Die Gartenlaube (1868)/Heft 7

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 7.   1868.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



In sengender Gluth.
Von F. L. Reimar.
(Fortsetzung.)


Die Aufmerksamkeit der beiden Officiere wurde in diesem Augenblick durch einen Neueintretenden in Anspruch genommen, und nachdem sie eine Secunde flüchtig hingeschaut, sprangen Beide gleichzeitig auf, um ihn zu begrüßen.

„Tausend Mal willkommen, Lossau! Sie hier in H.? Zur Cur oder zum Vergnügen?“

„Eigentlich weder um des einen noch um der andern willen, insofern ich es auf keinen längeren Aufenthalt abgesehen habe, sondern nur auf der Durchreise hier bin,“ entgegnete der Angeredete, indem er den beiden ihm aus der Residenz bekannten Herren herzlich die Hände schüttelte. „Ich habe meinen Bruder besucht, um ihm selbst die Nachricht von meiner Verlobung zu bringen.“

„Ah, Sie sind verlobt, Lossau? So hat das Gerücht Recht, welches Ihnen eine Neigung für die schöne und liebenswürdige Helene von Wernitz zuschrieb?“

„Sie ist seit acht Tagen meine Braut!“ erwiderte Lossau mit freudigem Stolz.

Die Herren statteten ihre Glückwünsche ab, und es entspann sich dann noch eine kurze Unterhaltung, in welcher festgestellt wurde, daß man den heutigen Tag, den einzigen, welchen Alfred zu seinem Aufenthalt bestimmt hatte, gemeinschaftlich verleben wollte.

„Ehe ich aber den Saal verlasse, müssen Sie mir schon erlauben, etwas zu thun, was ich freilich nicht vor meinen besseren Gefühlen verantworten kann, was mich indessen mit unwiderstehlicher Gewalt lockt: mein Glück einmal am grünen Tisch zu versuchen!“

„Hüten Sie sich, Lossau, Sie rufen Ihren Dämon auf!“ sagte der ältere der beiden Officiere, halb lachend, halb im Ton ernstgemeinter Warnung. Aber Alfred achtete nicht auf ihn und stand im nächsten Augenblick an der Bank, wohin die beiden Officiere ihm folgten, deren Blicke sich hier unwillkürlich nach der schönen Spanierin umsahen, welche sie während des Gesprächs mit Alfred vergessen hatten. Sie war aus dem Saale verschwunden.

Das Spiel nahm seinen Anfang. Alfred setzte ein Goldstück auf eine Karte; die Karte verlor. Er verdoppelte seinen Einsatz und verlor wieder. Unmuthig wollte er dem Glück trotzen und spielte höher und höher – immer mit demselben Erfolg. Sein Gesicht wurde blässer, sein Auge glühender, und als das Spiel beginnen sollte, schüttete er den ganzen Inhalt seiner Börse auf den Tisch.

„Ich setze auf dieselbe Karte mit Ihnen und dieselbe Summe!“ sagte in diesem Augenblicke eine tiefe, klingende Frauenstimme neben ihm, und als er sich umwandte, sah er die Dame an seiner Seite, welche der Officier vorhin als ‚die schöne Spanierin‘ bezeichnet hatte. Es streifte ihn indessen nur ein flüchtiger, wie es schien, gleichgültiger Blick aus ihren dunkeln Augen, der es ungewiß ließ, ob sie ihn kannte. Er dagegen hatte sie erkannt und starrte sie einen Moment betroffen, fast geistesabwesend an, so daß er auf den Fortgang des Spiels nicht achtete und erst wieder daran erinnert ward, als sich Laute der Ueberraschung von den Umstehenden hören ließen und ihm ein großer Haufen Gold zugeschoben wurde. Die Karte hatte gewonnen.

„Noch einmal, setzen Sie noch einmal!“ sagte sie ruhig, und doch kam es Alfred vor, als läge etwas Gebietendes in ihrer Stimme. Fast mechanisch that er, was sie verlangte, und konnte es nicht hindern, daß sie wie zuvor auf seine Karte setzte. Der Erfolg war wie das erste Mal, das Glück dem gemeinschaftlichen Spiel günstig.

„Und nun zum dritten Mal!“ rief die Fremde, welche ihm so nahe getreten war, daß nur er die Worte verstand, die sie halbflüsternd hinzusetzte: „Ich fühl’s, ich habe Glück, wenn ich mit Ihnen spiele!“

Sein Trotz erwachte; er wollte ihre Herausforderung, ihre Siegesgewißheit zu Schanden machen und setzte rasch auf’s Neue, mit dem geradezu brennenden Verlangen, diesmal zu verlieren, denn es war ihm, als würde er damit einen Bann brechen, mit dem sie seinem Schicksal drohte. Es war vergebens – das Glück blieb eigensinnig bei seinen Erwählten und das Spiel endigte mit einem neuen bedeutenden Gewinn für die beiden Partner.

Auf dem Gesicht der Fremden hatte der Ausgang des Spiels durchaus keine Veränderung hervorgerufen, nur glaubte Alfred zu fühlen, daß ihr Blick blitzartig und mit einem triumphirenden Lächeln auf ihn gefallen war; sie anzusehen hatte er nicht gewagt. Nachdem ihr der ihr zugefallene Antheil des Gewinns ausgezahlt worden war, winkte sie ihrer Begleiterin und verließ mit ihr den Saal; auch Alfred kam es nicht mehr in den Sinn, das Spiel fortzusetzen.

Die Freunde traten zu ihm und beglückwünschten ihn über seinen Erfolg. „Und dreifach wegen der Art, wie das Glück Sie heimsuchte,“ sagte der jüngere der beiden Herren. „Teufel, Lossau, welches Verdienst haben Sie vor den unsterblichen Göttern, daß sie Ihnen ihren Segen aus solchen Händen zuströmen ließen? [98] Denn daß Ihnen die Spanierin das Glück brachte, ist sicher! Allerdings kam sie mir in dem Moment, wo sie auf Ihre Karte setzte, eher vor wie ein Dämon denn wie ein Engel, aber schön war sie dennoch zum Rasendwerden!“

Alfred suchte sich durch einen Scherz mit den Gefährten abzufinden, von denen er sich am liebsten ganz losgesagt hätte. Es war ihm unerträglich, noch länger in H. zu bleiben, wo jeder Schritt ihm die Fremde noch einmal entgegenführen konnte, aber er sah sich trotzdem gezwungen, der Verabredung gemäß bis zum folgenden Tage zu verweilen und seine innere Beklommenheit, so gut es ging, durch ein heiteres Gesicht und eine leichte Unterhaltung zu verbergen. Die Spanierin sah er indessen nicht wieder, denn sie erschien an dem Tage weder auf der Promenade, noch Abends im Cursaal, und Alfred fühlte daher sein Herz wieder erleichtert, als er am folgenden Morgen H. verließ.

Wenige Tage später hieß es, auch die Fremde sei abgereist, doch vermochte Niemand zu sagen, wohin sie sich gewandt habe.

Die flüchtige Begegnung mit der schönen Frau, in welcher Alfred die wieder erkennen mußte, für welche sein Herz einst leidenschaftlich geglüht und die er dann verlassen hatte, weil er es seiner Ehre und der Pflicht gegen seinen Bruder schuldig zu sein glaubte, hatte ihn zwar anfangs fast tödtlich erschreckt, aber bei seiner leichtlebigen Natur hatte er den Eindruck rasch überwunden, und wie jenes Gefühl seit Jahren aus seiner Brust gewichen war, so hatte ihm die unerwartete Erscheinung fast nur die Erinnerung eines bösen, unheimlichen Traumes hinterlassen. Um derartigen Erinnerungen und Empfindungen aber großen Einfluß auf sich zu gestatten, dazu gehörte er viel zu sehr dem Leben an und einem Leben, das durch seine kürzlich geschlossene Verlobung ein doppelt heiteres für ihn geworden war. Sein ausgezeichnet heller Kopf, seine besonderen Fähigkeiten hatten ihm früh eine glänzende Carriere eröffnet und die von Allen anerkannte Liebenswürdigkeit seines Wesens, seine gewandten Formen nicht wenig dazu beigetragen, seine Stellung nach allen Seiten hin zu befestigen, so daß seine Freunde ihn scherzend einen Liebling des Glücks zu nennen pflegten, dem namentlich kein weibliches Herz zu widerstehen vermöge.

Der ältere Lossau, welcher sich längst mit dem Bruder ausgesöhnt und es ihn nicht hatte entgelten lassen, daß sein eigenes Lebensglück an ihm gescheitert war, hatte zu diesem gefährlichen Ruhm oft den Kopf geschüttelt und als besorgter, väterlicher Freund über die in dieser Beziehung etwas leichten Grundsätze Alfred’s nicht selten einen ernsten, sogar strengen Tadel ausgesprochen. Doch auch er mußte sich sagen, daß er ihn nicht zu bessern vermöge, und sein Wort war: „Nur eine wahre, tiefe Liebe vermag ihn zu heilen, und Gott gebe, daß er bald einen würdigen Gegenstand für dieselbe finde!“ Groß war daher seine Freude, als Alfred, welcher kürzlich zum Legationsrath ernannt worden war, ihm mittheilte, daß er von der Neigung zu einem jungen Mädchen, das einer angesehenen Familie angehörte und das auch Hermann als schön und edel kannte, besiegt worden sei und von ihr das Geständniß der Gegenliebe erlangt habe. „Es ist dies einer der schönsten Tage meines Lebens!“ rief er aus, als er den Bruder glückwünschend in die Arme schloß. „Will’s Gott, sehe ich jetzt ein neues Glück und ein neues Geschlecht um mich her aufblühen und weiß dann auch, wofür ich selbst gewirkt, geschafft und gearbeitet habe!“ Dann verhieß er, in wenigen Wochen nach der Residenz zu kommen, um die Braut Alfred’s näher kennen zu lernen und sich ihr selbst als Bruder vorzustellen.

Ein Auftrag, den er dem jüngeren Bruder an seinen Bankier in der Residenz mitgegeben, führte Alfred etwa vierzehn Tage nach seiner Rückkehr zu diesem, und da die Herren sich außerdem kannten, so verweilten sie noch einige Zeit in freundschaftlichem Gespräch in des Bankiers Arbeitszimmer. Da hörte der Erstere plötzlich außen auf dem Corridor eine ihm wohlbekannte, volle und tiefe Stimme an einen Diener die Frage nach dem Bankier Melsing richten, und ehe er sich noch von seiner Ueberraschung erholen konnte, wurde von diesem die Thür geöffnet und Rosalie trat ein.

Der Bankier, welcher sie schon kannte, empfing sie mit der größten Artigkeit, und nachdem er sie zu einem Sitz geleitet hatte, stellte er Alfred der Dame vor, indem er diese zugleich als Frau Baronin von Brinkhorst bezeichnete. Ohne ihm Zeit zu einer Anrede zu lassen, sagte sie:

„Wir haben uns schon gesehen! Erst vor Kurzem – bei einer flüchtigen Begegnung in H. Herr von Lossau wird sich vielleicht erinnern.“

Der Ton, mit welchem sie sprach, war so vollkommen ruhig und gleichgültig, ihre Haltung, ihre Miene so durchaus kalt und unbewegt, daß Alfred nicht wußte, ob das unangenehme Gefühl über die Verleugnung jeder Empfindung stärker in ihm war, oder die Bewunderung der Weltdame, welche sich und ihn über das Peinliche des Wiedersehens mit einer solchen Sicherheit hinwegzuhelfen wußte. Sie ließ ihm auch kaum Zeit, ihr anders als durch eine Verbeugung zu antworten, und wandte sich sofort an Melsing, der von ihr mit der Führung eines Geschäfts beauftragt war und ihr darüber eine Auskunft zu geben hatte, welche ihn nöthigte, einige Papiere herbeizuholen.

Alfred war schon im Begriff, dem unwillkommenen Zusammentreffen zu entfliehen, als der Bankier sich mit den Worten an ihn wandte:

„Ich darf wohl die Bitte wagen, lieber Lossau, daß Sie der Frau Baronin bis zu meiner Rückkehr, die nur wenige Minuten kosten wird, Gesellschaft leisten!“ und er sah sich zu der Erklärung gezwungen, daß ihm dies ein besonderes Vergnügen gewähren würde.

Kaum hatte der Bankier Beide verlassen, so sagte Rosalie:

„Es ist mir lieb, daß ich einen Augenblick mit Ihnen allein bin, denn ich habe über eine Angelegenheit mit Ihnen zu sprechen, welche zu den Veranlassungen meines Hierseins gehört und zu deren Erledigung mir trotz der bereits achttägigen Dauer desselben die Gelegenheit fehlte.“

Sie sprach dies mit der unveränderten Gelassenheit, welche sie bei ihrer ersten Anrede zur Schau getragen hatte und die ihm das Blut zum Kochen brachte. Hatte er je mit dem Gefühl der Schuld an diese Frau gedacht, so war dasselbe in diesem Augenblick ausgelöscht und sein Gedanke nur, daß um ihretwillen der Bruder ein einsames, freudloses Leben führte; den Antheil, welchen er selbst daran hatte, meinte er durch seine Reue gebüßt zu haben, dies Weib aber darum hassen zu dürfen! Er nahm sich vor, ihr eine eben so feste, kalte Stirn zu bieten, wie die, mit der sie ihm entgegen trat, und es klang daher nichts als eisige Höflichkeit aus seiner Erwiderung:

„Ich stehe zu Ihren Befehlen, gnädige Frau!“

„Sie erinnern sich gewiß noch,“ fuhr sie fort, „daß wir Beide einst, halb von menschlichem Mitgefühl bewegt, halb einer romantischen Grille folgend, Pathenstelle bei einem armen Kinde übernahmen und für sein ferneres Schicksal zu sorgen versprachen. Die Romantik ist nun allerdings längst verflogen,“ setzte sie mit einem eigenen Lächeln hinzu, „aber da ich nie vergesse, was ich einmal versprochen habe, möchte ich jetzt nachholen, was mich die Verhältnisse bisher zu unterlassen zwangen. Ich habe den Plan, jenes Kind als das meinige anzunehmen und zu erziehen, sofern die Familie dazu ihre Einwilligung giebt. Da ich aber Niemandes Rechte zu beeinträchtigen gedenke, sollte ich, bevor ich weitere Schritte thue, wissen, ob Sie selbst, der Sie in dem gleichen Verhältniß zu dem Kinde stehen, mir entgegen treten würden, wenn ich meine Absicht zur Ausführung brächte.“

„Es kann mir nicht in den Sinn kommen, Ihnen dabei in irgend einer Weise hinderlich sein zu wollen!“ entgegnete Alfred, der etwas Anderes aus dem Munde der schönen Frau erwartet haben mochte.

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie einfach, „und da dies abgemacht ist, darf ich Sie vielleicht auch um die Namen der Familie und ihres Wohnortes bitten, da ich beide entweder nicht gehört oder wieder vergessen habe und in Verlegenheit bin, wie ich sie erfahren soll.“

Auch diese Bitte war so einfach, daß Alfred bedauerte, ihr darüber nicht gleich Auskunft geben zu können, da er selbst seit Jahren weder an das Kind, noch an den ganzen Vorfall gedacht hatte, doch trieb ihn die natürliche Höflichkeit unwillkürlich zu der Bemerkung, daß es ihm leicht sein würde, durch eine Nachfrage an entsprechender Stelle das Gewünschte in Erfahrung zu bringen.

„Sie werden mich durch dieselbe verpflichten,“ entgegnete sie. „Nur bitte ich, dabei nichts von meinem Vorhaben zu erwähnen, da ich die einleitenden Schritte selbst thun möchte. Sobald Sie die erforderliche Auskunft erhalten haben, bitte ich Sie, nur dieselbe [99] mitzutheilen, wenn Sie nicht etwa vorziehen sollten, sie mir durch meinen gegenwärtigen Geschäftsführer, den Advocaten C., zukommen zu lassen.“

Es war Alfred fast, als spräche sie die letzten Worte mit einem gewissen Hohn, als erwarte sie, daß er nicht wagen würde, sich ihr persönlich wieder zu nähern, und dadurch gereizt entgegnete er rasch:

„Sie dürfen nicht zweifeln, gnädige Frau, daß ich Ihnen die Mittheilung selbst machen werde, sobald ich erst etwas Gewisses erfahren habe!“

In demselben Augenblick trat der Bankier wieder in’s Zimmer, gerade früh genug, um noch die letzten Worte des Gesprächs verstanden zu haben, das Rosalie nun abbrach, indem sie sich rasch wieder an Melsing wandte, noch Einiges mit ihm besprach, was auf ihr Geschäft Bezug hatte, und sich dann mit einer Verbeugung den beiden Herren empfahl.

„Nun, Lossau,“ sagte der Bankier lachend, nachdem er seinen schönen Gast artig zum Wagen geleitet hatte und zu Alfred zurückkehrte, „was ich von Ihnen sagen soll, weiß ich nicht! Kaum laß ich Sie fünf Minuten allein, so theilen Sie schon ein Geheimniß mit der schönen Frau! Wenn das Ihre Braut erführe!“

Alfred fühlte sich unangenehm berührt. Er öffnete bereits den Mund zu einer Erklärung, besann sich aber, daß er nicht berechtigt sei, über Rosaliens Angelegenheiten zu reden, und daß sie selbst ihm gewissermaßen Schweigen auferlegt hatte, daher suchte er sich mit irgend einem Scherz zu helfen, der aber nicht recht unbefangen lauten wollte und nur ein Lächeln auf dem Gesicht des Bankiers hervorrief, welches nicht diesem Scherze selbst galt.

Das Gefühl der Verstimmung wurde noch stärker in Alfred, als er sich späterhin des Versprechens erinnerte, das er der Baronin gegeben hatte, einen Schritt in ihrer Angelegenheit zu thun, aber obwohl er jetzt seine Uebereilung bereute, fühlte er sich doch an sein Wort gebunden, und um nur so schnell wie möglich jede weitere Beziehung zu ihr abbrechen zu können, schrieb er noch am nämlichen Tage jenem Pfarrer, welcher das Kind damals getauft hatte, und bat ihn um die von Rosalie gewünschte Auskunft, wobei er nicht verschwieg, daß es sich um das besondere Interesse der Kleinen handle. Die Antwort traf auch in kürzester Zeit ein und erhielt den nöthigen Nachweis, zugleich aber auch die Mittheilung, daß das kleine Röschen, welches zu einem ungewöhnlich reizenden Kinde herangeblüht gewesen, vor einigen Tagen an einer plötzlichen Krankheit gestorben sei.

Alfred begab sich mit dieser Kunde unverzüglich nach dem Hotel, wo Rosalie wohnte und eine Reihe eleganter Zimmer für sie eingerichtet war. Er wurde in eins derselben geführt und gebeten, auf die Baronin zu warten, die man benachrichtigen wolle. Schon beim Eintreten wußte er, daß sie im Nebenzimmer sei, denn es drang Gesang zu ihm herüber – und er kannte die Stimme. Daß es ein spanisches Lied war, was sie sang, dasselbe, welches sie ihm einstmals so oft vorgesungen hatte, war vielleicht ein Zufall, aber er mußte bei dem Liede an ein junges, schönes Mädchen denken, mit dunklen Locken und feurigen, doch unendlich sanft und träumerisch blickenden Augen; er sah es vor sich im Kahn sitzen, den er auf dem kleinen Lossauer See ruderte, während dieselben weichen, vollen Töne über ihre Lippen drangen, die er jetzt hörte, – und er mußte zugleich daran denken, daß er sich oft gefragt, ob es etwas Schöneres und Lieblicheres auf der Welt geben könne, als sie. In diesem Augenblick verstummte der Gesang; Rosalie mußte die Meldung seiner Anwesenheit erhalten haben.

In der nächsten Minute hob eine Hand die schweren Vorhänge, welche den Eingang in das Nebenzimmer verhüllten, und die prächtige Gestalt der Baronin erschien auf der Schwelle. Wie aus einem Traum erwachend, blickte Alfred ihr entgegen: das war nicht das junge, liebeglühende Geschöpf, das er einst – und er fühlte es wieder, mit welcher Gluth! – in seinen Armen gehalten – dies war eine Juno, mächtig und von imponirender Schönheit, aber ohne Herz und ohne Empfindung, für die Liebe eines Mannes nicht geschaffen.

Sie begrüßte ihn mit einer leichten Neigung des Hauptes, ohne daß ihre Züge die geringste Ueberraschung oder sonstige Erregung verrathen hätten, und lud ihn dann durch eine Handbewegung zum Setzen ein. Er sagte, daß er gekommen sei, um ihr das Resultat seiner Nachfrage mitzutheilen, das aber leider kein erfreuliches sei, denn wenn er jetzt auch die Namen nennen könne, müsse er hinzusetzen, daß dieselben nur noch auf eine Gestorbene Bezug hätten.

„Todt?“ rief sie aus und ward mit einem Male leichenblaß, „wollen Sie sagen, das Kind sei todt?!“

Er sah sie erstaunt an – woher die plötzliche Bewegung dieser Frau bei einer Mittheilung, die ihn selbst kaum oberflächlich berührte? Hatte sie ja doch gleich ihm das Kind nie wiedergesehen, bis zu diesem Augenblick nicht einmal seinen Namen gewußt! Sie ließ ihm aber keine Zeit, seiner Ueberraschung Worte zu leihen, denn mit fast ängstlicher Hast forschte sie weiter:

„Wissen Sie, wann es gestorben ist?“

„Der Pfarrer schreibt, daß es erst in diesen Tagen geschehen ist; wenn ich nicht irre, giebt er sogar Zeit und Stunde genau an,“ entgegnete Alfred und nahm mit diesen Worten den Brief aus seinem Portefeuille, um der Baronin die betreffende Stelle mitzutheilen.

„Meine Ahnung!“ sagte sie düster und halb vor sich hin, „es ist genau die Stunde, wo ich mit Ihnen bei Melsing zusammentraf und Ihnen meine Absichten auf das Kind mittheilte! O, ich habe Unglück!“

Die letzten Worte waren mit einem so tiefen Schmerz gesprochen, daß Alfred sich wider seinen Willen bewegt fühlte. Theilnehmender, als er selbst für möglich gehalten hätte, sagte er:

„Ihnen lag viel an der Ausführung Ihrer Pläne?“

„Ja!“ sagte sie und sah ihn wieder ruhig, aber kalt an. „Ich wollte lieben, um dereinst wieder geliebt zu werden! Mein Leben ist arm!“

Das unerwartete Geständnis; aus dem stolzen Munde erschütterte Alfred. Es klang wie der Klageruf über verlorenes hoffen, verlorenes Glück, und es war ihm, als müsse der nächste Augenblick einen Richterspruch über ihn bringen, der dies Hoffen getäuscht, dies Glück vernichtet hatte. Allein Rosalie schien es bereits zu bereuen, auch nur eine Secunde lang ihrer Empfindung nachgegeben, Alfred einen Blick in ihr Inneres gegönnt zu haben, denn sie brach plötzlich ab und lenkte die Unterhaltung auf ein anderes Gebiet, wobei sie geschickt jede Anspielung, jede Erinnerung an die frühere Zeit, an das Verhältniß, in welchem sie einst miteinander gestanden hatten, zu vermeiden wußte, so daß es Alfred allmählich wohl in ihrer Nähe ward und er sich zu aufrichtiger Bewunderung des Geistes und der Liebenswürdigkeit der schönen Frau hingerissen fühlte. Und als er sie endlich verließ, athmete er hoch und frei auf, denn es war ihm jetzt, als habe er Jahre lang eine schwere Last auf der Brust getragen und es sei diese plötzlich von ihm genommen, ja, als sei seinem Leben ein neuer Reichthum geschenkt worden, denn die Frau, welche er lange Zeit hindurch aus seinem Gedächtniß zu tilgen versucht, die ihm bei der ersten Begegnung fast feindlich gegenüber getreten war, hatte ihm jetzt statt Groll Freundlichkeit gezeigt, und in seinem Geist dämmerte schon ein neues, schönes Verhältniß auf, wo eine edle Freundschaft sie mit ihm und seinem Hause verbinden würde. Er dachte daran, daß er im Begriff stand, sein Haus zu gründen, es mit Allem zu versehen und zu umgeben, was ihm die Stätte zu einer behaglichen und glücklichen machen konnte. Auch an seine Braut dachte er und wunderte sich selbst darüber, daß ihn in diesem Augenblick der Gedanke nicht mit der gleichen Wonne erfüllte wie sonst. – Stellte er vielleicht unwillkürlich die beiden Frauengestalten im Geist neben einander, seine sanfte, blonde, zärtliche Helene neben Rosaliens prächtig-stolze Erscheinung, und sagte sich, daß sie nimmer zu einander passen, nie Freundinnen würden sein können? Jedenfalls sprach er zu der ersteren, als er später zu ihr ging, nicht von seinem Besuch bei der Baronin.

Ihn selbst aber trieb es bald unwiderstehlich, sich wieder und immer wieder an den Strahlen des funkelnden Gestirns zu sonnen. Nicht lange – so wußte und sprach man davon in der Stadt, daß Alfred sich um die Gunst der schönen Spanierin bewerbe. Durch Melsing, der die kleine Scene in seinem Hause nicht vergessen und eben so wenig versäumt hatte, sie weiter zu erzählen, war man zuerst aufmerksam auf das Verhältniß geworden; die beiden zurückgekehrten Officiere hatten dann das Abenteuer in H. zum Besten gegeben, und so hatte sich rasch ein Stadtgespräch entwickelt, das Wahres und Erdichtetes durcheinander warf, und die allgemeine Aufmerksamkeit war auf die Betreffenden [100] gelenkt, ehe sie selbst etwas davon ahnten. Anfangs lachte Alfred über die zuerst leisen, dann aber immer lauter werdenden Stichelreden seiner Gefährten, die er dem Neide zuschrieb, weil sie sich von der Bekanntschaft mit der schönen Frau ausgeschlossen sahen, und erwiderte die ernsten, wenn auch halb versteckten Warnungen seiner Freunde mit einer leichten Entgegnung. Darauf kam es einige Male zu empfindlichen Reibungen, welche ihm die Spötter vom Halse schafften und die Freunde verstummen ließen, und dann – kam eine Zeit, wo Alfred gegen Spott wie gegen Tadel, auch wenn beide noch zu ihm gedrungen wären, unempfindlich geworden war, denn in seinem Herzen lebte jetzt nur noch ein Gedanke: der an Rosalie und sein Verhältniß zu ihr! Aus seiner Bekanntschaft mit ihr hatte er sich allmählich das Recht einer gewissen Vertraulichkeit gewonnen, das sie ihm zwar nicht geradezu übertrug, aber doch stillschweigend anzuerkennen schien und das er in jeder Weise ausbeutete. Man sah ihn auf der Promenade an ihrer Seite, im Theater erschien er in ihrer Loge und trotzte der Aufmerksamkeit des Publicums, dem Neide der gesammten Herrenwelt, indem er sich eifrig mit ihr unterhielt und auch gar nicht daran zu denken schien, das Interesse zu verbergen, mit welchem er an jedem ihrer Worte, ihrer Blicke hing.

An ihr selbst dagegen war durchaus nicht wahrzunehmen, welchen Eindruck sein Benehmen, seine Huldigungen auf sie machten, denn ihre Haltung war völlig unbewegt und ruhig; sie schien es als etwas Natürliches, Selbstverständliches hinzunehmen, daß er ihr seine Verehrung darbrachte, und es gar nicht zu beachten, daß seine Blicke immer glühender wurden, seine Worte immer leidenschaftlicher klangen. Auch in ihrer Wohnung hatte sie ihn noch einige Male wieder empfangen, wie sie sich jedoch an öffentlichen Orten stets nur in Begleitung ihrer Gesellschaftsdame oder einiger anderen Bekannten zeigte, so sah er sie auch hier nie mehr allein, und zu einem Zwiegespräch unter vier Augen war es daher nicht wieder gekommen.

Es konnte nicht fehlen, daß die Kunde von Alfred’s auffälligem Benehmen endlich auch das Ohr der Familie von Alfred’s Braut erreichte, nachdem diese selbst sich im Stillen über das veränderte Wesen ihres Verlobten schon bekümmert gefühlt hatte.

Einige Andeutungen genügten, um dem bedauernswürdigen Mädchen klar zu machen, was der Grund seiner kühlen Haltung sei, und sie mit eifersüchtigem Haß gegen Diejenige zu erfüllen, welche ihr Alfred’s Herz abwendig gemacht hatte, sowie mit Bitterkeit gegen ihn selbst. Ohne aber den Muth zu haben, offen mit ihrer Anklage ihm entgegen zu treten, griff sie zu der unglücklichsten Waffe, die ein liebendes und verwundetes Herz wählen kann, zur Empfindlichkeit, suchte ihn durch Schmollen zu strafen und – ahnte nicht, daß sie damit den letzten Rest von Zuneigung in ihm vernichtete, daß sie ihm unendlich klein und gewöhnlich erschien neben Rosaliens großartiger Natur. Seine Ungeduld machte ihn reizbar und heftig, und es war schon verschiedene Male unter den Verlobten zu Scenen gekommen, bei denen Helene in heftige Thränen ausgebrochen war; aber auch diese hatten Alfred kaum besänftigen können, denn er konnte es nicht leiden, wenn Jemand sich in solcher Schwäche zeigte. - Die ganze Familie Helenens war erbittert über Alfred, und so sehr sie anfangs die Verbindung erfreut hatte, so wünschenswerth schien ihr jetzt, daß das Verhältniß gelöst würde; doch bebte Helene krampfhaft vor jedem Gedanken daran zurück, und wie sie den Ihrigen gegenüber seine beredteste Vertheidigerin war, vertraute sie immer noch, daß ihre Liebe ihr die seinige am Ende wiedergewinnen würde.

Rosalie hatte in dieser Zeit ihre Wohnung in der Residenz aufgegeben, nur nach einer ungefähr eine halbe Stunde von der Stadt entfernten Villa überzusiedeln, welche leer stand und von ihr für die Sommermonate gemiethet worden war. Alfred hatte sie daher in mehreren Tagen nicht gesehen, indem er es ohne ihre Erlaubniß nicht wagte, sie dort aufzusuchen, und sie erfüllte bereits sein Denken und Leben so, daß ihm jeder Tag ein verlorener schien, der ihm keine Begegnung mit ihr gebracht hatte.

Mißmuthig erinnerte er sich eines Abends, daß er seiner Braut seit Tagen einen Besuch schuldig war, und da er sich doch wieder dachte, daß sie jetzt vielleicht die Leere seines Innern auszufüllen vermöchte, ging er zu ihr. Sie empfing ihn freundlicher und heiterer als gewöhnlich, denn sie hatte ihr Herz wieder durch den Vorsatz gestärkt, ihn durch Sanftmuth zu gewinnen, und wirklich schien es, als wenn ihr Bemühen heute nicht vergeblich bleiben und er seinen früheren Ton wiederfinden würde. Sie brachte das Gespräch auf Hermann, an dem sie mit großer Verehrung hing, und da sie hierin völlig mit seinen Empfindungen harmonirte, so hatte sie eine gute Saite angeschlagen und sie zu lebhaftem Eingehen hingerissen.

„Wie schade,“ sagte sie mit echt weiblichem Bedauern, „daß er so einsam lebt und von keiner Familie umgeben ist! Hat er nie daran gedacht, sich zu verheirathen?“

„Ja, er war in früheren Jahren einmal verlobt,“ entgegnete Alfred kurz.

„So ist seine Braut gestorben?“ rief sie theilnehmend. „Wie hieß sie?“

„Sie ist nicht todt, Helene, die Verbindung hat sich gelöst.“

„So war sie eine Unwürdige!“ rief sie in unbesonnener Heftigkeit.

Das Wort trieb ihm das Blut in's Gesicht. „Nein, Helene, es war keine Unwürdige! Du sprichst von der Baronin Brinkhorst!“

„Die Spanierin?“ schrie Helene entsetzt auf; „dann bleibe ich bei meinem Wort – sie konnte Hermann’s nicht würdig sein.“

Er war dicht vor sie hingetreten. „Was weißt Du von ihr, die Du verleumdest?“ sagte er jetzt mit harter Stimme.

Sein Wort, sein Ton machten, daß sie in Thränen ausbrach. „Ist es nicht genug,“ rief sie leidenschaftlich aus, „daß sie auch mir das Herz bricht, daß sie Dich in ihr Netz, in Dein Verderben lockt? O Alfred, fliehe dieses Weib, ehe sie Dir und mir zum Fluche wird!“

Er richtete sich hoch auf. „Zum Fluche, sagst Du? Weißt Du, daß für mich ein Segen wie der des Himmels in jedem Blick liegt, den sie auf mich richtet, in jedem Wort, das sie zu mir redet?“

„Alfred, Du liebst sie!“ rief Helene in tödtlichem Erschrecken.

Sein Gesicht überflog eine flammende Röthe. „Ja, ich liebe sie!“ rief er aus. „Einmal mußte das Wort gesprochen werden, sonst hätte es mir das Herz, die Brust zersprengt! Helene, ich war es, ich, um den sie ihr Herz von dem Bruder wandte, und ich Thor glaubte damals, es stände in meiner oder ihrer Macht, dem Herzen zu gebieten und einem Andern wiederzugeben, was nicht mehr sein war! Ich glaubte mich einer Sünde gegen den Bruder schuldig und war nicht groß und stark genug, um wie sie zu begreifen, daß unser Herz unser Schicksal ist und wir uns ihm beugen müssen, ihm folgen dürfen, wie der Stimme Gottes selber! Ein enges Pflichtgefühl trieb mich damals, vor den vermeintlichen Rechten des Bruders zu weichen, ihre mächtige, reiche Liebe von mir zu weisen es hat uns Beide elend gemacht!“

„Elend?“ stöhnte das unglückliche Mädchen. „Mein Gott, vergieb ihm!“


(Schluß folgt.)


Stille Gesellschaft.

Es war zur Zeit der Rosen, sie blühten in voller Pracht,
Da bebte der deutsche Boden von mancher Bruderschlacht;
Recht zwischen Blumen streute die bleiche Saat der Tod
Und färbte den grünen Rasen so roth, so grausig roth.

5
Heiß ist die Junisonne, noch heißer ist der Kampf,

Die zitternden Sommerlüfte ersticken in Rauch und Dampf.
Vergeblich mahnt das Kirchlein, den Friedhof stürmt der Krieg;
Da feiert im eignen Hause der Tod den großen Sieg.

Vom Brand der tiefen Wunden, von Kampf- und Feuersgluth –

10
Wie ruht sich’s in dem Schatten der Kirchenmauer gut!

Da röchelt es und wimmert zum ew’gen Schlaf sich ein;
Es sehen’s nur Rosen und Flieder im Abendsonnenschein.

Nun schwebt die Nacht darüber, von süßem Duft erfüllt,
Als hielt’ ein Fest der Liebe ihr Mantel zart umhüllt.

15
Des Mondes Blicke strahlen herab durch das Gezweig

Und spielen auf Todtenmalen vom alten Todtenreich.

[101]

Stille Gesellschaft.
Originalzeichnung von E. Oehme.

[102]

Und in der Geisterstunde erwacht ein steinern Kind
Und fragt: Wer wohl die Schläfer auf unsern Gräbern sind?
Der Rosenstrauch giebt Antwort: Die schlafen so wie Du,

20
Der Tod der Schlachten drückte die Heldenaugen zu.


Ein steinern Weib daneben: Wer schlug allhier die Schlacht?
Hielt an des gleiches Marken das Heer so schlechte Wacht?
Antwortet drauf der Flieder: Das that kein fremdes Schwert,
Es haben gegen Deutsche hier Deutsche es gekehrt.

25
Da schüttelt ein Mann sein steinern ergrauet Haupt und spricht:

So giebt’s ein einig Deutschland noch diese Stunde nicht? –
Der Friedhofrasen flüstert: Ich decke im deutschen Land
Mehr Krieger, gefallen von deutscher als fremder Feindeshand!

Die Nacht entweicht. Die Stätte grüßt frischer Morgenhauch.

30
Die Geister schlafen wieder, die Todten schlafen auch. –

Wohl stillere Gesellschaft ist nirgend weit und breit. –
Ist dies die letzte Klage, die so zum Himmel schreit? –

Friedrich Hofmann.


Im Hause Robert Stephenson’s.
Von M. M. von Weber.
II.

Die Erwarteten traten bald hinter einander ein. Zuerst Swinburne, von dem die Pläne zu den Eisenbahnen über die Landenge von Suez und durch den Mont Cenis herrühren und der soeben Bauarbeiten an ersterer geleitet hatte. „Oh, an arabian chief!“ (O, ein arabischer Häuptling!) rief Miß Stephenson, als er mit gewaltigem Barte um Mund und Kinn, von der afrikanischen Sonne gedunkeltem Teint, fast turnerhaft muskulöser Statur, leichter Haltung und durchaus continentalem Gebahren auf sie zukam und sie begrüßte. Es befremdete mich daher kaum, als er mich in geläufigem Deutsch ansprach. Am Arm von Stephenson’s altem behaglichem, krummnasigem, krausköpfigem Factotum Starbuck hing eine junge Dame wie eines jener Bilder auf Dosen und Almanachs, aus deren langovalen Gesichtern, goldnen Locken und großen Augen sich schwärmende Gymnasiasten ihre Ideale componiren. Die wunderbaren Schultern mit dem Grübchen, der goldige Hinterkopf der Hagar und der graue Bart Abraham’s auf jenem köstlichen Bilde van der Werff’s auf der Dresdener Galerie fiel mir ein!

Der Letzterscheinende war, wie in der guten Komödie, der Held des Tages, der Amerikaner Stevenson, den sein edler Halbnamensvetter mit prächtigem, herzlichem Respect begrüßte und, als sei er die Dame seines Herzens, uns Allen voran, am Arm nach dem Speisesaale führte, dessen Thüren in dem Augenblicke sich öffneten, wo der Amerikaner in’s Zimmer trat.

Unter des Ritter Marochetti neidischem Blicke, dem, als dem ältesten von uns Fremden, die Ehre zufiel, die höchst vortreffliche Miß Stephenson zur Tafel zu geleiten, legte Mistreß Starbuck ihren kleinen weißen Handschuh in die Biegung meines Armes, daß es aussah, als säße eine weiße Maus zwischen den schwarzen Tuchfalten. Nur eine hochhängende Krone mit Moderateuren (keinem Gas) beleuchtete diesen Raum und sammelte ihr Licht auf dem von Silber, Krystall und Blumen glänzenden Tische. Dichte Gardinen von dunklem Stoffe schlossen den Rest des Tageslichtes aus, auf den dunkeln Sammettapeten der Wände zog kein Bild, kein Spiegel die Aufmerksamkeit vom Genusse der Tafel ab, diesen in jenem weitesten Sinne genommen, der den des belebenden Rundgespräches mit einschließt.

Der tiefdunkle Hintergrund der Wände ließ die schwarzgekleideten Gestalten der den Tisch lautlos umschreitenden Dienerschaft fast verschwinden und die gewandten weißen Glacéhandschuhe derselben tauchten wie Zauberhände ohne Körper aus demn Nichts auf, um uns zu bedienen. Swinburne bedauerte lachend, daß die Diener nicht auch Schwarze und taubstumm wären, denn „dann wären sie eigentlich gar nicht da“. So hatte der große Ingenieur mit feinem, epicuräischem Sinne es verstanden, seine Tafel, den Ort, wo er die behaglichsten Stunden seines reichen Lebens genoß, gleichsam auf ein „absolutes für sich sein“ hinzuführen. Bald klang die Stimmung harmonisch mit dem Raume zusammen; das Licht glänzte auf den erheiterten hohen Stirnen der Esser, zwischen deren markigen, kantigen Gesichtern von dunklem Farbenton das weiche, helle Köpfchen der jungen Frau wie eine Blume zwischen Basaltsäulen blühte. Die beiden berühmten Namensbrüder saßen oben am Tisch zusammen, dann die Damen, Marochetti und ich, und dann die einheimischen Ingenieure, sämmtlich Schüler Stephenson’s, die seitdem längst zu berühmten Männern geworden sind.

Die Gegenwart von Damen, bei denen überdies wohl ein Interesse für die Welt der Erscheinungen, in der ihre Angehörigen thätig waren, vorausgesetzt werden dürfte, konnte es unter so vielen Fachgenossen nicht hindern, daß die Rede auf den Verkehr und seine Straßen fiel, ohne daß der gute Tact der Genossen dieser Tafelrunde ein zu trockenes Fachgespräch sich entwickeln ließ.[1]

„Was ist viel über die Verschiedenheit des Charakters der Verkehrsanstalten in den verschiedenen Ländern Europas zu sagen!“ rief Swinburne ans. „Dort Tunnel, hier Brücken, dort Dämme, hier Einschnitte, dort bequeme Wagen, hier schlechte, dort etwas schnellere Fahrt und einige Unfälle, hier langsamere Fahrt und einige Sicherheit mehr, dort ein paar Millionen Centner Güter, ein paar Millionen Menschen mehr gefahren als hier, die Hauptphysiognomie des Ganzen bleibt immer fast dieselbe.

„Aber der Bahnbau in einem heißen Klima – das ist Contrast. Er verhält sich zu einem solchen in Europa wie der Verkauf Joseph’s durch seine Brüder zu dem Engagementscontract einer Primadonna. Wir Alle wissen, daß allein die Durchführung der Enteignungsgesetze im Parlamente den Eisenbahngesellschaften in England so viel Geld gekostet hat, daß das neue Parlamentshaus dafür hätte gebaut werden können. Und dann der Grunderwerb selbst! Das ist in Aegypten weit einfacher! – Der Vicekönig befiehlt, man jagt die halbnackten Araberfamilien aus ihren Hütten und schüttet ihnen im nächsten Augenblicke einen Damm darüber. Die Nacht wird zum Arbeitstage und die glühende Sonne des Tages brennt das Mauerwerk, das die Nacht vorher aus Lehm und Strohhäcksel aufgeknetet wurde und über dessen Dauerhaftigkeit uns die Pyramiden von Daschur und Sakhara beruhigen. Die nackten Nachkommen der Troglodyten und Ichthyophagen, die nubischen und abessinischen Arbeiter verlachen den Luxus von Karren und Wagen. Wie zu den Zeiten des Busiris und Möris und mit denselben schaufelartigen Hacken, die wir auf den Mauern des Tempels zu Karnak abgebildet sahen, laden sie die Erde in halbrunde Schilfkörbe, die ihnen Weib und Kind flechten, und tragen sie auf dem Kopfe, wie ebenfalls dort abgebildet, in langen Reihen Mann hinter Mann trabend, mit einem eintönigen Gesange, den sie wahrscheinlich von den geplagten Kindern Israels beim Baue der Canäle zu Memphis vor vierthalbtausend Jahren gelernt haben mögen, an Ort und Stelle. Die Masse der Arbeiter muß die Qualität, Kameel und Esel mit Doppelkörben an den Seiten die Erdtransportkarren ersetzen. Durch die dunkelklaren afrikanischen Nächte ziehen, wie unabsehbare Reihen von Schatten, Menschen, Maulthiere, Esel und hochtragende Kameele gemischt, Erde und Stein schleppend dahin, unter dem wüsten Getön jener Gesänge, hie und da durchbrochen von dem Wiehern eines Pferdes oder dem Grunzen eines Kameels, oder noch häufiger durch das Aufbrüllen eines Menschen oder Thieres unter dem Streiche der Peitsche, nach dessen Klatschen der Erfahrene ermißt, ob er auf das Fleisch von Mensch oder Thier gefallen ist. Nur die Sclaveneigenthümer werden wirklich bezahlt, und ich fürchte, sie geben ihren Ehrensold blos in Maisbrod und Prügeln weiter.“

Trotz seiner guten Nerven hatte es Swinburne nicht lange in Aegypten ausgehalten. Der Revers dieses Bildes kam zur [103] Sprache, und ich gab meine Bewunderung für den großen Sinn zu erkennen, mit dem die englische Gesetzgebung nicht allein die politische Freiheit der Person und den Schutz des Eigenthums im Allgemeinen gewährleistet, sondern in welchem sie auch speciell die Rechte des verkehrenden und versendenden Publicums den mächtigen und reichen Eisenbahngesellschaften gegenüber vertritt. Die Vergütungen, welche sie die letzteren zwingt, an die Hinterbliebenen beim Eisenbahnbetriebe Getödteter, an Verletzte, an Versender, gegen die sie ihre Verpflichtungen nicht erfüllt haben, zu zahlen, seien meist nicht blos entsprechend, sondern oft fast großmüthig bemessen.

„Und doch rühmt man den deutschen Eisenbahnen,“ warf mir Stephenson ein, „größere Sicherheit der Person und des Eigenthums, gefügigeres Anschmiegen an die Localbedürfnisse und gemüthlichere Vorsorglichkeit für die Behaglichkeit des Publicums nach. Auch Ihre Wagen sind besser, weiter, luftiger, selbst in den unteren Classen den Passagieren mehr Behaglichkeit gewährend, die Einrichtungen zur Verpflegung des Publicums auf den Stationen comfortabler, das mit den Reisenden verkehrende Personal mehr für das Wohlbehagen derselben besorgt, als in England.“

„Dafür,“ schaltete Wild dazwischen, „ist die Geschwindigkeit der Beförderung in Deutschland weit geringer, der Verkehr viel schwächer, als bei uns.“

„In Allem, was die beiden Herren geäußert haben, ist unzweifelhaft viel Wahres,“ mußte ich erwidern, „aber die Gesichtspunkte sind doch etwas schärfer zu präcisiren, wenn es zu vergleichen gilt, als dies gemeiniglich von der öffentlichen Meinung geschieht. Unzweifelhaft, und dies sei zur Abwehr jeden Vorwurfs unpatriotischer Anschauungsweise vorausgeschickt, sind wohl in Bezug auf ihre Technik und ihre Administration sehr viele deutsche Eisenbahnen die besten in der Welt. Aber die klarer blickenden unter den deutschen Fachmännern verkennen in ihrer Freude hierüber nicht, daß die Grundprincipien, nach denen beide Zweige im Allgemeinen in Deutschland geleitet werden, auch die Keime ernstlicher Krankheiten für das ganze System in sich tragen.

„Wir dürfen stolz darauf sein, daß die fatale Wahrscheinlichkeit, auf den Eisenbahnen zu verunglücken, für jeden Passagier zwanzig Mal geringer ist, als die angenehme Wahrscheinlichkeit für jeden Lotteriespieler, das große Loos zu gewinnen; daß unsere Reisenden ungefähr eine Strecke zurücklegen können, die dem Umfang der Erdbahn gleich ist, ohne daß einer davon getödtet wird, aber wir müssen zu gleicher Zeit kleinmüthig zugeben, daß zum großen Theil die Form unserer Betriebsführung und unserer Stationsconstruction es ist, die jährlich das Opfer von dritthalbhundert Menschenleben unter den Beamten und Arbeitern der Eisenbahn fordert und deren über dreihundert beschädigen läßt, so daß der Verlust an Menschenleben und Gesundheit auf deutschen Bahnen, auf die gleichen Verkehrsmassen berechnet, nicht zu sehr zum Nachtheil der englischen mit diesen contrastirt. Man könnte sich darüber trösten, daß von diesen Verlusten, die so ziemlich denen der preußischen Armee in Schleswig-Holstein gleichkommen, im Publicum so gut wie nichts bekannt und das öffentliche Mitleid nicht für sie in Anspruch genommen wird, wenn man in den meisten deutschen Ländern den gerechten Ansprüchen zu Schaden gekommener Passagiere oder ihrer Angehörigen und der Versender, den Menschenpflichten gegen Nachgelassene armer Beamten und unglücklicher Krüppel kräftiger als bisher Rechnung tragen wollte.

„Wir müssen noch erröthen, wenn wir lesen, in welchem Umfange Eure Eisenbahnverwaltungen durch Eure Gesetze gehalten sind, dort einem Geistlichen, dem die Hand beim Thürzuschlagen von einem ungeschickten Schaffner zerschmettert und der dadurch im Predigen behindert wurde, ein kleines Vermögen auszuzahlen, dort die Waisen eines Officiers, den ein zu früh anrückender Zug tödtete, zu pensioniren; hier eine Dame, deren schönes Haar durch einen Funken aus der Locomotive beschädigt wurde, durch dreißig Pfund Sterling zu trösten, dort endlich ein verbranntes Rennpferd mit zweitausend Pfund Sterling zu bezahlen, während wir in allen diesen Fällen – höchstens die Curkosten für den Verletzten getragen und für das Pferd – nach unseren Bestimmungen – hundertfünfzig Thaler bezahlt haben würden. –

„Wir dürfen stolz auf die Sorgsamkeit, Solidität und den wissenschaftlichen Sinn sein, mit dem unsere Bahnen ausgeführt sind, aber wir können uns den Mangel an uns specifisch eignen Gedanken und Constructionen nicht verhehlen, der dabei herrscht. Wir fühlen mit Behagen die Vorsorglichkeit, mit der von Regierungen und Gesellschaften bei Anlegung der Bahnlinien den verschiedensten Localbedürfnissen in allen kleineren und größeren Ländern Rechnung getragen wird, doch vermissen[WS 1] wir, Dank unserer politischen Zersplitterung, jedes rationelle System in der Disposition der Linien für den Weltverkehr über das ganze Land im Großen, und sehen Bahnen, die ihm dienen sollen, um einiger Dörfer und kleiner Städtchen halber, auf Routen und in Terrains gezwängt, die sie, für diesen Zweck, durch Krümmungen und Steigungen geradehin unbrauchbar machen. Der mit Recht gerühmte Comfort, der dem Publicum durch die Einrichtung der Wagen und für dasselbe bestimmten Bahnhofsräumlichkeiten gewährt wird, zeigt seine Schattenseiten, wenn die unteren Wagenclassen soviel davon bieten, daß die oberen immer weniger benutzt werden und das mehr als zwanzigfache Gewicht der Person an Wagengewicht transportirt werden muß; die Bahnhofsrestaurationen aber zu den frequentesten Vergnügungsorten der Städte werden, so daß der Reisende, für den sie bestimmt sind, oft am allerwenigsten Raum in ihnen findet.

„Die unzweifelhaft vortreffliche fachliche Ausbildung der zahlreichen Techniker, die jährlich von unseren Erziehungsanstalten in die Welt gesendet werden, gelangt bei weitem nicht im Verhältniß zu dem Maße der darauf gewandten Vorsorge, im öffentlichen Leben zur praktischen Ausnutzung, so lange der maßgebende Entscheid an höchster Stelle bei sehr vielen Eisenbahnverwaltungen in den Händen der Nichtfachleute oder derer ist, die nur beim Befehlen lernten. Dies wird aber so lange der Fall bleiben, als der deutsche Techniker nicht, wie es hier in England und in Frankreich längst der Fall ist, sich durch allgemeine Bildung auf die ihm gebührende, gesellschaftliche Stellung zu erheben verstehen wird. Wiederum hängt dies aber vom Einflusse der abstracten Doctrin auf unser öffentliches Leben ab.

„Der deutsche Professor, auf der Lehrkanzel und im Studirsaale mit Recht der Stolz der Nation und der Hauptpfeiler deutschen Geisteslebens, hat fast immer eine unglückliche Hand in der Praxis, mag dieselbe nun in der Paulskirche oder bei einer Eisenbahnverwaltung ausgeübt werden. Der Doctrin verdankte das deutsche Eisenbahnwesen auch die Constructionen jener ungeheuerlichen Personen- und Güterwagen, bei denen die Anwendung aller jener mechanischen Hülfsmittel, durch welche in andern Ländern die Betriebsmanipulation auf den Stationen so außerordentlich erleichtert und concentrirt wird, fast völlig verboten ist. Diese wiederum sind Ursache, daß unsere Stationen jetzt Dimensionen anzunehmen gezwungen werden, die den Betrieb auf ihnen so unübersichtlich, beschwerlich und gefährlich machen und doch nicht vor traurigem Geschäftsbankerotte bei fast jeder etwas ungewöhnlichen Steigerung des Verkehrs schützen können. Sehr täuschen sich hingegen die Herren Ausländer, und selbst so ausgezeichnete Kenner, wie Herr Wild, über die Schnelligkeit der Fahrt auf deutschen Eisenbahnen. Man wird dieselbe weniger gewahr, weil die Bewegung der Wagen sanfter, die Erhaltung der Geleise meist besser als anderwärts ist, aber unsere Schnellzüge zwischen Köln und Berlin, Berlin und Breslau und Königsberg etc. erreichen vollständig die Geschwindigkeit der englischen.“

„Zugegeben,“ rief hier Wild, „allein auf wie vielen Routen bewegen sich so schnell Züge in Deutschland? wie viel solche Züge gehen des Tages? Wie würde es mit Ihrer vielgerühmten Sicherheit stehen, wenn Sie, wie in England, fast auf jeder Bahn vier bis zehn und mehr Schnellzüge täglich, gemischt mit Hunderten von Zügen anderer Gattungen, haben würden? In ungeheurer Proportion steigt ja bekanntlich die Gefahr mit der Zahl und der Verschiedenheit der Geschwindigkeit der Eisenbahnzüge, die sich auf derselben Linie bewegen!“

Hic haeret aqua“ (da liegt der Haken) erwiderte ich lachend, „Sie haben die schwache Seite richtig getroffen! Was dann werden würde, weiß ich zur Zeit nicht. Jedenfalls aber werden wir in Deutschland vorsichtig und geschickt sein.“

„Unzweifelhaft,“ nickte Stephenson verbindlich mit jenem ernsten Lächeln, das seinem strengen Kopf so liebenswürdig zu Gesicht stand, „und es ist alle Hochachtung vor dem Geiste zu hegen, der sich dort allenthalben in jedem Zweige der Technik zeigt – aber ohne Schmeichelei für meinen edlen Nachbar,“ fuhr er fort, indem er mit langem, blankem Messer einen mit Trüffeln farcirten Schweinskopf durchtunnelte, „muß ich gestehen, daß ich von den Amerikanern allein eine neue Aera in unserer Kunst erhoffe.

  1. Vorlage: vermiss n

[104] Der Genius der Kraftbenutzung und Raumveränderung ist bei keinem Volke so energisch ausgesprochen. Wollen Sie wahrhaft ursprünglich Erdachtes, ohne alle Erinnerung an befangende Vorgänge auf den Zweck direct Losschreitendes sehen, so müssen Sie nur in die amerikanischen Departements der Ausstellung gehen.“

„Und doch haben wir noch keine Britanniabrücke gebaut,“ äußerte der Amerikaner hierauf mit ehrerbietiger Verbeugung gegen den Meister.

„Das Eisen ist das Brückenbaumaterial, das dem Charakter unserer Zeit entspricht,“ sagte Wild. „Unsere Zwecke sind keine ewigen mehr, wie in den antiken Zeiten. Die Bedeutung der Straßen und Brücken wechselt nach den Fluctuationen des Weltverkehrs und somit reicht die Dauer des rostenden Eisens für den Zeitraum aus, wo sie ihren Beruf zu erfüllen haben. Hingegen fordert die Hast unserer civilisatorischen Wechselwirkungen, daß wir unsere Straßen über Meeresbuchten und Meeresarme und große Ströme werfen, an deren Ufern sich der Verkehr früherer Zeiten behagliches Aus- und Einschiffen gefallen ließ. Und für diese weiten Brückenspannungen, die fast in der Luft schweben müssen, ist das Eisen das einzige auserwählte Material.“




Der Grindefang auf den Faröer-Inseln.
Von einem Augenzeugen.

Seit einigen Monaten in Thorshavn, einem dänischen Städtchen von etwa achthundert Einwohnern und dem Hauptort der Faröergruppe, hatte ich häufig schon vom Grindefang in Ausdrücken sprechen hören, die in mir ein starkes Verlangen erregten, einer solchen Scene beiwohnen zu können. Der sogenannte Grind, ein kleiner Walfisch oder Delphin, auf dänisch „Grindehval“ genannt, besucht nämlich oft, zumal in den Sommermonaten, in Schaaren von einem bis zu mehreren Hunderten, ja bis zu tausend Stück und darüber, die faröischen Küsten und wird dann von den Eingeborenen meist in großer Anzahl gefangen.

Meine Neugierde sollte bald befriedigt werden, denn eines Morgens erscholl der ersehnte Ruf: „Grindebud!“ die Nachricht, daß Grinde sich zu zeigen begannen. Alles, Männer und Frauen, Jung und Alt, stürzte in wirrer Eile aus den Häusern, dem Orte zu, wo man den Ruf zuerst vernommen, um Näheres zu erfragen, sich einander die frohe Kunde mittheilend und aus hundert Kehlen den Ruf: „Grindebud!“ wiederholend. Auf allen Gesichtern strahlte freudige Erregung. Einige tanzten und sprangen wie toll herum, während sich Andere sogar im Uebermaße des Entzückens umarmten, und als man endlich auf die wild durcheinander gebrüllten Fragen: „Wo ist der Grind?“ „Wie groß?“ „Von wem gesehen?“ etc. erfahren, daß derselbe, unweit Thorshavns von Fischern zuerst entdeckt, jetzt auf unsern Hafen zutreibe und daß somit im Fall des Gelingens der eigentliche Fang oder „Grindedrab“ in unmittelbarer Nähe der Stadt vor sich gehen werde, so erreichte die allgemeine Freude und Spannung ihren Höhepunkt. Die Männer eilen raschen Laufes dem Strande zu, ihre Boote zur Theilnahme an der Jagd in Bereitschaft zu setzen, während Frauen und Kinder Mundvorrath und Geräth herbeitragen, sämmtlich wetteifernd, wer zuerst fertig werde. Signalfeuer lodern an dazu bestimmten Punkten auf, um durch den Rauch das freudige Ereigniß weiter zu verkünden und die Bewohner der nächsten Inseln und Dörfer zur Betheiligung am Fange herbeizurufen.

Bald sind die Zurüstungen am Strande beendet, und eine kleine Bootflotille verläßt mit raschen Ruderschlägen, jedes Boot durch die kräftigen Arme von acht Fischern getrieben, den Hafen, entfaltet die lateinischen Segel, steuert der Gegend zu, wo angeblich der Grind gesehen worden ist, und verschwindet bald am Horizont als weiße Pünktchen. Die Zurückgebliebenen, meist alte Männer, Frauen und Kinder, sowie die wenigen dänischen Beamten und einige Kaufleute, zerstreuten sich wieder in ihre Wohnungen, um bis auf Weiteres ihre unterbrochenen Arbeiten fortzusetzen, oder bilden sich, an den eine gute Aussicht gewährenden Punkten, zu Gruppen, welche die Chancen des Erfolges besprechen und von Zeit zu Zeit erwartungsvoll nach der Seite hinblicken, wo die Boote vorhin am Horizonte verschwanden; kurz den ganzen noch vor einer Stunde so ruhigen Ort hat wie durch Zauberschlag eine so plötzliche und fieberhafte Aufregung ergriffen, daß sein Charakter total verändert ist. Alle sind wie elektrisirt, und einige der Ungeduldigsten, denen ich, als der Ungeduldigste von Allen, mich anschloß, unternehmen einen Spaziergang nach dem mehrere hundert Schritte entfernten, an dem östlichen Eingang des Hafens auf einer Landspitze errichteten kleinen Fort, das früher Hafen und Rhede beherrschte, jetzt aber keine einzige brauchbare Kanone mehr besitzt, um von seinen Wällen die weite Fernsicht zu benützen. Unser unausgesetztes, eifriges Spähen von der Höhe dieses unseres improvisirten Observatoriums wird endlich belohnt, denn am äußersten Gesichtskreise tauchen dunkle Pünktchen auf, die, beständig sich nähernd und an Größe zunehmend, bald deutlich sich als die zurückkehrenden Boote erkennen lassen. Ein Augenblick gespanntester Erwartung tritt jetzt ein, indem es noch unentschieden, ob die Beute in petto den Booten voraus und in Annäherung, oder bereits entschlüpft ist. Hoffnung und Furcht, Zweifel und Zuversicht wechseln je nach den Bewegungen und Schwenkungen der Boote, bis endlich diese so weit herannahen, daß wir deutlich den Grind oder die Walfischheerde unterscheiden können, in weitem Bogen von der nunmehr zu reichlich hundert Fahrzeugen herangewachsenen Ruderflotille eingeschlossen und umkreist und durch Steinwürfe, Rufen und Klopfen mit den Rudern auf die Boote, in immer enger werdendem Halbcirkel, dem Eingänge des Hafens zugetrieben. Die kolossalen Fische, bald untertauchend, bald wieder an der Oberfläche erscheinend, spritzten aus ihren Blaselöchern fontainenartige Wasserstrahlen empor, die, oben in feinen Staubregen aufgelöst, wie Diamanten in der klaren Morgenluft funkelten. Sorglos, ohne Ahnung der nahen Gefahr, eilt die Heerde ihrem Verderben entgegen; bei jedem Abweichen von der gewünschten Richtung wurde sie durch das Auswerfen größerer und kleinerer Steine, mit denen sich alle Boote reichlich versehen zurückgescheucht und in Schranken gehalten und wie eine Schafheerde zusammengepfercht und zur Schlachtbank getrieben, während doch einige Schläge ihres Schwanzes genügt hätten, die ganze Flotte ihrer Verfolger zu zertrümmern. Wir verließen jetzt unseren Posten, um eilends den Sandstrand am Hafen, den eigentlichen Wahlplatz, zu erreichen und in unmittelbarer Nähe dem bevorstehenden Schauspiele beizuwohnen, oder an demselben theilzunehmen.

Der Hafen von Thorshavn, im Hintergrunde von den hölzernen Häuschen der Stadt halbmondförmig eingeschlossen, wird durch eine aus dem Mittelpunkte derselben hervorragende, dicht bebaute Landzunge in einen östlichen und einen westlichen Arm getheilt. Der östliche Hafenarm, von dem hier die Rede, ist kaum einen Büchsenschuß breit, etwa doppelt so lang und wird zu beiden Seiten von niedrigen Klippen eingefaßt; am inneren Ende läuft er in einen flachen Sandstrand, welcher während der Ebbe etwa fünfzig Schritte weit hinaus trocken liegt, indeß die Fluth nur einen schmalen Streifen bis zu den nächsten Häusern frei läßt. Längs beiden Seiten erstrecken sich ebenfalls noch verschiedene Häuser, bis sich auf der äußersten Ecke, hart am Eingange, das erwähnte Fort erhebt. Theils auf jener Sandfläche, theils auf der äußersten, unbebauten Spitze der vorgenannten Landzunge versammelten sich jetzt sämmtliche zurückgebliebene Bewohner Thorshavns beiderlei Geschlechts und harrten erwartungsvoll der Dinge, die da kommen sollten. Die Männer und auch viele des schönen Geschlechts hatten sich entweder mit Messern oder mit starken, scharfen eisernen Haken bewaffnet, an welchen letzteren ein etwa zehn Klafter langes, starkes Seil befestigt ist. Alle Hunde waren sorgsam eingesperrt worden, um nicht durch unzeitiges Bellen die Jagd zu vereiteln, und endlich hatte man nicht vergessen, die nach der See hingehende Kirchenthür, sowie die Schalllöcher des Thurmes zu öffnen – eine Vorsichtsmaßregel, die zu einem guten Erfolge wesentlich beitragen soll. Somit war Alles wohl vorbereitet.

Jetzt zeigen sich über der Landspitze beim Fort die Wasserstrahlen der nahenden Walfische, gleich darauf kommt der Vortrupp derselben hinter der Biegung des Landes zum Vorschein, dann

[105] erscheinen einzelne Boote, und einige Minuten später ist der ganze Jagdzug, das Wild sowohl wie die Verfolger, vor dem Eingange des Hafens angelangt. Hier wird einige Augenblicke Rast gehalten. Die riesigen Fische schwimmen noch sorglos innerhalb des von ihren Verfolgern gebildeten Halbkreises hin und wieder, während die Boote ihre Reihen zum Angriff ordnen, die in der Hitze der Verfolgung entstandenen Lücken wieder ausfüllen und ihre Lanzen, zwei an jedem Ende der vorn und hinten spitzen Boote, in Bereitschaft setzen. Einzelne Boote bekunden, durch eine am Hintertheil auf einer Stange angebrachte Flagge, daß sie einen sogenannten „Grindeformand“, d. h. einen für diese Jagden durch Wahl auf je drei Jahre ernannten Anführer an Bord haben, fahren geschäftig hin und her, treffen ihre Anordnungen und ertheilen Befehle. Endlich sind alle Vorbereitungen beendigt, und in raschem, gleichmäßigem Tempo bewegt die vordere Reihe der Angreifer sich wieder auf den Grind zu, durch erneuertes Steinwerfen, Rufen und Aufschlagen der Ruder einen Höllenlärm erregend, um die nun zu beiden Seiten vom Lande eingeschlossene Heerde an den Strand zu jagen, während die beiden äußeren Linien langsam nachfolgen, um bei einem etwa versuchten Durchbruch der Fische sie noch aufhalten zu können.

Durch den Lärm erschreckt, eilen die armen Schlachtopfer in rascher Fahrt ihrem Verhängniß entgegen, unter betäubendem Lärm von ihren Drängern hart verfolgt, bis der Vortrab der Heerde etwa nur einen Flintenschuß weit vom Ende des Hafens entfernt ist. Da schießt plötzlich aus der Reihe der Verfolger ein Boot pfeilschnell hervor, auf die Nachhut der geängsteten Ungethüme zu, und die im Vorderende mit den Lanzen bereitstehenden Fischer schleudern diese mit großer Gewandtheit, Kraft und Präcision auf einen der Nachzügler und verwunden ihn möglichst nahe am Schwänze, wo die meisten Gefühlsnerven liegen. Sich selbst suchen sie in ehrerbietiger Entfernung von dieser furchtbaren Waffe zu halten, während sie gleichzeitig die Lanzen mittels der am Schafte befestigten Leinen zurückziehen, um den Angriff zu erneuern. Ein langer Blutstreif färbt sofort die klare Fluth, das verwundete Thier bäumt sich vor Schmerz. Mit dem gewaltigen Schweife peitscht es das Wasser unter donnerähnlichem Getöse zu Schaum, stürzt sich auf seine nächsten Cameraden und reißt diese in wilder Flucht mit fort, während jetzt Boot auf Boot aus der Reihe hervorgleitet und die Lanzen so nachdrücklich gebraucht, daß das durch die rasende Schnelligkeit und die ungestümen Bewegungen der flüchtenden Thiere sowohl wie durch die raschen Schläge der Hunderte von Rudern in milchweißen Schaum verwandelte Wasser bald wie ein Blutmeer erscheint.

In einem Nu ist die kurze Strecke bis zum Strande zurückgelegt; die geängsteten Ungethüme beachten in der Hast ihrer Flucht nicht die Nähe desselben und mühen sich zu spät, umzukehren, denn bei der augenblicklichen Stockung fließt der durch die reißende Fahrt beim Heranstürmen der Heerde gleich einer Ueberschwemmung mitgeführte Wasserschwall zurück. Etwa die Hälfte der Thiere ist wehrlos gefangen, auf dem Sande festgebannt und der Gnade der am Lande Stehenden anheim gegeben, deren activer Antheil an der Affaire jetzt beginnt, indem sowohl Männer wie Frauen sich sogleich über ihre Opfer hermachen. Mit ihren langen, haarscharfen Messern durchschneiden sie theils den Speck am Nacken, hinter dem Blaseloche, um dann das Rückenmark zu durchstechen, theils schlagen sie die vorerwähnten eisernen Haken in die weiter draußen liegenden Fische ein, um sie mittels der an denselben befestigten Leinen mit vereinten Kräften weiter auf’s Trockene zu schleppen und für neue Ankömmlinge Platz zu machen. Dabei waten sie oft bis an die Arme in Blut und Wasser.

Mittlerweile sind die Ueberbleibsel der Heerde umgekehrt, stürzen sich, von panischem Schrecken erfaßt, gegen die Boote und suchen, unter die vordere Reihe durchtauchend, dem Geschick ihrer Gefährten zu entfliehen, allein umsonst, denn durch Furcht und Schmerz betäubt, rastlos und wegen der Trübung des aufgerührten, mit Sand, Schlamm und Blut untermischten Wassers außer Stande, länger um sich zu sehen, werden sie bald von den weiter in der See postirten Booten zurückgetrieben und auf’s Neue umzingelt, und nun beginnt ein solches Gemetzel, daß bald der ganze Hafen mit Blut gefüllt erscheint und Walfische und Boote, in wirrem Knäuel durcheinanderwogend, von Schaum und Blut umzischt, sich kaum unterscheiden lassen. Die gehetzten Thiere, aus unzähligen Wunden blutend und rasend vor Angst und Schmerz, schießen planlos nach allen Richtungen umher, um der überall drohenden Gefahr auszuweichen; sie sind in Schaumwolken eingehüllt und spritzen Schaum und Blut hoch empor, während das Wasser, durch die ungestüme Bewegung aufgeregt, seine blutigen Wellen mit dem Getöse einer starken Brandung gegen das Ufer schleudert. Dazwischen bilden das Schnauben und Stöhnen der verwundeten Thiere, das Rufen, Jauchzen und Brüllen der erhitzten Verfolger, das Krachen der zusammenstoßenden Boote im Verein eine Scene, die man sehen und erleben muß, um sich von derselben einen Begriff machen zu können, da alle Schilderungen weit hinter der Wirklichkeit zurückbleiben. Dort rennt ein Walfisch in seiner ungestümen Eile den Kopf durch die Planken eines Bootes, daß dieses krachend und berstend, sich augenblicklich mit Wasser füllt und die Insassen desselben kopfüber in ein unfreiwilliges Bad expedirt, aus welchem sie indeß von den herbeieilenden Cameraden unverweilt wieder herausgezogen werden. Hier schlägt die Mannschaft eines Bootes ihren Haken in einen Walfisch, der sich unvorsichtig zu nahe herangewagt hat, zieht ihn fest an die Seite des Bootes hinan und macht ihm mit dem Messer das Garaus, während das Opfer im letzten ohnmächtigen Rettungsversuche das Fahrzeug eine Strecke fortschleppt und das Wasser peitscht, bis eine dichte Wolke von Wasserstaub die Scene unserm Anblick entzieht. Endlich werden die Anstrengungen des bereits erschöpften Ungethüms schwächer, noch ein gewaltiges Aufbäumen – das Messer des gewandten und erfahrenen Fischers hat den Weg zum Lebensnerv gefunden – und der nun plötzlich regungslose Kämpe wird an’s Land bugsirt.

Weiterhin springt ein gewandter Bursche, in der Aufregung des Augenblicks keine Gefahr achtend, aus einem Boote und einem vorbeischwimmenden Wallfische rittlings auf den Rücken, das blutige Messer zwischen den Zähnen, mit welchem er den Nacken seines neumodischen Reitpferdes bearbeitet, bis der Koloß, im Todeskampfe um sich schlagend und seinen tollkühnen Reiter mit Blut und Wasser überspritzend, an’s Ufer rennt und beim Anprall das schon halb durchschnittene Genick bricht, während der kühne Reiter sein verendetes Schlachtopfer verläßt und lachend und sich schüttelnd an’s Land watet. Ein anderes Boot hat seinen Haken in dem Leibe eines der Riesen begraben, allein dieser ist nur wenig verwundet und noch zu kräftig. Alle Anstrengungen, um das Thier an’s Boot hineinzuziehen, sind erfolglos; mit reißender Schnelligkeit braust es wie eine Locomotive mit dem Fahrzeug dahin, während Alles aus dem Wege eilt, um nicht überrannt zu werden; plötzlich kommt noch ein Boot, sogar von einem Doppelgespann gezogen, in fliegender Eile dahergesaust; hoch schäumt das Wasser am Bug empor, und augenscheinlich müssen beide Boote, wenn sie die jetzige Richtung einhalten, da wo sich ihre Bahnen kreuzen, zusammenstoßen. An ein Lenken der wilden Rosse ist nicht zu denken und die Lage der Mannschaft in beiden Fahrzeugen wird kritisch. Immer näher rückt der entscheidende Moment, jetzt sind sie dicht an einander, in beiden steht man bereit, den Stoß wo möglich zu pariren, nun kracht es, Splitter fliegen umher, ein Augenblick banger Erwartung tritt ein; in der nächsten Minute aber sind beide Boote wieder weit auseinander, unaufhaltsam von ihren wilden Gespannen fortgerissen, und nur einige Splitter von dem einen treiben an der verhängnißvollen Stätte, da es der Gewandtheit und Erfahrung der Mannschaft gelungen, sowohl die Kraft des Zusammenstoßes zu mindern, als ihn auf eine weniger gefährliche Stelle ihrer Fahrzeuge zu beschränken. Endlich ermüden die ungestümen Renner; es gelingt nach und nach sie an’s Land heranzuziehen, wo der letzte Kampf stattfindet, in dem sie schließlich bewältigt und darauf an’s Land bugsirt werden.

Unterdeß sind auch die übrigen Boote nicht müßig gewesen. Fortwährend gehetzt und verwundet, ist der Rest der Heerde auf den Strand gelaufen oder in eben beschriebener Weise auf flottem Wasser getödtet und auf das Trockene geschleppt worden. Vergebens spähen die vom Kampfe erhitzten Jäger nach neuer Beute; die blutige Arbeit ist vollbracht und es geht jetzt an’s Zählen der erlegten Opfer. Zweiundvierzig der getödteten Riesen liegen, in der Mehrzahl mit unzähligen Stichwunden bedeckt, mit durchschnittenem Nacken und viele mit hervorquellenden Eingeweiden, in langen Reihen am Strande hingestreckt. Nachdem sämmtliche der erlegten Fische, soweit Platz vorhanden, völlig an das Ufer gebracht sind, beginnt der „Sysselmann“, ein Beamter, dessen Posten etwa der Stellung eines Kirchspielvogtes entspricht, nebst zwei Gehülfen, [106] sämmtliche getödtete Fische mit fortlaufenden Nummern zu versehen und ihrer Größe und dem Speckgehalte nach zu taxiren. Sowohl Nummer wie Taxationswerth wird in römischen Ziffern in die schwarze Haut eingeschnitten, so daß der weiße Speck an den ausgeschnittenen Stellen zum Vorschein kommt und die Zahlen sich deutlich, Weiß auf Schwarz, erkennen lassen. Darauf wird, nach Reihenfolge der Nummern, ein Verzeichnis der erlegten Walfische und ihres Speckgehaltes angefertigt, dieser zusammenaddirt und dann eine Berechnung über die Theilung vom Sysselmann ausgearbeitet.

Inzwischen ruhen die Fischer von den gehabten Strapazen aus; bei einem Glase Branntwein besprechen sie die Abenteuer des Tages und thun nicht selten des Guten zu viel. Manche regaliren sich mit einer tüchtigen Mahlzeit frischgekochten Walfischfleisches, indem sogleich nach Beendigung der Jagd, mitunter schon früher, einige Fische zerlegt und das Fleisch, sammt gesalzenem Speck, der von früheren Jagden vorräthig, von dem weiblichen Personale der nächsten Häuser gekocht und an offener Tafel, das heißt in einem großen hölzernen Troge, für jeden Liebhaber servirt wird, wobei das Fleisch die Stelle von Brod oder Kartoffeln vertreten muß. Für die Eingebornen ist dies ein wahrer Leckerbissen, weshalb es denn auch dieser Table d’hôte nicht an reichlichem Zuspruch zu fehlen pflegt, um so weniger als für das Couvert nichts gezahlt wird. Andere, bereits gehörig angeheitert, durchziehen singend und jubelnd die Straßen, während an geeigneten Orten, zum Beispiel auf Brücken, sich Gruppen bilden und den Nationaltanz – einen Rundtanz nach der Melodie von Liedern, die von dem ganzen Ballpersonale unter Anführung eines Vorsängers angestimmt werden – darstellen, an welchem sich bald auch Mädchen und Frauen betheiligen.

Endlich sind die Arbeiten des Sysselmanns so weit beendigt, daß die eigentliche Vertheilung der Beute beginnen kann. Zuerst wird der zehnte Theil des ganzen Fanges für Staat, Kirche und den Geistlichen des Districtes, für jedes ein Dritttheil, in Anspruch genommen, dann der Mannschaft des Bootes, welches den Grind zuerst entdeckt, der größte der erlegten Fische zugetheilt, darauf für Armenwesen und Schulenfond ein gewisser Theil, sowie nach ungefährem Ermessen ein entsprechendes Quantum bestimmt, um aus dem Erlös den Ersatz der beim Fange etwa erlittenen Schäden, sowohl körperliche wie am Geräth, bestreiten zu können; ebenso werden für die beim Fange und der Theilung thätigen Beamten und Angestellten gewisse Quanten ausgesetzt und endlich wird von dem Uebrigen ein Viertheil für die Grundbesitzer des Strandes und des angrenzenden Landes bestimmt, worauf schließlich der Rest unter die Theilnehmer am Fange und die Bewohner des Districtes, in welchem derselbe stattgefunden, auf solche Weise vertheilt wird, daß die beim Fange thätig gewesenen Personen je eine doppelt so große Rate wie die Andern erhalten, selbst Säuglinge oder zufällig als Zuschauer anwesende Fremde aber nicht ausgeschlossen werden.

Nun meldet sich der sogenannte „Formand“, das ist Anführer, eines Bootes aus jedem Orte beim Sysselmanne, von dem er einen Zettel empfängt, auf welchem Nummer und Taxationswerth, oder vielmehr die Schätzung des Speckgehaltes derjenigen Fische verzeichnet sind, die den Bewohnern des von ihm vertretenen Ortes als Antheil an der Beute zufallen. Hierauf suchen er und seine Cameraden die fraglichen Nummern am Strande auf, zerlegen die Fische, laden die Stücke in ihre Boote und treten, ein geistliches Lied anstimmend, ihren Heimweg an. Boot auf Boot verläßt jetzt, bis zum Rande mit seinem Theil der Beute beladen, den Hafen. Auch die Bewohner Thorshavns haben ihren Antheil bei Seite geschafft; die Eingeweide sind auf die Rhede hinausgeführt und dort versenkt worden, damit sie nicht die Luft verpesten, und bald ist nur das immer noch blutige Wasser das einzige Merkmal der großartigen Schlachterei, die hier stattgefunden hat, bis nach einigen Tagen auch dies sich verliert und nur noch in dem wohlgenährten Aussehen und den fettglänzenden Gesichtern der Leute, sowie in dem lebhafteren Verkehr in den Factoreien, wo gegen den aus dem Speck gewonnenen Thran andere Bedürfnisse des Lebens eingetauscht werden, sich Spuren des erfreulichen und interessanten Ereignisses erkennen lassen.

Wie erwähnt, ist die Farbe des „Grindehval“ schwarz; nur der Bauch des Thieres ist weiß. Der Kopf ist vorn stumpf abgerundet und die Maulöffnung ganz unten, der Unterkiefer gleichsam in den Oberkiefer eingefalzt, und beide sind mit einer Reihe ziemlich großer, doch undicht stehender Zähne versehen, während die Augen des Thieres sehr klein und das äußere Ohr kaum zu unterscheiden sind. An jeder Seite befindet sich eine nicht große Flosse und auf dem Rücken eine etwas nach hinten gebogene Finne, während in dem mächtigen horizontal gestellten Schweif, der wie die Schraubenflügel eines Dampfschiffes geformt ist, die hauptsächliche Triebkraft zur Fortbewegung des Thieres liegt. Die Nahrung desselben besteht aus Weich- und Schleimthieren, besonders stellt es den verschiedenen Gattungen des Tintenfisches sehr nach. Die größten Exemplare des Grindehvals erreichen eine Länge von dreißig bis vierzig Fuß, bei verhältnißmäßigem Umfange, und liefern drei bis vier Tonnen Thran zu einem Durchschnittswerth von fünfzehn preußischen Thalern die Tonne.

Der eben geschilderte Fang repräsentirte einen Totalwerth von etwa fünftausend Thalern an Thran, und da außerdem das Fleisch eine sehr beliebte, nahrhafte und, wenn gut zubereitet, auch recht schmackhafte Speise abgiebt, so ist ein solches Ereigniß für die größtentheils unbemittelten Bewohner dieser Inseln von außerordentlich hoher Bedeutung. Von dem Speck wird ein kleinerer Theil für den Hausbedarf eingepökelt und theils in der Salzlake aufbewahrt, theils nach einigen Tagen herausgenommen und in freier Luft zum Trocknen aufgehängt, während der Rest ausgekocht und der gewonnene Thran nach Abzug des zur Erleuchtung der langen Winterabende nöthigen Quantums verkauft wird. Das Fleisch wird ebenfalls durch Einsalzen oder durch Dörren in der Luft, nachdem es zu dem Ende, ohne vorher gesalzen zu sein, in schmale Streifen zerschnitten worden ist, für den späteren Gebrauch aufbewahrt. Der Magen wird getrocknet und dient sowohl als Thranbehälter, Behälter zum Aufbewahren oder Transportiren kleinerer Quantitäten von Korn, Mehl und dergleichen, als auch zur Boje, beim Auslegen der Fischereigeräthe, während der Schlund statt der Schuhe zu Fußbekleidungen verwendet wird. Einen Theil der Haut an den Flossen und der Rückenfinne benutzt man für die Boote als Riemen zum Hindurchstecken und Festhalten der Ruder, während die Sehnen als Nähmaterial bei Anfertigung einer aus gegerbten Kuhhäuten selbstbereiteten Fußbekleidung gebraucht und die Knochen endlich meistens nach England verkauft werden, um von dort, in Gestalt von Knochenmehl, weiter in den Handel zu kommen.

Mitunter treffen solche Fischzüge mehrere Male jährlich ein, zuweilen aber auch in einem oder mehreren Jahren gar nicht, obwohl vielleicht manchmal ganze Heerden von den Fischen gesehen werden. Oft ist die starke Strömung der einzuschlagenden Richtung entgegen, da nur einzelne Häfen der Inselgruppe zu diesem Fischfange en gros sich eignen, manchmal wird der Grind oder die Walfischheerde wild und störrisch, will sich nicht treiben lassen und sucht allen Anstrengungen und Bemühungen zum Trotz das Weite. Selbst wenn auch anfänglich Alles nach Wunsch geht und der Eingang zu dem ausersehenen Hafen, ja vielleicht schon der Hafen selbst erreicht ist, gelingt das Unternehmen nicht immer, obzwar in den meisten Fällen; es giebt sogar einzelne Beispiele, daß mehrere Hundert dieser Thiere einige Tage in einem Hafen eingeschlossen waren und dennoch die Jagd aufgegeben werden mußte. Ich selbst wohnte später einem Vorgange dieser Art bei, wo wir eine Walfischheerde von etwa vierhundert Stück drei Tage lang in einer etwa eine Meile langen und eine Achtel Meile breiten Bai eingeschlossen hatten, trotz unausgesetzter Anstrengungen jedoch dieselben weder an’s Land treiben noch ernstlich verwunden konnten, da sie, scheu geworden, sich nicht nahen ließen, so daß wir sie schließlich, zu allgemeinem großen Aerger, frei abziehen lassen mußten, ohne daß von der großen Anzahl mehr als drei der kleinsten Fische erbeutet worden wären. In solchen Fällen wird es, nachdem alle Versuche, den Fang in regelrechter Weise zu betreiben, sich als nutzlos erwiesen, nach Verlauf einer gesetzlich bestimmten Frist erlaubt, Harpunen anzuwenden, was sonst strenge verboten ist, und werden die so erlegten Fische nicht weiter vertheilt, sondern sind, nach Abzug des Zehnten, Eigenthum des glücklichen Jägers. Bei dieser Fangmethode entkommt indeß der bei weitem größte Theil, auch ist dieselbe weit gefährlicher, denn man hat es hier meist mit unverwundeten, noch kräftigen Fischen zu thun. Oftmals trifft es sich, daß mit der Heerde mehrere neugeworfene Junge folgen, die etwa fünf bis sechs Fuß lang sind; es ist nun sehr rührend zu beobachten, wie dieselben, während des Kampfes von den Müttern geschieden, unter klagendem, ängstlichem Preifen in dem Gewirre umherirren und ihre Mütter suchen, und wie [107] diese durch ähnliche Klagelaute antworten, auf ihre Säuglinge zueilen, sie umkreisen und augenscheinlich, die eigne Gefahr nicht achtend, sie zu schützen suchen, um so unter Ausübung ihrer Mutterpflichten den Tod zu erleiden.

Auch finden sich manchmal in den erlegten weiblichen Walfischen Junge in verschiedenen Entwickelungsperioden, während ebenfalls Beispiele vorkommen sollen, daß trächtige Weibchen mitten im Kampfgetümmel, vermuthlich in Folge der Angst und Aufregung, ihr Junges zur Welt brachten.

Die bei dem regelmäßigem Fange benutzten Waffen sind: eine Lanze, bestehend aus einem zehn Fuß laugen hölzernen Schafte mit einer vierzehn bis sechszehn Zoll langen ovalen und zweischneidigen eisernen oder stählernen Spitze, mittels einer leichten, aber starken sechs bis acht Klafter langen Leine am Boote befestigt; ein eiserner Haken, der Handgriff bis zur Biegung etwa sechszehn Zoll lang, unten mit einem Ringe versehen, in dem ein starkes, wenigstens zehn Klafter langes Tau befestigt ist, und das Messer, welches, von der Größe eines Vorlegemessers, in einer Scheide aus Holz oder Horn an der linken Seite getragen wird.

Früher wurden auch auf den ungefähr vierzig Meilen südlicher belegenen Shetlands-Inseln diese Walfischheerden in ähnlicher Weise erledigt, jetzt bedient man sich aber dort, wegen des großen Antheils, der den zum Theil fremden, oft in Schottland oder England residirenden Landeigenthümern zufiel, stets der Harpunen und erlegt mittels derselben draußen auf offener See so viele, wie man eben kann, während man lieber die Mehrzahl entkommen läßt, als daß man sie zum hauptsächlichen Vortheil der reichen Grundbesitzer an’s Land triebe. Es sind mithin die Farör-Inseln der einzige bekannte Ort, wo der Grindefang so vor sich geht, wie ich – kein Mann der Feder, sondern ein schlichter Geschäftsmann – ihn hier den Lesern der Gartenlaube in einfachen Worten zu schildern versucht habe.




Alte Städte und altes Bürgerthum.
1. Nürnberg im Norden. Von Moritz Busch.
II.

Hildesheim, die Stadt um den tausendjährigen Rosenstrauch, ist in architektonischer Beziehung einer der sehenswerthesten Orte des deutschen Nordens. Schon von ferne, etwa von den Anlagen des Moritzbergs, betrachtet, imponirt es durch die verhältnismäßig große Anzahl seiner Thürme. Im Innern aber kann man in den meisten seiner Straßen kaum hundert Schritt gehen, ohne auf ein mehr oder minder interessantes Denkmal alter Baukunst zu stoßen, und in einigen dieser hügeligen, engen und krummen Gassen häufen sich derartige Bauten so, daß man sich fast völlig in die Vergangenheit versetzt sieht.

Mindestens ein Fünftel der Häuser der Stadt stammt aus dem siebenzehnten Jahrhundert, viele weisen mit ihren reizenden Holzschnitzereien, ihren Arabesken oder Medaillons auf das sechszehnte zurück; einige, meist verräuchert und verbaut, gehören in ihren älteren Theilen sogar in das fünfzehnte. Durch diese kleine Spitzbogenthür schritten ehrsame Bürger einer Zeit, der Luther noch nicht das neue Licht angezündet. Unter jenem verzierten Giebel, in diesen Stockwerken, deren zierliche Balkenköpfe je höher desto weiter über die Wand des Erdgeschosses hinausragen, wohnten Hildesheimer, die sich noch als Bundesgenossen der Hansa fühlten. In den Sprüchen, welche die Front jenes Hauses schmücken, redet ein behaglicher Sinn zu uns, dem der dreißigjährige Krieg noch nicht die gute Laune verdorben. „Spero Invidiam“ (ich hoffe auf Neid) sagt eine jener Hausinschriften, „Deus dat, cui vult“ (Gott giebt, wem er will).

Besonders alt sind von solchen Privathäusern die jetzige Kattendik’sche Eisengießerei und das ehemalige Haus der Kramergilde, beide bei der Andreaskirche gelegen; besonders schön ein Haus an der Ecke der Wollenweberstraße, dessen Thür über sich eine Gruppe von Landsknechten in Holzschnitzerei zeigt; ein anderes nicht weit davon mit Brustbildern von solchen, und ein drittes auf dem Langenhagen, dessen Vorderseite Standbilder von römischen Kaisern und Feldherren, sowie eine Anzahl von Medaillons schmücken. Ferner nenne ich von neueren, aus dem siebenzehnten Jahrhundert stammenden Gebäuden das Brinkmann’sche Haus an der Ecke des Rosenhagens und der Osterstraße, das Tippenhauer’sche auf der Altpetristraße, das Scheiding’sche an der Oberngünen, das Borchers’sche an der Ecke der Markt- und Scheelenstraße, welches auf seiner Ostseite einen mit Bildwerk verzierten Erker zeigt, und das Rolandsspital mit seinen schönen, alttestamentarische Scenen darstellenden Sculpturen.

Merkwürdige Inschriften begegnen dem Suchenden in Menge. Eine eigenthümliche Klage über böse Zeiten ruft ihm ein Eckhaus am Lambertikirchhofe mit den Worten zu:

„De Waerheydt is tho Himel geflogen,
De Truwe is ubertz (über’s) wilde meer getogen,
De Gerechticheit is allenthalven verdrewen,
De untruwe“ … (hier fehlt vermuthlich „in Ehren geblewen“.)

Noch trüber lautet eine Inschrift aus der Reformationszeit, die sich an einem Hause in Kläperhagen befindet, in welchem der Decan Oldekopp wohnte, und die, aus dem Lateinischen übersetzt, folgendermaßen lautet: „Mit der Tugend ist’s zu Ende. Die Kirche wird erschüttert. Die Geistlichkeit irrt. Der Teufel herrscht. Die Simonie gilt allein. Das Wort Gottes bleibet in Ewigkeit. Nichts als der Herr ist beständig. Alles Menschliche ist vergänglich wie das Holz und der Stein dieser Bilder.“

Eine schöne und vielleicht nothwendig gewesene Ermahnung trägt ein Spruchband über der Thür des obengenannten Gildehauses der Kramer. Es giebt den Eintretenden die Lehre:

„Weget recht und gelike (gleich),
So werdet ir saligk und rike.“

Gipfelpunkt der baulichen Schönheiten Hildesheims ist der Altstädter Markt. Ihn an einem hellen Mondscheinabend zu betrachten, ist für den Freund alter Kunst ein Genuß, den er nicht leicht anderswo findet. Das Rathhaus, vor dem sich ein hübscher Brunnen mit einem kleinen Rolandsbilde befindet, mag in einigen seiner Theile bis über das vierzehnte Jahrhundert hinaufreichen, ist aber sehr verbaut. Außerordentlich schön dagegen ist ein links von demselben sich erhebender, wohl aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts stammender und fast ganz in seiner Ursprünglichkeit erhaltener Steinbau, den man (beiläufig ohne Grund) als Tempelherrenhaus bezeichnet und der einst die Wohnung der Hildesheimer Patricierfamilie v. Harlessem war. Ebenfalls sehr interessant ist das an seiner Front bis zum First hinauf mit zierlichen Holzbildern der Renaissance geschmückte Giebelhaus des Kaufmanns Wedekind und das Rolandsstift mit feinem Stufengiebel. Als die Krone des herrlichen Platzes aber ist das 1520 erbaute und 1852 durch die Bemühungen des ebenso kunstsinnigen wie rastlos für die Erhaltung der Denkmäler seiner Vaterstadt thätigen Senators Römer vor dem Verfall gerettete und mit seinem Geschmack restaurirte Knochenhauer-Amthaus, welches wohl der schönste alte Holzbau in Deutschland, vielleicht in ganz Europa ist. Ein mächtiger Giebelbau von mehreren Stockwerken, voll Geschmack in seinen Massen und in seiner ganzen Anlage erhebt es sich, bedeckt mit Holzschnitzwerk und bunter Malerei, an der rechten Ecke der der dem Rathhaus gegenüber gelegenen Marktseite. Geraume Zeit kann man vor ihm gestanden und die sinnige Weise seiner Verzierung, die ernsten und launigen Darstellungen auf seinen Füllbretern, die Sculpturen an seinen Balkenlagen bewundert haben, und immer wieder kehrt das Auge zu ihm zurück. Es ist nächst den Kirchen Hildesheims, zu denen wir nunmehr uns wenden, unzweifelhaft das werthvollste Juwel unter den Schätzen, die hier gehäuft sind.

Als Bischofsstadt besaß Hildesheim früher eine ungemein große Anzahl von Kirchen und Capellen, jetzt sind viele der letzteren ganz verschwunden, einige der ersteren in Gebäude zu profanen Zwecken verwandelt. Die Georgskirche ist Packhaus, die Paulinerkirche Getreidespeicher geworden, die Martinikirche hat ein Verein Hildesheimer Patrioten, an deren Spitze der Senator Römer und dessen Bruder stehen, zum städtischen Museum eingerichtet, welches hier vortrefflich geeignete Räume für seine Sammlungen fand und in einigen Zweigen der letzteren schwerlich von [108] dem Besitz eines ähnlichen Instituts in deutschen Mittelstädten erreicht wird. Man hat namentlich in Betreff des Fürstenthums Hildesheim fleißig gesammelt und eine gute Anzahl von Alterthümern aus diesem, ein schönes Cabinet dort vorkommender Petrefacten und beinahe alle auf die Stadt und das Stift bezüglichen Drucksachen sowie viele Urkunden und Handschriften zusammengebracht.

Der tausendjährige Rosenstock.

Von den noch gottesdienstlichen Zwecken geweihten Kirchen nenne ich die Seminarkirche, die früher zu einem Capuzinerkloster gehörte, die Kreuzkirche, ein Gemisch aus romanischen Resten des ursprünglichen Baues, gothischer Zuthat und Jesuitenstil, die Jacobikirche mit ihrem hohen Thurm und die sehr große Hauptkirche der Protestanten, die, nach dem Apostel Andreas benannt, in einigen ihrer Theile bis in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts zurückreicht, sonst aber nichts Bemerkenswerthes hat, nur der Vollständigkeit wegen. Von größerem Interesse ist die Magdalenenkirche, in welcher man einen Sarg mit St. Bernward’s Gebeinen, zwei Leuchter, die der Heilige geschaffen, und ein prächtiges mit edlen Steinen, Gemmen und Perlen besetztes Kreuz mit Filigranarbeit zeigt, in welchem derselbe eine Reliquie von Christi Kreuze aufbewahrte. Das Kreuz that früher Wunder, indem es Krankheiten verscheuchte, bei großer Dürre Regen herbeiführte und jedem Betrübten, der sich vor ihm niederwarf, Trost verlieh.

Das Knochenhauer-Amthaus

Nicht fern von der Magdalenenkirche erhebt sich auf einem kleinen Hügel die von Bernward 995 gegründete, 1033 vollendete Michaeliskirche, einst der größte und schönste Bau Hildesheims, auch noch jetzt äußerlich stattlich und im Innern ein überraschend prachtvolles Muster romanischen Stils. Die Kirche, die vielfache Schicksale und Umwandlungen erfahren hat, sogar einmal zur Kegelbahn für die in die Gebäude des Michaelisklosters verlegte Irrenanstalt herabgesunken war, ist, ebenfalls durch Römer’s Bemühungen, mit Geschmack und Verständniß restaurirt und seit dieser Erneuerung ein wahres Kleinod romanischer Baukunst. Einige der Capitäle der alten Säulen, welche ihre Decke tragen, gehören zu den schönsten Erfindungen dieser Art, und das große Gemälde, das in brennenden Farben die flache Decke ziert, ist, die Heilsidee vom Paradiese bis auf Christus darstellend, das größte und vielleicht auch das kunstvollste Denkmal der Malerei des Jahrhunderts, dem es seine Entstehung verdankt. Höchst merkwürdig sind ferner die um dieselbe Zeit entstandenen Stuckarbeiten, die sich an der Wand einer Capelle neben dem Chor befinden, und die in den Gesichtern ihrer Figuren und namentlich im Faltenwurf der Gewänder eher an das griechische Alterthum, als an das Mittelalter erinnern, welches sie schuf. Endlich muß noch des Kreuzgangs gedacht werden, der das Michaeliskloster mit der Kirche im Norden verband und welcher, der spätromanischen Zeit angehörend, in seinen ebenso zierlichen wie mannigfaltigen Säulenknäufen, die leider zum Theil von der Witterung gelitten haben, die höchste Entwickelung dieser Bauweise zeigt.

Das Rathhaus und der Roland.

Wuchtig, massiv und doch nicht ohne Zierlichkeit, halb dunkel, aber erfüllt von farbigen Bildern, die wie ein Stück geöffneter Himmelsglorie von der Decke in die Dämmerung herabblicken, empfängt die herrliche Schöpfung Bernward’s den Eintretenden. Er selbst aber, der Erbauer dieser Andachtsstätte, hatte sich unter ihr sein letztes Bett bereitet. Noch steht sein steinerner Sarkophag dort. Daneben aber sprudelt eine Quelle lauteren Wassers, das Symbol des ewigen Lebens auf das die Inschrift des Sargdeckels hofft.

Einen großen Bau spätromanischer Zeit, der auch äußerlich [109] den Stil jener Tage zeigt, haben wir in der Godehardikirche vor uns, die, um die Mitte des zwölften Jahrhunderts vollendet, sich im südlichen Theile Hildesheims erhebt. In ihr finden wir schon in allen Dimensionen das Emporstreben ausgesprochen, welches die Gothik bezeichnet. Sie ist eine Basilika, deren Grundgestalt das Kreuz ist; ihr Schiff dreifach, indem von der Mitte durch je zwei Säulen und einen Pfeiler Seitenräume abgetrennt sind. Das Mittelschiff zeigt eine auffallende Höhe und erscheint infolge dessen etwas zu schmal. Ohne Strebepfeiler, nur mit einem einfachen, rundbogigen, unter dem Dache hinlaufenden Fries geschmückt, steigen Mittelschiff und Seitenräume in wirkungsvoller, edler Einfachheit empor. Ueber der Vierung, der Stelle, wo das Querschiff das Hauptschiff kreuzt, erhebt sich der polygonale Hauptthurm, zwei andere Thürme stehen am Westende des Gebäudes. Ein reich gesicherter Kranz von Absiden schließt die östliche Hälfte, wo sich der Chor befindet, dessen Wände und dessen Fußboden in Mosaiknachahmung bemalt sind und auf welchen Fenster mit Glasmalereien bunte Lichter fallen lassen.

Auch diese Kirche war lange Jahre vernachlässigt und drohte zuletzt den Einsturz. In den Jahren 1848 bis 1863 wurde sie von Baurath Hase auf Kosten der k. Klosterkammer restaurirt. Während die Michaeliskirche den Protestanten gehört, befindet sich die Godehardikirche im Besitz der Katholiken Hildesheims, die beiläufig etwa ein Drittel von dessen Einwohnerzahl ausmachen.

Ebenfalls in den Händen der katholischen Kirche ist der Dom, das älteste Bauwerk der Stadt und auf drei Seiten von einem hübschen, von Bäumen beschatteten Platze umgeben.

Ehe wir ihn besuchen, gestatten wir uns als Weltkinder einen kurzen Abstecher nach der hart neben ihm in einem kühlen Winkel gelegenen Domschenke, wo die alten Domherren, ein Geschlecht heiterer Weisen, nach dem Spruche, der den Deckbalken der Vorderstube ziert und nach welchem, wenn „das Alter sich zur Jugend trinkt, das Trinken zur Tugend wird", manch seine Flasche geleert haben sollen. Auch heute noch geht es in dessen Hinterzimmer bei dem guten Weine des Wirths noch bisweilen recht heiter zu. Mich selbst überkommt die Lust, an dem traulichen Orte im Geiste ein paar Stunden Hütten zu bauen und die Mutterfläschchen des wohlversehenen Kellers wieder zu versuchen, wie ich’s vorigen Sommer mit Hoffmann v. Fallersleben und anderen wackern Freunden gethan. Aber Alles zu seiner Zeit, und so mag’s bei dem Wink und bei Verzeichnung des Spruchs jener Domherrenweisheit bleiben, der vollständig lautet:

„Jugend ist Trunkenheit ohne Wein,
Doch trinkt sich das Alter zur Jugend,
So wird das Trinken zur Tugend."

Der Dom selbst ist als Gebäude nicht viel werth. Wiederholt abgebrannt und wieder aufgebaut, zeigt er von dem Münster, welches der erste Bischof Hildesheims hier oder etwas seitwärts von der Stelle errichtete, keine Spur, und auch der Neubau, den Bischof Hezilo vor nunmehr tausend und sechs Jahren ausführte, ist durch vielfache Um- und Anbauten und vorzüglich durch eine im vorigen Jahrhundert im Geschmack der Jesuiten vorgenommene Restauration, wobei Weiß und Gold nicht gespart wurde, dermaßen verunziert, daß man wenigstens im Innern bisweilen Mühe hat, das Mittelalter und seinen Stil herauszufinden. Auch der Vorbau im Westen mit seinen beiden Thürmen, der 1850 vollendet wurde, macht wenig Anspruch auf Schönheit.

Dennoch ist das alte Münster im hohen Grade sehenswerth und zwar namentlich als ein Museum von Alterthümern und Kunstwerken aus allen Jahrhunderten seiner Existenz. Aus dem sechszehnten stammt der sogenannte Lettner, eine prächtige Steinarbeit vor dem Sacrarium, welche im besten Stil der Renaissance ausgeführt ist. Das dreizehnte hat ein außerordentlich schönes, metallenes Taufbecken hierher gestiftet, welches in einer der Capellen des nördlichen Seitenschiffs steht. Es wird von vier knienden Figuren getragen, die, aus Urnen Wasser ausgießend, vermuthlich die vier Flüsse des biblischen Paradieses vorstellen, und zerfällt in vier Abtheilungen, von denen die erste die Donation, die zweite den Zug der Juden durch das rothe Meer, die dritte die Taufe Jesu und die vierte den Durchgang des Volkes Israel durch den Jordan enthält – Gruppen, die durch Figuren und Säulen geschieden sind. Ebenso hat der Deckel vier Felder, von denen eines Aaron mit der grünenden Ruthe, ein anderes den bethlehemitischen Kindermord, ein drittes die Waschung der Füße Jesu durch Magdalena und ein viertes die Werke der Barmherzigkeit darstellt.

Wahrscheinlich schon aus dem zwölften Jahrhundert ist der kleine vergoldete Silbersarg, in welchem die Gebeine St. Godehard’s ruhen. In dieselbe Zeit gehört der große Armleuchter vor dem Chore, den man die Irmensäule nennt. Der Schaft ist ein bräunlicher Kalksinter, wie er sich in alten Wasserleitungen ansetzte. Mit der altheidnischen Irminsul hat er nichts zu thun. Sicher dagegen ist, daß der große Kronleuchter, der das Mittelschiff des Domes ziert, vom heiligen Bernward wenigstens begonnen und von Hezilo, dessen viertem Nachfolger, vollendet worden ist. Der mächtige stark vergoldete Kupferreif von einundzwanzig Fuß Durchmesser stellt die Mauer des himmlischen Jerusalem vor. Die Mauer zeigt zwölf große und ebenso viele kleine Thürme, die Zwischenräume zwischen denselben sind aus weißem Blech gearbeitet, in den geöffneten Thoren der Thürme standen einst kleine Silberfiguren von Propheten und christlichen Tugenden, welche im dreißigjährigen Kriege von Soldaten geraubt wurden.

Verschiedene schöne und kostbare Kelche und Patenen, Kreuze und Leuchter, Bischofsstäbe und Meßbücher, die der Dom bewahrt, gehören nach der Sage ebenfalls Bernward an, können aber auch jünger sein. Mit Sicherheit dagegen will man dem heiligen Goldschmiede und Erzgießer die hohen gegossenen Metallthüren mit merkwürdigen Darstellungen aus der biblischen Geschichte, welche das Mittelschiff des Doms gegen das im Westen befindliche Paradies abschließen, und die jetzt auf dem Domhof stehende sogenannte Christussäule mit Hautreliefs aus dem Leben des Erlösers zuschreiben.

Wir befinden uns, vor diesen Resten der Kunstfertigkeit Bernward’s in sehr alter Zeit. Der Odem des ersten christlichen Jahrtausends weht uns an. Andere Schätze des Domes, ein Kreuz, welches Ludwig der Fromme hierher gestiftet haben soll, eine Gabel und ein Trinkhorn Karl’s des Großen, machen Anspruch darauf, noch älter zu sein. Ein Behältniß endlich von halbmondförmiger Gestalt, welches Reliquien von Jesus und Maria bewahrt, das „Heiligthum unserer lieben Frauen“ will die Kapsel sein, welche der Priester Ludwig’s des Frommen bei jener Jagd im Urwalde vergaß, die zu Hildesheims Gründung Veranlassung wurde. Ob sie damit Recht hat, wird bezweifelt.

Gewisser ist, daß ein anderer Zeuge jenes wunderbaren Ereignisses, den der Küster außen an der östlichen Wand der halbkreisförmigen Domabsis zeigt und mit dem unsere Schilderung zu ihrem Anfang zurückkehrt, daß der tausendjährige Rosenstock der wirkliche uralte Strauch ist, für den er sich ausgiebt. Auf den ersten Blick, sieht er nicht so aus. Ein halb Dutzend Stämmchen, etwas mehr als zolldick und ungefähr von dreifacher Mannshöhe breiten sich an der grauen Mauer dieses ältesten Theiles des Domes und treiben im Sommer Hunderte von Blüthen. Aber der Urstamm dieses Urgreises des Rosengeschlechts, der, über zehn Zoll stark, unten in der Krypte wurzelt, die unter der Chornische liegt, läßt einen guten Theil unserer Zweifel verstummen, und was übrig bleibt davon, schwindet vor dem historischen Nachweis, daß schon Bischof Hezilo den Strauch vorfand und durch seine jetzige Ueberdachung ehrte.



Ein amerikanischer Brief aus Thüringen.

Für den Bürger der nordamerikanischen Union giebt es im Allgemeinen wenige Sitten und Gebräuche, die er auf Grund ihres Alters, allein in Ehren hält und die ihn an den heimathlichen Boden zu fesseln vermögen. Er hat keine besonderen uralten Familien- oder Standesehren, welche ihm seine Vorfahren aus grauen Zeiten überlieferten, mit andachtsvoller Scheu aufrecht zu erhalten, denn Stellung und Beschäftigung sind meistens einem häufigen und oft urplötzlichen Wechsel unterworfen; deshalb fühlt auch der Bewohner kaum irgend eines andern Landes so wenig das Bedürfnis; und die Neigung, an der Scholle kleben zu bleiben, wie [110] der freie und unstäte Sohn der Vereinigten Staaten. Der Amerikaner ist, wie der auf beiden Seiten des atlantischen Oceans wohlbekannte Neuengländer Henri, T. Tuckerman sagt, ein Wandergeschöpf. Von dem Wechsel der Luft erwartet er wohlthätige Folgen für seine Gesundheit, von dem Wechsel des Wohnsitzes einen günstigen Umschwung in seinen ökonomischen Verhältnissen, von dem Wechsel der Gesellschaft eine Verbesserung seiner socialen Stellung im Leben, und obschon ihm sein heimathlicher Heerd – his home and his fireside – nicht gleichgültig ist, so sind die Unternehmungen und Abenteuer derjenigen, welche immer weiter nach dem fernen Westen vordringen, sehr zahlreich und bilden für die amerikanische Literatur eine nie versiechende Quelle. Indessen ist es die Lebensweise und die ungeheure Ausdehnung des Landes nicht allein, was den Bürger der transatlantischen Republik zu beständigen Reisen veranlaßt; ein wesentliches Moment, das wir dabei in Rechnung bringen müssen, ist sein unruhiges Temperament und sein ausgeprägter Geschmack an regelmäßig wiederkehrenden Ortsveränderungen. Diese Eigenschaften und Umstände zusammengenommen sind es, welche vornehmlich den Neuengländer oder Yankee zum vollendeten Touristen machen. –

Zu der Zahl der bedeutendsten Touristen und beliebtesten Reisebeschreiber der Nordamerikaner gehört gegenwärtig zweifelsohne Bayard Taylor, der sich außerdem noch als ein höchst geistreicher Gelegenheitsredner – lecturer — auszeichnet und dessen Vorlesungen beizuwohnen wir selbst wiederholt das Vergnügen hatten. Wir müssen uns nämlich erinnern, daß es in der nordamerikanischen Union besonders zweierlei Einrichtungen sind, welche wie in England, der Bildung schon Erwachsener dienen: die Debattirgesellschaften und die öffentlichen Vorlesungen. Während sich in den ersteren die jüngeren Männer eines Ortes, ohne Rücksicht auf Stand und Gewerbe, zusammenfinden und über einen allgemein interessanten Gegenstand in geregelter Disputation verhandeln, um sich Redegewandtheit und Ideenklarheit anzueignen, erstrecken sich die letzteren über alle Gebiete der Wissenschaft und Kunst und werden von beliebten und berühmten Fachgelehrten, Philanthropen und Reisenden gehalten, an welche zu diesem Behufe Einladungen ergehen. Die Zuhörerschaft findet sich gewöhnlich auf dem Wege der Subscription zusammen, und das Honorar für einen Vortrag ist nicht gering, von zwanzig bis hundert Dollars. Der „Lecturer“, zu denen nicht selten auch Frauen gehören, sind eine ansehnliche Zahl, und viele von ihnen leben von dem Ertrage ihrer Vorlesungen. Charlatane und flache Schöngeister können darunter nicht lange eine Rolle spielen; überhaupt darf man diese Art Reden ihres ephemeren Charakters wegen nicht unterschätzen, denn sie tragen wesentlich dazu bei, den Geist der Amerikaner über die Geschichte und die Institutionen ihres eigenen Landes und fremder Nationen aufzuklären. –

Bayard Taylor nun, einer der ersten jetzt lebenden „Lecturer“, bringt seit mehreren Jahren fast jeden Sommer in Thüringen zu, wo ihn verwandtschaftliche Beziehungen und theure Familienbande fesseln. Er ist der stehende Correspondent der „New-Jork Tribune“; dies Blatt gewann unter ihrem Chefredakteur Horace Greeley, der als einflußreicher Politiker vor kurzer Zeit von Andrew Johnson, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, die Stelle eines Gesandten in Oesterreich angeboten erhielt, dieselbe aber ausschlug, eine selten große Ausbreitung und wird in vielen Tausenden, von Exemplaren, die über die ganze Erde verbreitet sind, gelesen. In einem aus dem bekannten Sommerfrischort Friedrichroda datirten und im August 1867 geschriebenen Briefe giebt Bayard Taylor in dem genannten Blatte höchst interessante Charakterschilderungen verschiedener deutscher Autoren und fügt zum Schlüsse pikante Bemerkungen über das Schriftstellerwesen in Deutschland überhaupt hinzu. Da es nun von unleugbarem Interesse ist, das Urtheil eines scharf beobachtenden und geistvollen Ausländers über diese Punkte zu vernehmen, so lassen wir im Nachstehenden einige der bemerkenswerthesten Stellen des erwähnten Briefes folgen.

„Vor einigen Tagen,“ schreibt Taylor, „erneuerte ich meine Bekanntschaft mit zwei Männern, die ich zu derselben Zeit vor gerade neun Jahren kennen lernte. Die Bekanntschaft dauerte damals zwar nur sechs Stunden, allein diese kurze Zeit reichte hin, das Andenken an diese Männer dauernd und gern in meinem Gedächtnisse zu bewahren. Als ich nämlich im Augustmonate des Jahres 1858 bei der dritten Säcularfeier der Universität Jena, die Tausende von alten und jungen Jenenser Studenten versammelt hatte, zugegen war, nahm ich auch an dem großartigen Commerce Theil, der in jener Festzeit in der alten und ehrwürdigen Musenstadt veranstaltet wurde. Ich hatte einen Platz an einem der ‚Sachsentische‘ erhalten und saß zwischen einem hochgewachsenen blonden Herrn und einem starken, breitschulterigen Manne, dessen rundes und volles Gesicht von einem wilden und dichten Barte umgeben war. Der Erstere war Dr. Alfred Brehm, der als Afrikareisender und als Naturforscher rühmlichst bekannt ist; der Letztere war Fritz Reuter, der gefeierte plattdeutsche Dichter, welcher in der That eine neue Schule in der deutschen Literatur gegründet hat.“ – – –

„Gegenwärtig lebt Fritz Reuter in Eisenach, einer freundlichen Stadt in der Nähe der Wartburg. Als ich vor einigen Tagen, ich glaube zum siebenten oder achten Male, nach, diesem Orte pilgerte, der durch das Andenken an die Minnesänger, an Elisabeth von Ungarn und an Luther geweiht ist, beschloß ich, meinem Nachbar von der jenenser Jubelfeier einen Besuch abzustatten. Ich traf ihn nicht zu Hause, aber er kam am Abend nach dem Hotel, in welchem ich wohnte. Ich fand ihn ganz unverändert, nur der dunkle, starke Bart war in den letzten neun Jahren völlig grau geworden. In dem Großherzogthume Mecklenburg, wo er geboren ist, giebt es viel wendisches Blut, allein Reuter’s äußere Erscheinung läßt mich bestimmt annehmen, daß er der reinen und unverfälschten teutonischen Race entstammt. Seine untersetzte, kräftige Gestalt, seine breiten Schultern, sein dicker Nacken, sein mächtiger, runder Kopf, seine ausdrucksvolle, fast viereckige Stirn, seine kleinen, grauen Augen, seine starke Nase, und der nicht ganz kleine Mund – sind passende äußere Attribute für den Humoristen, sie kündigen indeß nicht den Dichtergeist an, der ebenfalls in Reuter lebt und schafft. Sein Wesen ist einfach und ohne alle Affectation, wie das eines Kindes; man fühlt in den ersten Augenblicken, wo man ihm näher tritt, daß man einer ehrlichen und offenen Natur, die kein Falsch kennt, gegenüber steht. Er erinnerte mich an unsern Walt Whitman, von dem Emerson sagte, daß er in seinen früheren Jahren viel erfahren und viel gelitten haben müsse – ganz dasselbe ist mit Fritz Reuter der Fall. Und in der That haben Whitman und Reuter Manches gemeinsam: Beide zeichnet ein tiefes, nachhaltiges Humanitätsgefühl aus, Beide fassen die Natur in einer wundersamen, doch entschieden poetischen Weise aus, die Art zu denken ist der Form nach bei Beiden originell, weniger dem Inhalte nach. Fritz Reuter ist außerdem eine wahre Künstlernatur, und bei Allem, was er schreibt, macht sich sein Humor geltend.“

Hieraus giebt Taylor eine kleine Skizze von Reuter’s Leben; er erwähnt, daß Reuter im Jahre 1808 geboren sei und in den Jahren 1833 bis 1840 in einem mecklenburgischen Gefängnisse gelebt habe. Der Gedanke, den plattdeutschen Dialekt seinen literarischen Arbeiten zu Grunde zu legen, habe Reuter stets beherrscht. Möglicherweise hätten Hebel’s „Alemannische Gedichte“ hierzu, den ersten Anstoß gegeben. Andere plattdeutsche Dichter hätten sich vor Reuter Ruhm und Anerkennung erworben; allein seit etwa zehn Jahren habe er allen seinen Rivalen den Rang abgelaufen. Im fünfzigsten Lebensjahre, wo andere Autoren auf ihren Lorbeeren auszuruhen pflegten, habe er die ersten Blätter seines Dichterkranzes gepflückt, und es gäbe gegenwärtig kaum einen deutschen Schriftsteller, der mehr mit seiner Feder verdiene, als Fritz Reuter.

„So viel ich weiß;“ fährt Taylor fort, „ist ‚Ut de Franzosentid‘ das einzige Werk Reuter’s, welches in die englische Sprache übersetzt ist. Der jüngere Lewis übersetzte es in diesem Jahre unter dem Titel: ‚In the Year 1813‘. Die Uebersetzung ist eine gelungene, allein die wunderbare Naivetät des Plattdeutschen, welches so viele Aehnlichkeit mit der englischen Sprache hat, ist doch unnachahmlich; sie konnte nur angedeutet, nicht vollständig wiedergegeben werden. Ich stelle den ‚Hanne Nüte‘ höher; dies Gedicht besitzt den idyllischen Reiz eines echten Hirtengedichtes. Sein letztes Werk ‚Dörchläuchting‘ möchte ich mit ‚His Little Serene Highness‘ wiedergeben, aber diese Uebersetzung hat wenig Komisches während der ursprüngliche Titel durch und durch komisch ist. Reuter hat jetzt eine neue Geschichte unter der Feder, deren Plan, so weit er nur ihn mittheilte, nicht weniger Originalität, als Humor verräth.“

[111] Taylor erzählt, daß Fritz Reuter sich durch seine literarischen Arbeiten ein recht comfortables Leben zu bereiten im Stande ist, und knüpft hieran eine Reihe interessanter, wenn auch nicht immer zutreffender Bemerkungen über die deutsche Journalistik überhaupt, von denen wir nur folgende hervorheben wollen: „Reuter’s Erfolge als Schriftsteller lassen sich mit dem, was englische, französische und nordamerikanische Autoren erreicht haben, kaum vergleichen. In Deutschland wird eben das Schriftstellerthum – trotz der großen intellectuellen Bildung und trotz des wissenschaftlichen Strebens im deutschen Volke – sehr kläglich honorirt. Ich vermuthe, daß der Grund dieser bedauernswerthen Erscheinung vorzüglich darin liegt, daß so wenige Menschen aus dem Mittelstände daran denken, sich eine eigene leidliche Bibliothek anzuschaffen. Die Leihbibliotheken liefern dem Volke den billigsten Lesestoff, und nur von wenigen Werken, welche eine ganz besondere Popularität, errangen, ist eine starke Anzahl verkauft worden. In diesen Leihbibliotheken gibt es nicht blos Bücher, sondern auch periodische Zeitschriften. Letztere müssen hierdurch an Circulation verlieren und sind, wenn sie überhaupt Privatsubscriptionen haben wollen gezwungen, zu einem höchst niedrigen Preise zu erscheinen. Wenige von den vielen periodischen Zeitschriften Deutschlands erreichen eine Ausgabe von zehntausend Exemplaren; daher sind die Honorare für die Mitarbeiter selbstverständlich sehr gering. Keil’s ‚Gartenlaube‘ macht hiervon eine Ausnahme; ihre Auflage beträgt mehr als einhundert und fünfzigtausend Exemplare und sie bezahlt, wie man mir gesagt, fünfzig Thaler für den Bogen, der ungefähr so viel Lesestoff bietet, wie vier oder fünf Spalten der ‚New-York Tribune‘ liefern. Diese Bezahlung gilt für ungewöhnlich hoch, und man nennt sie thatsächlich noch immer Honorar, als wenn die Entschädigung der Schriftsteller für ihre Arbeiten nicht etwas sei, wozu, sie in jeder Beziehung, berechtigt wären.“

Wir dürfen hier übrigens die Bemerkung nicht zurückhalten, daß Herr Bayard Taylor hinsichtlich der „Gartenlaube“ irrt. Alle, welche mit der „Gartenlaube“ längere Zeiten Verbindung standen, wissen, daß sowohl ihre Auflage als das Honorar, welches sie zahlt, höher sind, als wie Taylor angiebt. Ihre Auflage beträgt jetzt mehr als 250 000 Exemplare, und fünfzig Thaler pro Bogen ist der niedrigste Honorarsatz, den sie kennt und der höchstens einmal bei Bearbeitungen aus fremden Sprachen angewandt wird. Sie zahlt vielen ihrer Mitarbeiter den Bogen mit hundert und mehr Thalern.

Das Verhältnis zwischen den Schriftstellern und Buchhändlern ist, wie Taylor meint, in Deutschland nicht so gut geregelt, wie in England und Nordamerika. Selbst Dichter, wie z. B. F. Freiligrath, können von dem Ertrage ihrer werthvollen und sehr populären Werke nicht leben. Eine große Anzahl deutscher Autoren sucht, sobald ihre Schriften irgendwie reussirt haben, eine Anstellung bei einer größern öffentlichen Bibliothek, bei einem Theater oder einem Museum zu erhalten, um sich eine sichere Einnahme zu verschaffen. Taylor nennt hier zum Belege seiner Behauptung: Bodenstedt, Geibel, Dingelstedt, Halm u. A. Der Preis eines Buches hängt von dem Grade der Berühmtheit des Autors ab. Jüngere Kräfte müssen mit dem zufrieden sein, was man ihnen bietet, wenn man ihnen überhaupt etwas bietet. Die Einnahmen, welche Schiller’s Werke geliefert, stehen nach Taylor’s Ansicht in gar keinem Verhältnisse zu dem, was Washington Irving oder Dickens aus ihren Werken zogen. Dazu kommt, daß ein amerikanischer Schriftsteller viel mehr aus seinen Vorlesungen einnimmt, als wie dies bei deutschen Autoren durchschnittlich der Fall ist. „Während Emerson,“ sagt Taylor, „nach Iowa und Minnesota zu Vorlesungen eingeladen wird, würde es sehr zweifelhaft gewesen sein, ob Hegel oder Fichte anderswo Zuhörer gefunden hätten, als in Hauptstädten und Universitäten.“ (Emerson ist auch weder ein Fichte noch ein Hegel; diese würden in Amerika vielleicht nirgends Zuhörer gefunden haben. Auch scheint Taylor von den Vorlesungen Karl Vogt’s Nichts zu wissen, welche diesem während des Winters allein sechs- bis achttausend Thaler Reingewinn bringen. D. Red.)

Schließlich gesteht Taylor zu, daß in den Vereinigten Staaten noch keine wirkliche Geschichte der nordamerikanischen Literatur erschienen sei. Er beklagt, daß er hierin Herrn K. F. Neumann Recht geben müsse, und spricht dabei die Ansicht aus, es würde ein verdienstliches Werk sein, wenn Jemand eine Geschichte der nordamerikanischen und europäisch-englischen Literatur herausgäbe, worin die Unterschiede des Mutter- und des Tochterlandes hervorgehoben seien. Auch leugnet er nicht, daß Amerika, wenn es der Zahl nach auch mehr Leser besitze, hinsichtlich der Fähigkeit und tiefern Bildung derselben weit hinter Deutschland zurückstehen müsse. Mit großer Freude begrüßt er die Thatsache, daß man gegenwärtig häufig das amerikanische Leben als ein Element des Contrastes und der Illustration in die deutsche Literatur einzuführen beginne. Er erwähnt hier als ein nachahmungswürdiges Beispiel Herman[WS 1] Grimm’s „Unüberwindliche Mächte“ (Unconquerable Powers), denen er einen guten englischen Uebersetzer wünscht. In dem Haupthelden dieser Dichtung, Mr. Wilson, will er den geistreichen Emerson wiedererkennen, dessen erster Uebersetzer H. Grimm ist.

Rudolph Döhn.




Blätter und Blüthen.


Todesfälle in der vornehmen Welt. In Berlin ist die Todtenliste vorigen Jahres mit vielen vornehmen Namen angefüllt. Graf Lüttichau, Graf Brühl, Graf Blankensee und Graf Krockow sind gestorben. Erste beiden Herren waren Generale a.D., wie es in Berlin so viele giebt, aber sie machten „ein Haus", was in Berlin nicht so häufig ist, wie man vielleicht glaubt. Beide hatten sich in spätem Alter mit Damen verheirathet, die ihnen für ihre Titel viel Geld und viel Geist zubrachten, also die nothwendigen Ingredienzien zu einem Salon lieferten, der ohne die ominösen Reime „Titel und Mittel" leider heutzutage nicht bestehen zu können scheint. Bei der Gräfin Brühl versammelte sich der Hofcirkel, bei der Gräfin Lüttichau die Gelehrtenwelt; beide Damen haben als Wittwen ihre Salons geschlossen, und Berlin wird diese Lücken tief empfinden. Der Graf Krockow kann, nur als Vater des bekannten Afrika-Reisenden und des talentvollen Thiermalers auf einige öffentliche Anerkennung, Anspruch machen Graf Blankensee hingegen ist als Schriftsteller mehrfach in die Oeffentlichkeit getreten und gehörte als Zeitgenosse Fouqué’s, Hoffmann’s, Heinrich’s, Immermann’s gewissermaßen der berühmten Vergangenheit unserer Literatur an. Er kommt in den Memoiren der Schriftstellerinnen jener Zeit, der Baronin von Hohenhausen, geborenen von Ochs, der als fahrenden Minnesängerin bekannt gewordenen Helmina von Chezy, geborenen von Klencke, öfter vor als schöner Geist und noch schönerer Mann, was seine Bekannten der letzten Lebensjahre nicht glaubhaft finden, denn er war in Berlin fast nur noch als seltsames Original anerkannt, obgleich er bis zuletzt viel Aeußeres und namhafte Talente besaß. Er schrieb noch eine Tragödien-Trilogie „Moritz von Sachsen“ in seinem siebenzigsten Lebensjahre und trug wenige Stunden vor seinem Tode die schwierigsten Passagen auf der Geige in zahlreicher Gesellschaft vor. Der Erbe seines sehr großen Vermögens ist der Neffe seiner Gattin, einer geborenen Prinzessin von Schöneich-Karolath, Baron Firks, der als Gemahl von des Grafen einziger Tochter den Namen Blankensee. fortführen wird. — Auch eine schöne junge Frau der vornehmsten Kreise ist auf die Todtenliste zu setzen, die Fürstin, von Putbus geborene Freiin von Beltheim; sie war an Eleganz, Lebenslust, Glück und Liebenswürdigkeit ganz dasselbe für Berlin, was die Fürstin Metternich für Paris ist, Sie war eine kühne Reiterin und Jägerin, das Vorbild aller Toilettenkünste und Moden. In ihrem Hause fanden die glänzendsten Feste statt; ihre orangegelbe Equipage fehlte auf keinem Corso und ihre stets durch Neuheit und Reichthum auffallenden Toiletten konnte man auf der Alltagspromenade des Thiergartens bewundern. Dabei war sie trotz der Weltlust eine menschenfreundliche Wohlthäterin der Armen und trat auch als Beschützerin der vornehmen Armuth auf, die von den Geldsäcken der Berliner Salons oft schonungslos genug behandelt wird.



Albrecht Dürer’s sogenannte kleine Passion, das hochgeschätzte Werk von 1510, aus der schönsten Zeit des Altmeisters deutscher Kunst, welches seiner Seltenheit und Kostbarkeit wegen bisher nur in wenigen Kunstsammlungen zu finden war, ist von C. Deis in Stuttgart mit einer Treue und Künstlerschaft dem Originale in Holz nachgeschnitten worden , daß es nur dem eingeweihten Kenner Vorbehalten bleibt, das Original von der Copie zu unterscheiden. Bei dem steigenden Interesse für altdeutsche und christliche Kunst wird hiermit die Möglichkeit geboten, diese berühmten Blätter als ein Gemeingut des Volkes in den Besitz Aller zu bringen, der sich an echt deutscher Kunstschöpfung erfreuen und erbauen wollen. Der Götter Liebling, Rafael, sagte bekanntlich von Dürer: „Er würde uns Alle übertreffen, wenn er die Vorbilder des Alterthums so vor Augen, gehabt hatte, wie wir." Mit diesem eminenten Lobspruch auf den schöpferischen Genius Dürer’s wollen wir die zugleich ausgesprochene, sich auf die Kunstform beziehende Beschränkung, gern hinnehmen und unter allen Umständen uns des reichen Segens erfreuen, neben einem Rafael unsern ureignen deutschen Dürer zu haben.

Die vorliegenden siebenunddreißig vortrefflichen Blätter enthalten den Sündenfall, Darstellungen aus dem Leben und Leiden Jesu und das letzte Gericht, sind in der Krüll’schen Buchhandlung in Eichstätt und Stuttgart erschienen und kosten in eleganter Mappe sechs Gulden.




O. L. B. Wolff’s Verdienste um unsere schöne' Literatur beginnen endlich auch für seine hinterlassenen Lieben nachträgliche Früchte zu tragen. Trotzdem die „Gartenlaube“ seinen Aufruf, keine Bitte für dieselben erlassen, sondern nur des seltenen Mannes Wirken und Leiden der Gegenwart vor Augen gestellt hat, so sandte dennoch „ein alter Freund Wolff’s"

[112] noch in derselben Stunde, wo er den betreffenden Artikel („Deutschlands erster Improvisator und sein Loos“) gelesen hatte, an die Redaction einhundert Thaler, um der Wittwe den Ausfall der Schillerstiftungssteuer für dieses Jahr zu ersetzen. Von Weimar aber ist dem Verfasser jenes Artikels directe Mittheilung geworden, daß Großherzog Karl Alexander, in seiner Eigenschaft als Protector der deutschen Schillerstiftung, die Gewährung einer lebenslänglichen Pension für Wolff’s Wittwe „dringend empfohlen“ habe. – Endlich sind auch mit der einfachen Bezeichnung „Für O. L. B. Wolff’s Grabstätte in Jena“ Beiträge von unbekannter Hand bei der Redaction der Gartenlaube eingegangen.



     Rechen-Aufgabe.

Ein König gab einst großen Schmaus.
Er schickte den Hofmarschall aus
Und trug ihm auf, zu Markt zu geh’n.
„Das Schönste, was Du dort wirst seh’n,
Das bringst Du, kost’ es, was es wolle,
Und hier in dieser schweren Rolle
Empfange baare hundert Thaler.
(Der König war ein prompter Zahler,
Also erzählt von ihm die Mähr,
Doch ist es schon sehr lange her.)
Kauf, was an Hasen, Hirsch und Reh’n
Du auf dem Markt bekommst zu seh’n,
Doch von den Allen, merke fein,
Der Summe Zahl soll Hundert sein.
Soviel, das wird Dir leicht gelingen,
Für hundert Thaler mir zu bringen.“ –
Tief neigte der Hofmarschall sich.
„Noch eins, mein Freund, ich bitte Dich,
Nimm streng die Sache mir auf’s Korn,
Denn ich befehl’s – bei meinem Zorn!“
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Desselben Tages noch, am Abend,
Auf seinem Rößlein fürbaß trabend,
Kam der Hofmarschall nach dem Schloß,
Vom Markt zurück, mit seinem Troß.
„Nun,“ ließ der König streng ihn an,
„Hast Du, was ich befahl, gethan?“ –
„Ja, zu befehlen, großer König,
Es fehlt kein Hirsch, kein Has’, kein Reh,
Ich gab dafür das ganze Geld,
Genau so, wie Du es bestellt.“
Da ließ der König als ein Zeichen
Der Gunst ihm eine Kette reichen
Und sprach: „Du bist ein kluger Mann,
An dem Wir unsre Freude ha’n.“



Nun, Leser, sage mit Bedacht,
Wie der Hofmarschall das gemacht: –
Ein Hirsch kost’t sieben, drei ein Reh
Der Thaler, Hasen aber zwee
Für einen Thaler – rechne aus,
Wieviel er Hasen bracht’ nach Haus,
Wieviel der Reh’ und Hirsche dann
In meiner Mähr der kluge Mann.




An unsere sämmtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wenden wir uns noch einmal mit der Bitte, ihre Mittheilungen für die Gartenlaube von Fremdwörtern so viel wie möglich frei zu halten. Selbstverständlich dringen wir nicht auf gänzliche Vermeidung derselben, namentlich nicht, wo durch Verdeutschung mancher in unserer Sprache längst eingebürgerter fremder Bezeichnungen deren Verständniß nur erschwert würde. Daß aber, und besonders vom politischen Zeitungsstil, darin noch allzustark gesündigt wird, beklagt der nichtgelehrte Leser mit Recht, und er soll wenigstens in der Gartenlaube diesem alltäglichen Aergerniß nicht begegnen.

D. R.


Opferstock für Ostpreußen.

Es gingen ferner ein: Von Schneide und Frau in Pomßen 2 Thlr.; Kiekebusch in Rottenhain 1 Thlr.; Braun in Geuning 1 Thlr. 20 Sgr.; einige Norddeutsche in Prag durch E. Klingmüller 21 Thlr.; A. Böhme in Reinholdshain 1 Thlr.; aus Wielfrath 3 Thlr.; Lyssow 15 Sgr.: bei Schiefi’s Einzug gesammelt 1 Thlr. 20 Sgr.; O. W. , ein Kuß 1 Thlr.; B. J. aus Arnstadt 2 Thlr.; W. M. in Connewitz 2 Thlr.; eine muntere Gesellschaft in Lauterbach 2 Thlr. 81/2 Sgr.; einige Leser der Gartenlaube in Gönnheim 1 Thlr.; von dem Männergesangverein Teutonia in Paris, durch A. Weisflog 100 Fr. (26 Thlr. 20 Sgr.), erste Sendung; E. Kühl in Neuchatel 1 Thlr.; N. N. in Borna 20 Thlr.; aus Tressentin bei Ribnitz 12 Thlr.; aus dem Dorfe daselbst 1 Thlr.; Leute in Treben 1 Thlr.; Gl. in Penzlin 1 Thlr.; von den deutschen Angestellten einer Fabrik in Wasquehel bei Roubain (47 Fr. 50 C.) 12 Thlr. 20 Sgr.; Molly 3 Thlr.; Margaretha aus Buchholz 15 Sgr.; F. G. in Wien 1 Thlr.; beim Abendessen der Harmonie in Meerane, gesammelt durch Peter 5 Thlr. 10 Sgr.; Sonnabendskegelclub im Bärwinkel zu Halle 5 Thlr.; aus Mellenbach 2 Thlr.; H. G. in Geithain 5 Thlr.; aus Teplitz: Dr. Walther 5 Thlr. 5 Sgr., eine ungenannte Dame 1 Thlr., Fräulein C. T. 25 Sgr. und N. N. 2 Thlr., zusammen 9 Thlr.; Walter in Liebau 1 Thlr.; aus Schönberg 2 Thlr.; ein Unbekannter 1 Thlr.; Tilly in Königsbrück 1 Thlr.; N. N. in Paderborn 5 Thlr.; H. Tr. in Bardenfeld 2 Thlr.; Sammlung der Arbeiter in der Höpner’schen Fabrik in Drumbach 10 Thlr.; A. H. und I. H. in Nürnberg 1 Thlr.; aus Schönau 2 fl. österr.; von der Tochter Eines, der bei Leipzig mitgefochten hat, 2 fl. österr.; K. ans H. 5 fl. österr.; von der Expedition des Friedländer Wochenblattes 5 fl. 70 kr.; I. Goetzger in Wien 4 fl.; R. I. in Petersburg 1 Rubel; Turnclub in Glauchau 10 Thlr.; Erlös einer Sammlung bei einer Abendunterhaltung des Turnclubs in Glauchau 10 Thlr. 12 Sgr.; Gemeinde Podelwitz bei Leipzig 23 Thlr. 6 Sgr.; von 110 Mitgliedern des deutschen Vereins Eintracht in Pesth 150 Thlr.

Wir erhalten täglich Briefe aus Ostpreußen, die mit düstern Farben die dortige Noth schildern. So schreibt und heute wieder ein Herr Better in Karpotschen, vom Comité des Hülfsvereins des Kreises Ragnik:

„Die Noth ist groß – sie wächst trotz aller Hülfe. Ich bitte, halten Sie dies für Wahrheit und sorgen Sie für Verbreitung dieser traurigen Kunde. Ich will Sie nicht ermüden mit Schilderungen des gräßlichen Zustandes, der hier herrscht, ich theile Ihnen lieber zuerst die großartigen Mittel mit, die hier angewendet werden, um die Noth zu heben, und durch die dies leider doch nicht erreicht wird (folgt die Aufführung der verschiedenen Vereine, welche Unterstützung gesandt). Alles dies reicht noch nicht hin. So fängt jetzt die Classe der kleinen Landbesitzer (hier Eigenkäthner genannt) schrecklich an zu leiden. Bei den öffentlichen Arbeiten können fast nur Arbeitsleute zur Verwendung kommen und die directen Unterstützungen langen nicht für Wittwen, Waisen und Krüppel ans, also für diese Classe Menschen kann bis heute wenig oder gar nichts geschehen. Ich habe solch’ einen Eigenkäthner in meiner nächsten Nähe, er besitzt etwa zwanzig Morgen Areal, also fast ein Bauerngrundstück, heute hat er, trotzdem er ein ordentlicher Mensch, leider aber kränklich ist, nichts – buchstäblich nichts. Er liegt vor Hunger und Elend, seine Frau dem Tode nahe am Nervenfieber krank und schwach darnieder, die fünf Kinder haben das letzte Stückchen Haferbrod verzehrt. Solche Fälle sind Gott sei Dank jetzt mir noch vereinzelt, sie mehren sich aber von Tage zu Tage; daher mein Ruf: die Noth ist groß – sie wächst!

Haben Sie durch Ihre Sammlung etwas für uns übrig, so helfen Sie uns, richten Sie Ihre Sendung an untenstehende Adresse und gestatten Sie, daß wir den armen Leuten ringsum zu helfen, da unsere Fonds für solche Hülfe hierzu nicht ausreichen.“

Wir haben sofort einstweilen 50 Thlr. an obengenannten Herrn gesandt; ebenso 150 Thlr. Königsberg an den Stadtverordnetenvorsteher Dickert; 150 Thlr. an den „Bürger- und Bauernfreund“ nach Gumbinnen; 150 Thlr. an den Hülfsverein für Ostpreußen in Berlin; 50 Thlr. an Dr. Haffner in Bischofsstein, Kreis Rössel, zur Unterstützung des dortigen Krankenhauses, für welches das schwer heimgesuchte Städtchen nichts mehr zu thun im Stande ist; 50 Thlr. endlich an den Vorsteher des landwirthschaftlichen Kreisvereins zu Sprindt bei Insterburg, Herrn Maul.

Um noch einen Beweis zu geben, wie entsetzlich der Nothstand in Ostpreußen ist, lassen wir im Nachstehenden die ergreifende Schilderung folgen, welche eine norddeutsche Zeitung über jene Zustände veröffentlicht. Man schreibt ihr aus Goldapp:

„Die Suppenanstalt speist täglich einhundert und acht Personen, einzelne Familien bis zu zehn Personen; es wird Brod und Geld gegeben von Jedem, der es kann, und glücklich kann sich ein solcher preisen. Wer aber die hungernden Menschen, welche meistens mit dem Gesange: ,Jesus, meine Zuversicht’, um trockenes Brod bitten, von seiner Thür weisen muß, dem muß das Herz brechen. Bekommen auch wirklich alle diese Menschen, welche um Erbarmen flehen, für sich und ihre hungernden Kinder zu Hause Hülfe in der Stadt? Ach, ich muß das verneinen. Zu essen bekommt wohl noch ein Jeder hier, aber wie viele werden mit leeren Händen zu ihren hungernden Kindern im Froste und Schneetreiben zurückkehren müssen! Wie Viele mögen bereits schlummern, die sonst wohl noch den Frühling gesehen hätten! Mehrere Tage waren hier zweiundzwanzig bis vierundzwanzig Grad Frost, jetzt ist es etwas gelinder, doch noch immer recht tüchtig kalt. Ein altes Mütterchen ist viele Tage lang bei uns gewesen und hat mich gebeten, für die Kinder ihrer Tochter und deren kranken Mann Speisen mitzugeben. So ist sie denn bei dem starken Froste einen Tag um den andern zu uns gekommen; seit Sonntag fehlt sie; ich kenne ihren Namen nicht und kann mich daher weder nach ihr erkundigen, noch ihren Enkeln helfen. Auch diese Frau hat, als sie zum ersten Mal bei uns erschien, ‚Jesus, meine Zuversicht’ gesungen. Wir Mädchen in der Stadt stricken Strümpfe für Kinder und Kranke und erhalten von denen vom Lande Stickereien zum Verkauf und zur Vertheilung des Geldes: Mein Gott, wenn das Leiden nicht bald zu Ende geht, ertrage ich es nicht mehr. Ich kann das Lied: ,Jesus, meine Zuversicht’, von diesen erstarrten, hungrigen, armen Leuten nicht mehr hören, ohne daß mir die Thränen in die Augen kommen; bei Tage geht es noch, aber am Abende von der Arbeit durch dies Lied, das durch den heulenden Sturm zu Ohren und Herzen dringt, aufgeschreckt und an unendlichen Jammer und unendliches Elend geführt zu werden – das ist zu schrecklich!“

Die Redaction.




  1. Das Gespräch an Stephenson’s Tafel ist in allen Hauptsachen so getreu wie möglich am Abende nach dem Diner notirt und nur, so weit es der Zweck hier erfordert, in Nebendingen etwas modificirt worden.
    Der Verfasser.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Hermann