscht; er umarmt seine Freunde und fragt schüchtern, ob ein Präsent wohl nicht zu gewagt sei.

„Wenn es ein gediegenes Kunstwerk, zum Beispiel ein vollständiger, kunstvoll gearbeiteter Schmuck ist,“ erwidert der Freund, „mögen Sie es wagen, und ich will Sie zu meinem eigenen, sehr geschickten Goldschmied führen.“

„Ein herrlicher Gedanke,“ ruft Herr v. L., „aber, mein Gott, ich habe kein Geld!“

„Ich will Ihnen meinen Agenten schicken, der vielleicht einen Sichtwechsel placiren kann, dann können Sie heute Abend mit Ihrem Fräulein Braut – so darf ich wohl sagen – in die Oper fahren.“

„Herrlich, herrlich!“ ruft Herr v. L.; „nur schnell!“

Bald darauf erscheint ein Agent (Commissionair); Herr v. L. in völligem Sinnenrausch schreibt einen Sichtwechsel von fünfzehnhundert Thalern und einen Auftragschein, nach dessen Wortlaut der Wechsel für „angemessene“ Valuta verkauft werden darf.

Nach zwei Stunden erscheint der Agent abermals; er bringt, da der Herr es so eilig habe, „vorläufig“ fünfhundert Thaler, deren Empfang er sich quittiren läßt, und der glückliche v. L. läßt sich von seinem Freunde zu dem „reellen“ Goldarbeiter führen, wo er nach dem Rathe seines Freundes für Amanda einen Schmuck im Preise von vierhundert Thalern kauft. Welch’ Glück! mit Amanda in der Oper! Dann gemüthliches Souper im Kreise der Freunde, kleines Spiel, freilich wieder Alles verloren: – je nun, morgen giebt’s ja mehr Geld und dann Amanda!

Ein Wechselproceß gegen Fremde ist schnell erledigt, und der Gläubiger sofort berechtigt, den Fremden zur Haft zu bringen.

Herr v. L. lag in süßen Träumereien zur Mittagsstunde auf dem Sopha, als ein gänzlich unbekannter Mann mit dem Sichtwechsel in der Hand eintrat.

„Ah,“ sagt Herr v. L., „Sie bringen das Geld; geben Sie schnell.“ – „Ich bringe kein Geld,“ erwiderte der unbekannte Mann (ein Eintreiber), „ich will nur meine fünfzehnhundert Thaler haben.“ –

„Wie! Sie wollen Geld haben? ich habe ja noch zu fordern “

„Mir sehr gleichgültig, ich will meine fünfzehnhundert Thaler haben, oder Sie kommen zum Schuldarrest!“

Dabei tritt der Executor und mit ihm der entsetzte Hotelwirth mit seiner Rechnung ein. Der Scandal beginnt. Herr v. L. ist auf das Aeußerste bestürzt, er weiß sich durchaus nicht zu fassen; der Eintreiber läßt ihm kaum so viel Zeit, seine Effecten zu verschließen, die der Wirth als Pfand behält, und mitten durch das schadenfrohe, höhnende Hotelpersonal, mitten durch das neugierige angesammelte Straßenpublicum wird Herr v. L., der vor Scham in die Erde sinken möchte, Herr v. L., der in seiner Heimath ein hochangesehener Mann ist, zwischen Executor und Eintreiber fort zum Schuldarrest geführt. Und zum Berliner Schuldarrest! – das will etwas ganz Anderes sagen als sonst wo – dort werden Herrn v. L. zunächst Uhr, Uhrkette, Ringe, Brieftasche, sonstige Preciosen und Papiere abgenommen zu Gunsten seines Gläubigers, und nur zufällig behielt er in der Westentasche einen Papierthaler zurück, den er zu einer Depesche in seine Heimath benutzen konnte. Während eines fürchterlichen Tages und einer noch entsetzlicheren Nacht findet Herr v. L. Zeit, von seinen Träumen zu erwachen; er überzeugt sich, daß eine Gesellschaft von Bauernfängern, Louis, Eintreibern und Grisetten ihn, und noch zwei andere Freunde gründlich „genommen“ habe, und beschließt, polizeiliche Hülfe anzurufen. Am nächsten Tage erhält er aus seiner Heimath zweitausend Thaler, er erkauft sich seine Freiheit und verfügt sich zunächst zur Polizei, welche sich alle Personen recht speciell beschreiben läßt und ihn bittet, noch einige Tage in Berlin zu verweilen. Dann eilt er nach dem Hotel, wo der beschämte Wirth ihn tausendfach um Verzeihung bittet, löst seine Sachen aus und bezieht einen anderen Gasthof.

Nach zwei Tagen erhält er eine Vorladung zur Polizei und weiß sein Erstaunen kaum zu mäßigen, als er nicht allein alle Personen der Komödie, nebst Amanda, dem galonnirten Diener und dem Eintreiber, in polizeilichem Gewahrsam findet, sondern sie auch Alle in derselben glänzenden Toilette jenes Festabends bewundern kann. Seine Leidenschaft für Amanda war freilich gänzlich erloschen, und es kam ihm nur darauf an, die Betrüger zur Strafe zu ziehen, wo möglich zu seiner Entschädigung zu gelangen. Allein welches Verbrechen lag vor? – Hatte Herr v. L. nicht freiwillig die Einladung zum Balle angenommen, freiwillig splendide Bewirthung sich gefallen lassen, freiwillig ein Spielchen gemacht? Hatte er nicht freiwillig den Sicht-Wechsel mit dem sogar schriftlichen Auftrage fortgegeben, denselben zu „angemessenem“ Preise zu verkaufen? – „Angemessen“ aber heißt ja, was der Commissionär dafür hält, und hat Herr v. L. nicht Valuta erhalten? – Der Wechsel befand sich [126] bereits in der vierten Hand, und es ist gleichgültig, ob er für drei Pfennige verkauft wurde. Hatte Herr v. L. nicht freiwillig den Schmuck gekauft und ihn Amanda geschenkt? – Wirklich, Betrug lag nirgends vor, und Herr v. L. konnte im besten Falle Rückgabe des Schmuckes verlangen. Aber Amanda war so sehr in Verlegenheit gewesen; sie hatte ihn verkauft und Herr v. L. verzichtete auf eine Civilklage gegen Amanda. Die Herren konnten nur wegen gewerbsmäßigen Hazardirens bestraft werden und gönnten sich für das brillante Geschäft jenes Abends gern drei Monate ungestörter Ruhe.

Die Polizei aber machte in ihren Listen neben den Namen der Herren einen kleinen Vermerk, welcher mit dem classischen „quos ego!“ gleichbedeutend ist. Das sicherste Geschäft, und nach seiner Idee ohne Risico, hatte der biedere Goldarbeiter gemacht. Freilich hatte er seinem Freunde, dem „Schlepper“, zehn Procent abgeben müssen, aber er hatte einen Schmuck im Werthe von einhundert Thalern für vierhundert Thaler baaren Geldes verkauft, hatte natürlich seinen Freund, den „Schlepper“, außerdem betrogen und am nächsten Tage denselben Schmuck von der hartbedrängten Amanda für fünfzig Thaler zurückgekauft. „Heißt ’n Geschäft!“ – Dieser biedere Goldarbeiter ist keine fingirte Person; auch er hat sein „quos ego!“ in den Listen der Polizei.

Herr v. L. aber hatte einstweilen genügende Kenntnisse von Berlin gesammelt; er verließ es, gewitzigt durch Erfahrung.




Unsere Wintergäste.

Mit Abbildung.

Der Mensch steht dem Menschen natürlich am nächsten, der darbende Mitbruder, die leidende Mitschwester hat den ersten und drängendsten Anspruch auf unsere Theilnahme, unsere werkthätige Hülfe, – allein über der Erfüllung dieser unserer nächsten und wichtigsten Pflicht dürfen wir nicht vergessen, daß auch die Thierwelt in ihren Nöthen ein Anrecht auf unser fürsorgliches Interesse, unsern Schutz und unsere Unterstützung besitzt, wenn sie deren bedarf. Auch in ihr giebt es eine zahlreiche Classe, die, sobald der Winter einzieht mit Frost und Kälte, sobald Schnee und Eis Feld und Flur bedecken, sich nicht mehr die nöthige Leibesnahrung und -Nothdurft verschaffen kann und oft genug der Noth der Zeit zahlreich zum Opfer fällt. Wir meinen vor allen jene anmuthigen befiederten Geschöpfe, die als Wintergäste sich den menschlichen Wohnstätten nähern und hülfeflehend unser Mitleid anrufen. Man muß nur einmal hinausgehen an einem strengen Wintertage, um zu sehen, wie viele der Nothleidenden, der Hungernden und Frierenden auch hier es giebt. – Dort sitzt z. B. ein Goldämmerchen zusammengekugelt, die Füßchen verbergend in das aufgebauschte Gefieder, das seinen Leib mit doppelt wärmender Luftschicht umhüllt. Wie traurig und selten erklingt jetzt sein „sit, sit!“ gegen das fröhliche Sommerliedchen: „Sichelchen schnied! – s’is s’is früh!“, mit dem es die Arbeit des Landmannes begleitet! Hier trippelt ein altes Finkenmännchen umher, das ausnahmsweise einmal seine Wintersaison bei uns Norddeutschen halten wollte; Weibchen und Junge wagen solch’ bedenkliches Unternehmen nie, sondern ziehen im Herbste südwärts. Was ist es aber, das diesen Sonderling zum Dableiben bestimmte? Ist der alte Herr zu träge zum Reisen und der fremden Länder überdrüssig, oder baute er fest auf die Mildthätigkeit der Deutschen und hält die Bangigkeit seiner Genossen vor dem deutschen Winter für ein angeborenes Vorurtheil? Wie demüthig-schweigsam aber, fast als hätte er einen unüberlegten Entschluß zu bereuen, sucht er nun die spärlichen Körnchen der „Wegebreite“ und der wilden „Cichorie“, die von den Winden verstreuten Sämchen der Erlen und Birken auf den verschneiten Wegen zusammen! Nicht einmal seinen einfachen Finkenruf, noch viel weniger seinen kecken „Schlag“ läßt er hören!

Haubenlerchen, Grauammern und Feldspatzen, Amseln, Goldhähnchen und Meisen aller Art flüchten aus Feldern und Wäldern in die Nähe unserer Wohnungen, um hier Schutz und Nahrung zu suchen:

„Im Felde draußen da giebt’s nichts mehr,
Der Schnee deckt Alles rings umher.
Da hörten wir euern Drescherschlag
Und ziehen dem lieben Klänge nach.“

Indeß nicht alle unsere Wintergäste lassen sich von der eisigen Hand des Winters niederbeugen; manche trotzen als wahre Helden jedem Ungemach. Meisen und Goldhähnchen, die ewig beweglichen und thätigen; sieht man nie traurig und verzagt still hocken wie Ammern und andere Feldflüchter. Der zwergige Zaunkönig treibt sich, als wollte er durch gymnastische Bewegungen seinen winzigen Körper erwärmen, unermüdlich in den Hecken und Reisighaufen umher und läßt selbst bei der strengsten Kälte seine kräftig schmetternde Stimme erschallen. Der Gesang des schmucken Wasserstaares ertönt sogar zwischen den Eisschollen an den Rändern der Gebirgsbäche und Wasserfälle.

Häufig gesellen sich zu unsern ständigen Wintergästen auch nordische Flüchtlinge, wie der „Quäker“ oder Bergfink, der „Zetscher“ oder Bergzeisig; seltener erscheint in ungewöhnlich strengen Wintern – unsere thüringischen Vogelsteller meinen irrig alle sieben Jahre – der schönbefiederte Seidenschwanz. Diesen Bewohnern des unwirthlichsten Nordens ist auch der strengste deutsche Winter nur Spaß gegen den ihrer Heimath, und unser Thüringer Wald mag ihnen selbst in seiner rauhesten Jahreszeit noch so mild und angenehm erscheinen, wie etwa uns ein Winteraufenthalt in Nizza oder Algier. Erlen- und Birkensamen, Wachholdern und Ebereschen, selbst die Beeren des gemeinen Faulbaums und Weißdorns –- kurz all’ die deutschen Baum- und Strauchfrüchte, welche unsere einheimischen Vögel verschmähten oder übrig ließen, sind für sie wahre Leckerbissen.

Diejenigen Vögel aber, welche von Natur nicht mit solchem Heldenmuthe begabt und überdies auch noch durch die Strenge des Winters ihrer gewöhnlichen Nahrung beraubt sind, haben umsomehr Ansprüche auf den Schutz des Menschen.

Auf keine bessere und zugleich für uns angenehmere und lohnendere Weise können wir ihnen solchen gewähren, als durch Anlegung von Fütterungen in der Nähe unserer Wohnungen, daß wir so zu sagen „offene Tafel“ für unsere lieben Gäste halten, von der sich ein jeder nach Lust und Bedürfniß, und wie es seinem besondern Geschmack und Appetit beliebt, zulangen kann. Vieljährige Erfahrung hat uns gelehrt, daß sich die Vögel für die ihnen so erwiesenen Wohlthaten nicht nur dankbar zeigen, ja oft dankbarer, als viele Nebenmenschen, sondern unsere Mildthätigkeit auch reichlich vergelten und daß uns aus dem sorglichen Hegen und Pflegen dieser nützlichen Thierchen ein hohes, reines Vergnügen erwächst.

Man versuche nur, auf dem Hofe, in einem offenen Schuppen, oder an einem sonstigen geschützten Platze, Körner und Küchenabfälle aller Art, auch Hollunder- und Vogelbeeren auszustreuen, und man wird bald zu seiner Freude bemerken, welch’ zahlreiche Gesellschaft von hungrigen Gästen sich einfindet, zumal wenn tiefer Schnee die Flur bedeckt, Reif und Eis die Bäume überzieht.

Noch ein größeres Vergnügen gewähren Fütterungen, die man vor den Fenstern der Hof- und Gartenseite des Hauses anlegt, indem man dazu entweder ein Blumenbret benutzt, oder ein ähnliches, womöglich aber altes Bret annagelt, auf dasselbe ein niedriges Fichtenbäumchen setzt und allerlei Futter ausstreut: Hafer, Rübsamen, Mohn, Hanf, gehacktes Fleisch, Brodkrumen etc.; Stückchen Speck, Lichtstümpfchen, Wurstschalen, Wallnußkerne an Fädchen gebunden, Haferkörner zu Kränzchen geschnürt und in die Zweige des Bäumchens gehängt, geben Hauptleckerbissen für die Meisen. Welch’ ein fröhliches Getümmel entwickelt sich vor unseren Augen, sobald die erste Scheu der armen, gedrückten Thierchen überwunden ist! Haus- und Feldspatzen, Ammern und Lerchen, Finken und Spechte, ja selbst die sonst so scheuen Amseln und Raben sprechen als willkommene Gäste vor. Von letzteren besuchen nun schon vier Jahre nacheinander dieselben Pärchen unsere Fütterungen, die wir mitten im Thüringer Walde theils auf Bäumen vor den Wohngebänden, theils an unsern Fenstern errichtet haben. Ja, es führen uns die einmal befreundeten Vögelchen, mögen sie ständige oder ambulante Wintergäste sein, auch von ihren Nachkommen und Verwandten alljährlich neue zu, gleichsam als sage es einer dem andern, [127] wo ein Plätzchen zu finden ist, an dem man es hegt und pflegt und dieser Pflege auch gern wohl ein Opfer bringt.

Vor Allem findet sich jedoch das muntere Volk der Meisen, klein und groß, auf unserer Fensterfütterung zahlreich ein: die schmucke, große Kohlmeise, die herrschsüchtige, kräftige Spechtmeise, das niedliche, zaghafte Tannen- oder Harzmeischen, die boshaft-tückische Blaumeise, seltener Hauben-, Sumpf- und Schwanzmeisen. Alle lassen sich’s wohl sein, wenn es auch nicht immer friedlich und rechtlich beim Schmause hergeht; denn auch hier, wie so oft im Menschenleben, muß der Friedlichere und Schwächere dem Unverschämten und Mächtigen weichen. Legt man ihnen einen Knochen mit Knorpel oder Fett hin, so ist dieser ganz besonders ein Gegenstand fortwährenden Streites und Kampfes, eines beständigen Drängens und Treibens. Begierig sucht sich jedes den besten Bissen abzumeißeln, was natürlich der Spechtmeise mit ihrer kräftigen „Keilpicke“ am leichtesten gelingt. Die in den Zweigen aufgebundenen Nußstückchen und Haferkränzchen werden entweder hängend und schaukelnd aufgepickt, oder zierlich zwischen die Krällchen gefaßt und auf dem Rande der Fütterung, meistens aber auf den nächststehenden Bäumen, verzehrt. Kurz, es ist ein gar lustiges und überaus anmuthiges Schauspiel, das sich tagtäglich an unserer Gasttafel erneuert.

Sobald indeß der Schnee verschwindet, werden unsere Fütterungen seltener besucht; die meisten unserer Schützlinge gehen dann, die Almosen verschmähend, in den Gärten und Feldern der von Natur ihnen angewiesenen Nahrung nach. Neue Freuden für uns und reiche Segnungen für die Fluren erblühen aber, wenn wir dafür sorgen, daß es unsern Wintergästen späterhin nicht an Gelegenheit zum Nisten fehlt, sie werden sich dann um so lieber auch häuslich bei uns niederlassen und den Sommer über in unserer Nähe verweilen.

Dies erreicht man am sichersten dadurch, daß man einestheils für die kleinen Sänger an geschützten, ruhigen Orten dichte Laubhecken anlegt, anderntheils für die Höhlenbrüter, namentlich Meisen, alte, hohle Bäume stehen läßt und zu Vogelwohnungen herrichtet. Wer dies aber nicht in seiner Umgebung hat oder nicht dulden mag, der kann auch dafür in zweckmäßigen Nist- und Brutkästen einigen Ersatz bieten.

Gelingt es uns, recht viele Miethsleute für unsere „Arbeiterquartierchen“ herbeizuziehen – welcher Genuß erwächst uns daraus! Schon das Beobachten dieser reizenden, immerfrohen, ewig regsamen Thierchen mit ihren heitern Sangesweisen, das Belauschen beim Bauen, Brüten und Füttern gewährt ein stilles, inniges Vergnügen. Und welch’ eine Freude erst, wenn die kleinen Nimmersatte, eins nach dem andern, als wollte es gar kein Ende nehmen, fröhlich piepend aus ihren Löchern schlüpfen, sich auf den nächsten Zweigen in Reih und Glied niederlassen oder mit lebhaftem Gezirpe schaarenweis von Baum zu Baum schwärmen, während die Alten in der emsigsten Geschäftigkeit sorglich um sie herflattern, fütternd, schützend und warnend!

So gewährt das Hegen und Pflegen unserer Wintergäste nicht nur hohe, reine Naturfreuden, sondern trägt auch wesentlich dazu bei, daß im Frühjahr Gärten und Fluren, von zahlreichen Sängern belebt, von Insectenfraß verschont, im schönsten Grün und vollster Blüthenpracht prangen.

Gewiß, es bedarf für den Naturfreund keiner besonderen Aufforderung, unsern befiederten Lieblingen, vor allen aber den Wintergästen, jeden möglichen Schutz angedeihen zu lassen.




Blätter und Blüthen

Zum ersten Mal von einem überseeischen Unternehmen deutscher Hand und deutschen Capitals berichten zu können, gehört zu denjenigen Erscheinungen in Deutschland, welche wir dem Aufschwung zu nationalem Bewußtsein in allen Volkskreisen verdanken. Wir brauchen unsere Leser nicht an die Zeit zu erinnern, wo bei uns Volk und Industrie in der Dienstbarkeit vor dem Ausland sich gegenseitig zu übertreffen suchten. Wem es seine Mittel erlaubten, schmückte sich und sein Haus mit Erzeugnissen französischen Geschmacks oder englischer Kunstfertigkeit. Ein Hut konnte nur von Paris gut sein, ein Bleistift nur aus England. Um ihre Werkstätten nicht schließen zu müssen, arbeiteten viele der geschicktesten deutschen Handwerker und Künstler entweder für französische und englische Häuser, oder erkauften sich die Erlaubniß, ihre Erzeugnisse mit deren Firmen auszustatten. Ein Herzog von Coburg brachte einen Sattel von Paris mit heim und zeigte ihn seinem Hofsattler als eine Musterarbeit, aber zugleich mit dem Bedauern, daß, wenn etwas daran reiße, hier Niemand es ihm so trefflich wiederherstellen könne. Der Mann betrachtete das Werk mit eigenthümlichem Wohlgefallen und ersuchte Se. Durchlaucht, eine kleine unscheinliche Naht öffnen zu dürfen. Sie wurde gegeben, und der Herzog las mit Staunen die Firma seines Hofsattlers. „Ja, Durchlaucht, wenn meine Sättel erst in Paris waren, sind sie zehnmal mehr werth, als von hier,“ sagte mit vollem Recht der deutsche Meister. Und ebenso überzeugt vom Werth des Fremden pries einmal Alexander von Humboldt in Berlin ein illustrirtes Werk mit angeblich englischem Kupferstich und Buntdruck, mit derselben Ueberzeugung behauptete er, daß so etwas nur in England, nimmermehr aber in Deutschland hergestellt werden könne, bis man ihm nachwies, daß Stich und Druck aus einer Berliner Werkstatt hervorgegangen seien. Hat doch bekanntlich H. Heine sogar jedem deutschen Mädchen die Anmuth abgesprochen, die er an einer Tänzerin auf einem Pariser Balle bewunderte, bis diese ihm mit zierlichster Verneigung sagte: „Ich danke Ihnen, ich bin aus Schwabach bei Nürnberg.“

Ist auch die Zeit dieser Erniedrigung unseres Gewerbs- und Kunstfleißes vor dem Ausland vorbei, Dank dem erwachten Nationalehrgefühl und vor Allem den großen Welt-Industrie-Ausstellungen, auf welchen die deutsche Nation die segensreichsten Siege dieses Jahrhunderts errungen, namentlich dadurch, daß sie ihren industriellen Werth nicht nur vom Ausland anerkannt sah, sondern selbst kennen lernte, –- so hält das alte Vorurtheil doch bei großen Unternehmungen hartnäckig Stand, und dahin gehören Eisenbahnen, Gasanstalten und Wasserleitungen: sie überlassen deutsche Staaten und Gemeinden nur allzugern heute noch englischem und französischem Capital und Unternehmungsgeist. Sehen wir doch selbst die schweren Millionen für Kriegsschiffe nach England und Frankreich gehen, anstatt sie dem jetzt so stark besteuerten deutschen Fleiße zu Gute kommen zu lassen; denn daß die Deutschen, deren Eisen- und Stahl-Industrie selbst England mit Neid und Besorgniß für die Zukunft betrachtet, zum Bau von Panzerschiffen unfähig sein sollten, glaubt heutzutage Niemand mehr.

Da ist es allerdings etwas Außerordentliches, daß endlich einmal ein deutsches Haus eine der größten Unternehmungen der Gegenwart selbständig in die Hand nimmt: eine neue, directe telegraphische Verbindung von England und Ostindien durch Preußen, Rußland und Persien. Von den Regierungen der genannten vier Staaten ist bereits dem Hause „Siemens und Halske“ in Berlin (dessen enge Verbindung mit der hier mitbetheiligten Firma „Siemens Brothers“ in London allerdings das für den englischen Nationalstolz sonst darin liegende unerträgliche Opfer an Nationalehre ansehnlich gemildert hat) die Genehmigung zum Bau dieser Linie unter ziemlich liberalen Bedingungen ertheilt.

Unmittelbare Beziehungen zu Deutschlands Großverkehr hat diese Bahn allerdings nicht, eben weil sie ausdrücklich nur in England und Ostindien Ausmündungen ihres elektrischen Stromes beabsichtigt; Preußen, Rußland und Persien werden nur die gefälligen Träger und Hüter desselben im britischen Interesse sein. Unsere Freude beschränkt sich vorläufig darauf, deutschen Unternehmungsgeist an einem so großen auswärtigen Werke hauptbetheiligt zu sehen, und wir erhöhen unsere Freude, wenn wir die ganze Großartigkeit des Verbindungszwecks uns vor Augen führen, begründet auf das Ergebniß des bisherigen telegraphischen Betriebs über Constantinopel und durch das rothe Meer. Der gegenseitige Gesammtverkehr Englands und Ostindiens beziffert sich mit achthundert Millionen Thaler. Trotz der vielen Unzuträglichkeiten namentlich des türkischen Theils der bisherigen sogenannten Ueberlandpost – die Depeschen waren von Constantinopel bis Kuradja, hundert Meilen vor Bombay, durchschnittlich acht Tage unterwegs, oft selbst fünfzehn Tage! ja, es kamen sogar sehr bedeutende Depeschen-Ausbeutungen, -Fälschungen und -Unterschlagungen vor, was Alles die neue Linie zu einer Nothwendigkeit macht –- und trotz des hohen Preises von fünfunddreißig Thaler für eine einfache Depesche sind täglich durch Constantinopel nach und von Indien im Durchschnitt zweihundert Depeschen befördert worden. Wie aber muß dieser Verkehr sich steigern, wenn es Siemens und Halske gelingt, die Verbindungszeit zwischen England und Ostindien auf drei bis vier Stunden zu bringen, denn länger soll, nach deren Berechnung, eine Depesche von Teheran, der Hauptstadt Persiens, bis wohin das englisch-indische Eisenbahnnetz reicht, nach London nicht laufen dürfen. Dieser Strang vermittelt sonach den Verkehr zwischen Westeuropa und einem asiatischen Handelsgebiet von vierundvierzigtausend Quadratmeilen und hundertsechsunddreißig Millionen Menschen; da aber von England das Telegraphenkabel nach Amerika reicht und von Ostindien der Draht auch nach China und Japan weiter gehen wird, so stellt dieser Strang zugleich die erste kürzeste Verbindung von drei Erdtheilen her, und eine deutsche Hand ist es, welche die Stimmen der Völker von Amerika bis Europa und bis zum fernsten Asien zusammenführt!

Möge nur auch von den deutschen Gesandten und Consuln diesem kühnen deutschen Unternehmen in der Fremde ein besserer Schutz zu Theil werden, als leider viele Deutsche ihn bisher für ihre so vielfach gefährdeten Interessen im Ausland gefunden haben. Wir wollen das Sündenregister dieses Theils unserer diplomatischen Verwaltung hier nicht erst aufdecken, hoffen aber, daß die Telegraphen allerwärts es ihre Sorge sein lassen, derartige Pflichtvernachlässigungen unnachsichtlich in die Heimath zu tragen. In solcher Weise kann auch diese deutsche Ueberland-Linie Nutzen für Deutschland bringen, bis dieses selbst in die Lage kommt, seine Finger auf überseeische Drähte zu legen.



[128] Ein Vorkämpfer der Frauenbildung in Indien. Wie in allen Ländern des Orients, so stehen auch in Indien die Frauen auf der niedrigsten Stufe geistiger und moralischer Bildung; sie werden zu nichts erzogen, als zur sclavischen Unterwürfigkeit gegen den Mann, dem sie bereits als Kinder von zehn bis zwölf Jahren vermählt werden; darüber hinaus ist ihnen alles Denken und Fühlen förmlich untersagt.

Man darf nur die Vorschriften lesen, welche in dem heiligen Buche der Inder, dem Polavor Purina, den dortigen Frauen gegeben werden. Dieselben lauten z. B.: „Die Frau darf keinen andern Gott auf Erden haben, als ihren Mann. Möge derselbe nun auch alle Fehler und Gebrechen besitzen und noch so bösartig und unangenehm sein, so muß ihn die Frau dennoch stets als ihren Gott betrachten, ihm alle Sorgfalt widmen und ihm niemals Veranlassung zu Aerger und Verdruß geben. Sie muß sich ihm zu Gefallen schmücken und zierlich kleiden und sich in jeder Hinsicht nach ihm richten, ihm niemals widersprechen; lacht er, so muß sie auch lachen; weint er, so muß sie gleichfalls weinen. Sie darf nicht eher essen, als bis ihr Mann gegessen hat; fastet er, so muß sie auch fasten; kann er nicht essen, so darf sie auch nicht essen. Singt der Mann, so muß die Frau außer sich vor Freude sein; tanzt er, so muß sie ihm mit Entzücken zusehen; spricht er, ihm mit Bewunderung zuhören. Ist der Mann zornig, sagt er ihr beleidigende Worte oder schlägt sie gar ungerechterweise, so muß sie seine Hände küssen und ihn um Verzeihung bitten, aber weder schreien noch entfliehen.“

In diesem Tone gehen die Vorschriften fort und enden schließlich mit dem Gebot, sich nach dem Tode des Gatten mit ihm lebendig verbrennen zu lassen. Diesen traurigen Zuständen so viel als möglich zu steuern und den unglückseligen, geknechteten Frauen das Licht der Aufklärung zu bringen, ist ein wahrhaft edler Mann in Bombay bemüht, der seit dreißig Jahren daran arbeitet, den armen indischen Weibern, welche in stumpfem Gleichmuth dahin vegetiren, Urtheils- und Denkkraft, Verstand und Bildung einzuflößen.

Sein Name ist Manokdschi Kursetdschi, er gehört der Religionskaste der Parsen oder Feueranbeter an und zählt durch Geistesbildung, durchdringenden Verstand und Reichthum zu den berühmtesten Notabilitäten Indiens; er ist Mitglied aller erdenklichen Gesellschaften für wissenschaftlichen und sittlichen Fortschritt und bereiste kürzlich wieder Europa, verweilte zu Beginn dieses Jahres in Paris und wurde dort zu den Tuilerienbällen eingeladen, wo das französische Kaiserpaar den seltenen Mann in jeder Weise auszeichnete.

Er stiftete 1863 in Bombay die erste Mädchenschule für indische Mädchen nach englischem System und nannte dieselbe zu Ehren der Prinzessin von Wales „Alexandra-Institution“. Trotz seiner unablässigen Bemühungen zählte doch die Schule 1865 erst zwanzig Schülerinnen im Alter von sechs bis zu dreizehn Jahren, von denen dreizehn der Parsenrace angehörten und sieben Hindumädchen waren. Allmählich gelang es dem unermüdlichen Manne mehr und mehr, die herrschende Unwissenheit und den finsteren Aberglauben zu besiegen, am meisten dadurch, daß er selbst mit dem Beispiel voranging, alle Vorurtheile, Gewohnheiten und Traditionen seiner Kaste bei Seite zu werfen, seinen Kindern eine ganz europäische Bildung und Erziehung zu geben und sein Haus den Europäern in gastfreundlichster Weise zu öffnen, wobei seine Töchter allen indischen Gebräuchen zum Trotz in liebenswürdigster Weise die Honneurs machten. Freilich wurde dies Beispiel nicht sogleich von seinen Landsleuten befolgt, sondern erwarb ihm anfangs die bitterste Feindschaft derselben, aber endlich gelang es seiner Beharrlichkeit, mit der Zeit große Erfolge zu erringen. Manokdschi Kursetdschi hat zwei Töchter und zwei Söhne. Die Söhne studiren in Oxford und Cambridge, die Töchter sind die getreuen Schülerinnen und Gehülfinnen des Vaters; sie leiten den Unterricht in den von ihnen begründeten Schulen und beschäftigen sich mit Werken der Barmherzigkeit, pflegen die Kranken, trösten die Betrübten, gleichviel, ob dieselben Parsen, Hindus oder Christen sind.

Die Verheirathung der ältesten dieser Töchter, Miß Amy Manokdschi Kursetdschi, welche kürzlich in Bombay stattfand, war ebenfalls ein glänzender Protest gegen die hergebrachten indischen Gebräuche; der Vater vermählte seine Tochter nämlich nicht in den Kinderjahren, nach eigener Willkür, wie dort stets geschieht, sondern ließ das herangewachsene, in jeder Hinsicht trefflich ausgebildete Mädchen eine Wahl nach eigener Herzensneigung treffen, was eine unerhörte Thatsache ist und auf’s Neue den Zorn aller Landsleute erregte. So bezeichnete die Hochzeit von Miß Amy mit Mr. K. R. Cama förmlich eine neue Aera und eine schönere Zukunft für die indische Frauenwelt durch den Triumph der Civilisation. Alle hervorragenden Persönlichkeiten der europäischen Gesellschaft von Bombay wohnten diesem Feste bei, und die Damen lächelten dem jungen Parsenmädchen, welches den Muth hatte, eine Liebesheirath zu schließen, ihren freundlichsten Glückwunsch zu.


Der Papst als Kunstmäcen. Vor Kurzem durchwanderte Pius der Neunte ganz allein die Zimmer und Säle des Vatican, um sich nach dem Gebote seines Arztes etwas Bewegung zu machen, was er ungünstigen Wetters halber nicht im Freien ausführen konnte. In einem der Säle bemerkte er einen sehr jungen Mann, der in stummer Betrachtung oder vielmehr Verzückung vor einem bewunderungswürdigen Frescogemälde des „göttlichen Raffael“, wie ihn seine Landsleute nennen, dastand.

Stillschweigend wollte der Papst vorüberschreiten, um den Kunstenthusiasten nicht zu stören, aber Jener hörte dennoch ein leichtes Geräusch und wandte das Haupt, worauf er sich tief verbeugte, als er den Greis in seinem weißen Gewande vor sich stehen sah, der ihn mit freundlichem und klugem Lächeln betrachtete.

Pius der Neunte hatte eine Künstlerseele in dem jungen Menschen errathen und frug denselben wohlwollend: „Sind Sie ein Maler, mein Sohn?“

„Ja, heiliger Vater, ich möchte wenigstens einer werden.“

„Wahrscheinlich sind Sie Ihrer Studien halber nach Rom gekommen?“

„So ist es, heiliger Vater.“

„Ohne Zweifel sind Sie ein Schüler der hiesigen Malerakademie?“

„Ach nein, leider nicht.“

„So haben Sie irgend einen besonderen Lehrer?“

„Nein, auch das nicht, ich bin zu arm dazu. Ich muß meine Studien ganz allein treiben und habe mir Raffael zum Lehrer und Meister auserkoren.“

„Nun, mein Sohn, es wäre aber doch vielleicht besser für Sie, wenn Sie in die Akademie einträten. Thun Sie es sobald als möglich; wenn es Ihnen recht ist, werde ich die Kosten übernehmen?“

„O, heiliger Vater, wie kann ich – –“

„Still, danken Sie mir nicht.“

„Aber Euer Heiligkeit wissen nicht, daß ich – –“

„Sprechen Sie, mein Sohn, was haben Sie auf dem Herzen?“ sagte Pius gütig.

„Ich bin Protestant.“

„O,“ erwiderte lachend der Papst, „was geht das die Akademie an?“

Seit dieser Zeit studirt Georg Johnston auf Kosten des Papstes auf der römischen Malerakademie und gedenkt seinem Gönner alle Ehre zu machen.


Ein Zahlenwunder. Vierundzwanzig Buchstaben sind es, durch deren Versetzung alle Sprachen der Erde dargestellt werden und, seitdem die Schrift erfunden ist, alles Schriftliche aller Menschen in allen Sprachen ausgedrückt wird; die Millionen Bücher aller Bibliotheken der Welt sind nichts, als die vierundzwanzig Buchstaben in immer neuen Versetzungen, deren Möglichkeit uns endlos erscheint, obwohl ihre Zahl sich genau berechnen läßt. Ist das nicht ein großes Wunder? Aber wir spielen mit ihm durch das ganze Leben, und Geschlechter sterben, ehe Einer an das Wunder der Sprache denkt und den Stift zur Hand nimmt, um die Zahlenreihe aufzubauen, die ihm ein einfaches Multiplicationsexempel giebt. Da 2 Buchstaben nur zwei Mal, 3 schon sechs Mal, 4 vierundzwanzig und 5 einhundertundzwanzig Mal versetzt werden können, so finden wir die Zahl der Versetzungen von 6 Buchstaben, wenn wir die 6 mit der Versetzungszahl der 5 multipliciren, also 6 × 120 = 720, 7 × 720 = 5040, 8 × 5040 = 40,320, das heißt 8 Buchstaben sind vierzigtausenddreihundertzwanzig Male zu versetzen u. s. f. Nach dieser einfachen Weise kann Jedermann selbst die Zahl der Versetzungen aller vierundzwanzig Buchstaben berechnen, und wenn er nichts davon hat, so ist doch das Erstaunen erlebenswerth, welche ungeheure Summe schließlich herauskommt, und die große Beruhigung, daß das Leben der Sprache noch lange keine Erstarrung wegen Mangels an Neubildung zu befürchten hat. F. Hfm.


Ueber die entsetzliche Katastrophe auf dem Sloman’schen Auswandererschiff „Leibnitz“ verweisen wir unsere Leser auf Nr. 7 unserer Beilage der „Deutschen Blätter“, welche ausführlichen Bericht darüber bringt.

Die Redaction.




Opferstock für Ostpreußen.

Es gingen ferner ein: Aus Meißen 1 Thlr.; von einem Handwerksburschen aus Dankbarkeit für die im Jahre 1859 in Ostpreußen empfangenen Wohlthaten (aus Hildburghausen) 2 Thlr.; Postsecr. Clement in Sulza 1 Thlr.; E. K. in Eibenstock 1 Thlr.; N. N. in Bamos-Mikol 5 Thlr.; Kellner-Verein Unità in Leipzig, ges. am Stiftungsfeste 13 Thlr.; W. Hoffmann in Asch 2 Thlr.; M. Röpler in Asch 1 Thlr.; I. L. in Marburg 1 Thlr.; Reuter in Oberndorf 1 Thlr.; aus der Wasserheilanstalt Auer in Mecklenburg 18 Thlr.; aus Remsa 2 Thlr. 22 Sgr. 2 Pfge.; Mahla und Gräser in Remsa 5 Thlr.; N. N. in Bützow 1 Thlr.; Dr. Enders in Lengsfeld 5 Thlr.; ges. in einer fröhlichen Gesellschaft im Bergschlößchen zu Imnitz, von Elisabeth Taubert 6 Thlr. 191/2 Sgr.; Gewerbeverein in Löbau, ges. durch L. Oliva 13 Thlr. 1 Sgr. 4 Pfge.; C. B. 4 Thlr.; aus Groß-Zschocher 1 Thlr.; N. N. in Deventer 1 Thlr.; Fleck in Albersdorf 10 Thlr.; aus Kieritzsch 1 Thlr. 10 Sgr.; G. S. in Schleiz 5 Thlr.; D. in Kirchheimbolanden 5 fl. rhein.; aus Kaiserslautern: Am Stiftungsfeste des Turnvereins Kaiserslautern, ges. durch F. Hermanny 65 fl. 41 kr., von Frau C. S. 30 kr., aus der Casse des Turnvereins 9 fl. und aus der Sparbüchse zweier Kinder 1 fl. 49 kr., zusammen 77 fl. oder 44 Thlr.; Liedertafel in Kirchdorf in Oberösterreich 23 fl. ö. W.; Ertrag eines Dilettanten-Concerts im Club in Holzminden 48 Thlr. 15 Sgr.; die Erholungsgesellschaft in Sonneberg 50 Thlr.; Sammlung in der Bürgerschaft von Stadt Ilm, durch den dortigen Stadtrath 63 Thlr. 25 Sgr. 8 Pfge.

Von diesen Eingängen sandten wir sofort ab an: Kreisrichter Peteaux in Ragnit 30 Thlr.; Lehrer Krafft in Blecken bei Gumbinnen 25 Thlr.; Pfarrer Passauer in Georgenburg bei Insterburg 25 Thlr.; Hülfsverein für Ostpreußen in Berlin 150 Thlr.; Redaction des Bürger- und Bauernfreundes 150 Thlr.

Die Redaction.




Inhalt: In sengender Gluth. Von F. L. Reimar. (Schluß.) – Entsagung und Trost. Gedicht von Konrad Krez. – Ein Menschenherz. Gedicht von Robert Prutz. – Charaktere aus der Thierwelt. Von Gebrüder Adolf und Karl Müller. 2. Der Edelmarder. Mit Abbildung. – Zum Wohle des Schulkindes. Lebensluft spendende Zimmerpflanzen. Von Bock. – Beim Dichter der „Studien“. Von Mariam Tenger. – Bilder aus dem Berliner Rechtsleben. Von F. K. I. – Unsere Wintergäste. Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: Zum ersten Mal. – Ein Vorkämpfer der Frauenbildung in Indien. – Der Papst als Kunstmäcen. – Ein Zahlenwunder. – Katastrophe auf dem Auswandererschiff „Leibnitz“. – Opferstock für Ostpreußen.


  1. Wir entnehmen diese Gedichte dem von Christian Schad und Ignaz Hub jüngst herausgegebenen „Album für Ferdinand Freiligrath etc.“, können aber die Bemerkung nicht unterdrücken, daß uns keine der anderen darin veröffentlichten Poesien mit den hier mitgetheilte auf gleicher Höhe zu stehen scheint. D. Red.
  2. Der vor wenigen Tagen nach längerem Leiden gestorben ist. D. Red.
  3. Von anderen Seiten wird freilich der Hergang etwas anders erzählt. D. Red.