Die Gartenlaube (1869)/Heft 46

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 46.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Gasselbuben.
Geschichte aus den bairischen Vorbergen.
Von Herman Schmid.


1.0 Unter den Linden.

Wo der Ausfluß des Tegernsees, die grüne Mangfall, plötzlich mit starker Krümmung von ihrem Rinnsale zwischen den Vorbergen abweichend, sich durch das Gestein Bahn gebrochen hat, um in der lieblichen breitgedehnten Thalmulde von Aibling ihr klares Gewässer dem Innstrome entgegenzutragen, rollte vor Jahren – lange, eh’ der Dampf sich die Eisenstraße gebahnt hatte – auf dem weißen, gemächlich über die Höhen des Haunbolds absinkenden Sträßchen ein bäurisches Fuhrwerk lustig in den herrlichen Maimorgen hinein. Die zwei stattlichen, vor dasselbe gespannten Rothschimmel mit ihrem einfachen, aber zierlichen und spiegelblanken Geschirr zeigten, daß der Besitzer zu den wohlhabendsten Bewohnern der Gegend gehören mußte; noch mehr war dies der Fall bei dem fein angestrichenen und bequem gepolsterten Wägelchen, das, nach Schweizerart gebaut, ein fast städtisches Ansehn hatte.

Eben ging die Straße etwas abschüssiger zu Thal; der den Wagen führte, war daher von seinem Vordersitz abgestiegen und hatte die Sperrkette in’s Rad eingehängt; dennoch hielt er das Gespann noch eine Weile an und schaute in die morgenbeleuchtete Landschaft hinaus.

Weithin dehnte sich die Ebene, bis an die morgenduftigen Berge hin, ein weites in grünen Hügelwellen gartenartig ausgebreitetes Land, von dunklen Waldflächen schattirt und mit ragenden Kirchthürmen, blinkenden Schloßzinnen und weiß schimmernden Ortschaften wie mit Lichtpunkten bestreut; zwischen den Saatfeldern leuchteten, in vollster Blüthe befindlich, zahllose Obsthaine wie blumenüberschüttete Beete hervor und als Einfassung wanden sich in den anmuthigsten Linien Raine und Höhen mit grünen Gebüschen und reichen, markigen Eichenkronen wie lebende Kränze darein, nur stellenweise blitzte zu angenehmer Unterbrechung das blanke Kiesgeröll aus dem Rinnsal der Mangfall empor oder das kräftige Rothbraun der Haidestrecken und Dorfmoore verrieth, daß das ganze weite Land einst Seegrund gewesen, über dem die Wogen eines Urmeeres gebrandet. In duftiger Ferne streckten sich die Berge nach drei Seiten aus, wie der Gürtel um ein schön gefaltetes Gewand, oder wie Liebesarme, die sich ausbreiten, das Land schützend zu halten und an die Brust zu drücken. Während nach Osten hin sich der Höhenzug an der Glonn entlang mit den Schlössern von Maxlrain und Aibling verlor, stiegen westlich über den waldigen Vorbergen die Gebirge immer höher hinan, über die Stufen des Irschenbergs hinaus bis zum Jägerkamp und Brecherspitz, wo der Schliersee in grüner Tiefe schläft, bis zum Miesing und dunkelschattigen Breitenstein. Von drüben aber drängten der sagendämmernde Untersberg und der Staufen heran, die Götterer-Wand stürzte ab und die Kampenwand erhob das dräuende Haupt, und die Riesen schoben den gewaltigen Rücken vor, bis zu den phantastischen Zacken des Kranzhorns, gegenüber war die hohe Madron gelagert und zwischen beiden leuchtete das Thor, das sich der Inn gebrochen, und das sie gleich zwei steinernen Wächtern hüten, während darüber der Wildkaiser seine gewaltigen Felswände aufrichtet, als ob er dem Flüchtling nachblicken wolle, der, aus den Engen Tirols befreit, sich brausend hinausstürzt in die Ebene. In der Mitte des ganzen Bildes erhob der Wendelstein, zu beiden Seiten von den Berghäuptern wie ein Herrscher von den Vasallen umdrängt, die majestätische Felsenstirn, an der im Rothgold der eben aufgegangenen Sonne ein lichtes Wölkchen wie ein königliches Stirnband flatterte.

Es war wohl begreiflich, wenn der Blick des Burschen an dieser Umschau verweilend haften blieb; auch ließ sein offenes Antlitz erkennen, daß ihm weder das Auge fehlte, die Schönheit zu gewahren, noch das Herz, sie zu fühlen. Er war groß und schlank gewachsen, und in die bäuerliche Festtracht der Landleute gekleidet, wie sie in den anstoßenden Thälern jenseits der Berge noch heimisch ist, während sie im Vorlande durch den steten Verkehr mit städtischen Elementen sich längst verloren und einem Gemenge Platz gemacht hat, das nicht städtisch ist und auch jeder ländlichen Eigenart entbehrt. Auf seinem braunen Kraushaar saß der grüne Spitzhut mit goldener Troddel, Gemsbart und Hahnenfeder, wie ihn die Bursche an der Schlierach tragen, tief hinein in die Engen von Zell und heraus in die Berghalden und Obsthügel von Au. Die kurze graue Joppe mit grünem Saumvorstoß legte sich kragenlos auf das weiße vom grünen Hosenträger gekreuzte und von dem breiten Ledergürtel umfaßte Hemd; leicht hing die schwarze Hose von Gemsleder um das wettergebräunte sehnige Knie; zierlich gemusterte Wadenstrümpfe und tüchtige, fast etwas ungeschlachte Bergschuhe vollendeten den Anzug, der, allen Anforderungen für leichte Bewegung bei der Wanderung und Arbeit in den Bergen entsprechend, damit den Vorzug eines gefälligen Anblicks verband, indem er die natürlichen Körperformen in ihrer ungehemmten Entwicklung zeigte.

[724] Das Gesicht des Burschen stand mit dem guten Eindruck seiner Gestalt nicht in Widerspruch: unter der kräftig gebogenen Nase und dem nie fehlenden Schnurrbart zeigte sich ein angenehmer, nur etwas trotziger Mund, auch die etwas starken Brauen deuteten auf eine entschlossene Sinnesart, desto freundlicher aber und gewinnender blickte darunter ein Paar frischer Augen von der Farbe der reißenden Weichsel.

Dem Manne, der im Wagen sitzen geblieben war, schien der Aufenthalt etwas zu lange zu dauern, einige Augenblicke sah er dem Knechte wie beobachtend zu, um dann in grollende Vorwürfe auszubrechen. Es war ebenfalls ein großer, aber breitschultriger und etwas schwerfälliger Mann, auf dem Kopfe einen runden niedrigen Hut, wie ihn die Vorlandbauern zu tragen pflegen, neben der schwarzen Schnur und Troddel dadurch kennbar, daß die eine Hälfte glatt, die andere wie sträubend aufgebürstet ist. Die Kleidung bestand aus einem dunklen langschössigen Tuchrocke und bunter Seidenweste, beide mit einer enggeschlossenen Reihe silberner Spitzknöpfe besetzt. Das Antlitz des Mannes war nicht unschön, aber entstellt durch die gelbe krankhafte Gesichtsfarbe, so wie durch das Gepräge unwilliger Verdrossenheit und mürrischer Ungeduld, das in den Zügen wie in der ganzen hastig unruhigen Haltung sich kundgab.

„Na, wie lang soll das Gebandel noch dauern?“ rief er. „Es ist wohl das erste Mal, daß Du die Radketten einlegst? Warum schaust Du so lang und fahrst nit weiter?“

Der Bursche wandte sich leicht nach ihm um, und bei dem freundlichen Lächeln in seinen gutmüthigen Zügen trat der unwirsche Ausdruck des Andern noch stärker hervor. „Ich bin schon lang fertig,“ sagte er, „aber ich hab’ gemeint, Ihr werdet’s haben wollen, daß ich da stillhalten soll ...“

„Stillhalten? Wegen was denn?“ zankte der Alte. „Du weißt doch, daß ich’s eilig hab’ und daß ich so bald als möglich an Ort und Stell’ sein möchte, noch eh’ die Wallfahrerleut’ kommen!“

„Braucht nit zanken deßwegen, Feichtenbauer,“ erwiderte der Knecht, indem er die Pferde antrieb und dann neben dem Gespann herschritt, es vorsichtig in den steinigen Geleisen des Hohlwegs leitend. „Ihr kommt früh genug, wohin Ihr wollt,“ fuhr er dann fort und deutete mit der Peitsche in die Ebene hinunter, „dort, hinter dem Dorf, aus den großen Bäumen schauen die zwei Kirchthürme schon heraus; in einer halben Stunde sind wir dort – es ist kaum sechs Uhr und vor acht Uhr, das wißt Ihr ja besser wie ich, können die Wallfahrer gar nicht hinkommen. Der Bühel da aber ist weit und breit bekannt und berühmt wegen der schönen Aussicht, die man da hat, in die Berg’ und über das ganze Land, es kommen alle Jahr’ so und so viel Fremde, die eigens deßwegen herreisen und herabsteigen ... da hab’ ich gemeint, Ihr werdet’s auch ein bissel anschau’n wollen!“

„Was frag’ ich nach der Aussicht?“ polterte der Bauer. „Wenn andere Leut’ Narren sind, so muß ich deswegen nit auch einer werden! Ich hab’ die Berg’ schon viele hundert Mal gesehn, sie schauen einmal aus wie das andere Mal ... von der Aussicht kann ich nichts herunter beißen, die hilft mir auch nicht für meine kranken Händ’.“

Der Knecht erwiderte nichts; sein Blick hing noch immer mit Wohlgefallen auf der herrlichen Landschaft, wie dieselbe durch eine Wendung des Wegs in einem Waldausschnitt auf Augenblicke wieder sichtbar wurde, dabei ließ er aber das Fuhrwerk keine Secunde außer Acht und war sorglich bemüht, die großen Steine zu vermeiden, welche den Füßen der Pferde wie den Rädern Gefahr drohten. „Das ist ein böser Weg.“ rief er dazwischen, „ich will froh sein, wenn wir glücklich drunten sind – es wär’ doch gescheider gewesen, wir wären das andere Sträßel gefahren; es ist viel besser, das bringt den kleinen Umweg wieder herein ...“

„Warum nit gar!“ unterbrach ihn der Bauer zornig. „Ich werd’ doch nicht eine Straß’ fahren, auf der mir gleich am Anfang eine Blindschleich’ über den Weg kriecht! Da hätten wir ein schön’s Unglück haben können!“

Der Bursche schüttelte lachend den Kopf. „Ho,“ sagte er, „wenn das Unglück kommen soll, findet es uns überall – da thut die arme Blindschleich’ nichts davon und nichts dazu!“

„Wendel, Wendel,“ rief der Bauer entgegen, „red’ mir nit so daher, ich kann solches gottloses Zeug nit hören! Es ist mir schon ein paar Mal so vorgekommen, als wenn’s mit Dein’ Christenthum nicht recht sauber wär’, als wenn Du auch einer von denen Freigeistern wärst, die nichts glauben ... wenn ich Dir gut zu einem Rath bin, so nimm Dich in Acht ...“

Der Bursche fand nicht Zeit zur Erwiderung: bei den letzten Worten des Bauers ertönte ein lautes Krachen, das Wägelchen neigte sich zur Seite und wäre vielleicht umgestürzt, hätte nicht der kräftige und besonnene Bursche es gerade im rechten Augenblick mit Armen und Schultern gestützt und zugleich die an seinen Ruf gewöhnten Pferde zum Stillstande gebracht. „Was ist’s denn?“ rief der Bauer mit einem rohen Fluche. „Was ist denn geschehn? Warum gabst Du nit besser Acht? ... da siehst, was dabei heraus kommt, wenn man seine Augen alleweil wo anders hat, als wo sie hingehören!“

Wendel wurde roth, seine Augenbrauen zogen sich zusammen und eine derbe Zurückweisung des ungerechten Vorwurfs brannte ihm auf den Lippen, aber er bezwang sich und sagte, zu dem beschädigten Wagen niedergebeugt, zwar finsteren Blickes, aber in gelassenem Tone: „Das Gered’ hat keine Heimath, Feichtenbauer – auf einem solchen Weg hilft alles Achtgeben nichts ... Ihr seht, die Blindschleich’ hat doch nicht Recht gehabt, denn auf dem andern guten Weg’ wär’ die Achs’ am Wagen ganz geblieben. ... Zum Glück ist der Schaden nicht gar zu groß und bald wieder so weit zusammengeflickt, daß es den Berg hinunter und bis in’s Dorf aushält ...“

„Ueber den Berg hinunter?“ rief der Bauer ärgerlich. „Was fällt Dir ein? Kreuz-Birnbaum, warum muß ich so ein elender Mensch sein, daß ich mich nit rühren kann wie andere Leut’! Laß’ mich aussteigen und dann kehr’ den Wagen um. ... Na,“ fuhr er Wendel an, als dieser, seine Arbeit unterbrechend, verwundert und fragend zu ihm emporsah, „was gaffst mich so an? Du wirst doch nit glauben, daß ich auf dem Weg’ weiter fahr’, wo mir so ’was aufgestoßen ist? Das ist eine böse Vorbedeutung – wer weiß, was uns noch Alles passiren könnt’!“

„Das kann nit Euer Ernst sein, Feichtenbauer,“ entgegnete der Bursche kaltblütig. „Jetzt soll ich umkehren, wo wir nur noch ein paar Büchsenschuß zu fahren haben? Ich glaub’, Ihr wollt mich vexiren ... man könnt’ ja mit dem besten Willen nit umkehren, so eng ist der Weg. ... Erst unten ist Platz dazu, da müßten wir erst den Berg wieder herauf und auf dem obern Weg weiter, das wär’ hell-licht, als wenn wir von Weilheim zu Haus wären, und wir kämen ja auch viel zu spät an die Kirch’....“

Während dieser Rede war er mit dem rasch zusammengebundenen Wagen langsam vorwärts gefahren und trotz des Schreiens des Bauers unten am Abhange angekommen; jetzt schwang er sich leicht auf seinen Sitz und trieb die Pferde zum vollsten Laufe an, daß das Wägelchen auf der Ebene wie vom Winde getrieben dahin flog.

„Halt, Kerl, verfluchter!“ rief fortwährend der Bauer. „Kehr’ um! Ich will’s haben, daß Du umkehrst ...“ aber Wendel war wie mit Taubheit geschlagen und ließ die Pferde immer noch rascher ausgreifen, daß der Bauer, völlig außer sich gerathend, ihn an der Schulter faßte, als ob er gesonnen sei, ihn vom Wagen zu werfen. Der Bursche erwiderte nur dadurch, daß er sich umwandte, dem Zornigen sein völlig ruhiges Gesicht zeigte und ihn mit den dunklen Augen so fest und entschlossen ansah, daß ihm der Muth entfiel, die beabsichtigte Mißhandlung zu versuchen. Grimmig lehnte er in den Wagen zurück und schalt in sich hinein: „Kreuz-Birnbaum – es wird alleweil schöner, die Ehhalten wachsen Einem noch völlig über den Kopf! Ist der Bursch noch kein Jahr in meinem Haus und thut schon, als wenn er der Herr wär’ und ich der Knecht!“

Er hatte nicht mehr lange Zeit, seinen grollenden Gedanken nachzuhangen, denn die Rothschimmel rührten kaum den Boden mit den Hufen und rannten so flüchtig, als hätten sie keine Last hinter sich; wie weichende unklare Schattengestalten flogen Bäume und Häuser vorbei und nach wenigen Augenblicken hielten sie auf dem einsamen Felde an einer Kirche, welche ihre Thürme hoch empor trug über den stattlichen Lindenbäumen, die ihren Eingang beschatteten, ein weithin sichtbares Wahrzeichen der Gegend, welchem in gläubiger Hoffnung und frommem Vertrauen jährlich viele hundert Wallfahrer entgegen ziehen.

Noch war es völlig still an der geweihten Stätte; durch das weit geöffnete Thor drang der Blick noch ungestört in die feierlich kühle Dämmerung des leeren Gotteshauses, auch nebenan im [725] Pfarrhofe regte sich nichts; dafür waren aber die Finken und Meisen in den Wipfeln schon desto lauter, hoch darüber hinaus trillerten unsichtbare Lerchen und vom Kirchendach verkündete ein munterer Staar mit lustigem Kreischen und fröhlichem Flügelschlagen, welch’ herrlichen Platz in einem hohlen Lindenaste er für sein Nest und seine Brut aufgefunden. Allerdings war auch schon ein menschliches Wesen zugegen, aber es hielt sich tief im Grunde der Kirche verborgen: ein altes Mütterchen aus dem nahen Dorfe, das sich schon so zeitig eingefunden, weil es bei seiner hülflosen Gebrechlichkeit das Gedränge fürchtete und sich unter dem Chore den gewohnten lieben und guten Platz sichern wollte, von wo man Kanzel und Altar zugleich übersehen konnte.

„Geh’ jetzt,“ sagte der Bauer zu Wendel, „ich will in die Kirche hinein – fahr’ indessen mit den Schimmeln eine Strecke auf dem Waldweg’ hinaus, damit sie langsam verdampfen von dem schnellen Fahren ... in einer halben Stund’ kommst Du wieder, aber nicht eher – das sag’ ich Dir! Könntest auch indessen in’s Dorf hinein zum Schmied und die Achs’ aufschweißen lassen. ...“

Wendel zögerte. „Der Wagen halt’t wohl,“ sagte er, „wenn aber der Schmied darüber kommt, kann’s leicht ein paar Stunden dauern, Ihr müßtet dann warten und am Ende gar zu Fuß gehn ... es ist gescheider, Ihr laßt mich da bleiben; den Schimmeln schadet’s nicht, sie haben sich kaum warm gelaufen und ist ihnen kein Härl’ naß geworden – ich will sie derweil drüben am Zaun anbinden, dann bin ich doch in der Näh’ und könnt’ Euch helfen, wenn Ihr mich etwa braucht ...“

„Ich brauch’ Dich nicht,“ eiferte der Bauer, „Dich nicht und niemand Andern nicht! Ich wüßt’ nicht, bei was Du mir helfen solltest, und wenn’s wär’, Du, der mir Alles zuwider thut, Du wärst der Letzte, von dem ich mir helfen ließ!“

„Das ist mir leid, Feichtenbauer,“ sagte Wendel und sah ihn mit seinen dunklen Augen so recht treuherzig an, „mein Wille ist das gewiß nicht, und wenn ich nur wüßt’ wie, ich wollt’ Euch gern zeigen, daß ich nit dran denk’, Euch zuwider zu sein. ... Und was das Helfen anlangt, so bild’ ich mir halt ein, Ihr seid da hergefahren wegen Euren kranken Händen! Wenn die jetzt auch besser geworden sind, das weiß man ja doch, daß Ihr noch alleweil nit recht allein zurecht kommt, also wär’ es ja doch nit unmöglich, daß ich Euch behülflich sein könnt’! ...“

„Nichts, nichts!“ rief der Bauer abwehrend. „Ich will allein sein – mach’, daß Du weiter kommst!“

„Na – wenn Ihr’s durchaus wollt, so muß ich wohl gehn,“ entgegnete Wendel bedenklich, „aber wundern darf’s Euch nit, Feichtenbauer, wenn ich’s nit begreifen kann! Wenn Ihr Euch doch einmal verlobt habt, warum muß denn das so ein Geheimniß sein, daß Ihr da sein müßt, eh’ noch die Wallfahrer kommen, und daß kein Mensch dabei sein darf? Das sieht ja schier aus, als wenn Ihr Euch schämen thätet mit Eurer Verlobniß?“

„Mach’ daß Du mir aus den Augen kommst!“ schrie der Bauer in aufgebrachtem Tone und so laut, daß die Alte in der Kirche aufhorchte und nach der Ursache des Lärmens herauslugte. „Geh’ Deinen Weg und merk’ Dir’s, ich kann’s nicht leiden, wenn mir Eins immer darein red’t und Alles besser wissen will! Kreuz-Birnbaum – scher’ Dich einmal zum Teufel und schau mir auf die Schimmel, daß keiner verschlagt ... Du kannst mir’s doch nicht bezahlen von Deinem Liedlohn, Du Bergler-Nothnickel, Du sprecherischer!“

Wieder hatte Wendel mit seinem heiß aufsteigenden Unmuth zu kämpfen, aber es war, als ob eine unsichtbare Macht das schon auf der Lippe schwebende Wort gebannt hielt, und langsam lenkte er das Gespann in ein Feldsträßchen hinein, von den Blicken des Alten begleitet, bis ihn eine Hecke verbarg.

Der Feichtenbauer sah noch einmal nach allen Seiten um sich und schritt dann der Kirche zu.

Diese war ein sonderbares Gebäude, in jener Zeit, in welcher alles Unnatürliche und Verschnörkelte für schön galt, statt einer Capelle, die für den Zudrang der Andächtigen zu klein geworden, in der Art erbaut, daß sie diese, die unversehrt stehen geblieben, umgab und einschloß wie die Schale den Kern oder ein größeres Gehäuse das darin eingeschachtelte kleinere. In diesem innersten Heiligthum, dessen durchbrochene Kuppel Engelgestalten umschwebten, stand auf einem reich verzierten Altar, von einem Strahlenkranze umgeben, das Marienbild, von dessen Wundern sich der fromme Wahn in jeder Noth den Trost erwartete und für jedes Gebrechen die Heilung. Um die Kirche zogen sich niedrige gemauerte Gänge hin, an deren Wandflächen, von ländlichen Künstlerhänden gemalt, die Geschichten all’ der Ereignisse dargestellt waren, wo Dieser oder Jener dankbar verkündete, daß die gehoffte Hülfe ihm wirklich zu Theil geworden und die angerufene Heilige für ihn ein Wunder gewirkt habe, sei es nun, daß sie ihn aus Räubershand, oder Schlachtgefahr, oder Wassersnoth gerettet, oder seine Habe bewahrt hatte vor Feuer, Gewitter und Hagelschlag. Einer frischen Quelle, die, durch ein Göpelwerk getrieben, ihre Fluth in ein kleines Steinbecken ergoß, war zudem die Kraft zugeschrieben, ähnliche Wunder zu thun, und an den Wänden verkündeten bunt gemalte Schilder und Inschriften die Namen aller Uebel und Krankheiten, gegen welche derjenige sich auf Jahr und Tag verwahren konnte, der den an einem Kettlein hängenden eisernen Schöpflöffel füllte und austrank.

In dem einen der Gänge aber lehnte ein großes Kreuz, aus starken unbehauenen Balken zusammengefügt, der Sage nach an Gestalt und Gewicht jenem von Golgatha vollkommen gleich; und wer dies Kreuz auf die Schultern nahm und um die Kirche zog, dem war besondere Gnade verheißen und die Erfüllung seiner wichtigsten und geheimsten Anliegen.

Nach dem Orte, wo das Kreuz sich befand, richtete der Feichtenbauer seinen Schritt, in der Gluth der Schmerzen, die den Winter über ihn in den Händen gemartert, hatte er das Gelübde gemacht, wenn er davon befreit würde, das Kreuz auf die Schulter zu laden und um die Kirche zu ziehn. Das Uebel hatte sich, wenn auch nicht verloren, doch beträchtlich gemildert, so daß er Hände und Finger wieder etwas gebrauchen konnte; darum trieb ihn jetzt sein Gewissen, das Gelübde zu erfüllen. Am Dreifaltigkeits-Sonntage hatte er das Kreuz zu ziehen versprochen, weil an diesem ein Hauptfest in der Kirche gefeiert wurde; jetzt war er wirklich an diesem Tage da, aber zu so früher Stunde, daß er sicher darauf zählen durfte, keinen Zeugen seines Unternehmens zu haben. Mit den Schmerzen hatte auch sein frommer Eifer sich abgekühlt, und so hatte er bei sich ausgeklügelt, daß er sein Versprechen doch erfülle, wenn es nur an diesem Tage geschehe, denn daß er das Kreuz vor den versammelten Wallfahrern ziehen wolle, das hatte er keineswegs ausdrücklich gelobt – Wendel hatte ganz recht vermuthet, er wollte nicht verspottet sein, und dann, gewiß wußte er ja doch nicht, ob ihm das Gelübde geholfen oder die Salben des Baders und das Hanfwerg, womit er ihm die Hände umwickelt hatte. Dennoch trieb ihn die Furcht, daß in Folge seiner Untreue die erbetene Hülfe sich nachträglich in Strafe verwandeln könne, und so maß er bedenklichen Blicks das schwere Kreuz und die daran befindlichen Eindrücke und Spuren, welche zeigten, wie oft und eifrig dasselbe schon getragen worden war. Dann bückte er sich und lud es auf seine Schultern, was ihm als einem kräftigen, früher arbeitgewohnten Mann nicht besonders schwer ankam, obwohl er sich hart that, das Holz mit den immerhin noch ungelenken Armen und Händen in der rechten Lage zu erhalten. Langsam, ein halblautes Gebet murmelnd, trat er mit seiner Last in’s Freie; er war aber nicht zwanzig Schritte weit gekommen, als er an seiner nachlassenden Kraft erkannte, daß die Krankheit nicht allein in den Händen gelegen, sondern einen tieferen Sitz gehabt haben mochte; das Kreuz lastete mit einer Riesenwucht auf ihm, die mit jedem Schritt sich zu verdoppeln schien, und bald vermochte er kaum mehr sich aufrecht zu erhalten. Dennoch raffte er sich zusammen; die einbrechenden Kniee spannten sich noch einmal und er schleppte seine Bürde noch einige Schritte vorwärts. Jetzt aber kam eine neue lösende Schwäche über ihn, die Kanten der Balken schnitten ihm auf der Schulter ein wie eine glühend gewordene Schneide, der Schweiß begann ihm über die Stirn zu träufeln und vor den Augen flirrte es ihm wie durcheinanderwogende Nebel. Mit einer letzten Anstrengung brachte er das Kreuz noch um einen Ruck vorwärts, dann vermochten seine schwachen Arme und Hände nicht mehr, das Marterholz im Gleichgewicht zu halten, dröhnend fiel es zu Boden und der Träger stürzte bewußtlos unweit desselben zusammen.

Er war jedoch kaum zur Erde gekommen, als schon ein paar kräftige Arme bereit waren, ihn wieder aufzurichten; trotz des strengen Verbots hatte Wendel das Gespann in der Nähe am Zaun angebunden und war herbeigekommen, um seinem Herrn, von dessen Vorhaben er eine Ahnung haben mochte, im Falle der [726] Noth beizuspringen. Die Erschöpfung des alten Mannes war aber zu groß, um so rasch zu weichen; erst als Wendel hinwegeilte und ihm aus seinem Hute, den er an der Wunderquelle gefüllt, Gesicht und Schläfe mit frischem Wasser bespritzte, ließ die Erstarrung der Glieder nach; ein schwerer seufzender Athemzug hob die Brust und im nächsten Moment war zu erwarten, daß er die Augen öffnen werde. Wendel knieete neben dem schwach und noch halb bewußtlos sich Aufrichtenden so, daß er ihn von rückwärts unter den Armen gefaßt hielt und nicht fürchten mußte, dem ersten Blicke des Erwachenden zu begegnen.

„Hoho, was giebt’s denn da für eine Komödie?“ rief plötzlich eine grobe Stimme und ein noch roheres Gelächter folgte darauf – ein junger schmächtig gebauter Bursche mit bleichem eingefallenem Gesicht, um welches das aschblonde Haar schlaff hernieder hing, stand verwundert vor den Beiden. Eine kurze schwarze Sammetjacke hing ihm lose um den Leib und die hageren Beine steckten in eng anliegenden Hosen von Hirschleder, während hohe weiche Stiefel bis über die Kniee hinauf reichten. Die Weste unter der Jacke war offen und ließ Hemd und Kragen sehen, von welchem ein buntes Seidentuch, von einem silbernen Ringe im Knoten gehalten, breit herunter hing; Jacke und Weste waren eng mit Silbermünzen als Knöpfen besetzt und aus der Tasche baumelte eine dreifache großgegliederte Uhrkette prahlerisch hin und wider. Die Züge des Angesichts waren wohlgeformt, aber unangenehm durch ihre Magerkeit und Blässe; aus den grauen Augen blitzte freche Verwegenheit und um den schmalen gekniffenen Mund lauerte der Hohn.

„Was hat’s denn da gegeben?“ rief er wieder. „Der reiche Feichtenbauer liegt auf dem Boden ... hat er einen Rausch oder will er etwa gar ein Heiliger werden und das Kreuz ziehn?“

Er hätte wohl noch mehr gesprochen, aber Wendel rief ihm abwinkend und mit gedämpfter Stimme zu: „Still, rühre Dich nicht, Domini, komm daher und nimm den Bauern statt meiner in den Arm. … Thu, als wenn Du gerade dazu gekommen wärst und wolltest ihn aufheben …“

„Ich?“ fragte der Bursche lachend, doch etwas gemäßigten Tons entgegen. „Wie soll ich denn zu der Ehr’ kommen? Ich mein’ ich kenn’ Dich, bist Du denn nicht Knecht bei ihm, auf dem Feichtenhof?“

„Ja ja,“ erwiderte Wendel dringend, „aber ich will nit, daß er mich sieht, wenn er die Augen aufmacht … eben deswegen, weil ich sein Knecht bin …“

„So?“ rief jetzt Domini, näher tretend, indem es in seinen Augen listig aufzuckte. „Dann geh’ nur Deiner Weg’ … das kommt mir just gelegen!“ Er ließ sich nieder und hatte eben Wendel’s Stelle eingenommen, als der Bauer die Augen öffnete und mit klarer Besinnung um sich sah.

Wendel hatte sich lautlos an die Kirchwand gedrückt und war verschwunden.

„Wo bin ich denn?“ sagte der Bauer. „Was ist denn geschehen und wer ist denn bei mir? Da ist ja gar der Metzger Domini. … Wie kommt denn Ihr zu mir?“

„Freilich bin ich’s,“ erwiderte der Bursche lachend. „Ihr werdet mich doch noch kennen, haben wir doch schon manches Gläsel miteinander ausgestochen, und ist ja früher keine Woche vergangen, wo ich nicht bei Euch eingekehrt wäre. … Ich bin gerade recht gekommen, wie Ihr niedergefallen seid!“

„Niedergefallen? Ich?“ sagte der Bauer, den Verwunderten spielend, und warf einen scheuen Blick nach dem Kreuze und der Umgebung, ob sonst Niemand zugegen sei.

„Wißt Ihr nichts mehr davon? Schaut nur her. Ihr liegt ja noch halb und halb … ich bin eben den Feldweg hergekommen und wollt’ in’s Dorf hinein um nachzufragen, ob es nichts zu handeln giebt, da hab’ ich aus der Fern’ einen Mann gesehn, der sich mit dem Kreuz geschleppt hat; ich hab’ sehen wollen, wer der Lapp’ wohl sein könnt’. Das hätt’ ich mir freilich nit im Traum einfallen lassen, daß es der Feichtenbauer ist!“

„Frevelt nicht mit solchen Dingen,“ sagte der Bauer, der sich jetzt völlig aufgerichtet hatte, „man weiß doch nie gewiß, wie es damit ist. … Das Kreuz, sagt Ihr? Ja ja, jetzt fallt es mir schon ein, wie es zugegangen ist: ich bin zu früh hergekommen, da bin ich um die Kirch’ herum gegangen, hab’ mir die Bilder angeschaut – da hab’ ich auch das Kreuz stehen sehen und da ist mir eingefallen, ich wollt’ probiren, ob ich es heben und tragen könnt’ … so hab’ ich’s aufgenommen, bin aber dummer Weise gestolpert und hingestürzt, aber nicht im Ernst, das könnt Ihr Euch wohl denken … es ist nur Spaß gewesen!“

„Versteht sich! Nichts als Spaß!“ erwiderte der Viehhändler mit widerlichem Gelächter. „Es hat wohl einmal geheißen, die Finger seien Euch krumm und steif geworden von lauter Geldzählen, aber wer den Feichtenbauer kennt und wer weiß, daß er früher nirgends gefehlt hat, wo’s lustig hergegangen ist, der wird von ihm auch nit glauben, daß er ein Betbruder geworden ist und sich verlobt hat wie ein altes Weib! Das ist was für die Armen, die sich sonst nit zu helfen wissen – ein reicher Mann wie Ihr, der nimmt aus seinem Kasten einen Sack voll Kron’nthaler und fahrt ins Gastein oder nach Aibling hinüber in’s Bad, das hilft besser und gewisser …“

„Freilich, freilich,“ erwiderte der Feichtenbauer, indem er in das Lachen desto lauter einstimmte, je mehr er sich innerlich getroffen fühlte, „das will ich auch, das hab’ ich schon lang’ im Sinn, daß ich in’s Bad gehen will, ich kann’s ja zahlen; aber in’s Gastein ist es mir lieber, Aibling, das ist mir zu nah … wißt Ihr, wenn ich nach Gastein gehe, Domini, das hat gleich ein ganz anderes Gesicht! Aber Ihr müßt mir jetzt einen Gefallen thun …“

„Nur heraus damit!“ rief der Bursche. „Der Feichtenbauer kann von mir verlangen was er will!“

„Es ist nicht viel,“ fuhr der Bauer fort, „aber … Ihr wißt ja, wie die Leut’ sind! Bei Euch ist es was andres … Ihr kennt mich und so hab’ ich nichts dawider, daß Ihr just dazu gekommen seid, vorhin, wie … nun, zu dem Spaß von vorhin, mein’ ich, Ihr versteht mich wohl … es ist mir sogar recht lieb, daß gerad’ Ihr gekommen seid, und ich seh’s als eine gute Vorbedeutung an. Aber die Leut’ sind oft gar eigen, ich möcht’ drum nicht, daß etwas davon auskäm’ … Ihr müßt mir also den Gefallen thun und Niemand von dem, was Ihr gesehn habt, etwas sagen …“

„Niemand! Keiner Menschenseele!“ betheuerte Domini und seine Augen blitzten wieder listig auf wie vorher. „Auf das könnt Ihr Gift nehmen, Feichtenbauer … das bleibt unter uns Zweien und ich werd’s so wenig ausplaudern, als das Holzkreuz da, das wir aber wegen den Leuten doch wieder an seinen Platz stellen müssen. … Aber was habt Ihr nun vor?“ fuhr er fort, indem er die Last auf der Erde fortzog und dann an die Wand lehnte. „Wo wollt Ihr denn eigentlich hin, Feichtenbauer? Wollt Ihr dableiben und Euch noch einen Spaß machen?“

„Ich habe mein Fuhrwerk bei mir,“ erwiderte der Bauer, „und habe nur den Knecht damit bei Seite geschickt …“

„So?“ sagte Domini so völlig unbefangen, als habe er wirklich nicht die leiseste Ahnung von der Anwesenheit des Knechts. „Desto besser – dann fahren wir miteinander in’s Dorf hinüber, ich hab’ mit dem Bergwirth ein Geschäft abzumachen …“

„Von Herzen gern,“ sagte der Bauer etwas zögernd. „Aber es wird nur nit recht gehn wegen meiner Tochter …“

„Eure Tochter?“ rief Domini rasch und in seinen Augen funkelte es noch stärker als zuvor. „Ist die schöne Christel auch da? Wo ist sie denn – gewiß in der Kirche?“

(Fortsetzung folgt.)




Deutsche Kneipen.

2.0 Der Rathskeller zu Lübeck.

Zu Lübeck im Rathskeller saßen spät
Wir Freunde noch beim Wein und tranken,
Wo tief gebräunt die Eichentafel steht
Aus unsers letzten Kriegsschiffs Planken. E. Geibel.

Eines der besuchtesten Locale Lübecks, der alten Hansastadt, ist unstreitig der „Rathsweinkeller“ daselbst, ja, er ist gleichsam eine poetische Oase, in welcher nie ein anderer Sonnenstrahl glänzt, als der im Rebenblut funkelnde. Sein Eingang ist am Markt, seine Räume aber befinden sich unter der Börse und dem Rathhause, doch haben sie mit dem wunderlichen Bau dieses Products der verschiedensten Jahrhunderte nichts gemein, denn die Architektur

[727] 

Im Rathsweinkeller zu Lübeck.
Nach der Natur aufgenommen von Fr. Schmidt in Lübeck.

[728] des Kellers ist gänzlich schmucklos, und entspricht völlig dem dreizehnten Jahrhundert, in dessen Mitte seine Erbauung aller Wahrscheinlichkeit nach fällt. Wenigstens lagerten schon 1289 mehr als eintausendeinhundert Ohm Wein in demselben, der Privaten gehörte, abgesehen von dem, der Eigenthum des Rathes war.

Der ursprüngliche Zweck des Kellers ist unschwer zu erkennen. Die Verwaltung einer Stadt hatte im Mittelalter in vielen Beziehungen Aehnlichkeit mit der Verwaltung eines großen Hauswesens, und der Rath, welcher die auswärtigen Angelegenheiten leitete, Recht sprach und Verordnungen erließ, mußte sich auch der Sorge für den Haushalt unterziehen.

War dieser – und die Pflicht hierfür lag hauptsächlich den „Kämmereiherren“ ob – in allen andern Beziehungen wohl geordnet und eingerichtet, so durfte auch gewiß ein guter Weinkeller nicht fehlen. Der Rath bedurfte des Weines für seine Gäste, für Fürsten und vornehme Herren, für Gesandte und Abgeordnete befreundeter Städte, die häufig in der Hansahauptstadt anwesend waren. Dann aber war eine Weinhandlung auch das beste Mittel zur Erhaltung eines guten Einvernehmens mit den benachbarten Höfen, welche einen großen Einfluß auf die Sicherheit des Handels ausüben konnten und einen guten Trunk wohl zu schätzen, sich denselben aber nicht so leicht zu verschaffen wußten, wie die reiche Handelsstadt durch ihre weit verzweigten Verbindungen. Ueberdies unterlag der damalige Weinhandel einer strengen obrigkeitlichen Aufsicht; es wurde vorzugsweise darauf gesehen, daß die Käufer richtiges Maß und gute unverfälschte Waare erhielten. Um dies nun schneller überwachen zu können, war es wünschenswerth, allen Wein an einem Orte gelagert zu halten, weshalb denn auch schon in den ältesten Zeiten befohlen wurde, sämmtllche Weine, welche die Kaufleute einführten, in den Rathskeller zu bringen und sie dort unter Aufsicht bearbeiten zu lassen.

Fünfundzwanzig Stufen führen in die beliebten unterirdischen Räume und deren einfach schöne Wölbungen, die sich auf viereckige, kurze und derbe Pfeiler stützen. In dem sogenannten „langen“ Keller aber, der sich unter den Goldschmiedsbuden bis zur „Wage“ erstreckt, bestehen die Gewölbe aus schönen gothischen Spitzbogen, mit sauber gegliederten Rippen, deren Schlußsteine die Form eines Dreiecks bilden. Die Mittelpfeiler jedoch sind theils viereckig und von Granit, theils achteckig und aus Formsteinen aufgemauert und lassen darnach auf ein jüngeres Alter schließen. Zwischen diesen Wölbungen lagern hohe, riesengroße, reich mit schöner Holzschnitzerei versehene Fässer, voll köstlichem zweihundertjährigen Rheinwein, Tokayer, Johannisberger, Markobrunner Ausstich, Liebfrauenmilch, Steinwein etc., mächtige Schlagschatten über die weiten rohsteinernen Hallen werfend, in denen dem Herzen große Erinnerungen entströmen und wo man die nüchterne Gegenwart vergißt, da Alles von Poesie und Rheinwein funkelt.

In jener Zeit freilich, wo alle Weine, sowohl „Bastert“ wie „Malvasier“, in der Herren Weinkeller gehörten, und dieser noch unter der Aufsicht zweier Rathsherren, Weinherren (de Wynmestere) genannt, stand, das Kellerpersonal einen Hauptmann und vier Gesellen, einen Faßbinder, einen Schreiber und zwei Weinzapfer zählte, mag sein Lager allerdings einen imposanteren Eindruck gemacht haben als jetzt, allein die innere Einrichtung und Umrahmung dieser gemüthlichen und eigenthümlichen Räume sind doch bis heute dieselben geblieben und wohl werth, daß wir sie etwas näher betrachten.

Wir treten an die Eichenplanke, „Admiralstisch“ genannt. Dieser Tisch soll Marx Maier’s Lieblingssitz gewesen sein, an dem er beim blinkenden Römer mit seinem Freunde Jürgen Wullenweber manche Pläne und Entschlüsse für die Zukunft gefaßt. Es war eine große Zeit für Lübeck, als diese beiden Männer in ihr lebten, eine Zeit, die schwerlich je wiederkehrt. Ich weiß nicht wie es kommt, aber jedes Mal, wenn ich mich der Eichenbohle nähere, glaube ich dort beide Männer zu erblicken, und unwillkürlich drängen sich Geibel’s Worte auf meine Lippen:

Der Eine saß, geschmückt nach alter Art,
Mit Sammetschaube, Kraus’ und Kette,
Umschlossen Wang’ und Kinn vom blonden Bart,
Die mächt’ge Stirn beschattet vom Barette.
Das blaue Auge zuckt in scharfem Glühn,
Als hing ein Weltgeschick an seinem Winken –
So saß er da, gebeugt und dennoch kühn,
Und starrt’ in seines Römers Blinken.
Der Andre stand, die Hand an Schwertes Knauf,
Riesig, vom Haupt zum Fuß in blankem Erze.
Wie Blut an seinem Panzer spielt herauf
Der rothe Flackerschein der Kerze.
Ein wild und rauh’ Gesicht! Ich spürt’ es bald,
Hier war die Faust – dort das Ersinnen.
Da, murmelnd, wie der Wind durch Herbstlaub wallt,
Hört’ ich des Ersten Worte rinnen.

Auch an die „Rose“ und die „Linde“ knüpfen sich, obgleich beide Zimmer nur aus weißen, übertünchten Wölbungen bestehen, ebenfalls Erinnerungen aus dem Mittelalter, indem in ihnen damals die Patricier und Kaufleute verkehrten; jene in der Rose, diese in der Linde. Die alten lübischen Chroniken erzählen einstimmig, daß um die Fastnacht die älteren Paricier in feierlicher Procession paarweise, unter klingendem Spiel und mit brennenden Fackeln in den Rathskeller gezogen sind, wo sie einen Rundgang gehalten, sich darauf in der „Rose“ niedergelassen und bei offenen Thüren die mit gutem Rheinwein gefüllten Becher fleißig geleert und dabei gesungen, gescherzt und gelacht haben über die Späße der in ihrem Solde stehenden Narren. Die Mitglieder der Kaufleute-Compagnie folgten unmittelbar den „Zirkelbrüdern“ (Patriciern) in den Rathskeller und begaben sich in die „Linde“, wo sie gleichfalls bis tief in die Nacht hinein zechten und dann wieder in der Ordnung, in welcher sie gekommen, ihrem Compagniehause zueilten. Nur Kranke und Bettlägerige durften sich von diesen Kellerbesuchen ausschließen.

Dies Beispiel, von den ersten Ständen gegeben, wurde, wie sich leicht denken läßt, von den unteren Ständen nachgeahmt, wodurch in dem Keller während der drei Fastnachtstage das lauteste Leben hervorgerufen wurde. Das Gedränge war dann derartig, daß die umfassendsten Maßregeln zur Aufrechthaltung der Ordnung ergriffen werden mußten. Man verbot, mit ungewöhnlichen Waffen (Kolben und Streithammer) zu kommen. Der Degen ließ sich damals bei dem Bürger ebenso wenig verbieten, als das Erscheinen der Frauen, weshalb sich der Markgraf Albrecht von Meißen über das Letztere (1478) bitter beschwerte und von dem Rathe verlangte, den „Frauenzimmern“ den Besuch des Rathskellers zu versagen. Allein was half’s? Alle Chroniken theilen in ironischer Weise mit, daß das Verbot, das wirklich erfolgte, gar nicht befolgt wurde, woraus wir schließen, daß man schon damals in Lübeck für Gesellschaften ebenso geneigt gewesen, als es in der Jetztzeit der Fall ist. Ja, wenn es nicht eine Sage ist, so sollen die lübischen Junker sogar nicht angestanden haben, in diesen Räumen die sogenannten „Brautköste“ zu feiern und zwar in derselben Zelle, die noch jetzt das Brautgemach heißt und wo noch heutigen Tages der alterthümliche sehenswerthe „Kamin“ steht, der nebst Hahn und Henne und anderen Verzierungen folgende plattdeutsche Inschrift führt:

Mannig man lude (laut) singet,
Wen man em de Brut bringet,
Wuste he, wat man em brochte,
Dath he wohl wenen mochte.

Wollen wir jedoch ganz von dieser Sage absehen, so zeigt diese Inschrift doch jedenfalls auf gesellige Freuden hin, die vorzugsweise in diesem Gemache abgehalten wurden und zwar seit dem Jahre 1575, in welches die Erbauung des Kamins fällt. Nach dem Wappen zu schließen, gehörten die Erbauer dem patricischen Geschlechte derer von Stiten an.

Nicht selten wurde die schon so freudige Stimmung im Rathskeller durch Musik noch erhöht, welche außer den fahrenden Musikanten die „Spielleute“ des Rathes, aus acht Personen bestehend, unter dem „Spielgraven“ (Musikdirector) aufführten: vier von ihnen bliesen die Trompete, die andern vier schlugen die Pauken. Sollte die Musik jedoch vollständig sein, so wurden noch ein Geiger, ein Pfeifer, ein Lauten- und ein Trommelschläger hinzugenommen.

Ueber die Verhältnisse des Weinhändlers und Weinkellers geben mehrere Documente Aufschlüsse. Die älteste dieser „Ordnungen“ stammt aus der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts und enthält im Wesentlichen Folgendes: Wein, der zu Schiff an die Stadt kommt, darf ohne Weiteres ist den Keller gebracht werden, doch ist eine Untersuchung durch die Weinherren und Erlaubnis derselben erforderlich, wenn er verkauft werden soll. Wein dagegen, welcher zu Wagen hereinkommt, darf nur bis an den Keller gebracht werden und ist erst eine besondere Erlaubniß der [729] Weinherren nöthig, um ihn hinunter zu bringen, welche diese erst geben, nachdem sie ihn untersucht haben. Für jedes Faß Wein, das im Keller lagert, es sei klein oder groß, es liege kürzere oder längeres Zeit, werden sechsundzwanzig Pfennige Miethe bezahlt, vierundzwanzig an die Weinherren und zwei an den Kellerhauptmann. Wenn der Wein verkauft wird, ist eine Abgabe von sechszehn Pfennigen unter dem Namen Tappegelt (Zapfgeld) zu entrichten, acht an die Weinherren, acht an den Hauptmann. Auch fremde Kaufleute, Gäste, dürfen Wein im Rathskeller haben. Alle Weine stehen unter Aufsicht des Hauptmanns. Damit die einzelnen Parteien gesondert bleiben, werden an jedes Faß zwei Schlösser gelegt, eins von dem Eigenthümer und eins von dem Hauptmann. Wenn ein Faß Wein von den Weinherren, zum Verkauf für geeignet erklärt ist, so muß der Eigenthümer entweder es innerhalb dreier Tage nach auswärts senden, oder, wenn er es hier verkaufen will, so muß er sofort damit beginnen und darf, bis es leer ist, kein anderes anstechen, aber auch nicht dasselbe wieder auffüllen, um den Inhalt zu vermehren.

Bisweilen bediente sich der Rath des Kellers selbst, um darin vornehme Gäste zu bewirthen; dies that er auch unter Anderen im Jahre 1518, als der Herzog Friedrich von Holstein in Lübeck seine Hochzeit mit der Tochter des Herzogs von Pommern feierte.

Alljährlich jedoch, wenigstens im sechszehnten Jahrhundert, veranstalteten die Bürgermeister, Kämmereiherren und Weinherren Mahlzeiten in der „Linde“, an denen jedoch nicht immer der ganze Rath theilnahm.

Zu diesen Gastereien hatte der Hauptmann des Kellers die Tafellaken und Handtücher, die Silberkannen und Silberschalen, die Hasen und Kapaunen zu liefern, während er an Martini dafür zu sorgen hatte, daß die Bürgermeister, die Rathsmitglieder, die Kämmereiherren etc. ihre richtige Gans erhielten, wozu sich unter Umständen je nach dem Range noch ein Schwan gesellte.

Ein allgemeines Volksfest war die Ankunft des ersten frischen Weines. Wem Gott „die Gnade“ gab, den ersten frischen Wein an den Rathskeller zu bringen, erhielt von den „Herren“ die Erlaubnis ein Faß stübchenweise verkaufen zu dürfen, „acht Tage langs, so dür as he will“. – Diese Ankunft des ersten Weines beschreibt der alte lübische Chronikenschreiber Heinrich Rehbein auf folgende Weise: „Anno 1609 im Nevembri habe ich das allererst gesehen, so vor hundert oder zweihundert Jahren zu Lübeck Brauch gewesen ist. Nemlich, wenn um Martini oder bald hernach der Rheinische Must in’s Ehrbaren Raths Weinkeller gekommen ist, hat man denselben mit Pfeifen und Trommeln auf den Markt geführt, nemlich also dergestalt: Wenn die Kärner, ihrer zehn oder zwanzig, weniger oder mehr, an das Stadtthor erstlich angekommen, haben daselbst schon ein Pfeifer und ein Trommelschläger gewartet und sich beide auf ein Faß gesetzet, so auf dem ersten Karren gelegen, wo sie ihr Amt mit Pfeifen und Trommelschlagen verrichtet, bis die Kärner den Markt erreicht, auf dem sie mit den Weinfässern dreimal herumgefahren, wobei immer gepfiffen und auf die Trommel geschlagen worden; endlich hat man vor dem Weinkeller still gehalten. Hier haben die Fuhrleute ihre Pferde abgespannt und die Wagen sammt den Weinen stehen lassen; nun erst ist auch der Pfeifer und der Trommelschläger von dem Fasse herunter gestiegen und sind dann ihrer Wege gegangen.“

Wenn auch unzweifelhaft Rheinwein der wichtigste von allen Weinen gewesen ist, der in dem Rathskeller zu Lübeck verschänkt wurde, so lagerten daselbst auch andere Weinsorten, die unter den Namen Aschonyer, Ashoie-Wein, Frankenwein, Gobbin-Wein, Roßberger, Landwein, Patower, Rathenower und Rummenier vorkommen. Doch verschwinden alle diese Weine bald wieder, nur der zuletzt genannte (ein spanischer Wein) behauptet sich bis in die Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts. An ihre Stelle traten Malvasier (Muscateller), Alicante, Petersimenes, Canariensect und Bastert; letzterer ward sogar Bedürfniß für den, der allzu viel Rheinwein getrunken hatte.

Für jeden Wein gab es auch ein besonderes Trinkgefäß. Rheinwein trank man aus grünen Römern; Malvasier, Alicante und Petersimenes aus silbernen Schalen; Bastert und Sect aus krystallenen Gläsern.

Die Steigerung der Weinpreise konnte jedoch nicht ohne Einfluß auf den Absatz bleiben und es war auch die Ursache, weshalb manche Kaufleute, die in Hamburg oder am Rhein vortheilhafte Bezugsquellen hatten, von dem ihnen zustehenden Recht Gebrauch machten, gegen Erlegung der Accise sich für ihren Hausbedarf selbst Rheinwein zu verschreiben. Andererseits vermehrte sich aber auch der Absatz des Kellers nach außen, und für den versandten Wein wurde dem auswärtigen Käufer die Accise berechnet, von welcher der im Keller gekaufte, in der Stadt selbst consumirte Wein frei war. Die auf solche Weise durch den von Privaten eingeführten und den vom Rathskeller ausgeführten Wein gewonnene Accise betrug 1654 zweitausendvierhunderteinundsiebenzig Mark. Jedenfalls war der Betrieb und die Verwaltung derartig, daß sich ein jährlicher Ueberschuß ergab. Aber leider wurde derselbe zu ganz anderen Zwecken verwandt! In der ersten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts nahmen dergleichen ungehörige Verwendungen in solchem Grade zu, daß sie nicht nur den ganzen Gewinn des Kellers verschlangen, sondern diesen sogar in bedeutende Schulden stürzten. Man suchte zu retten was möglich und – verpachtete den Rathskeller.

Der erste Pächter des Kellers, Daniel Jacobi, trat im Jahre 1666 die Pacht an für die jährliche Pachtsumme, oder wie man damals sagte, „Pension“ von fünftausendsechshundert Mark (zweitausendzweihundervierzig Thaler Preußisch), Dafür wurden ihm alle Räumlichkeiten des Kellers auf zehn aufeinanderfolgende Jahre verpachtet, mit der einzigen Beschränkung, daß er das sogenannte „Herrengemach“, auf Erfordern den „Herren“ des Rathskellers zur Ausübung der Jurisdiction einräumen mußte. Der „Ohmhof“, wo die Fässer gemessen und gebrannt wurden, und der „Tafelhof“ waren in die Pacht eingeschlossen, jedoch mit der Verpflichtung für den Pächter, beide Grundstücke in gutem baulichem Stande zu erhalten. Die Gerechtsame des Rathsweinkellers gingen demnach in ihrem ganzen Umfange auf den Pächter über. Er hatte allein das Recht, in Lübeck Rheinwein und die sogenannten „heißen“ Weine im Detail zu verkaufen, durfte aber den Preis nicht überschreiten, den der Rath ihm gesetzt hatte. Das Stübchen Rheinwein galt nur drei Mark, das Stübchen Malvasier und Alicante vier Mark, Petersimenes und Xerezwein zwei Mark acht Schilling.

Eine Zeit lang ging das so ganz vortrefflich. Plötzlich aber schien alle Mühe der Pächter, den Keller im alten Flor zu erhalten, umsonst; er ging mehr und mehr zurück, daß denn endlich im Jahre 1812 gar nur fünfundfünfzig Mark (zweiundzwanzig Thaler Preußisch) jährliche Pacht für den Rathskeller geboten werden durfte. Das geschah aber auch zur Zeit der französischen Occupation!

Jetzt haben die gemüthlichen und erinnerungsreichen Räumlichkeiten des Rathskellers ihre magnetische Anziehungskraft längst wieder gewonnen und werden von Einheimischen und Fremden bei jeder sich darbietenden Gelegenheit entsprechend frequentirt. Hauptsächlich dienen sie Vereinen, die hier tagen, fast regelmäßig als Versammlungsort. Am zahlreichsten jedoch werden die unterirdischen Kellerräume in den schönen Tagen der Weihnachtszeit besucht, wo der Lübecker auf vierzehn Tage den Philister abwirft. Dann gleicht in Wahrheit der lübische Rathskeller einem deutschen Karawanserai. Summt es dann doch die Stufen auf und ab wie in einem Bienenkorbe, ebbet und fluthet es doch aus und ein vom Frühroth bis zum Sternenglanz! Aber freilich legt die ganze Republik auch dann ein anderes Colorit an und die sonst etwas ängstlich beachtete Ehrbarkeit darf schon einmal über die Schnur schlagen, ohne daß es Anstoß erregt. Welch’ ein buntes Leben ist dann in dem Rathskeller zu Lübeck! Frauen und Jungfrauen, Männer und Jünglinge, Dienstmädchen und Diener trinken aus grünen Römern Rheinwein oder Malaga, essen dazu Marcipan und Confect, lassen die Gläser seelenvergnügt erklingen, singen, schäkern, lachen, ganz wie ehemals die Patricier und Junker, ohne sich den geringsten Zwang anzulegen. Mit dem „Dreikönigstage“ zieht der Lübecker zwar wieder den Philister an, versäumt aber nicht, dem Rathskeller auch später noch Besuch abzustatten nach altherkömmlicher Weise.

H. A.




[730]

Aus meinem Bilder-Album.

Von Franz Wallner.
Ludwig Löwe und Kaiser Franz. – Director Karl. – Ascher im Lager der Welfen.

Da ich nie ein Tagebuch geführt, weder Notizen noch andere Erinnerungsblätter verzeichnet und aufbewahrt habe, so laufen die Bilder meines bewegten Lebens etwas wirr und lückenhaft durcheinander und verwischen sich gerade da oft bis zur Unkenntlichkeit, wo sie am interessantesten sich gestalten könnten. In solchen Fällen blättere ich in den vielen Portraitalbums, die ich seit Erfindung der Photographie in aller Herren Länder massenhaft gesammelt und durch Zeichnungen, Kupferstiche und Lithographien aus der ersten Zeit meiner Laufbahn vermehrt habe.

Freilich gleicht eine solche Wanderung einem Gang über den Kirchhof, die meisten Originale ruhen unter dem Grase, die frischesten Erinnerungen finden ihren Ausgangspunkt an Gräbern! – Oft aber stoße ich zu meiner Freude auch auf eine immergrüne Eiche, die trotz der Jahre, trotz der Stürme, welche über sie hinweg gerauscht, noch frisch und kräftig stehen blieb. Eine solche Eiche ist Ludwig Löwe, trotz seiner sechsundsiebenzig Jahre noch eine Zierde, eine feste Säule des hochberühmten Burgtheaters in Wien. Nur derjenige, welcher Löwe noch in seiner vollen Blüthe in Rollen wie Mortimer, Correggio, Fürst Wladimir, Narr im Lear und hundert anderen Gebilden der darstellenden Kunst zu bewundern Gelegenheit hatte, kann sich einen Begriff machen von der hinreißenden Gewalt des Wortes. Löwe’s glühende Begeisterung theilte sich dem ganzen Auditorium mit, und die Aufführung von classischen Stücken, in denen die Meister Löwe, La Roche, Anschütz, Fichtner, die große Schröder und die ihr ebenbürtige Sophie Müller wirkten, gemahnte an hehren Gottesdienst, dem die Gläubigen in frommer Andacht lauschten. Es war dies eine große Zeit für das größte deutsche Kunstinstitut, eine Zeit, an welche sich ältere Besucher desselben noch mit berechtigtem Enthusiasmus erinnern. Daß ein Mann wie Löwe ein reiches Schatzkästchen von Erinnerungen in sich birgt, versteht sich wohl von selbst; leider hat er sehr wenig davon durch den Druck festhalten lassen, und nur gelegentlich im heiteren Freundeskreise sprudelt die Quelle dieser Mittheilungen in erfreulicher Weise.

Als man dem Kaiser Franz dem Ersten mit vieler Mühe die Erlaubniß zur Aufführung des „Wilhelm Tell“ abgerungen hatte, erregte dies „Ereigniß“ im Publicum Fanatismus. Wie wurde dieser Tell aber gespielt! Anschütz in der Titelrolle, unerreichbar als Repräsentant biederherziger Schlichtheit und innigen Gefühls, der heißblütige Löwe als Arnold, Fichtner als Rudenz, kurz jede Rolle, bis auf die Episode der Armgardt herab, von einem Künstler ersten Ranges dargestellt. Wenn die einzige Schröder-Armgardt dem bäumenden Rosse Geßler’s in die Zügel fiel und sich in Wahrheit mit ihren Kindern unter die Hufe des Thieres warf, wenn sie dämonisch dem Vogt entgegenrief:

 Hier lieg' ich
Mit meinen Kindern – Laß die armen Waisen
Von deines Pferdes Huf zertreten werden!
Es ist das Aergste nicht, was du gethan ! –

wenn sie, die größte Rednerin, die gewaltigste Darstellerin, welche die deutsche Bühne je gekannt, diese Worte donnerte, da schwoll dem Zuschauer vor bangem Entsetzen das Herz in der Brust; man war nicht im Theater, nein, zurückversetzt fand man sich auf den Schauplatz der Gräuelthaten eines Geßler, im warmen Mitgefühl mit den Leiden des armen Volkes.

Es versteht sich von selbst, daß eine solche Darstellung der „Novität“ mit Jubel aufgenommen wurde, und die Regisseure des Hoftheaters hielten es für ihre Pflicht, dem Kaiser für die Allerhöchste Bewilligung zur Aufführung in einer erbetenen Audienz persönlich zu danken.

„Gut,“ sagte der Kaiser, „ich nehme Ihren Dank an; aber Ihr müßt mir jetzt auch eine Gefälligkeit erweisen, Ihr müßt mir nun ein von mir gewähltes Stück eben so gut aufführen.“

„Majestät haben zu befehlen! Welches Stück soll dies sein?“

Fiesco.“

Man denke sich das Erstaunen der Theaterleute: der reactionärste Fürst Europas befiehlt die Aufführung des revolutionärsten deutschen Stückes! Einer der Regisseure gab dieser Verwunderung in bescheidenster Weise Ausdruck.

„Ja sehn’s,“ entgegnete Franz der Erste, „im Tell siegt die Revolution, im Fiesco unterliegt sie, denn Verrina, das Haupt derselben, kehrt wieder zum Doria zurück, nachdem Fiesco von der Strafe ereilt worden ist. Und dieses Zurückkehren zum alten Herrscherhaus muß vor den Augen des Publicums geschehen. Darum will ich, daß der Schluß des Stückes so geändert werde, daß nach den letzten Worten des Verrina: ‚Ich gehe zum Andreas,‘ eine rauschende Musik einfällt und der Doge mit seinem ganzen Gefolge im glänzenden Zug auf die Bühne kommt, wo sich ihm die Führer der Revolution, Verzeihung flehend, zu Füßen stürzen; so zwar, daß es dem Zuhörer klar wird, daß die Umsturzpartei unterliegt.“

So geschah es, und diese vom Kaiser selbst angegebene Schlußänderung des Fiesco blieb bis zum Jahre 1848 in voller Kraft. Nach dem Sturz Fiesco’s zog Andreas Doria mit seinem Hofstaat in einem mit unerhörtem Pomp in Scene gesetzten Zuge durch die Straßen, wo sich die Verschworenen, pantomimisch um Gnade flehend, auf die Kniee stürzten.

Diese Aenderung rührte, wie oben erzählt, direct vom Kaiser her, auf dessen Befehl sich „das Laster er–geben und die Tugend zu Tische setzen“ mußte. Es ist dies wohl die einzige dramaturgische Handlung im Leben Franz des Ersten, der überhaupt um Theatersachen sich so wenig kümmerte, daß er nach der ersten Aufführung von Grillparzer’s „König Ottokar’s Glück und Ende“ zu seiner Begleitung äußerte: „Ich bin recht froh, daß ich das Stück heute gesehen habe, das wird gewiß verboten werden.“

Direct geschah dies zwar nicht, aber man ließ die Aufführungen einschlafen, bis Laube dies Werk des genialsten vaterländischen Dichters wieder auf’s Repertoire brachte.

Zu den Lieblingserinnerungen Löwe’s gehört eine Episode aus seiner frühesten Jugendzeit, wo er den schroffen und finstern Beethoven als Postillon d'amour benützte. In das hübsche Töchterchen eines Vorstadtwirthes bis zum Sterben verliebt, verboten die Eltern dem Schauspieler das Haus, weil sie eine „Mißheirath“ fürchteten. Beethoven standen die Thore des Paradieses, hinter welchen die schöne Marie waltete, weit offen, und so wußte der glühend heiße Kunstjünger den ernsten, schwer zugänglichen Beethoven zu bestimmen, ihm ein Briefchen an die Heißgeliebte mitzunehmen und die Antwort derselben in Empfang zu nehmen. Er that es aber nur mit dem größten Widerwillen und nach heftiger Weigerung. Als ihn Löwe nach zehn Jahren wieder aufsuchte, war er schon vollständig menschenscheu geworden und wußte sich, wie er behauptete, nicht mehr auf das kleine Abenteuer, ja kaum mehr an Löwe selbst zu erinnern; kurz, er empfing letzteren so barsch und unwirsch, daß diesem die Lust verging, den genialen Tonkünstler nochmals zu behelligen. – –

Ich stoße hier auf das Bild des bestverleumdeten deutschen Theaterdirectors, auf Karl’s Portrait. Auf keinen Director ist ein so vollgerüttelt Maß von Schmach und Schimpf gehäuft worden als auf diesen, und doch wußte er alle Mitglieder durch eine lange Reihe von Jahren seinem Institute zu erhalten, und nicht blos die Träger desselben, wie Scholz, Nestroy, Kunst etc., nein, auch die schlecht besoldeten Mittelglieder der Kette seines wohlgefugten Ensembles erneuerten Jahr für Jahr ihre bescheidenen Contracte, die sie „an den Tyrannen“ knüpften. Das Geheimniß lag wohl hauptsächlich in der eisernen Ruthe, die er über Alle schwang, in dem heillosen Respect, den wir Alle vor ihm hatten. Alle, ohne Ausnahme, die größten Maulhelden, die ärgsten Schreier wurden zahm und flügellahm, wenn Karl mit seiner unglaublichen Energie und unverbrüchlichem Ernst die Proben leitete, wenn er eine und dieselbe Scene zehnmal wiederholen ließ, bis Alles klappte und in einander griff. Und dabei verstand er Alles selbst zu machen; die Worte „das geht nicht“ standen nicht in seinem Lexikon. Ich hatte einst in einer Dienerrolle auf den rückwärtigen Tritt eines im Carriere vorbeifahrenden Wagens zu springen. Es gehörte dies rasche, von den Inhabern der Equipage ungesehene [731] Anspringen zur Handlung des Stückes und konnte nicht umgangen werden. Vergebens aber bemühte ich mich, den Tritt zu erreichen; trotz zahllosen Vorfahrens sprang ich immer zu kurz, so daß ich sowohl wie Karl unwillig wurden, und als er mir meine Ungeschicklichkeit wieder vorwarf, rief ich ärgerlich aus: „Entschuldigen Sie, Herr Director, ich war nie Bedienter.“ 0 „Ich auch nicht,“ antwortete er rasch, „fahr’ vor, Johann, so rasch als möglich.“ Während er dies sprach, hatte er den Mantel auf die Erde geworfen und stand leichten Sprunges auf dem Tritt des vorbeirasenden Gefährtes. „Sehen Sie, Herr Wallner, man braucht hierzu nicht Bedienter gewesen zu sein, nur ein bischen Behendigkeit und ein wenig guter Wille gehört dazu.“

Weiß der Himmel, woran es lag, von dem Augenblick an, wo mir mein Director das kleine Kunststück vormachte, traf ich es auch, ich sprang nie mehr zu kurz.

In dem Drama „Der Glöckner von Notredame“ war Kunst nie im Stande, die Esmeralda, an der Außenseite der Mauer emporkletternd, im Arme zu halten und von oben herab das Wort „Asyl“ unter die Menge zu brüllen, bis es ihm Karl zeigte, die schwere Frau Pann, so hieß die Darstellerin der Esmeralda, wie eine Feder auf den Arm nahm und katzengleich mit ihr an den Eisenklammern emporkletterte. In jeder körperlichen Uebung, im Fechten, Tanzen, Reiten, Turnen, war er Meister, im Arrangement von Massen und der malerischen Verwendung von zahlreichen Comparsen, bei Schlachtspectakeln, Volksscenen etc. kam ihm kein Regisseur gleich.

Ich erinnere mich eines Schauspiels, „Der Leuchtthurm von Eddystone“ betitelt, auf welches er die Hoffnung großer Erfolge baute, die hauptsächlich in den Arbeiten des berühmten Maschinisten Roller (jetzt in Petersburg) ihren Grund hatten. Zum Schluß stürzte der gewaltige, scheinbar massiv gebaute Leuchtthurm durch die Wucht eines Erdbebens in Trümmer, diese begruben den Intriguant des Stückes, den Herr Spielberger darzustellen hatte, während sich die gewaltigen Meereswogen darüberhin wälzten. Die Wirkung dieses Meisterstückes von Malerei und Theatermaschinerie war bewältigend. Als bei der ersten Probe diese Massen von Stein, Eisen und Holz unter vulcanähnlichem Toben der Elemente einstürzten, als der gewaltige Bau in seinen Grundfesten zu wanken anfing, konnte sich Keiner von uns eines Schauers erwehren. Roller selbst leitete sein Werk meisterhaft und hatte genau mit dicken Kreidestrichen die Stelle bezeichnet, auf welche Spielberger sich hinzustürzen hatte. Spielberger, der keine Ahnung von dem Folgenden hatte, legte sich behäbig auf den Boden hin, als rechts und links neben Kopf und Körper schwere Eisenklammern, Holzpflöcke etc. niederprasselten, und alle Lärmmaschinen der Bühne dazu ihre Höllenmusik ertönen ließen. Leichenblaß erhob sich der Schauspieler und erklärte, nicht für alle Schätze der Welt diese nach seiner Ansicht lebensgefährliche Stelle wieder einzunehmen. Vergebens alles Zureden, umsonst ließ Roller den complicirten Bau zwei Mal aufrichten und über sich selbst zusammenstürzen; Spielberger blieb bei seiner Behauptung, er sei nach seinem Contract verpflchtet, seine Rollen zu sprechen, zu spielen, nicht aber sich todtschlagen zu lassen. Es blieb Karl nichts Anderes übrig, als die Rolle selbst zu übernehmen und sich unter der Wucht der Leuchtthurmtrümmer an dreißig aneinander folgenden Abenden begraben zu lassen.

Schlachtenspectakel und alle Gattungen Militärschauspiele arrangirte er mit unerhörter Geduld und Präcision, das scheinbar Unmögliche wurde unter seiner Leitung zur Wirklichkeit. Freilich kam es ihm nicht darauf an, die Leute ununterbrochen zehn Stunden lang in Athem zu erhalten, um die Proben am nächsten Tage für ebenso lange Zeit wieder zu beginnen. „Beim Theater,“ sagte er einst zu mir, „muß der Director entweder seine Schauspieler maltraitiren oder sein Publicum, da aber die Schauspieler davon leben und den kleineren Theil bilden, so quäle ich lieber diese als die Zuschauer.“

Daß er früher Officier war, wo er seinen Familiennamen Baron von Bernbrunn führte, kam ihm, nebst seiner exquisiten Erziehung, sehr zu statten. Aus seinem eigenen Munde habe ich die nachfolgende Mittheilung des Grundes, warum er seine militärische Carrière aufzugeben gezwungen war.

Er hatte ein intimes Liebesverhältniß mit einer Schauspielerin des Leopoldstädter Theaters. Ich erinnere mich nicht mehr genau des Namens. Sie hieß Eigenwahl oder Eigensatz. Dieses Verhältniß mit dem jungen schmucken Officier war nicht ohne Folgen geblieben; der junge Sprößling desselben wurde nach dem Dorfe Hernals bei Wien in Pension gegeben. Da verliebte sich die junge Künstlerin in einen Collegen und löste die zarten Bande, welche sie an den Officier gefesselt hatten. Dieser, von wüthender Eifersucht entbrannt, fuhr zur Pflegerin seines Kindes, schnitt die Wiegenbänder durch und setzte sich mit dem wimmernden Wurm in einen Fiaker, der ihn zu der renommirten Leinwäschewaarenhandlung zur Katze am Graben nach Wien bringen mußte. Dort ließ er das kleine Geschöpf in blendend weißes Linnen kleiden, während welcher Procedur dasselbe ein gellendes Geschrei erhob. Hierauf frug er, wie er erzählte, in großer Verlegenheit, womit man so ein Ding füttere, und bat, demselben etwas Nahrung zu geben.

Inzwischen war der Abend hereingebrochen, Karl fuhr, den kleinen Liebeszeugen sorgfältig unter dem Mantel verborgen, in das damals winzig kleine Theater in der Leopoldstadt, zu jener Zeit Kasperltheater geheißen, an dessen Stelle er später den jetzigen Prachtbau in’s Leben rief. An jenem Abend, wo er in der dunkeln Prosceniumsloge des Anfangs harrte, hatte er wohl von den Dingen, zu denen er später an diesem Platz berufen war, noch keine Ahnung. Man gab das Weißenthurn’sche Schauspiel „Der Wald bei Hermannstadt“. Als die gewesene Geliebte des Baron Bernbrunn in der Rolle der Elisena die Scene betrat, erhob sich dieser in der Bühnenloge und hielt der Schauspielerin den weißgekleideten Säugling mit dem donnernden Ruf entgegen: „Treulose, kennst Du dies Kind?!“ Die furchtbar erschrockene Schauspielerin fiel mit einem Schrei in Ohnmacht, das Stück war zu Ende und die militärische Laufbahn Karl’s auch!

Ein halbes Jahrhundert lang hat sich der Erbauer des Karltheaters, des Palastes, welcher auf sein Geheiß an der Stelle des früherer Kasperltheaters erstand, gemüht und geplagt, nach Reichthum gejagt, und wofür? – für undankbare, lachende Erben, welche die Todesstunde ihres Verwandten wie eine Erlösung begrüßten! Und wie spitzfindig auch das Testament angelegt und verclausulirt wurde, der übervorsichtige Mann konnte doch nicht verhindern, daß die erworbenen Summen in alle Winde verflogen! Mit wenig Ausnahmen sind die Karl’schen Erben wieder blutarm geworden, während die Pächter des Institutes, wenigstens diejenigen, welche ihr Geschäft verstanden, in wenig Jahren zu sehr wohlhabenden Leuten wurden. Nestroy, Treumann und jetzt Anton Ascher fanden und finden noch reichen Lohn für ihre Mühe.

Wir wollen uns bei dem letzten geistigen Erben Karl’s einführen lassen. Derselbe ist dringend beschäftigt, man bittet uns einige Augenblicke zu warten, und führt uns in einen geschmackvoll ausgestatteten Saal, den rauschende schwerseidne Vorhänge und prächtige schwellende Möbel zieren. Ebenso bequem ist das daneben liegende Arbeitszimmer des Directors ausgestattet, aus dem uns der aromatische Rauch einer feinen Havanna entgegenduftet. Hier sieht es wirklich nach „Arbeit“ aus, den riesigen Schreibtisch und die nebenstehenden Etageren bedecken zahllose Manuscripte und gedruckte Theaterstücke in deutscher, französischer und englischer Sprache, die meisten bereits mit Notizen und Bemerkungen bezeichnet, dazwischen zeugen Einladungskarten, vom Minister und Geldfürsten bis in alle geselligen Vereine etc., für die Beliebtheit dessen, an den sie gerichtet sind. Ascher kommt uns mit altbewährter freundschaftlicher Liebenswürdigkeit entgegen, ehe wir es uns versehen, ist ein Stündchen verplaudert, eine Verabredung getroffen für den Abend, wenn sich der seltene Fall ergeben sollte, daß der Schauspieler Ascher, das fleißigste Mitglied des Directors Ascher, über einen freien Abend disponiren kann.

Nicht immer hat das Streben des Künstlers ihm so reiche Früchte eingebracht, viele, viele Irrfahrten, trüb und aussichtslos, hat derselbe durchmachen müssen. Wenn Ascher, in recht vertraulichen Kreisen, mit dem hinreißenden Feuer, mit dem er zu erzählen versteht, eine Episode aus seiner Anfängerzeit mittheilt, so straft er die gang und gäbe Redensart: „Hat der Mensch Glück!“ recht entschieden Lüge, und bringt das alte deutsche Sprüchwort zu Ehren, daß Jeder seines eigenen Glückes Schmied sei.

Eine solche Episode aus des „Künstlers Wanderjahren“ wollen wir zum Besten geben, zugleich als Beleg des grellen Unterschiedes zwischen den deutschen Theaterzuständen von „Einst“ und „Jetzt“.

Der neunzehnjährige Kunstjünger hatte bereits die Bühnen [732] mehrerer Landstädte mit seinem Talent beglückt, welche auf der Landkarte aufzufinden selbst dem geübtesten Geographen einige Mühe verursachen würde, als ihn plötzlich in Mannheim ein wirklicher und veritabler Engagementsbrief an das Hoftheater in Mecklenburg-Schwerin mit den ausschweifendsten Hoffnungen erfüllte. Kölbel (Sturm und Koppe), dessen Theateragentur damals einzig und allein den Verkehr zwischen den Mitgliedern und Bühnenvorständen vermittelte, überraschte Ascher mit der Offerte in Schwerin drei Gastrollen zu geben, jede mit einem Honorar von drei Friedrichsd’or belohnt, und nach dem glücklichen Ausfall derselben mit der Aussicht auf dauerndes Engagement. Das war nun Alles recht schön und gut; allein wie hinkommen, die enorme Strecke aus dem badischen Lande in’s Reich der Stockprügel, eine Reise, die damals noch kein Schienenweg abkürzte? So schlängelte sich der arme Mime zu Fuß, wenige Gulden in der Tasche, freilich auch mit wenig Gepäck beschwert und belästigt, durch ganz Süddeutschland, bis nach Hameln, wo das ganze Vermögen des strebsamen Schauspielers den geringen Effectivstand von einem Thaler auswies. Ein Thaler war selbst damals wenig, der Weg von Hameln nach Schwerin auch zu jener Zeit sehr weit. Vor der Hand wurde der Stellwagen bis Hannover benutzt, dessen Fuhrgeld die riesige Summe von zwanzig Silbergroschen verschlang, so daß Ascher in der Vorstadt Linden in einer kleinen Kneipe, die einem früheren Schauspieler Wutke gehörte, mit fünf Silbergroschen baaren Geldes im Seckel, in der Hauptstadt des Welfenlandes seinen trübseligen Einzug hielt.

In dem Stellwagen hatte ihn ein günstiges Geschick mit einigen Kunstgenossen, einem Tenoristen Pfeiffer – der einige Jahre später in Bremen verunglückte –, dem Theaterinspicienten von Hannover und dessen Frau zusammengewürfelt. Rasch war gegenseitig „das Handwerk“ herausgewittert, und Ascher erhielt den dringenden Rath, sich doch in Hannover dem Intendanten Baron von Schulte und dem Director, dem bekannten Herrn von Holbein vorzustellen, da dem dortigen Hoftheater ein jugendlicher Liebhaber fehle. Jetzt seien zwar noch vier Wochen lang Ferien, allein wenn ihm die Direction ein Engagement zusichere, so wär’ es ja ein Leichtes, darüber hinwegzukommen.

So märchenhaft, und nach dem damaligen Theaterusus mit Recht, dem Wanderkomödianten die Idee vorkam, das Glück könne ihm eine Anstellung am Königlichen Hoftheater zu Hannover in den Schooß werfen – mit derselben Berechtigung konnte er nach seiner Ansicht den Haupttreffer der großen Lotterie ohne Loos erwarten – so blieb er doch in seinem Gasthaus sitzen, hauptsächlich weil er nicht wußte, wo sonst für ihn ein Bissen für den knurrenden Magen, ein Kissen für das müde Haupt zu finden sei. Also wurden zuerst bei Freund Wutke nicht nur die letzten fünf Groschen verkneipt, sondern in Hoffnung auf bessere Zeiten sogar das Budget überschritten. Da das schmale Bündel außer einiger weißen Wäsche und den damals bei jedem Künstler unentbehrlichen Tricots keine salonmäßigen Kleider barg, so lieh ihm der gutmüthige Kneipier den eigenen schwarzen Anzug, um der Entscheidung seines Geschickes standesgemäß entgegen gehen zu können. Der Intendant war mit dem König auf der Jagd, Herr von Holbein verreist. Letzterer würde morgen zurückerwartet. Mit diesem trostlosen Bescheid mußte Ascher an der Schwelle des Kunsttempels umkehren. Das Deficit war einmal da und wuchs, wie heut’ zu Tage in allen Staatshaushaltungen, lawinenartig. Selbst mit dem seltenen Luxus eines Glases Punsch regalirte sich der aufgeregte Wanderer.

Herr von Holbein empfing den Jüngling am folgenden Tag mit kühler Herablassung, gestattete ihm aber, sich Nachmittags im Theater einzufinden, um auf der Bühne einige Scenen aus Don Carlos vorzutragen. Auch der Herr Intendant, der von der Hofjagd zurückgekehrt sei, werde dieser Probe beiwohnen. Mit einem Gefühl, das etwas nach Hochgericht schmeckte, betrat Ascher nach eingenommenem bescheidenen Diner die Bretter, auf denen sich sein Geschick entscheiden sollte.

Aus dem Parterreraum, der in undurchdringlicher Finsterniß vor ihm lag, schallte die Bitte des Directors herauf, gefälligst anzufangen. Ein leises Gemurmel rief die Vermuthung hervor, daß der Vorstand des Hoftheaters Gesellschaft mitgebracht habe. Ascher begann nun die einzelnen Scenen, Monologe und Phrasen, soweit sich selbe zusammenhanglos bringen ließen, seinem unsichtbaren Publicum vorzutragen; als sich seinem feinen Ohr das leise Herüberschleichen gegen die Thür und das Knarren der letzteren hörbar machte. „Aha,“ dachte er mit wahrem Galgenhumor, „die hätte ich hinaus gespielt, nun lassen sie mich hier allein Don Carlos declamiren bis in alle Ewigkeit.“ Während einer Pause der Erschöpfung rief ihm Herr von Holbein, der also noch anwesend war, zu: „Bitte, gedulden Sie sich einen Augenblick, ich habe meine Frau holen lassen, damit selbe Sie in einigen Scenen unterstütze.“ –

Herr von Holbein hatte sich nämlich, nach seiner Scheidung von der bekannten Maitressen-Gräfin von Lichtenau, auf’s Neue mit der trefflichen Schauspielerin Johanna Göhring verheirathet. Diese erschien nun, während auf der Vorderbühne mit einer gewissen Feierlichkeit die Lampen angezündet wurden, bei deren Schein man im Zuschauerraum den Herrn Intendanten in Begleitung einiger Kunstfreunde erblicken konnte. Frau von Holbein sprach dem schüchternen Schauspieler – Ascher war zu jener Zeit wirklich schüchtern – Muth ein, und so spielte dieser nebst einigen Don Carlos-Fragmenten noch die große Scene des Mortimer mit der Maria, und einige Bruchstücke aus Holbein’s „leichtsinnigem Lügner“.

Nach dieser Probe erklärte Holbein, daß der Debütant ihm eben so wohl gefallen habe, als dem Herrn Baron von Schulte, daß er aber nicht berechtigt sei, ohne Einwilligung des Kronprinzen, der sich jede wichtige Entscheidung in Theaterdingen vorbehalten habe, ein festes Engagement abzuschließen. Wenn er also das Probespiel nach der Rückkehr des hohen Herrn, die in acht Tagen erfolgen werde, wiederholen wolle, so könne er, wenn er allerhöchsten Ortes gefiele, auf eine dauernde Anstellung rechnen. Das war nun Alles recht schön und gut, aber – acht Tage warten! – Ascher kehrte mit einer nicht zu verkennenden Pantomime und wehmüthig-ironischem Lächeln die leeren Taschen um.

„Das hat nichts auf sich,“ antwortete der Chef, „ich gebe Ihnen fünf Thaler Wartegeld für –“ „die Woche,“ erwartete Ascher zu hören, dem der Schlußsatz „für jeden Tag“ wie Sphärenmusik in die Ohren klang! –

Das ganze Weltall löste sich für Ascher in die harmonischen Worte auf: „fünf Thaler für den Tag.“ Leichte Flügel brachten ihn in die entlegene Kneipe zurück, jubelnd schüttelte er seinen gutmüthigen Wirth mit den Worten: „Fünf Thaler den Tag! Sie sind heute mein Gast für Alles, was gut und – billig ist. Fünf Thaler! Ein Feenmärchen! Nicht wahr, ich träume nicht? Es ist keine Seifenblase, die beim Erwachen zerrinnt? Fünf wirkliche Thaler, ich bin der Rothschild unter den Schauspielern!“ So jubilirten tausend Stimmen in und aus dem jungen Mimen, dessen Angst nur in der Befürchtung lag, der Kronprinz möchte zu früh zurückkommen.

Endlich am neunten Tage meldete der Theaterdiener, Seine königliche Hoheit habe das Probespiel: Scenen aus „Cabale und Liebe“, „Maria Stuart“ und „Leichtsinniger Lügner“ auf heute Mittags ein Uhr befohlen. Als Ascher klopfenden Herzens auf der Bühne erschien, wurde ihm mitgetheilt, daß der Kronprinz die Scenen im Costüm sehen wolle. Da Seine Hoheit, der nachmalige, jetzt verflossene König von Hannover, schon damals nicht sehen – wollte, so hatte jener Befehl allerdings etwas peinlich Komisches an sich.

Das Haus war vollständig erleuchtet, der Thronfolger mit seinem ganzen glänzenden Hofstaat harrte der Dinge, die da kommen sollten. Der Umstand, daß unserm jungen Helden noch an demselben Tage ein zweijähriger Contract mit jährlich achthundert, eventuell tausend Thalern Gehalt, und fünfzig Thaler Wartegeld für die Ferienzeit vorgelegt wurde, bewies, daß man „Allerhöchsten Ortes“ seine Leistungen mit Wohlgefallen aufgenommen habe; und als wirklicher königlich hannoveranischer Hofschauspieler verließ Ascher jubelnd und selig das Haus.

Schon nach seinen ersten Rollen, von denen die Bestätigung des Vertrages abhängig gemacht war (Richard Wanderer und Wildenberg in Raupach’s Geschwister), wurde ihm diese zu Theil, und ein glücklicherer Künstler als er lebte wohl kaum in den weiten Räumen des deutschen Vaterlandes. Armer Junge, schon naht das Mißgeschick und schleicht auf leisen Socken an Dich heran, schleicht heran in Gestalt eines Ereignisses, dem Dein Künstlergemüth mit freudiger Erwartung entgegenjauchzt!

Seydelmann, der große Seydelmann, wurde zum Gastspiel erwartet. Sein erstes Auftreten als Carlos im „Clavigo“ [733] war festgesetzt. Ascher mit der Titelrolle betraut, dieser schwierigsten Aufgabe für einen Anfänger, sei er auch noch so talentvoll. Auf die Frage, ob er die Rolle schon gespielt, antwortete er mit einem kühnen „Ja“, ausgepreßt von der Angst, die Rolle sonst zu verlieren, in Wahrheit aber waren ihm Rolle und Stück unbekannt. Man denke sich nun sein Entsetzen, als er bei seiner Heimkunft die voluminöse Partie und die Anzeige vorfand, daß die erste Probe am nächsten Tage stattfinden solle. Man muß das glänzende Gedächtniß Ascher’s und dessen eiserne Willenskraft kennen, um zu begreifen, daß er nach einer im angestrengtesten Studium hingebrachten Nacht, wenigstens der Worte des Clavigo mächtig, zur Probe sich einfinden konnte. Nach dieser Probe machte ihm Seydelmann in seiner ruhig ironischen Manier das zweideutige Compliment: „Sie haben eine Eigenschaft für den Clavigo, die Jugend.“

Abends wurde der Unglückliche in eine altmodische Uniform gesteckt, deren riesig hoher Kragen ihm über die Ohren zusammenschlug, während die Weste vorne zwei Hände breit unter dem gestickten Rock sich hervorschob, kurz der arme Clavigo gewährte in seiner Unbeholfenheit in diesem Costüm einen so burlesken Anblick, daß bei seinem Erscheinen ein heiteres Lächeln die Gesichter der Anwesenden überflog. Ihm gegenüber sah der bildschöne Carl Devrient als Beaumarchais wie ein Halbgott aus. In der großen Scene des ersten Actes hatte Ascher alle Anmerkungen des Dichters für Clavigo während der großen Erzählung des Beaumarchais nur zu gut inne, und brachte die Anordnungen des Autors: „verliert alle Munterkeit aus dem Gesichte“, „ist in entsetzlichster Verlegenheit“, „bewegt sich in höchster Verwirrung auf seinem Stuhl“, „es entfährt ihm ein tiefer Seufzer“ etc., in zwar gewissenhafter. aber mehr für eine Posse als für die Tragödie passender Weise zur Anschauung. Die erwähnte Erzählung schließt mit den Worten: „Unterdessen das Frühstück“. Hierauf soll nach einer Pause Clavigo die Worte: „Luft, Luft!“ in dumpfer Beängstigung vor sich hin murmeln. „Luft“ aber nennt man in Hannover auch eine beliebte süße Mischgattung von Schnaps in localer Bezeichnung. Als daher Devrient seine lange Rede mit den Worten „Und nun das Frühstück“ schloß, brüllte Ascher, ohne Pause und Uebergang, die Worte: „Luft, Luft!“ heraus. Das Haus bebte von dem rasenden Gelächter des Publicums, einem Gelächter, welches wie die Grabmusik aller seiner Hoffnungen dem armen Künstler in die Ohren gellte. Nicht nur für diesen Abend war der vorhergegangene günstige Eindruck verwischt, auch das nächste Auftreten (Don Carlos, Grunert spielte den König Philipp) brachte dem Publicum nur „ein recht mäßiges Vergnügen“. Bei dem warmen Ehrgefühl Ascher’s war ihm die Situation doppelt peinlich geworden.

Da kam von Dresden die Requisition, daß er heimkehren und seiner Militärpflicht genügen solle. Herr von Holbein, vielleicht froh die neue Erwerbung loszuwerden, deren Werth er noch nicht zu würdigen gelernt hatte, gab ihm die erbetene Entlassung nebst einem zweimonatlichen Gehalt als Abfindung für die Lösung des Contracts.

Ein glücklicher Stern führte Ascher in Dresden zu Ludwig Tieck, der sein Auftreten als „Landwirth“ im gleichnamigen Schauspiel der Prinzeß Amalie vermittelte, ein Debut, welches so glänzend ausfiel, daß ihm Ludwig Tieck nach demselben das in diesem Munde doppelt ehrenvolle Compliment machte: „Seit siebenzehn Jahren haben wir nach einem jugendlichen Liebhaber geschmachtet, den wir jetzt in Ihnen gefunden.“ Dies will etwas sagen an einer Bühne, wo ein Emil Devrient wirkte, der übrigens dem neuen Collegen mit herzlichem Wohlwollen und thatsächlicher Freundschaft entgegen kam. Durch die Vermittlung Tieck’s wurde die Militärpflicht Ascher’s gelöst und ein glänzender Contract an der königlichen Hofbühne erwirkt, die den jungen Mann bald zu ihren beliebtesten Mitgliedern zählte.




Der Krystallfund am Galenstock.

Von Max Wirth.

Alljährlich ziehen Schaaren von Touristen einerseits von Meiringen über die Furka in’s Reußthal, andererseits aus dem Reußthal durch’s Meienthal über den Sustenpaß nach Meiringen, – nur selten verirrt sich aber ein Fremder in die zwischen diesen beiden Gebirgspfaden liegende Hochalpen- und Gletscherwelt. So oft ich in den Herbergen am Steingletscher oder am Rhonegletscher Rast machte, erfaßte mich die Sehnsucht jenes über ihnen in Lichtglanz thronende Firnengebiet zu durchforschen. Dr. Abraham Roth’s prachtvolle Schilderung einer Fahrt über den Trift- und Rhonegletscher, das schönste Kleinod seiner „Berg- und Gletscherfahrten“, sowie die Errichtung einer Hütte mitten im Triftgletscher von Seiten der Berner Section des schweizerischen Alpenclubs, brachte endlich meinen Entschluß zur Reife. Ich brachte in Begleitung meines Bruders und der beiden Führer Andreas und Johann von Weißenfluh aus Mühlestalden vier Nächte auf dem Heulager der Clubhütte zu, die mit einem guten Kochapparate ausgerüstet ist, und sechs Stunden von der nächsten Hütte im Gadmenthale zwölf Stunden von der Grimsel entfernt liegt. Jeden Morgen wurde ein anderer Gipfel von elf- bis zwölftausend Fuß erstiegen: zuerst der Schneestock mit seinem dachartigen Firngrat, von dem wir rittlings die Beine auf der einen und der andern Seite herunterbaumeln ließen; den anderen Tag der hintere Thierberg, während mein Bruder, weil er sorgloser Weise zu wenig Gebrauch von seinem Schleier gemacht hatte, schneeblind in der Clubhütte Eisüberschläge machen mußte; den dritten Tag der Dammastock, der den Galenstock um dreißig Fuß überragende höchste Gipfel dieses Gebirgszuges.

Nachdem wir in dieser Nacht uns einer herrlichen Mondbeleuchtung erfreut, bei der die umliegenden Schneegipfel in einem zauberischen Lichtmeer schimmerten, – und vor Mitternacht noch einen verspäteten Gletscherwanderer, der von Grimsel und Galenstock kam, mit einer aus Liebig’schem Fleischextract gebrauten Suppe erquickt hatten, wollten wir am folgenden Tage den noch jungfräulichen, zwischen dem Damm- und Galenstock gelegenen Rhonestock erklimmen und von da einen Paß nach der neuen Furkastraße hinab suchen. Wind und Wetter vereitelten aber unser Vorhaben, so daß wir froh waren, mit heiler Haut die Grimsel zu erreichen und uns durch die Ersteigung des mittleren Wetterhorns vom Urbachthal und Rosenhorn aus nach Grindelwald hinab zu entschädigen.

Was uns mißlungen, das glückte wenige Wochen darauf den Herren Gebrüdern Lindt von Bern mit den Guttauer Führern Sulzer, Vater und Sohn. Dieselben entkleideten den Rhonestock seiner Jungfräulichkeit und stiegen von da über den „Tiefen Sattel“ auf den Tiefengletscher hinab, dessen Abfluß von der neuen Furkastraße überbrückt wird.

Bei dieser Gelegenheit bemerkten die genannten Alpenclubbisten östlich vom Galenstock am östlichen Rande des Tiefengletschers, ungefähr da, wo auf der eidgenössischen Stabskarte Blatt XIII. unten rechts im Worte „Gletschhorn“ der Buchstabe O sich befindet, ein mächtiges „Strahlband“, das heißt einen Gang oder eine Schichte im weißen Quarz, welche sich in einer Mächtigkeit von sechs bis zwölf Fuß, fünfzig bis sechszig Fuß breit, durch eine mehrere hundert Fuß hohe Granitwand (Fluh) schräg hinaufzieht.

Schon im vorigen Jahrhundert war eine große Krystallhöhle am Lauteraargletscher im benachbarten Gebirgsstock entdeckt worden, aus welcher mehrere Tausend Centner weißer Krystall nach Mailand verkauft wurden, wo sie, als Schleifwaare sehr geschätzt, zu hohen Preisen in den Handel kamen, da die Krystallglasfabrikation noch nicht entwickelt war. In den letzten Jahrzehnten ist die Gegend um den Galenstock wegen ihrer reichen Ausbeute an Krystallen von Gemsjägern und Hirten fortwährend durchforscht worden, und der alte Papa Weißenfluh hatte manch’ ein prächtiges Exemplar von seinem Platz, der lange seine Privatdomaine war, in’s Thal gebracht und an Fremde und Schleifer verkauft.

Die obengenannten Gletscherfahrer hatten in jenem „Strahlband“ etwa hundert Fuß über dem Gletscherrand einige dunkle Stellen bemerkt, welche von Peter Sulzer als Löcher erkannt wurden. Derselbe behauptete sofort, daß daselbst wie in allen Quarzbändern „Strahlen“, d. h. Bergkrystalle verborgen seien.

[734] Das Erklettern der steilen Granitwand erschien aber zu schwierig, das Wetter zu ungünstig und die Tageszeit zu weit vorgerückt, um noch eine genauere Untersuchung vornehmen zu können. Vierzehn Tage später machten sich die beiden Sulzer allein auf den Weg den Fundort zu erspähen, und es gelang dem verwegenen Sohne Andreas zu den erwähnten Löchern am Quarzbande emporzuklettern. Er untersuchte die Löcher, welche in eine dunkle Höhle zu führen schienen, mit seinem Hakenstock, und es gelang ihm neben feinem Sand einige Stücke schwarzen Bergkrystalls herauszuziehen. Schlechtes Wetter und die Gefahr der Stellung hinderten die Sache damals weiter zu verfolgen.

Erst im folgenden Jahre, im August 1868, wurde das Unternehmen wieder aufgegriffen. Da gelang es zuerst Andreas Sulzer, Johann von Weißenfluh, Lehrer Ott und Kaspar Bürki aus Guttanen, ein erstes größeres Stück von fünfzehn Pfund aus einem Loch herauszustöbern. Bald kam neue Mannschaft aus Guttanen und man ging nun daran, ein benachbartes Rundloch von acht bis neun Zoll Durchmesser durch Sprengung zu erweitern. Welche gefahrvolle Arbeit es war, auf schmalem Granitgesimse, hoch über dem Abgrund, mit Schlägel und Sprengzeug zu hantiren, das beweist Lindt’s Schilderung des Besuches der Höhle, welche im Jahrbuch des schweizerischen Alpenclubs abgedruckt ist. Derselbe rechnet vier Stunden von der Furka zur Höhle und fährt dann fort: „Am Fuße der Felswand bildet der Gletscher eine fünfzehn bis zwanzig Fuß hohe Gwächte (steiler Schneehaufen), von der man an den Felsen hinuntersteigt, um dann schräg der Wand entlang auf wenige Zoll breiten Vorsprüngen und Ecken zur Höhle zu gelangen. Die Erklimmung ist aber keine leichte Sache, denn nur wenige der besten und kühnsten Steiger wagen es ohne Hülfe hinaufzukommen. Zwei Stellen namentlich erfordern viel Sicherheit und Gewandtheit im Klettern; der erste böse Tritt ist eine senkrechte Granitplatte ohne alle Unebenheiten und so hoch, daß ein Mann von mittlerer Größe mit ausgestreckten Armen nur eben die Finger am obern Rande anhängen kann, mittelst welchen Griffes man sich hinaufziehen muß.“

Ausbeutung der Krystallhöhle am Tiefengletscher, Canton Uri,
im August 1868.

Da Lindt das erforderliche Maß nicht hatte, so mußte er sich am Seil hinaufziehen lassen; von unten kann nicht nachgeholfen werden, weil die Felskante für zwei Mann zu schmal ist. Weiter oben hat man sich um einen vorspringenden rundlichen Granitkopf herumzuschwingen und braucht dazu Sehnen und Muskeln aus Stahl, Glieder, die sich blutegelartig ansaugen und anklammern können. Für ordinäre Sterbliche wird ein Seil hinter dem Felskopf durchgezogen und dasselbe um die Faust gewickelt, damit der Körper sich schwebend erhalte. Ein zweites Seil wird um den Leib befestigt und von dem jenseits stehenden Führer angezogen, sodann folgt eine gewaltige Anstrengung der Arme und Beine und man ist am Ziel. Bei Lindt’s Besuch war die Witterung sehr ungünstig, die Felsen mit Eiszapfen befranzt, der fortwährend fallende Schnee verwandelte sich in eine breiige Masse, die Wände trieften von eisiger Nässe, dazu brauste von Zeit zu Zeit ein Windstoß (Gux) die Schneefelder herauf und jagte in weitem Schwung den Firnstaub um die Häupter, so daß die Führer bedenklich wurden.

Noch schlimmer war es den Entdeckern der Höhle ergangen. Sturmesgeheul war eine lange, lange Nacht hindurch das Schlachtlied der verwegenen Gesellen, welche die Windstöße zuweilen von dem Felsen in den Gletscher hinab zu fegen drohten. Hagel und Regen machten die leichtbekleideten Glieder erstarren; zähneklappernd schmiegten sich die „Strahler“, an Rettung fast verzweifelnd, so eng als möglich aneinander, jeder wärmenden Bewegung beraubt, ohne belebendes Getränke und hinreichende Nahrung. So brachten die abgehärteten Männer die sturmdurchtobte Nacht auf kleinen Vorsprüngen vor dem Loche zu, unter ihnen der Abgrund, über ihnen die gellende Fluh. Halb erstarrt und bis auf die Haut durchnäßt, begannen sie mit Tagesgrauen ihre Arbeit auf’s Neue, und es gelang mit einem dritten Sprengschuß die Oeffnung genügend zu erweitern, um den erstaunten Blicken eine weit in’s Innere des Felsens gehende Höhle bloßzulegen.

Dieselbe war bis zu einem Fuß von der Decke von einer Schuttmasse angefüllt, welche aus Quarz- und Granitstücken sowie Chloritsand bestand. In einiger Tiefe erschienen einzelne in dem Schutte eingebettete rabenschwarze Krystallflächen, und nun war der Schatz gefunden! Da lagen abgelöst von der Felswand, an der sie gewachsen, tausend prachtvolle kohlschwarze Krystalle oder Moreonen, darunter auch einige hellere Stücke oder Rauhtopase im Gesammtgewicht von gegen dreihundert Centnern. Nur ein kleinerer, faustgroßer Krystall hing noch am Felsen. Klumpen von kleineren Krystallen oder Drusen fanden sich nicht vor, sondern meist Stücke von mehreren Pfunden bis zu mehreren Centnern, gegen fünfzig ein- bis zweicentnerige Stücke, fünfzehn bis zwanzig von über zwei Centnern und zwei von über drei Centnern. Neben wohlerhaltenen prachtvollen Cabinetstücken fand sich auch mehr oder weniger beschädigte, zerbrochene oder mangelhaft entwickelte Schleifwaare.

Nachdem die ersten Entdecker gegen zwanzig Centner geborgen, brach die ganze wehrhafte Mannschaft von Guttanen, gegen siebenzig Mann, mit Hämmern, Picken, Schaufeln, Seilen und Tragkörben auf, um den Schatz zu heben. Und so wurde Anfang September in Zeit von acht Tagen die ganze Höhle geräumt, die kleineren Krystalle auf den Gletscher geworfen, die schöneren und größeren theilweise in Säcke verpackt, am Seil heruntergelassen, und zur Vorsicht durch ein sogenanntes Widerseil von der Wand weg auf den Gletscher gezogen. Von da wurden die Krystalle in Tragkörben, die größeren auf Schlitten auf die Furkastraße und sodann zu Wagen nach Oberwald im Canton Wallis gebracht, gegen fünfzehn Centner aber auf dem Rücken über die Gletscher nach der Grimsel getragen. Die Nachricht, daß der Canton Uri sein Territorialrecht zur Geltung bringen wolle, beschleunigte die Wegschaffung, so daß die Bergung des Fundes zum Nachtheil vieler Stücke in fieberhafter Hast betrieben wurde. So dauerte der Transport eine Woche lang Tag und Nacht, während deren [735] kein Schlaf die „Strahler“ erquickte. Ein mit zentnerschwerer Last bebürdeter Mann stürzte in einen fünfzig Fuß tiefen Schlund, konnte sich aber unter Hinterlassung seines Schatzes wieder herausarbeiten.

Dem Urner Landjäger, welcher zur Beschlagnahme der auf Urner Gebiet liegenden Stücke heranrückte, gelang es daher nur, drei größere Krystalle im Gesammtgewicht von sechs Centnern mit Beschlag zu belegen, worunter allerdings einer der größten von zweihundertsechszig Pfund.

Nachdem der Fund durch Herrn Lindt constatirt war, begaben sich die Herren Altgroßrath Bürki und der Geologe Edmund von Fellenberg an Ort und Stelle, um die Krystalle zu prüfen, zu classificiren und die Verwerthung, beziehentlich Vertheilung der Cabinetsstücke an die verschiedenen Museen Europas zu unterstützen. Genf, welches den genannten Herren zuvorgekommen, ist es gleichwohl nur gelungen, Stücke dritten Ranges zu acquiriren. Ein vorzüglicher Krystall von hundertdreißig Pfund wurde von den Herren R. Piggott und E. v. Fellenberg, ehemaligen Zöglingen der Bergakademie zu Freiberg, der dortigen Sammlung geschenkt. Die Museen von Zürich, St. Gallen und Basel besitzen jedes ein ausgezeichnetes Exemplar, welche zu sechs bis sieben Franken das Pfund angekauft wurden. Eines der schönsten Stücke war an das Museum in Paris gesandt, ist aber dort zurückgewiesen worden, weil die Regierung den erforderlichen Credit von fünfzehnhundert Franken nicht bewilligen wollte.

Die große Krystallgruppe im Museum zu Bern.
1. Der König, Höhe 87 Centimeter, Umfang 100 Centimeter, Gewicht 255 Pfund. – 2. Der Dicke, Höhe 68 Centimeter, Umfang 110 Centimeter, Gewicht 210 Pfund. – 3. Der Arm, 39 Pfund. – 4. Der Jüngling, 56 Pfund. – 5. Der Spiegel, 33 Pfund. – 6. Zwilling I., Höhe 72 Centimeter, Umfang 84 Centimeter, Gewicht 130 Pfund. – 7. Zwilling II., Höhe 71 Centimeter, Umfang 77 Centimeter, Gewicht 125 Pfund.

Die sieben schönsten Stücke des ganzen Fundes bilden die große Gruppe im Museum von Bern, welche von Herrn Bürki zum Preise von achttausend Franken acquirirt und in liberaler Weise dem genannten Museum zum Geschenk gemacht worden sind. Die Perle dieser Gruppe ist der „König“, welcher siebenundachtzig Centimeter Höhe, einen Meter Umfang hat und zweihundertfünfundfünfzig Pfund wiegt. Nach ihm kommt der „Großvater“ von zweihundertsiebenundsechszig Pfund Schwere, neunundsechszig Centimeter Höhe und hundertdreiundsechszig Centimeter Umfang. Die Berner Krystallgruppe mag nach Farbe und Größe als die bedeutendste betrachtet werden, welche irgend ein Museum aufzuweisen hat.




Jedem das Seine.

Von Ad. von Auer.
(Schluß.)

Als der Gesang zu Ende, war Rosinens ganzes Aussehen wie verwandelt, ihre gebeugte Haltung wieder stramm, ihre schlaffen Züge belebt. „Hol’ mir die beiden Herren herein, ich muß sie nochmals sprechen, aber Rose soll jetzt nicht singen, erst nachher, wenn ich fertig bin,“ gebot sie Doren. Abermals verging eine geraume Zeit in geheimer Conferenz.

„Sie tappte im Finstern, die gute gnädige Frau, ich habe ihr ein Licht aufgesteckt, ich,“ sagte Dore zu den Geschwistern, mit triumphirendem Seitenblick auf Clemens. „Es ist wahrhaftig wahr, daß wir Menschen manchmal vom Teufel besessen sind. Ich hatte ihn schon tüchtig in seinem Versteck aufgestöbert, und als Fräulein Rose sang, war Alles wieder in Ordnung.“

[736] War denn wirklich Alles wieder in Ordnung, so wie Dore es meinte? Als sie wieder zu ihrer Dame gerufen wurde, verlangte diese, zur Ruhe zu gehen. Der Herr Rechtsanwalt und sein Freund hatten sich empfohlen. Tante Rosine ließ die Thür ihres Schlafzimmers offen und ließ Rose bitten, etwas zu singen, sehen wollte sie jedoch Niemand. Rose erfüllte ihren Wunsch. Die Dame saß aufrecht in ihrem Bett und hörte zu, als müsse sie neue Lehenskraft aus den süßen Tönen schöpfen. Ihre Augen glänzten, ihr Athen ging fast hörbar laut, plötzlich stürzten heiße Thränen aus ihren Augen. Rose sang den Refrain eines bekannten Liedes, eines der Lieblingslieder der Dame:

„Behüt’ Dich Gott, es wär’ so schön gewesen,
Behüt’ Dich Gott, es hat nicht sollen sein.“

Dore, die noch an ihrem Bett stand, sah sie betroffen an.

„Es hat nicht sollen sein!“ wiederholte Rosine gepreßt. „Von Allen getäuscht, von Allen betrogen! Treu nur eine Magd, dankbar vielleicht eine Fremde!“

Dore sah sie kopfschüttelnd an. „Es ist wahrhaftig noch nicht Alles richtig,“ sagte sie. „Ich hole den Herrn Rechtsanwalt wieder, wir machen ein neues Testament oder gar keins und zerreißen das alte“ – sie machte Miene zu gehen, Rosine hielt sie zurück.

„Was fällt Dir ein, ich bin kein Kind!“ fuhr sie sie barsch an.

„Leider nicht, sonst möchte ich jetzt wohl Ihre Gouvernante oder lieber Ihre Mutter vorstellen und Ihnen in’s Gewissen reden, und wenn’s hälfe, befehlen, sich Ruhe zu schaffen. Sie werden nicht schlafen mit dem dummen Testament im Kopf.“

„O doch, tief, fest. Ich fühl’s. Geh’ nur und laß mich in Ruhe.“

„Wem haben Sie Ihr Vermögen vermacht?“ fragte Dore, anstatt zu gehorchen.

„Was geht’s Dich an?“ lautete der Bescheid.

„Sehr viel, denn man hat doch Ehrgeiz für seine Herrschaft und will nicht, daß sie schlechte Dinge thut.“

Rosine legte sich auf die andere Seite, das Gesicht der Wand zugekehrt. Dore blieb am Bett stehen und fuhr fort in ihrem barocken Kauderwälsch von treuherziger Gesinnung, zu täppischer Grobheit und warmem Liebeseifer auf ihre Tante einzureden, bis dieser ein Schatten nach dem anderen von der Seele fiel, das ganze künstliche Gewebe von Selbstquälerei, Mißtrauen, Zorn und Rache in lauter Dunst und Nebel zerfloß, und sie schon anfing, sich von Herzen eine Thörin zu schelten, noch ehe Jene zum endlichen Punkt ihrer Rede gelangt war. Sie lag noch mit dem Gesicht der Wand zugekehrt, der Athem ging noch schnell und die Hände zuckten unter der Bettdecke. Dore dachte jeden Augenblick, jetzt würde sie nach der Nachtmütze greifen und diese in die Lüfte schleudern, aber nichts davon. Sie drückte ihr Gesicht tiefer in die Kissen.

„Geh’,“ sagte sie, nicht gerade sanft und nachgebend, aber doch mit einem seltsamen Beben der Stimme, das bekämpfte Gemüthsbewegung verrieth, „geh’, morgen –“

„Morgen wollen Sie ein vernünftiges Testament machen?“ drang Dore in sie, aber sie erlangte keinen andern Bescheid, als ein nochmal wiederholtes „morgen, morgen!“

Ja morgen! Schiebe doch Keiner das Gute auf, das sich heut thun läßt, wer weiß ob der Morgen noch sein ist! Morgen! Am nächsten Morgen lag’ die Freifrau Rosine von Fuchs kalt und starr in ihrem Bett, und was sie sich auch für den Tag vorgenommen haben mochte, welche Pflichterfüllung, sie blieb unvollbracht, welche Liebesthaten, sie geschahen nicht, welche Sühne für verübte Ungerechtigkeit, sie war nimmer wieder gut zu machen. Das Herz kalt, die Lippen stumm, das Auge geschlossen für immer.

Da waren nun auf einmal alle Leidenschaften still geworden, hoch über allem Wechsel des Irdischen schwebte ein erlöster Geist. War sein Denken und Empfinden noch erdenwärts gerichtet, wie klein mußte der befreiten Seele der Grund des Zwiespalts erscheinen, den sie nicht zu bewältigen vermocht, so lange sie noch die irdische Hülle belebte! Man geht und nimmt nichts mit von all’ den Gütern, die uns so wichtig erschienen, nichts von äußerm Besitz, nichts von der Bildung, nach der man gestrebt, der Bedeutung, mit der man sich brüstete, dem Ehrgeiz, der uns trieb, nur was unverfälscht, was Gottähnliches im Herzen war, hilft uns über die grausige Brücke, die vom Tode zum Leben führt.

Dieser plötzliche Todesfall erregte eine unbeschreibliche Bestürzung. Selbst Clemens ging mit blassem Gesicht und verstörter Miene umher, und während die tiefe Erschütterung der Geschwister durch den Gedanken verstärkt wurde, daß ihr letztes Beisammensein so von Zorn und Mißtrauen getrübt gewesen, wirkte die Erinnerung an die letzte, voll über sein Haupt ausgeschüttete Gunst der Verstorbenen im Augenblick mehr betrübend als erhebend und beruhigend auf Clemens.

Er wußte es, daß er der Haupterbe sein würde, Rosine hatte es ihm gesagt. Wo war der Triumph hin, den er bei dieser Eröffnung empfunden? Leuchtete ihm dabei die Zukunft hell auf, in der er alle die kleinlichen Sorgen um seine Existenz abwerfen, und als reicher Mann so ganz anders seinem Schicksal, seinem Vater, seinen Freunden und Gefährten gegenüberstehen würde, so preßte ihm jetzt die so unerwartet schnelle Erfüllung seiner Hoffnungen das Herz angsthaft zusammen. Ein häßliches Wort klang ihm in’s Ohr: Erbschleicher. „Es ist nicht wahr!“ rief er in seinen verstörten Gedanken dagegen. „Was habe ich denn gethan? Ich habe mir Liebe erworben, weiter nichts. Ich habe teilen wollen, daß die einfältigen Mädchen mich zurückwiesen, kann ich dafür? Vielleicht sind sie jetzt willfähriger,“ dachte er weiter, „aber nein, nein, jetzt will ich nicht, jetzt – o Rose!“ seufzte er unwillkürlich und in dem Herzen des kalten Egoisten strömte das Blut heiß durch die Adern und zeigte ihm die Stelle, wo er verwundbar war.

Auf Hasso’s Benachrichtigung und Ruf eilte der Major von Brücken herbei. Man hatte nur seine Ankunft erwartet, den Sarg zu schließen. Tief bewegt umstanden sie Alle noch einmal die stille, friedlich auf ihrem letzten Ruhelager liegende Gestalt.

Schon hundertmal hatte Dore ihre letzte Unterredung mit der Verstorbenen erzählt, noch einmal wiederholte sie deren Scheidewort: „Morgen, auf morgen. Was sie meinte, weiß ich,“ setzte sie hinzu und legte ihre Hand auf die Brust der Todten; „aber Gott trat dazwischen und der Morgen brach für sie im lieben Himmelreich an. Da giebt’s kein Geld und Gut mehr zu vertheilen.“

„Nein,“ sagte Hasso, „da giebt’s aber auch keinen Zorn, kein Mißtrauen mehr, und was sie hier bezweifelte, dort oben wird sie es wissen.“

„Daß wir sie lieb gehabt, daß wir dankbar sind, daß wir sie nicht vergessen werden, nicht?“ stammelte Liddy mit strömenden Thränen und in Hasso’s ruhigem zuversichtlichem Blick die Antwort suchend.

Das Begräbniß war vorüber. Der Rechtsanwalt und sein Begleiter erschienen abermals auf dem Schloß. Das Testament wurde geöffnet. Alle waren sie dabei gegenwärtig, der Major, die Geschwister, Clemens, Rose, Dore. Der letzte Wille war in kurzen deutlichen Worten gesagt. Hasso wurde in dem Besitz von Gülzenow bestätigt, die drei Schwestern seiner Fürsorge überwiesen. Für Dore war ein ansehnliches Legat ausgesetzt, zur Erbin ihres Baarvermögens Rose Fröhlich eingesetzt. Die Wirkung dieser unerwarteten Bestimmung war unbeschreiblich.

„Nein, nein, niemals darf das geschehen!“ rief Rose flehend, die Hände wie abwehrend gegen Hasso ausgestreckt.

Clemens hatte Mühe, seine Haltung zu bewahren, sein Horizont zog sich düster zusammen, dann fuhr ein Blitz hinein und zerriß die Wolken. Ein triumphirender Blick schoß aus seinen Augen.

„Nur Zeit, nur Zeit,“ murmelte er vor sich hin; dann ging er auf Rose zu und bot ihr die Hand, indem er leise sagte: „Meine Hoffnungen sind vernichtet. Die bunte Seifenblase des Glückes, nach der ich haschte, ist zerronnen. Das Glück, das wirkliche Glück ist sicherer verloren als vordem. Sie sind reich, Rose, das trennt uns für immer, aber –“ seine Stimme wurde noch leiser, sein Blick umflort, „ich habe dennoch nur Sie geliebt!“ stieß er hervor und wendete sich rasch weg, den Blick der Verachtung nicht mehr gewahrend, den sie ihm zuwarf.

„Herr!“ redete ihn Dore an, „damit Sie nicht eine Falsche in Verdacht haben, ich fand das und zeigte es der gnädigen Frau.“ Sie wendete ihm trotzig den Rücken, ein Billet in seiner Hand zurücklassend, das er voller Erstaunen betrachtete, dann las er:

„Schicken Sie mir Ihre Verlobungskarte mit Fräulein Liddy oder Elly, und Sie erhalten gegen Schuldverschreibung die gewünschten dreitausend Thaler. Sicherheit muß sein auch unter Freunden. Ihr ergebener 
C. Lindemann.“ 

[737] „Verdammt!“ sagte Clemens, und mit einem kräftigen Fluch den Boden stampfend, riß er das Billet in tausend Stücke.

Rose weinte vergebens. Vergebens bat sie die Geschwister, flehte sie an, ihr zu helfen, diesen Theil des Testaments rückgängig zu machen, wiederzunehmen, was ihnen zukomme, was sie nur einer Laune zu danken habe, was sie tief unglücklich machen würde. Sie wies auf jenen letzten Abend hin, auf Dorens Versicherung von dem Umschwung in der Stimmung der Tante, auf ihr bedeutungsvolles „Auf morgen“.

„Hätte sie den Morgen erlebt, sie würde das Testament geändert haben,“ betheuerte sie hoch und heilig.

„Aber sie starb, ihr Tod besiegelte ihren Willen und Gott erkannte ihn an,“ entgegnete Hasso. „Nimm es nicht für Trotz, für Indignation unsererseits,“ fuhr er in sanfter Weise fort, „nimm es nur für echten und gerechten Stolz, daß wir nicht nehmen wollen, was uns nicht zukommt. Die Tante war Herrin ihres Eigenthums, wem sie es geben wollte und weshalb, ob aus Liebe, aus Laune, gleichviel aus welchen Gründen, sie bestehen zu Recht. Ich wüßte aber keinen Grund des Rechts, der Billigkeit, der die Annahme Deines Opfers rechtfertigte. Du bist ärmer als wir. Wenn Gott Dich Deiner Stimme beraubt, hast Du nichts.“

„Ich habe Euch, meine Geschwister!“ sagte Rose innig.

„Nun gut, so haben wir Dich, wenn wir je in Noth gerathen sollten,“ entgegnete Hasso in gleicher Weise.

Rose preßte ihre Stirn in beide Hände. War dort ein Gedanke, der Hasso’s Annahme widersprach und den sie zurückzudrängen strebte?

„Gieb Dich zufrieden, Kind,“ tröstete Dore sie. „Du bist keine Erbschleicherin gewesen, Du wahrhaftig nicht, und um diese hat’s nicht Noth. Was ich habe, haben sie auch, ich gebe mich ihnen doch in Pension und sie müssen mich zu Tode füttern.“

Ihr Wort erregte den Jubel der Geschwister.

„Von Dir werden sie nehmen, von mir nicht,“ sagte Rose gekränkt.

„Wir nehmen auch von ihr nicht, wir nehmen sie nur,“ sagte Hasso lächelnd.

In Rosens Zügen malte sich ein eigenthümlicher Kampf.

„Jedem das Seine!“ scherzte Dore. „Ich bin auf dem Lande zu brauchen, denn ich bin dort aufgewachsen und kann mit Rath und That helfen und sie werden Beides brauchen, aber Du bist zu was Anderem erzogen. Du wirst nicht schlechter singen, wenn Du denken kannst, Du brauchst es nicht um’s Geld zu thun, und Dir gönnt Jeder die Erbschaft, wir erst recht!“

„Wir erst recht nicht,“ fuhr Ursula in demselben Tone fort. „Gönnen, das Wort hat der Neid erfunden, seinem bohrenden Stachel die Spitze abzubrechen. Dem Gönnen hallt immer ein Seufzer nach. Die Freude weckt ein reinklingendes Echo.“

Ueber Rosens Wangen perlten helle Thränen.

„Daß Reichthum so drücken kann, hätte ich nie geglaubt!“ seufzte sie, und wieder zuckte es über ihr Gesicht wie aufblitzende Entschlüsse, wie Zagen und Hoffen in jähem Wechsel. Auf einmal faßte sie Hasso heftig bei der Hand. „Komm’“, sagte sie, „ich muß Dich allein sprechen.“

Sie zog ihn in das Nebenzimmer. Sie war furchtbar erregt, die Hand, die noch in der seinen ruhte, war eiskalt, in ihren Augen malte sich holde Scham.

„Verachte mich nicht, Hasso,“ sagte sie, „es ist nicht unweibliches Empfinden, es ist die Gewalt der Umstände, die, Ungewöhnliches mir auferlegend, mich über Gewohnheit und Sitte hinaushebt. Es ist das vollendete Zutrauen, das ich in Deine Ehre, Deinen Zartsinn, Deinen Glauben an meine Weiblichkeit setze, das mich zu der ungewöhnlichen Frage drängt, die ich vor Gottes Angesicht an Dich richte, er, unser einziger Vertrauter bei der Lösung dieses Conflicts. Hasso, dieser Reichthum drückt mich zu Boden wie Diebstahl, er droht mir wie ein Fluch. Aus Trotz und Eigensinn ist er mir verschrieben worden, der nächste Tag würde ihn mir wieder genommen haben, wäre der Verstorbenen die Zeit zur That geblieben. Du willst mich nicht von der Last befreien, nun gut, nimm mich dazu mit der Last. Bin ich Dein Weib, so hört das Mein und Dein auf, eine Streitfrage zwischen uns zu sein.“

Sie hatte zagend ihre Rede angefangen, Scham glühte auf ihrer Stirn, bebte wie leiser Fieberfrost durch ihre Glieder, aber während sie sprach, erhöhte das Gefühl der Reinheit ihrer Absichten ihren Muth und liebliche weibliche Schüchternheit, von der Energie eines festen Entschlusses besiegt, durchglühte ihre Worte, als sie leise hinzusetzte: „Ich glaube, Du hast mich lieb, wie ich Dich, wenn wir auch Beide zu sehr daran gewöhnt waren, um es besonders zu bemerken. Erst seit Kurzem sehe ich anders in Dich, in mich hinein. Du könntest leicht zu stolz sein, um die reich gewordene Geliebte zu werben, Hasso, da ist meine Hand, laß uns an den Reichthum nicht denken und glücklich sein.“

Sie reichte ihm mit unnachahmlicher Anmuth die Hand hin, er ergriff sie mit einem halb erstickten Ruf jauchzender Freude, er küßte sie, drückte sie an sein Herz. Es war ein ungetheiltes wonniges Entzücken, das ihn durchströmte, wie es nur auf Augenblicke in das menschliche Leben hineinleuchtet, in einem solchen Augenblick die Seele allerdings mit unendlichem Reichthum überschüttend.

Einen Augenblick, dann kam die Ueberlegung. „Wenn Du nur edelmüthig wärst, wenn Du mich nicht liebtest, wenn Du Dein geschwisterliches Empfinden für Liebe nähmst und die Täuschung zu spät gewahrtest, Rose, ich ertrüge es nicht!“

„Nein,“ sagte sie, „keine Täuschung mehr, die Täuschung ist eben überwunden und ich kenne mich jetzt besser. Hasso, es blitzte einmal ein Licht in meine Seele hinein, das mich blendete, es klangen Schmeichelworte in mein Ohr, die ich für Wahrheit nahm. Mein Herz schlug stürmisch und heiß, aber wie Mehlthau auf eine Pflanze fiel jenes Mannes kalter Egoismus auf die keimende Liebesblüthe. Es war eine taube Blüthe, Hasso, sie fiel ab, in den Kern der Pflanze drang das Gift nicht. Mein Herz ist frei, ist Dein, das schwöre ich Dir zu, und,“ setzte sie mit lieblicher Verschämtheit hinzu, „das Bild, das es ganz erfüllt, ist Deines. Seit wir hier sind, habe ich Dich täglich lieber gewonnen. Glaubst Du mir nicht, Hasso? Du sollst mich nicht um’s Geld heirathen, es gilt Herz gegen Herz.“ –

„Rose, Engel, Gottes Segen mein!“ rief Hasso mit erstickter Stimme und sank zu ihren Füßen nieder.

Die Thür öffnete sich, die Glücklichen sahen und hörten es nicht. Clemens stand auf der Schwelle. Sein Gesicht war todtenblaß, seine Hände ballten sich krampfhaft zusammen. „Verrechnet, verrechnet überall!“ stieß er zwischen den Zähnen hervor, dann verließ er das Zimmer, ohne daß die in das holde Entzücken eines ersten Liebesgeständnisses versunkenen beiden glücklichen Menschen sein Kommen und Gehen auch nur gewahrt hätten.



Im Herbst desselben Jahres feierte das junge Paar seine Hochzeit. Ziemlich um dieselbe Zeit kehrte Clemens seiner Heimath den Rücken. Lindemann hatte die dreitausend Thaler nicht gezahlt und so viel richtiges Gefühl hatte Clemens noch in der Seele, daß er sich schämte, Hasso um Hülfe zu bitten. Er entfloh seinen Gläubigern, er entfloh den drückenden Verhältnissen, in die seine Schulden ihn versetzt, entfloh den Vorwürfen seines Vaters, und hinterließ diesem nur ein paar Zeilen, in welchen er ihn, Abschied nehmend, bat, womöglich seine Angelegenheiten zu ordnen, und mit Hinweis auf sein musikalisches Talent als eine sichere Quelle seines Fortkommens, versprach, alle seine Verbindlichkeiten in Kurzem zu lösen. Der alte Herr biß die Zähne zusammen und warf den Brief in’s Feuer. Er machte öffentlich bekannt, daß er nicht im Stande sei, für die Schulden des Sohnes aufzukommen, verbot seiner Tochter, Clemens’ Namen zu nennen, und damit war äußerlich die Sache abgethan. Was innerlich in ihm vorging, sah nur Einer, und es wird wohl dereinst mit im Schuldbuch des Sohnes stehen.

Clemens’ klingende Schulden zahlte durch Lindemann’s Vermittelung Hasso im Stillen ab, nicht ahnend, daß dieser es an Clemens schrieb, und noch weniger vermuthend, daß er durch diesen Act natürlicher Großmuth sich den Vorzug erwarb, künftig unter die Merkwürdigkeiten L.’s gezählt zu werden, wenn auch zu einer, die das Städtchen leider nur kurze Zeit in seine Mauern einzuschließen so glücklich gewesen war.

Von Clemens’ treulosem Verrath an der Liebe erfuhren die Zwillingsschwestern nichts, der blieb Geheimniß zwischen Rose und Hasso, und Dorens Combinationen wiesen sie mit Entrüstung zurück, ja, es war dies die einzige Gelegenheit, bei der sie fast in Zorn geriethen. Wer hätte auch so grausam sein mögen, den unschuldigen Cultus zu stören, den sie ihrer ersten und einzigen Jugendliebe widmeten. So war denn das geschwisterliche Kleeblatt [738] jetzt auf heimathlichen Boden versetzt, die Wurzeln immer fester in einander schlingend, und kein Sturm, kein Unwetter störte mehr den sonnigen, wolkenreinen Frieden, in welchem allein es leben und gedeihen mochte.

Auf dem hübschen Gülzenower Kirchhof aber schläft Rosine den letzten friedlichen Schlaf. Blumen schmücken ihr Grab und eine mächtige Hängebirke senkt ihre wehenden grünen Zweige auf die Ruhestatt der Verstorbenen hinab. Ihr letzter Wille ist buchstäblich erfüllt, und doch geschah das Gegentheil von dem, was er gebot. Ihr Wahlspruch scheiterte an den Pforten des Jenseits und die ewige Weisheit wandelte in Segen um, was irdische Thorheit in eigenmächtigem Trotz zum Unheil zu verwirren versuchte.




Blätter und Blüthen.

Räuberadel und Schäferadel. Wilhelm Tietz, hochadeliger Schäfer zu K., einem der Güter des Herrn von D., ist der Urtypus eines jener kostbaren Originale, wie man solche in deutschen Gauen heutzutage vielleicht nur allein noch in der Abgeschlossenheit des fröhlichen Alt-Mecklenburg findet. Unter vielen anderen Verdiensten muß ihm auch das vindicirt werden, die deutsche Sprache mit den beiden oben stehenden Begriffen bereichert zu haben. Die Gelegenheit, bei der diese Sprachbereicherung statt hatte, war aber diese.

Anno so und so verstarb zu N. in Mecklenburg Herr X., unbekannte Größe, dunkler Ehrenmann und ehemaliger Schäfer, mit Hinterlassung von vier Söhnen und eines stolzen Vermögens in Liegenschaften und baaren Geldern, erworben durch kluge Benützung der Zeitverhältnisse, durch allerlei Manöverchen und Manipulationen, die von angeborener Schlauheit Zeugniß ablegen, auch den alten Erfahrungssatz wieder bestätigen, daß es unbedingt Leute giebt, die immer draußen sind, wenn’s Glück regnet, mögen solche Leute sonst auch allgemein für dumm gelten. Uebrigens der Dumme hat’s Glück und Dame Fortuna ist eben ein Weib. Was will man sagen?

Herrn X., des einstigen Schäfers, vier Söhne theilten die väterliche Hinterlassenschaft, erwarben Jeder ein stattliches Rittergut und fanden danach, daß es nicht passend sei für reiche Gutsbesitzer mit der ihnen natürlich gewachsenen väterlichen Schäfernase noch ferner herumzulaufen, sie beschlossen deshalb, sich diese ihre Nase durch den Adel vergolden zu lassen. In Wien braucht man immer Geld, dahin wandten sie sich also und erstanden dort für so und soviel Tausend blanke Silberthaler die Berechtigung, ihrem Namen das Wörtlein „von“ vorsetzen zu dürfen nebst einem vom Heroldsamt ihnen aufgerissenen, prächtig gezeichneten Wappen. Solches geschah anno domini 1812. Im Herbst des gleichen Jahres wurde, wie gewöhnlich, der Landtag nach Malchin ausgeschrieben, und einer der vier nunmehrigen Gebrüder von X. faßte den glorwürdigen Gedanken, von dem Recht der adeligen Gutsbesitzer, auf dem Landtage, dem er als einfacher X. bisher fern geblieben war, in rother Landstands-Uniform erscheinen zu dürfen, allsogleich Gebrauch zu machen, und trat denn auch in funkelnagelneuem, prachtvollem rothen Frack mit goldenen Candillenepaulettes, weißen Casimir-Unaussprechlichen, den Degen an der Seite, in Malchin auf. Mit spöttischen Blicken und ironischem Lächeln empfingen adelige und bürgerliche Landstände den neugebackenen Edelmann im Sitzungssaal, die alleinige Zielscheibe des Hohnes Aller ward er an der Tafel der Landtagscommissarius. Acht Tage lang bot der Herr Otto Leopold Theodor Ferdinand von X. in dem Panzer seiner neuen Würde und seiner kostbaren Uniform allen Witzpfeilen Trotz, dann fuhr er traurig und niedergeschlagen heim in der glänzenden, mit Vieren bespannten Staatscarosse mit dem strahlenden Wappen auf dem Schlage. Zu Hause angekommen, läßt er sein Weib und seine Domestiken seine Wirthschafter und Dorfinsassen seine Niederlage in übelster Laune empfinden, und in tiefem Mißmuth reitet er über seine Felder. Kommt er da auch an die Scheide seines Gutes. Drüben auf jenseitiger Gemarkung hütet Wilhelm Tietz auf herbstlichem Dresch seine Schafe. Beide, Herr von X. und der Schäfer, kennen sich sehr gut, hat doch der Alte die vier Jungen seines ehemaligen Standesgenossen, des reich gewordenen Schäfers X., aufwachsen sehen. In dem unabweisbaren Drange jedes Leidenden, einen Vertrauten zu haben, dem er sein Herz ausschütte, erzählt Herr von X. dem Schäfer seine Begegnisse auf dem Landtage, klagt ihm sein ganzes Leid und schließt sein Klagelied mit den Worten: „Und ich bin doch nun so gut ein Edelmann, als D. einer ist und L. und O. und R., worüm ästimirten sie mir nu nich? Und was die bürgerlichen Gutsbesitzer waren und die Burmeisters, die hatten mir auch for’n Narren. Begreifst Du das, Tietz?“

Der alte Schäfer greift in sein rothgeblümtes Halstuch, in dem das Kinn tief steckt, hinein und antwortet nur mit einem gedankenvollen „Hm! Hm!“

„Na, worüm ästemir’n sie mir nich als Edelmann?“ forschte Herr von X.

„Ja, Herr – gnedig Herr, wull ick segg’n“ – replicirt da Wilhelm Tietz, mit schlauem, ein wenig ironischem Blinzeln, nach einigem Nachdenken, „wenn Se’t weten will’n, denn wi’ ik’t Se segg’n.“

„Nun?“

„Je, sehn’s, mien gnedig Herr un all de annern Eddellüd hierrümme, de stamm’n all ut den’n oll’n Röweroadel, un de is so olt as de Welt is. Se Ehr Oadel öwer, dat is man so’n niegen Scheperoadel, nich Fisch nich Fleesch, wecke sall den’n ästemir’n?! De Eddellüd nich und de Börgerlichen nich. Sehn’s, gnedig Herr, dat is denn de Soak.“

Herr von X. ritt schweigend davon. Ob er das ein wenig dunkle Dictum, dunkel wie alle Sentenzen einsamer Denker, verstanden hatte, bleibt ungewiß, auf den Landtag jedoch ist er niemals wieder gegangen. Wohl aber läßt er seinen Sohn bei Tisch obenan sitzen, weil der junge Edelmann schon einen Ahnen hat, also vornehmer ist als der Vater.


Zur Beachtung für Vélocipèdes-Verkäufer. Wir lernen nie aus, und wenn die Reclame auch in Deutschland schon eine ganz achtbare Höhe erreicht hat, wenn der Verfasser der Revalescière, geb. Revalenta-arabica, schon in seinen Annoncen die fast ständige Anzeige bringt, daß er – außer zahlreichen anderen Fällen – mit seinem Arzneimittel (Linsenmehl) selbst eine ältliche Dame curirt habe, welche fünfzig Jahre an Verstopfung gelitten, wenn R. F. Daubitz und der „ewige Hoff“ auch die Zeitungen bis zum Ekel mit ihren Anpreisungen füllen, so können wir trotzdem noch immer von anderen Welttheilen und Ländern lernen.

In „La opinion nacional“, die in Carácas (Venezuela) erscheint, lese ich vom 14. September 1869 eine Anzeige, die ich den deutschen Vélocipèdes-Händlern nicht vorenthalten darf. Eine weitere Erklärung ist nicht nöthig.

„Weg mit den Pferden!
Es wird nur der folgenden Zusammenstellung bedürfen, um dem Publicum zu beweisen, wie groß der Unterschied zwischen jenen wilden und den zahmen Bestien ist.
Vélocipèdes,
zu haben im London-Bazar.
Zahlen lügen nicht.
Eine Rozinante Ein Vélocipède
Kostet jedenfalls
200
Pesos,
Erster Classe nicht mehr als
175
Pes.
Geräth, Sattelzeug etc.
75
"
Geräth, Futter etc.
000
"
Frisches Futter und Streu
180
"
Kosten (jährlich) eine Flasche Oel
"
50 C.
Welschkorn (jetzt sehr theuer)
60
"
175
Pes.
50 C.
Stallknecht
96
"
Wartung der Thiere etc.
6
"
Geräthschaften, Striegel etc.
15
"
632
Pesos.
Unterschied also 456 Pesos 50 Centabos – gar nicht gerechnet die verschiedenen Unbequemlichkeiten mit einem Pferde: Schlagen, Beißen, Bocken, den Aerger mit den Leuten, Beschlagen, Thierarzt etc. etc.
Deshalb kauft Vélocipèdes. Kauft! Kauft!“


Kleiner Briefkasten.

Herrn L. in Dresden. Der Umstand, daß die angekündigte Erzählung von Herman Schmid „Die Türken in München“ den laufenden Jahrgang weit überschritten hätte, machte uns den Abdruck derselben in diesem Jahre unmöglich. Wir freuen uns, daß wir Ihnen als vollgültigen Ersatz die heute beginnende Erzählung bieten und Ihren Wunsch, nach so langem Stillschweigen des geschätzten Verfassers wieder eine Arbeit aus seiner Feder zu erhalten, auf diese Weise erfüllen können.



Im Verlage von Ernst Keil ist erschienen.

Ludwig Steub,
Altbayerische Culturbilder.
Elegant brosch.0 Preis 1 Thlr.

Unstreitig ein interessantes und gewichtvolles Buch. An dem Beispiele des fröhlichen und von der Natur so reich gesegneten Altbayern, wo sich aber Pfaffenthum und finsterer Ultramontanismus noch einer möglichst unerschütterten und ungestörten Herrschaft über das schöne und kraftvolle, aber roh und rauh, wüst und unwissend gebliebene Landvolk erfreuen, an diesem bemerkenswerthen Producte kirchlicher Volkserziehung zeigt uns der Verfasser die Nothwendigkeit zu energischem Ankämpfen gegen jenes culturwidrige Element in einer Weise, daß sie mit Händen zu greifen ist. Es geschieht dies nicht auf dem Wege des Raisonnements und der tendenziösen Betrachtung, sondern mit Hülfe der scharfen Beweise, die sich Ludwig Steub als gründlicher Specialforscher aus der älteren und neueren Geschichte zu holen und für das Verständniß unserer Zeitbewegung und ihrer Fragen nutzbar zu machen weiß. Europa. 


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.