Die Gartenlaube (1869)/Heft 49

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 49.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Gasselbuben.

Geschichte aus den bairischen Vorbergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Domini brach in rohes Gelächter aus. „Sagen? Was will ihm die Jungfer denn sagen?“ rief er. „Das ist doch nichts Besonderes, daß einem Burschen ein Madel gefällt, und daß er ihr nachgeht, wie ich der Jungfer nachgegangen bin! Der Vater wird mir nit den Hals umdrehn, wenn er erfährt, daß ich in früherer Zeit blos ihretwegen so oft auf dem Feichtenhof eingekehrt bin! Wenn ich’s verstanden hätt’, mich zu verstellen und den scheinheiligen Duckmäuser zu machen, könnt’ ich jetzt schon lang’ Feichtenbauer sein. … Was hab’ ich denn gethan, als daß ich ihr Sachen in’s Ohr gesagt hab’, die der Pfarrer auf seiner Kanzel freilich nit predigt, und hab’ mich in ihre Kammer geschlichen …“

„Und daran mahnt Ihr mich selber?“ zürnte Christel. „Zum letztenmal … geht mir aus dem Weg, oder ich vergreif’ mich an Euch!“

„Oho – vor dem Zorn fürcht’ ich mich nimmer,“ entgegnete Domini mit steigender Frechheit. „Wer weiß, wenn ich mich selbigesmal von dem Schiechthun nit hätt’ abschrecken lassen, ob jetzt nit Alles ganz anders wär’! Jetzt glaub’ ich der Jungfer Christel nimmer, wenn sie sich so zimpferlich anstellt, jetzt weiß ich, was ich weiß – aber freilich, das hätt’ ich mir im Traum nit einfallen lassen, daß die sittsame Christel es sich so still, so commod einrichten thät’, im eignen Haus mit dem Knecht …“

„Da habt Ihr, was auf eine solche Red’ gehört – schlechter Kerl …,“ rief das Mädchen auflodernd und gab ihm einen so kräftigen Schlag in’s Gesicht, daß er von der Wucht desselben und vor Ueberraschung zurücktaumelte. Dies währte jedoch nur einen Augenblick – im nächsten hatte er mit dem Ansprung eines wilden Thieres die rasch Entfliehende wieder ereilt und hielt sie gefaßt, daß sie sich kaum zu regen vermochte. „So?“ keuchte er bebend vor Wuth, und zog sie, trotz ihres Sträubens, immer enger an sich. „So gehst Du mit mir um? Hab’ ich nit gesehn, wie Du Dir das Schmeicheln und Streicheln hast gefallen lassen, und mich willst Du kratzen? Wart’, Wildkatze, ich will Dir die Krallen stutzen …“

Christel hatte sich von der ersten Betroffenheit über den Angriff rasch gesammelt und setzte ihm einen so entschiedenen und kräftigen Widerstand entgegen, daß es zweifelhaft schien, wer die Oberhand behalten würde, aber der Ringkampf blieb unentschieden, denn unter den Bäumen stürzte Wendel hervor, packte Domini im Nacken und schleuderte ihn mit solch’ überlegener Gewalt hinweg, daß er zu Boden stürzte. Im Wirthshause angekommen hatte er den Bauer erblickt und war sofort umgekehrt, um die Tochter von dessen Zustand in Kenntniß zu setzen. „Da komm’ ich ja gerad’ recht,“ rief er im Hinzuspringen aus, „heut’ habt Ihr mich abgelöst – jetzt geb’ ich’s zurück und löse Euch ab …“

Das Dazwischenkommen war so entschieden und plötzlich, daß von keiner Seite ein Wort weiter gesprochen wurde. Christel nickte dem Helfer mit dankendem Blick zu, Domini raffte sich auf und eilte auf anderem Wege fort; hinter ihm schritt Wendel, ihn bewachend, falls er eine neue Unbill beabsichtigen sollte.

Er hatte eben die Mitte der Dorfgasse erreicht, als am obern Ende desselben die Hüglinger Bursche erschienen, die inzwischen, zu neuen Streichen ermuthigt, sich aus dem Wirthshause aufgemacht hatten; er achtete nicht auf sie, und gewahrte nicht, daß ihnen Domini im Vorbeigehn einige Worte, als wäre es ein Gruß, zurief. Desto schärfer war er bereits von ihnen in’s Auge gefaßt, denn auch ohne Domini’s hetzenden Zuruf hatten sie ihn an der ungewohnten Tracht als einen Fremden erkannt; sie riefen sich zu und zogen mit verschränkten Armen, die ganze breite Straße absperrend, unter lärmendem Gesang dem Kommenden entgegen.

Wo der Dorfbrunnen aus hölzerner Röhre in den zur allgemeinen Tränke dienenden Trog niederrauschte, machten sie Halt.

„Stock an!“ rief der Anführer Wendel zu. „Schau fein, daß Du uns nicht nieder gehst, Bergler … mit Deinem Gemsbart und dem Spielhahnstoß auf’m Hut! Haben sie was zu bedeuten, die Hahnenfedern? Wie – laß’ mich’s in der Näh’ anschau’n … ich thu’ Dir s’ runter!“

„Kannst es ja probiren!“ erwiderte Wendel und trat zu seiner Deckung ein paar Schritte zurück. „Was wollt’s von mir?“ rief er, als die Bursche, darin ein Zeichen von Furcht erkennend, nachdrängten.

„Das siehst ja, was wir wollen!“ entgegnete Martl. „Du tragst das Berglergewand, und dienst auf’m Feichtenhof … wir aber leiden keinen fremden Burschen in der Gemeind’ und wollen einen Hüglinger Buben aus Dir machen, wie’s der Brauch ist …“

„Brauchst keine Sorg’ zu haben ,“ lachte ein Anderer, „wir thun Dir nit weh … Du wirst blos an Füßen und Armen in die Höh’ geschutzt und wieder aufgefangen’, dann tauchen wir Dich [772] dreimal im Brunnen unter, und dann bist ein richtiger Hüglinger-Bub …“

„Und wenn Du nit willst,“ rief Martl wieder, „dann hast Du’s mit allen Burschen in der ganzen Gemeind’ zu thun; dann leiden wir Dich nit und wollen Dir’s schon so salzen, daß Du gern wieder gehst …“

„Laßt mich in Ruh’,“ erwiderte Wendel, als er zu Worte kam, „ich will in der Gemeind’ bleiben, als ein ordentlicher Bursch und will gut auskommen mit Euch Allen … aber solche Sachen mach’ ich nit mit. … Also aus der Bahn! Das ist mir zu dumm!“

„Was? Schimpfen willst Du auch noch?“ schrie es ihm zugleich aus einem Halbdutzend Kehlen entgegen. „Packt an, Buben, jetzt muß er erst recht geschutzt werden …“ Im nächsten Augenblick war er umringt und die Bursche hingen von allen Seiten an ihm, wie eine Meute, die das erreichte Wild zu Boden zerren will. Diesmal aber waren sie wirklich an den Unrechten gekommen; mit einer Kraft, die sie dem sehnigen Burschen nicht zugetraut hatten, fühlten sie sich bald geschüttelt und hinweggeschleudert, daß sie wie reife Nüsse zu Boden kollerten – ein paar der Hartnäckigsten faßte Wendel am Nacken und stieß sie aneinander, daß sie verblüfft standen und keine Miene machten, den Sieger, der sich eilig davon machte, zu verfolgen. Stumm und ärgerlich sahen sie einander an, schüttelten Koth und Staub von den Kleidern, und Martl, nachdem er seine fünf Sinne zusammengelesen, ballte ihm die Faust nach und rief: „Lauf’ nur zu, wir holen Dich doch schon ein und dann raiten wir schon ab miteinander!“

Inzwischen war Christel eilenden Schritts in die Nähe des Bergwirthshauses gekommen, aus dem ihr schon von ferne Schreien und Singen entgegen tönte. „Das ist einmal spaßig,“ sagte sie, indem sie aufhorchend einen Augenblick anhielt, „das ist gerad’ als wenn das die Stimm’ vom Vater wär’ … aber das kann ja doch nit sein; das Gehör muß mich täuschen …“

Jetzt hatte sie das Haus erreicht und die Thür geöffnet und blieb auf der Schwelle stehn, wie versteinert von dem Anblick, der sich ihr bot. „… Vater …“ wollte sie rufen, aber das Wort erstarb ihr in der Kehle, denn der, den sie so zu nennen gewohnt war, war kaum wieder zu erkennen. Das graue halbkahle Haupt glühte vom Uebermaß des genossenen Weins, die Augen starrten, und die Zechgenossen, die zuletzt selbst ihren Spott mit ihm getrieben, hatten die Stöpsel der geleerten Flaschen an eine Schnur gereiht und ihm wie eine Halskette umgehängt, auf die der Betrunkene in blödem Stolz lachend herniedersah. Als er die Tochter erblickte, mochte ein Gefühl in ihm aufdämmern, wie weit er sich vergessen habe; etwas unsicher erhob er sich und rief ihr lallend entgegen: „Kommst endlich, Christel? Hast mich lang genug warten lassen … jetzt setz’ Dich auch her zu mir und laß Dir’s schmecken; ich hab’ heut’ meinen lustigen Tag. … Trink’, sollst leben, Christel, und Dein Hochzeiter daneben!“

Die Erstarrung des Schreckens wich aus Gliedern und Antlitz des Mädchens; dafür quoll ihr Gemüth über vor Entrüstung und Scham. „Vater,“ rief sie und stand mit ein paar Schritten am Tisch, „was soll das geben? Da seh’ ich wohl, daß ich lang ausgeblieben bin, aber ich hab’ nit gewußt, daß der Feichtenbauer ist wie ein kleines Kind, das man keine Stund’ allein lassen darf …“ Dabei hatte sie mit fester Hand die Schnur mit den Stöpseln ergriffen, abgerissen und mit Abscheu wie ekles Ungeziefer weithin in die Stube geschleudert.

In dem umnebelten Gehirne des Alten begann es immermehr sich zu lichten; das Gefühl begangenen Unrechts und die Beschämung, vor dem eigenen Kinde so dazustehn, stieg immer mächtiger in ihm auf, aber noch behaupteten die wilden Geister die Oberhand und wandelten das Schamgefühl in Erbitterung gegen die, welche es hervorgerufen. „Was unterstehst Du Dich, Du Balg?“ schrie er auftaumelnd. „Willst Du Dich an Deinem leiblichen Vater vergreifen? …“

„Gott soll mich bewahren vor einer so schweren Sünd’,“ erwiderte Christel fest, „aber wo Gefahr ist, fürcht’ ich mich nit, zuzugreifen! Du weißt, Vater, daß Dir der Wein verboten ist, weil er Gift für Dich ist … Du weißt, was Du verlobt hast, weil die Schmerzen nachgelassen haben in Deinen Händen … ist das die Manier, wie der Feichtenbauer sein Wort halt?“

„Christel,“ rief der Alte wieder, indeß die Zechgenossen sich allmählich bei Seite stahlen, „red’ nit so mit Deinem Vater – ich vertrag’s nit! Ich bin der Herr vom Haus: was ich sag’, das muß geschehn und was ich thu, muß einem Jeden recht sein … also widersprich mir nit, sondern setz’ Dich her zu mir und bleib’ da – ich hab’ Dir ’was Wichtiges zu sagen …“

„Ich bleib nit, Vater,“ entgegnete sie, „aber ich bitt’ Dich dafür, mach’ Schand und Spott ein End, und laß einspannen, daß wir heimkommen!“

„Ich will aber noch nit heim,“ lärmte er entgegen, „ich will nit eher heim, als bis mein Schwiegersohn da ist …“

„Vater …“ sagte Christel erröthend und etwas verwirrt, weil sie die Rede nicht zu deuten wußte, „so ’was gehört nit da her in die Wirthsstuben! Geh’, Vater, ich bitt Dich noch einmal, was ich bitten kann, laß’ einspannen … mach’, daß wir heimkommen!“

„Ich will nit,“ rief der Alte und machte sich los, als sie ihn am Arme gefaßt hatte, „ich muß warten, bis mein Schwiegersohn, der Domini, da ist … und ich will Dir’s nur sagen, Christel, der Domini wird Dein Mann, ich hab’s ihm versprochen und will haben, daß Ihr einander gleich da in meiner Gegenwart das Jawort gebt!“

„Der Wein redt aus Dir, Vater,“ entgegnete Christel unwillig … „wenn’s um mein Jawort geht, muß ich zuerst gefragt werden – dafür hab’ ich Dein Wort; das aber weiß ich gewiß, der Domini kriegt’s nit!“

„Was, Du willst Dich sperren gegen mich?“ rief der Bauer … „Jetzt soll’s erst recht so sein ... Wenn er nur gleich da wär’ … Domini, Schwiegersohn, wo steckt er denn?“

„Da bin ich, Feichtenbauer,“ erwiderte der Bursche, der eingetreten war und mit boshaftem Lachen sich mitten in die Stube stellte, „mußt mich aber recht verstehn,“ fuhr er fort, „der Domini ist da – aber mit dem Schwiegersohn ist es nichts! Hast die Rechnung ohne den Wirth gemacht, Feichtenbauer, und spürst gar nit, daß der Marder schon im Taubenschlag ist … wirst doch das Gesangl kennen, das uralte:

Die Liebschaft im Haus
Ist gar selten ein Gwinn:
Was D’ in Schuhen ersparst,
Geht in Strümpfen dahin …“

Dem Alten war’s, als würde er plötzlich mit eiskaltem Wasser übergossen. „Wie wär’ das …“ stieß er mit unsicherer Stimme heraus, indem sein Rausch immer mehr zu verfliegen begann … „Was soll denn das eigentlich heißen?“

„Das soll heißen, daß Du zu spät gekommen bist,“ höhnte Domini, „und daß Deine Tochter Dir schon einen Schwiegersohn ausgesucht hat.“

„… Christel …“ stammelte der Alte, während das Mädchen, überrascht von der Entdeckung, die sie so plötzlich und schlimm hereinbrechen sah, keines Wortes mächtig vor ihm stand.

„Freilich,“ fuhr der Bursche immer giftiger fort, „ob’s Dir recht sein wird, das weiß ich justament nit … das einzige Kind von dem steinreichen Feichtenbauern und ein armseliger Berglerbub, ein nothiger Bauernknecht …“

Der Bauer war vollständig nüchtern geworden; er stürzte auf Domini los und packte ihn am Halse. … „Wer?“ würgte er hervor. „Red’, Kerl, oder ich erdrossel’ Dich … Red’ und gesteh’s ein, daß Du gelogen hast … oder sag’ wer?“

„Laß meinen Janker los,“ sagte Domini und schob ihn unsanft von sich. „Was fragst mich, wenn Du’s nit glauben willst? Da steht ja Deine Tochter selber … sie soll sagen, ob ich sie nicht angetroffen hab’ bei dem Schönthun und Spenzeln … sie soll sagen, ob sie’s nicht mit Deinem Knecht hat, dem Wendel …“

Der Alte brachte keinen Laut hervor, einem halb Wahnsinnigen ähnlich, stand er mit geballten Fäusten vor Christel, als wolle er die Antwort in ihren Zügen lesen, um sie dann zu Boden zu schmettern. Das Mädchen, das im Bewußtsein seiner Reinheit und Unschuld sich selber wiedergefunden hatte, überhob ihn der Mühe weitern Forschens. „Es ist mir zwar nit lieb, daß Du’s auf diese Weis’ erfahren mußt, Vater,“ sagte sie, „ich hätt’ Dir ohnehin heut’ Alles noch selber erzählt … aber es ist wahr, Vater, vor einer Stund’ hab’ ich mit dem Wendel gesprochen, da habe wir einander das Jawort gegeben. …“

„Das unterstehst Du Dich ohne mich?“ schrie der Alte. [773] „Hinter meinem Rücken? Noch dazu mit einem solchen hergelaufenen Menschen … mit einem …“

Er machte Miene, sie zu fassen, als die Thür aufging und Wendelin nichts ahnend eintrat, erhitzt vom Laufen und von der Bewegung mit den Hüglinger Burschen; kaum war der Bauer seiner ansichtig geworden, als er wie ein losgekommener Kettenhund auf ihn zusprang und ihn mitten in die Stube vor Christel hinzerrte. Der Bursche wollte fragen, was das zu bedeuten habe, aber das Mädchen rief ihm zu: „Schweig’ still, Wendel – der Vater weiß Alles, aber er will’s nit zugeben und hat mich dem Domini versprochen, aber deswegen bleiben wir doch die Alten – ich halt’ mein Wort besser als andere Leut’!“

„So? Föppeln willst mich auch noch?“ tobte der Bauer. „Jetzt will ich Dir ein Wort sagen, Madel, und das will ich besser halten, als das andere … der Domini wird Dein Mann und kein anderer kommt mir auf den Feichtenhof, eher zünd’ ich ihn an mit eigener Hand, daß er auf Grund und Boden niederbrennt! … Du gehst jetzt mit mir, Christel … ich will Dich schon verwahren und besser als bis jetzt, wo ich geglaubt hab’, ich darf Dir trauen … den nichtsnutzigen Knecht aber, der hinter meinem Rücken mit meiner Tochter anbandelt und sich in mein Sach’ hineinschleichen möcht’, den jag’ ich fort. … Da hast Deinen Lohn,“ fuhr er fort, indem er ihm eine Hand voll Thaler vor die Füße warf, „und wenn Du Dich auf tausend Schritt weit noch auf dem Feichtenhof blicken laßt, dann schieß’ ich Dich nieder, wie einen wüthigen Hund. … Mach, daß Du fortkommst, oder ich vergreif’ mich an Dir, Du Bettelkerl, Du spitzbübischer …“

„Feichtenbauer …“ stammelte Wendel, bald bleich, bald roth, beinahe sinnlos von dem ungeheuren und plötzlichen Sturz aus den Höhen des reinsten Glücks in den Abgrund völliger Vernichtung, „sag’ so was nit – ich vertrag’s nit.“ …

„Wer will mir’s wehren?“ rief der Bauer. „Ist es etwa nit wahr? Hast Du Dich nit in mein Haus geschlichen, wie ein Dieb? Hast Dich nit hineinlügen wollen, wie ein rechter Betrüger? … Aber ich hab’ mir’s gleich gedacht, denn Du hast kein Christenthum und ein solcher Mensch ist zu jeder Schlechtigkeit fähig.“ …

Wendel wäre auf ihn losgestürzt, hätten ihn nicht einige Bauern abgehalten. mit ihnen ringend rief er ihm zu: „Nimm Deine Wort’ zurück, Feichtenbauer. Ich bin arm und wenn Du mir das vorwirfst, ist das keine Schand’ für mich, aber ich hab’ nie was Unrechts gethan und bin meiner Lebtag ein ehrlicher Kerl gewesen … ich laß’ mich nit schlecht und zu keinem Spitzbuben machen und wenn’s der König oder der Kaiser wär’. … Nimm’s zurück, sag’ ich, oder es wird nit gut.“ …

Mit der Uebermacht der Verzweiflung gelang es ihm jetzt, sich loszumachen; er stürzte auf den Bauer zu – aber er erreichte ihn nicht, Christel stand abwehrend vor ihm.

„Wendel – es ist mein Vater …“ sagte sie mit voller Liebe in Ton und Blick. Aber der Verblendete hatte nicht Auge noch Ohr mehr dafür und erkannte in ihrer Abwehr nur, daß auch sie ihm entgegentrat und sich also von ihm lossagte.

„So?“ rief er außer sich, während die Anwesenden ihn umringten und zur Thür drängten. „Bist Du auch schon wider mich – ist die Ewigkeit schon vorbei und die Lieb’? Meinetwegen … aber es soll Euch geschworen sein, daß ich das nicht vergeß’!“ … Noch auf der Schwelle wandte er sich zurück und rief, die Faust erhebend und mit gellender Stimme: „Das ist Dir nicht geschenkt, Feichtenbauer – an den Spitzbuben sollst Du mir denken!“

Das Herz der armen Christel drohte in Stücke zu gehn – wie gern wäre sie dem Geliebten nachgeeilt, um ihn zu beruhigen – aber zu dem Vater rief sie die nähere Pflicht; erschöpft von den ungewohnten und übermäßigen Anstrengungen des Zorns wie der Betrunkenheit, fühlte dieser sich plötzlich von vollständiger Abspannung und Schwäche befallen. Lallend und bewußtlos brach er zusammen und mußte in ein Nebenzimmer gebracht werden, wo er erst allmählich wieder zu sich kam, um dann in tiefen betäubungsähnlichen Schlaf zu versinken.

Schweigend saß die Tochter an der Seite des Lagers und starrte durch die Thränen, die ihr Auge verschleierten, in den Regen und Sturm hinaus, mit welchem draußen ein heftiges Gewitter niederging – das unerwartet unfreundliche Ende des so schön begonnenen Tages.

Domini hatte sich längst unbemerkt davon gemacht.

Es war später Abend, als der Bauer sich so weit erholt hatte, die Heimfahrt antreten zu können. Wortlos bestiegen Vater und Tochter den Wagen, schweigend fuhren sie in die Dämmerung hinein; die Sonne war bereits im Untergehn und ließ auf den letzten Gewitterschauer, der wie ein Gürtel am Wendelstein sich hinzog, einen Regenbogen erstehen. …

Als sie zwischen finsteren Wäldern das Hügelland hinanfuhren, wo der Feichtenhof lag, war die Dunkelheit vollständig eingebrochen; nun hatten sie noch eine schwarze Waldecke zu umfahren, welche scharf umrissen in den dunkelblauen Nachthimmel hinein ragte.

„Jesus Maria! Was ist das?“ rief Christel, plötzlich zusammenschreckend. „Dort hinter dem Wald – was ist das für ein rother Schein?“

„Es ist nichts,“ erwiderte der Bauer dumpf, „der Mond wird aufgehn …“

„Nein nein,“ rief sie wieder, „für den Mond ist es zu früh … der müßte dort auf der andern Seite herauf kommen.“ …

Sie rollten um die letzte Tannenspitze.

„Heiliger Gott … es brennt … das ist der Feichtenhof,“ rief Christel; der Bauer sank mit einem dumpfen Laut in den Wagen zurück.

Vor ihm lag das stattliche Gehöft, die schöne reiche Heimath – schauerlich erhellt von den prasselnden Flammenzungen, die von allen Seiten aus Dach und Fenster hervorloderten und hoch darüber in dem schwarzen Nachthimmel wie triumphirend zusammenschlugen!




3.0 Gasselgehn.

Der Morgen stieg in voller Frische und Schönheit herauf über der verschönten und erfrischten Erde, und die Sonne kam mit so siegesgewissem Glanze, als sei es eine Unmöglichkeit, von anderen als fröhlichen Gesichtern begrüßt zu werden, als könne vor ihrer belebenben Helle keine dunkle Stelle, kein nächtlicher Flecken zurückbleiben; dennoch wollte auch vor den goldigsten Strahlen, womit sie die Baumkronen und Tannenwipfel übergoß, das unheimlich finstere Bild nicht weichen, das der Feichtenhof in seiner Zerstörung bot.

Weit herum auf der Wiesenfläche, durch welche der Weg wie durch einen Vorgarten zwischen Nußhecken, Schlehenstauden und Hagrosenbüschen zum Gebäude führte, war das schöne Gras im üppigsten Wuchse von den Füßen der zum Löschen herbeigekommenen Landleute zertreten und niedergeschleift von den Rädern der Spritzen und Wasserkufen, die rettend und helfend sich darauf herumgetummelt hatten. Näher hinan, zur rechten Seite, wo der Obstgarten lag, streckten einige mächtige Apfelbäume, an Wuchs und Edelfrucht der Schmuck und Stolz des Gehöftes, die schwarzgekohlten Aeste empor, wie Arme, welche im Ringen um Hülfe von der Vernichtung erreicht worden waren; links stieg eine riesige Fichte von seltener Schönheit hinan, ein kräftiger Stamm, den jeder Holzkundige gleich auf den ersten Blick für einen Achtziger schätzte, das uralte Wahrzeichen des Hofes, das ihm den Namen gegeben – auch sie war von der neidischen Flamme nicht verschont geblieben; die riesigen Aeste, die wie grüne Gewinde herniederhingen, waren versengt, und der heiße Athem des züngelnden Ungeheuers hatte auch den Stamm erreicht, daß die gebrannte Rinde geborsten und das geschmolzene Harz daraus hervorgequollen war, wie dunkle Thränentropfen. Mitten zwischen allen den Spuren der Vernichtung lag der eigentliche Heerd des Unglücks, das vor wenig Stunden noch so stattliche Hofgebäude, von dem nichts übrig geblieben war, als zerrissene rauchgeschwärzte Mauern, aus denen die leeren Fenster unheimlich, gleich erloschenen Augen, starrten, und um welche hie und da Trümmer des verkohlten Gebälks wie Verzierungen niederhingen, mit denen sich der Wahnsinn geschmückt; rings umher wie um den Krater eines Vulcans waren Stämme, Schutt und Gebälk gehäuft, und von innen stieg eine wirbelnde Rauchsäule empor, als schwarze Siegesfahne, die das triumphirende Element über der vollbrachten Zerstörung schwang.

Die Luft war weithin mit jenem eigenthümlichen Geruch erfüllt, welcher einen stattgehabten Brand verkündet, zumal wenn derselbe auch Futter- und Fruchtvorräthe ergriffen hat, wie sie hier in Rückgebäude und Scheune aufgespeichert gewesen und nun unter deren Trümmern verbrannt und verschüttet lagen. Die Körnerhaufen [774] und die dichtgeschichteten Halme dampften und qualmten noch und die Landleute hielten dieselben umringt als Wachen, falls die verborgene Gluth versuchen sollte, noch einmal in helle Flammen auszubrechen. Auf halb verbrannten Balken und den wenigen Stücken geretteter Geräthschaften saßen und kauerten dieselben umher, plauderten von dem raschen und wilden Verlauf des Brandes, ergingen sich in Muthmaßungen über die Art seines Entstehens und erzählten sich wechselnd die von Jedem wahrgenommenen Einzelheiten, wie das Feuer im Wohnhause und den damit zusammenhängenden Wirthschaftsgebäuden zugleich ausgebrochen sein müsse, und wie, als es den Herbeieilenden möglich geworden, den entfernt und abseits liegenden Einödhof zu erreichen, die Flammen bereits von allen Seiten emporgeschlagen hatten; wie die Knechte und Mägde beschäftigt gewesen, das Vieh in den Ställen loszumachen und herauszujagen, was dennoch nicht vollständig gelungen, weil, von der ungewohnten Helle geblendet, einige Rinder und ein paar schöne Füllen nicht herauszubringen waren, und wie schauerlich es gewesen, durch das Knistern und Prasseln der Flammen, das Getöse der stürzenden Wände und Balken, durch das Rufen der Arbeitenden, das angstvolle Blöken und Wiehern der verbrennenden Thiere hören zu müssen und ihnen nicht helfen zu können.

Etwas zurück hinter dem Obstgarten stand ein kleines, durch seine Entfernung unversehrt gebliebenes Haus, mit gemauertem Erdgeschosse, sonst aber einfach und ärmlich aus Holz gefügt; das sogenannte Zubauhaus, in welchem bei großen Gütern die Tagelöhner zu wohnen pflegen, welche ständig daselbst in Arbeit stehn und nicht selten als Hintersassen darauf geheirathet haben, das aber manchmal auch dem Besitzer als bescheidener Aufenthalt dient, wenn er das Gut den Kindern überlassen und sich „in den Austrag“ zur Ruhe begeben hat. Es bot jetzt dem Feichtenbauer eine zwar unwillkommene, aber gar nicht unwohnliche Herberge und Unterkunft. Eine Magd ging aus demselben hin und wider, um von den kargen geretteten Vorräthen den Rettern einen Morgenimbiß zu bringen, dessen sie nach einer in Arbeit und Gefahr überstandenen Nacht um so mehr bedurften, als auf die ausgestandene Gluthhitze die Morgenkühle doppelt empfindlich war und ein Glas kräftigen Kirschgeist mit einem Stück schwarzen Brodes zweifach willkommen erscheinen ließ. Die derbe vollwangige Dirne, die hochgeschürzt und mit ihren Reizen nicht kargend die Runde machte, schien durch das vorgefallene Unglück keineswegs gebeugt, obwohl, wie sie mit lachendem Munde erzählte, auch ihre ganze Habe in Rauch aufgegangen war.

„Man merkt Dir ’s an, Susi,“ rief lachend einer der Bursche, dem sie eben das Glas wieder füllte, „daß Dir Dein Gewand mit verbrunnen (verbrannt) ist … Du hast nichts mehr anzuziehen und bist bald wie Deine Namensschwester, die keusche Susanna!“

Das Gelächter, in das die leichtsinnige Dirne selbst einstimmte, brach ab und das Gespräch wurde leiser, als aus den rauchenden Trümmern eine Gestalt herangewankt kam, die wohl geeignet war, zum Ernste und zum Mitleid zu stimmen.

Es war der Feichtenbauer, auf einen Stock gestützt, gebeugt und kaum im Stande, sich aufrecht zu halten; er schien die Anwesenden gar nicht zu gewahren und starrte zu Boden, indem er mit Fuß und Stock hie und da den Schutt untersuchte und die Steine auseinander schob, als ob er etwas Verlorenes wiederzufinden hoffe.

„Dem hat die Geschicht’ auch das Kraxel herunter gethan,“ sagte halblaut einer der Bauern, der unter den Zechern des vorigen Tages gewesen war, „er sieht aus wie ein Gespenst und wird zu thun haben, wenn er sich wieder zusammenklauben will!“

„Das ist wohl kein Wunder,“ erwiderte ein Anderer, „Du thätst wohl auch zusammenklappen wie ein Taschenmesser, wenn Dir ein solcher Prachthof abgebrannt wär’!“

„Gewiß,“ sagte der Erstere wieder, „ein Unglück ist’s allemal, und der Feichtenbauer hätt’ gestern gewiß nit so herumgeworfen mit den Kronenthalern, wenn er gedacht hätt’, daß es so gehen thät! Aber ein Mann wie der kann sich leicht wieder helfen … er wird schon gut in der Versicherung sein und hat auch ohnedem Geld genug! Man weiß ja, daß er keinem Menschen einen Kreuzer gegeben und keinen Gulden ausgeliehen, sondern Alles zusammengekratzt und verscharrt hat …“

„Da schaut hin,“ rief der Andere, indem er auf das Zubauhaus deutete, in dessen Thür Christel erschien, „da kommt die Tochter! Das ist halt eine resolute Person! Es geht sie doch gerade so nahe an, aber sie laßt sich’s nit anmerken und schaut so kuraschirt und fest darein wie zuvor … nur die Backen, mein’ ich, die sind nit so röselet (rosengleich) wie sonst …“

Die Beobachtung des Bauers war vollkommen richtig, das Mädchen trug noch das stattliche Gewand des vorigen Tages, das in seiner Pracht und Zier einen traurigen Gegensatz zu der sie umringenden Zerstörung bot. Auch sie selbst war unverändert, aber ihr Angesicht war blaß und um die Augen hing ein Gewölk, welches von vergossenen Thränen erzählte und noch mehr von solchen ahnen ließ, die erst vergossen werden sollten.

Sie trat zum Feichtenbauer, der noch immer wie geistesabwesend in die rauchenden Trümmer starrte, und faßte ihn am Arm. „Komm’ herein, Vater,“ sagte sie, „die Morgenluft ist kalt und Du bist schlecht verwahrt – es könnt’ Dir schaden …“

„Schaden?“ erwiderte der Alte bitter. „Was sollt’ mir noch schaden! Ich wollt’, es hätt’ mich gleich beim ersten Anblick der Schlag getroffen, dann läg’ ich auch da bei meinem Hof und hätt’ Ruh’ und wüßt’ von Allem nichts mehr!“

„Sollst nit so reden, Vater,“ sagte sie ernst, „ich mein’, Du wärst wohl nicht in der rechten Verfassung gewesen, wenn Dich unser Herrgott gestern vor sich gefordert hätt’ durch einen jachen Tod … Er wird wohl wissen, warum er uns die schwere Heimsuchung geschickt hat …“

„Unser Herrgott? Der weiß nichts von Allem!“ rief der Bauer, einen Augenblick in seiner ganzen alten Wildheit auflodernd. „Das hat unser Herrgott nit gethan … das ist ein Spitzbub gewesen, ein Mordbrenner, von dem er so wenig weiß, als er von ihm. … Es ist jetzt Alles Eins … aber ich wollt’ barfuß bis Altötting gehn, wenn ich die einzige Gnad’ erbitten könnt’, daß ich den Böswicht in meine Hand bekäm’, den elenden! Ich muß ihn auch herauskriegen, und es ist so gut, als wenn ich ihn schon hätte … ich weiß, das hat kein anderer Mensch gethan, als der Schuft, der Wendel … er hat mir’s ja gedroht, es ist sein letztes Wort gewesen, daß ich an ihn denken soll!“

„Vater …“ sagte Christel entrüstet und zugleich von einem Gefühl unsäglicher Bitterkeit durchzuckt, die sie sich selbst nicht zu erklären vermochte, „besinn’ Dich und lad’ zu der Sünd’ und dem Unrecht nit auch eine so schwere Verantwortung auf Dich! Was der Wendel gestern gesagt hat, hat er im Zorn gesagt – in der Hitz’, wo er selber nimmer gewußt hat, was er red’t, aber wenn sie vorbei ist, ist er der beste Mensch, der keinem Kind was zu Leid thun könnt’! So was thut der Wendel nit - ich kenn’ ihn besser und steh’ gut dafür …“

„Ja, das glaub’ ich wohl, daß Du ihm die Stang’ halt’st,“ entgegnete höhnisch der Alte, „ich kann mir’s auch an den Fingern abzählen, wegen was das geschieht … aber Gott sei Dank! ein Riegel, daß er nicht wieder auf den Feichtenhof kommt, der ist ihm für alle Fäll’ geschoben!“

(Fortsetzung folgt.)




Noch ein Waldecker.

Vor etwa vierzehn Tagen wurde zu Berlin das Denkmal Schinkel’s enthüllt, des Künstlers, dessen geniale Schöpfungen eine unvergängliche Zierde der preußischen Hauptstadt sind. Das Denkmal, welches sich an der Spitze des Platzes vor der Bauakademie – jetzt Schinkelplatz – erhebt, da, wo man auf die Schloßbrücke und auf den Prachtbau des Museums blickt, Schinkel’s großartigste Leistungen, ist von Friedrich Drake gefertigt, dessen Meisterhand sich durch die Ausschmückung der Schloßbrücke gleichfalls hohen Ruhm erworben.

In demselben kleinen Fürstenthum Waldeck, welches stolz darauf ist, unserem Jahrhundert bereits zwei andere, nicht minder große Männer geschenkt zu haben – Rauch und Kaulbach – ist auch Drake geboren.

Am äußersten Ende des bekannten, reizend gelegenen Badeortes

[775] 

Friedrich Drake in seinem Atelier.

[776] Pyrmont wohnte in einer der kleinsten und ärmlichsten Hütten der Drechslermeister Drake, ein Tausendkünstler, ein mechanisches Genie, aber leider trotz seiner Begabung und seines Fleißes vom Glücke wenig oder vielmehr gar nicht begünstigt. Von ihm lernte der kleine Fritz, mitten in Noth und Armuth, spielend die Kunstgriffe des Handwerks, und bevor er noch ordentlich lesen und schreiben konnte, erfand er bereits einen Pulverkammerbohrer, womit er seinen Vater überraschte, der sich der Freudenthränen über die frühreife Erfindungsgabe des Sohnes kaum zu erwehren vermochte.

Obgleich der Knabe in Folge der schlechten Ernährung in seiner körperlichen Entwickelung zurückblieb und auch sein Schulunterricht noch mehr als mangelhaft war, fehlte es ihm nicht an geistiger Bewegung und selbst poetischen Eindrücken, denen sich sein Herz namentlich dann öffnete, wenn er Morgens in den thaufrischen, sonnenlichten Wald geschickt wurde, für die einzige Ziege trockenes Laub zu holen.

Zu diesen dichterischen Eindrücken der Natur kam das nicht minder anregende Leben und Treiben des berühmten Badeorts mit seinen vornehmen Badegästen, mit seinem trefflichen Orchester und mit dem schimmernden Theater. Namentlich das letztere übte auf den Knaben, wie auf die meisten begabten Kinder, seine mächtige Anziehungskraft. Als er einst vor dem Schauspielhause die dort aufgehangenen Gemälde und Kupferstiche eines industriellen Bilderhändlers mit großem Interesse betrachtete, erschreckte ihn plötzlich ein unbegreiflicher Lärm, der ihm aus dem Gebäude entgegen schallte. Auf sein Anfragen erklärte ihm der Kaufmann, daß in dem Theater der große Devrient aus Berlin gastire und der vermeintliche Lärm der ihm gespendete Beifall sei. Der Gedanke, daß ein Mensch so berühmt zu werden vermöchte, erschütterte den Knaben und machte den tiefsten Eindruck auf sein kindliches Gemüth. Seitdem zog ihn seine Sehnsucht wiederholt nach dem Theater, aber leider besaß er kein Geld, um sich den Eingang zu erkaufen. Da er aber wußte, daß sein Vater dem Director verschiedene Requisiten, unter Anderem eine Klystiersprttze, geliehen hatte, als die Posse „Rochus Pumpernickel“ gegeben wurde, so suchte er sich dadurch Zutritt zu dem ihm verschlossenen Kunsttempel zu verschaffen, daß er das besagte Instrument wiederholt anbot, gleichviel, ob Shakespeare’s „Hamlet“ oder Schiller’s „Don Carlos“ gespielt wurde, in dem Glauben, daß ohne besagte Spritze kein Theaterstück überhaupt denkbar sei!

Unter solchen Eindrücken und Anregungen war Fritz sechzehn Jahre alt geworden und die Zeit gekommen, wo er einen Lebensberuf wählen sollte. Auf Wunsch seines Vaters wanderte er mit dem leichten Bündelchen, das seine ganze Ausstattung enthielt, nach Cassel zu dem tüchtigen Mechanikus Breithaupt, um bei diesem das Nöthige zu lernen. Aber der Meister wies den schwächlichen, halbwüchsigen Burschen, dem er nichts Besonderes zutraute, unter dem Vorgeben zurück, daß er genug Arbeiter habe. Fritz jedoch bat so lange und inständig, bis der gutmüthige Breithaupt ihm gestattete, nach vierzehn Tagen wieder anzufragen. Um keinen Preis der Welt wäre er nach Pyrmont zurückgekehrt, lieber trieb er sich unter den schwersten Entbehrungen auf einem Dorf in der Nähe von Cassel herum. Sobald die Frist verstrichen, stand der kleine kümmerliche Geselle wieder vor der Thür des Meisters, der ihn nur zögernd und wider Willen aufnahm. Aber bald überraschte er seinen Lehrer durch Fleiß und Beharrlichkeit, welche die Haupttugenden Drake’s neben seiner genialen Begabung sind. Breithaupt räumte ihm einen Platz an seinem Familientische ein und bevorzugte ihn vor seinen gewöhnlichen Arbeitern. Nachdem er länger als vier Jahre hier verweilt, beabsichtigte er als Mechanikus nach Petersburg zu gehn.

Schon in Cassel zwar tauchte dann und wann in der Seele des heranwachsenden Jünglings der Gedanke auf, statt eines Handwerkers ein Künstler und zwar Bildhauer zu werden. Hatte er doch bereits als Knabe heimische Erinnerungen, Scenen aus der Hermannsschlacht in hölzerne Pfeifenköpfe geschnitten. Hier wandte er sich an den Hofbildhauer Ruhl, der ihm aber wohl in Anbetracht der ärmlichen Verhältnisse entschieden abrieth. Mit dem Entschluß, als Mechanikus in Petersburg sein Glück zu suchen, kehrte er nach Pyrmont in das Vaterhaus zurück, um seine Paßangelegenheiten zu ordnen, nachdem ihn eine gütige, aber unbekannte Hand von der ihm obliegenden Militärpflicht befreit hatte. Während seines Aufenthaltes half er dem Vater bei der Arbeit, die leider gerade damals so schwach ging, daß er noch viel Zeit übrig hatte. In einer dieser Mußestunden modellirte er ohne jede frühere Anweisung die Statue eines Schullehrers, der ein äußerst populärer Mann in dem Städtchen war. Das kleine wohlgetroffene Bild stellte er in das Fenster und bald sammelten sich die Bewohner, die bewundernd sogleich den beliebten Lehrer erkannten. Zugleich schnitt er einen Christus in Elfenbein, den ein fremder Badegast so schön fand, daß er statt der geforderten sechs Louisd'or ihm dafür zwölf zahlte.

Aufgemuntert durch diese Erfolge wagte er sich darauf an die Büste des dortigen Brunnenarztes Mundhenk, der sich stets der Familie Drake als ein freundlicher Gönner und Wohlthäter erwiesen hatte. Dieser war von seinem Bilde so sehr befriedigt, daß er unwillkürlich ausrief: „Ach! wenn Sie zu meinem berühmten Vetter Rauch nach Berlin kommen könnten!“ Diese unabsichtlichen Worte waren entscheidend für Drake’s Lebenslauf und schlugen wie ein Blitz in seine Seele. Sein Entschluß stand jetzt fest: er wollte Bildhauer werden und unter Rauch’s Anleitung sich zum Künstler bilden. Zu diesem Behufe schickte er dem berühmten Landsmann als Probearbeit eine kleine Statue, mit der Bitte, dieselbe zu beurtheilen und, wenn er sie gut finden sollte, ihn unter die Zahl seiner Schüler aufzunehmen. Als eine zustimmende Antwort erfolgte, reiste Drake nach Berlin, wo ihm Rauch den Eintritt in sein Atelier unter der Bedingung gestattete, daß der junge Eleve auf drei Jahre die nöthigen Subsistenzmittel aufweisen sollte.

Damit sah es freilich traurig aus, da Fritz im Ganzen nur über achtzehn baare Thaler zu verfügen hatte, mit denen er drei Jahre auskommen sollte. Zunächst fand er bei einem Landsmann, einem Tischler, eine Schlafstelle auf den Hobelspähnen der Werkstätte und später in dem kleinen dunkeln Gemüsekeller, wo er sein Lager mit Ratten und Mäusen freundschaftlich theilte, ohne sich in seinem gesunden Schlafe stören zu lassen. Das war freilich etwas, aber nicht viel. Das Glück ließ ihn jedoch bald die Bekanntschaft eines wohlhabenden Beamten machen, der sich in seinen Mußestunden mit mechanischen Arbeiten beschäftigte. Drake führte sich bei ihm als Liebhaber der Mechanik ein, gestand aber dem braven Manne seine Noth, worauf dieser ihm das Anerbieten machte, ihm gegen freie Wohnung und Kost bei seinen Arbeiten zu helfen, was natürlich mit dem größten Danke angenommen wurde.

Auch mit seinem berühmten Lehrer Rauch gestalteten sich die Verhältnisse täglich freundlicher. Der Meister zog den armen, schüchternen Schüler in sein Haus, wo dieser zum ersten Mal den Reiz einer höheren Geselligkeit kennen lernte. In dem Atelier arbeiteten verschiedene junge Männer, mit denen er sich bald befreundete. Vor Allen ragte schon damals der geniale Rietschel hervor, dessen höfliches, freundlich anschmiegendes Wesen zwar Drake anzog, während eine gewisse Verschiedenheit der Charaktere und des Bildungsganges keine innige Berührung aufkommen ließ. Trotzdem vertrugen sich Beide auf das Beste, wie folgende kleine Geschichte beweist. Nach gethaner Arbeit reinigten die Schüler ihre von Thon beschmutzten Hände in einem gemeinschaftlichen Becken. Während Drake sich wusch, bemerkte er an der Wand einen Zettel, den einer der Schüler angeheftet hatte. Zuerst summend, dann laut mit volltönender Stimme sang er den Zettel ab, der verschiedene Anzeigen enthielt: Tinte, Stiefelwichse, bairisch Bier, trockne Pflaumen, Federn und Papier. Rietschel, der daneben stand und wartete, stimmte mit ein; es bildete sich eine Art Wechselgesang, der, ohne daß die jungen Leute eine Ahnung hatten, zahlreiche und vornehme Zuhörer fand, da ein königlicher Prinz gerade das Atelier besuchte und die scherzhafte Production in allem Ernst für eine ihm erwiesene Huldigung hielt, für die er sich bei Rauch ausdrücklich bedankte.

Drake lebte nur seinem Beruf; am Tage arbeitete er für Rauch und des Nachts für sich an einem „Relief der Hermannsschlacht“. Dieses war fast vollendet, als eines Nachts in seiner Wohnung, die er mit einem armen Studenten theilte, Feuer ausbrach und nicht nur die Arbeit vieler Monate, sondern seine sämmtlichen Habseligkeiten zerstörte. Aber gerade das Unglück sollte dazu dienen, eine günstigere Wendung in seinem Schicksal herbeizuführen. Der edle Rauch, von Drake’s traurigen Verhältnissen unterrichtet, bot ihm in seinem Hause eine kleine Wohnung an, wodurch der junge Künstler in den Stand gesetzt wurde, seinen Lieblingswunsch auszuführen, nämlich seine Schwester aus Pyrmont kommen zu lassen und mit ihr gemeinschaftlich zu wirthschaften. [777] Freilich mußte der kleine Haushalt mit zehn Thaler monatlich bestritten werden. Was ihm an Möbeln fehlte, ersetzte er durch selbst angefertigte Sculpturen. Seine schöne Schwester besorgte die Küche und diente ihm als Modell, wobei sie sich mit der alten Bettdecke drapirte.

Aber in dem kleinen, ärmlichen Stübchen wohnte Glück und Zufriedenheit; Abends erschienen die Freunde, der seitdem als Dichter und Maler bekannte Reineck, der spätere Oberbaurath Strack, und der verstorbene Dichter und Kunsthistoriker Kugler, ferner Herr von Quast, Plüddemann und Lüderitz; selbst ein griechischer Fürst ließ sich einführen. Während die Herren sich geistvoll unterhielten, bereitete die Schwester in der Küche den berühmten westphälischen Eierkuchen zu dem Kugler die Butter selbst lieferte.

Sobald Drake ein regelmäßiges Gehalt von Rauch bezog, ließ er auch seinen kleinen Stiefbruder nachkommen, für dessen Erziehung er Sorge trug. Leider wurde das schöne Familienleben durch eine lebensgefährliche Gehirnentzündung des jungen Künstlers gestört, die jedoch der sorgfältigen Behandlung des Geheimrath von Gräfe und dessen Assistenten Doctor Angelstein wich. Kaum genesen, folgte Drake seinem Lehrer Rauch nach München, um dort das Maximilians-Denkmal aufzustellen. Hier kam er mit Kaulbach, Schwanthaler und Cornelius in Berührung, dessen Medaillon-Portrait in kolossaler Größe er daselbst anfertigte. Wahrscheinlich in Folge der vorangegangenen Krankheit entwickelte sich eine geistige Schlaffheit und Unlust an jeder anstrengenden Arbeit, von der ihn Rauch in eigener Weise heilte. Nachdem er Drake einige Zeit still beobachtet hatte, theilte er ihm mit, daß die königliche Porcellan-Manufactur in Berlin das Ansuchen gestellt habe, ihr einen jungen Mann zu empfehlen, der für seine Arbeiten jährlich tausend Thaler beziehen sollte. Zugleich machte ihm Rauch die Proposition, diese einträgliche Stelle anzunehmen. Drake stand tief beschämt, indem er zwar das Wohlwollen, aber auch die geringschätzige Meinung des Lehrers von seinem Talent erkannte. Wie mit einem Schlage erwachte er aus seiner Apathie und dankte dem seelenkundigen Meister durch verdoppelte Thätigkeit.

Bald darauf gelangte an Rauch eine Anfrage aus Osnabrück wegen Anfertigung eines Denkmals für den patriotischen Schriftsteller Justus Möser. Er empfahl zu diesem Zwecke seine beiden besten Schüler Rietschel und Drake, mit dem Bemerken, daß Letzterer die Absicht habe, in seine Heimath Pyrmont zu reisen, weshalb eine Besprechung mit ihm sich leichter machen würde. Dieser Umstand gab den Ausschlag, so daß Drake gewählt wurde. Bevor er aber seine Reise antreten konnte, erhielt er die Nachricht von dem Tode seines Vaters, den er tief betrauerte.

Indessen wurde der Vertrag mit Osnabrück abgeschlossen, und die Statue Möser’s, die erste selbstständige Arbeit des Künstlers, öffentlich enthüllt. Die Ankunft Drake’s in seiner Vaterstadt, wurde mit einer Festvorstellung im Theater und mit einem Fackelzug gefeiert. Er aber mied die rauschenden Ehrenbezeigungen und schlich sich still und unbemerkt fort, um auf dem Grabe des geliebten Vaters zu weinen, dem es nicht vergönnt war, den Triumph des Sohnes zu erleben. Jetzt erst sah sich Drake in den Stand gesetzt, Italien und vor Allem Rom zu sehen. Kaum dort angelangt, eilte er zu dem großen Thorwaldsen, an den ihn Rauch empfohlen hatte. Er fand den berühmten Meister im alten Schlafrock, der stelleweise durchlöchert war. Der Empfang war kühl und abgemessen; Thorwaldsen steckte den Empfehlungsbrief von Rauch ungelesen in die Tasche. In seiner Verlegenheit, da er nicht wußte, was er mit seinem Besuch anfangen oder sprechen sollte, öffnete er eine Tischschublade, um Drake seine geschnittenen Steine zu zeigen, von denen er eine ansehnliche Sammlung besaß. In echt künstlerischer Unordnung lagen da Gemmen, Ordenssterne der verschiedensten Potentaten, Zeichnungen, Entwürfe bunt durcheinander. Da der berühmte Wirth nicht gleich den gesuchten Stein fand, warf er ein Paket Zeichnungen heraus, wobei der Zufall es wollte, daß ein mitfliegender Kupferstich zu Goethe’s römische Elegien ihm in die Hände fiel, den er jetzt aufmerksam betrachtete. „Sehen Sie,“ sagte Thorwaldsen, „das ist eine ausgezeichnete Composition, wenn auch der Künstler die Ausführung noch nicht ganz versteht - die Composition ist aber trefflich.“ Darauf erwiderte Drake, höchst erregt, daß er sich dieses Ausspruches mehr erfreue, als wenn ein Fürst ihm einen Orden verliehen hätte, da die Zeichnung von ihm selbst herrühre. Da sprang Thorwaldsen auf, reichte Drake die Hand und begrüßte ihn erst jetzt als wahren Freund und Kunstgenossen.

Ein Jahr weilte Drake in Rom, mehr um zu sehen, als um zu arbeiten. Mit dem Studium der Kunst wechselten die heiteren Ausflüge und Feste in der Umgebung ab, wobei es nicht an manchem interessanten Abenteuer fehlte. Zugleich öffnete sich ihm das gastliche Haus des geistvollen preußischen Gesandten Herrn von Bunsen, vor Allem aber die Kreise der Künstler, wo er Freunde für das Leben fand. Erfrischt und angeregt kehrte er 1838 nach Berlin zurück, um als selbstständiger Meister seine Laufbahn zu verfolgen. Neben Rauch erhielt er ein eigenes Atelier im königlichen Lagerhause. Hier arbeitete er zunächst die „Gruppe des sterbenden Kriegers“ und das „Medaillon der Charitas“, welche Friedrich Wilhelm der Vierte kaufte. Unzählige Bestellungen, besonders von Büsten berühmter Männer, wie Neander, Alexander und Wilhelm von Humboldt, welche dem Künstler die höchste Anerkennung zollten, nahmen seine Zeit fast ausschließlich in Anspruch, so daß Rauch bei einem Besuche ihm ironisch sagte: „Sie bekommen in dieser Beziehung einen erschrecklichen Ruf.“

Eine noch würdigere Aufgabe wurde ihm zu Theil, als die Stadt Berlin ihn mit der Ausführung des Denkmals für den verstorbenen König Friedrich Wilhelm den Dritten betraute, das gegenwärtig zu den sehenswürdigsten Kunstwerken der Hauptstadt zählt. Unstreitig ist diese Statue mit dem wunderbar schönen Kranz von Reliefs die originellste und zugleich die populärste Schöpfung der modernen Bildhauerei.

Fast gleichzeitig mit dieser genialen Marmorarbeit schuf er die reizenden „Chorknaben“ an der Schloßkirche zu Wittenberg, die lieblichsten Kindergestalten voll holder Naivetät, entzückender Anmuth und frommer Andacht. Ende der vierziger Jahre erhielt er den Auftrag, zur Ausschmückung der Schloßbrücke die „Gruppe des durch den Sieg gekrönten Kriegers“ zu bilden, die sich durch ihren großartigen, energischen Charakter auszeichnet. Daneben arbeitete er die wohlgelungene Statuette des ihm befreundeten Dichters Scherenberg und das Standbild seines Lehrers Rauch, das die Halle des von Schinkel erbauten Museums ziert. Später wurde zu dem dreihundertjährigen Stiftungsfest der Universität Jena die Statue des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen bei ihm bestellt, nachdem Rauch den Auftrag abgelehnt hatte. Bei dieser Arbeit boten die kolossalen Körperformen des frommen Fürsten fast unüberwindliche Schwierigkeiten, die jedoch Drake mit gewohnter Energie zu überwinden wußte. In verhältnißmäßig kurzer Zeit schuf er das Werk, worauf er das Monument für den Fürsten von Putbus und die acht trefflichen Reliefs, das Wirken der Kunst, Industrie und Wissenschaft darstellend, für das Standbild des genialen Beuth folgen ließ. In nächster Zeit arbeitete er an dem Denkmal für Friedrich Wilhelm den Dritten in Colberg, an der kolossalen Statue Melanchthon’s für Wittenberg, an dem Mausoleum der verstorbenen Herzogin von Nassau, an dem Reiterstandbild des regierenden Königs von Preußen und an dem Denkmal für Schinkel, das zu den gelungensten Werken des Künstlers zählt.

Eine solch’ rastlose Thätigkeit hatte auch den verdienten Lohn gefunden; von Jahr zu Jahr verbesserte sich die finanzielle Lage des Künstlers, so daß es ihm vergönnt war, sich ein eigenes Haus in der Schulgartenstraße zu bauen, das er mit den hoheitvollen Gestalten der Künste als Trägerinnen des Balcons schmückte. Zugleich räumte ihm der kunstliebende König Friedrich Wilhelm der Vierte ein eigenes Atelier in der schönsten Gegend des Thiergartens ein, wo der Künstler ungestört seine herrlichen Schöpfungen entwerfen und bilden kann. Nachdem Drake großmüthig für seine armen Geschwister gesorgt, durfte er sich eine eigene Häuslichkeit gründen. Er heirathete ein junges Mädchen aus einer Bürgerfamilie Berlins, die ihm sechs Kinder schenkte, aber leider nach zehnjähriger Ehe starb. Im Jahre 1859 erfolgte seine zweite Vermählung mit der Gräfin Marie Waldeck; an ihrer Seite besuchte der Meister seine Vaterstadt, wo Beide unter so verschiedenen Verhältnissen, er als Sohn des armen Drechslers, sie als Tochter des hohen Fürstenhauses, dem Pyrmont gehörte, ihre Jugend verlebte. Vereint wanderten die glückliche Gatten zu dem Häuschen, wo einst Drake’s Eltern wohnten; es war verschwunden. Ein Schuhmacher hatte ein stattlicheres Haus auf der Stelle erbaut, doch die Pietät besessen, neben seinem Emblem, [778] dem Stiefel, welcher über der Thür eingehauen war, die Worte zu setzen: „Hier wurde Friedrich Drake geboren.“

Auch das Grab des geliebten Vaters suchte er vergebens; es war vergessen. Unwillkürlich erfaßte eine tiefe Trauer die Seele des Künstlers, als die Vergänglichkeit des Irdischen sich ihm aufdrängte, aber bald erhob ihn wieder der Gedanke, daß seine Heimath die ganze Welt und die Unsterblichkeit der Lohn des Genius sei.

Max Ring.     




Der Khedive.

Der Vicekönig ein guter Kaufmann. – Der Aufschwung der ägyptischen Städte. – Persönlichkeit des Khedive. – Der Minister des Khedive. – Ismail als Speculant. – Zwei Thronprätendenten. – Mustapha Pascha. – Halim Pascha. – Persönliche Liebenswürdigkeit des Vicekönigs. – Zukunft des Landes.

Wenn in den jüngsten Tagen der Kronprinz von Preußen, Kaiserin Eugenie, der Kaiser von Oesterreich und eine Reihe anderer höchster und hoher Persönlichkeiten mit einem Schweife von Diplomaten und Höflingen, von Künstlern und Gelehrten, Touristen und Journalisten – den immer schlagfertigen Notenschreiber Beust an der Spitze – sich um den derzeitigen Beherrscher des alten Pharaonenlandes sammelten, um die Vollendung eines Werkes zu feiern, welchem dieser selbst vormals den gehässigsten Widerstand entgegengesetzt hat, – wenn schon so viel vornehme Welt zu den plötzlich fashionable gewordenen Gewässern des Niles pilgerte, dann darf auch die „Gartenlaube“ nicht säumen, ihre Leser wenigstens im Geiste zu dem Manne zu führen, an dessen Hofe sich eine so glänzende Gesellschaft bewegte.[1]

Ismail ist bekanntlich der Sohn Ibrahim Pascha’s und der Nachfolger seines Onkels Said Pascha, aber mit keinem von Beiden besitzt er auch nur die geringste Charakterähnlichkeit. Ibrahim war ein kühner, derber Soldat, der immer gerad’ auf sein Ziel losging, Said ein milder, großherziger Regent, voller Begeisterung für seinen Beruf (wenigstens anfangs, ehe Täuschungen aller Art ihm, so zu sagen, das Herz brachen), jedenfalls der menschlich liebenswürdigste der gesammten Familie, Ismail gleicht an Ehrgeiz und Verschlagenheit mehr dem Gründer seiner Dynastie, seinem Großvater Mehemed Ali. Seine hervorragendste Eigenschaft ist ohne Zweifel sein außerordentliches Talent zu mercantilischen Speculationen. Hätte ihn das Geschick nicht zufällig zum Herrscher von Aegypten gemacht, so würde der Khedive unbestritten einen vortrefflichen Baumwollspeculanten von New-Orleans, einen erhabenen Börsenkönig, einen großen Eisenbahndirector und Getreidelieferanten abgegeben haben; denn selbst als Vicekönig hat er nach einander in allen diesen verschiedenen Rollen figurirt und mit dem Umfang und der Einträglichkeit seiner Operationen die bedeutendsten Handelsmatadore in den Schatten gestellt.

Mit vollem Rechte kann man daher Ismail Pascha als einen Kaufmannsfürsten bezeichnen, zugleich als den eifrigsten Schutzzöllner, welcher jemals existirt hat. Da er in Einer Person und zu gleicher Zeit Landwirth – und ein wirklich ausgezeichneter –, Producent, Exporteur, Gesetzgeber und erster Inspector der Eisenbahn- und Wassercommunicationen ist, so kann er Production, Transport und Preise ganz seinen Interessen gemäß regeln und die gesammte Volkswirthschaft Aegyptens monopolisiren. Reichlich ein Viertel des ertragsfähigen Grund und Bodens seines Reiches, hauptsächlich Baumwoll- und Zuckerländereien, gehört ihm als Privateigenthum, indem er die kleinen Besitzer zwang, ihre Ländereien ihm zu verkaufen; die Arbeitslöhne werden ausschließlich nach seinem Gutdünken normirt – oft genug zahlt er auch gar keine, wenn es ihm gerade so beliebt – und derart ist er billiger zu produciren im Stande, als irgend einer seiner Concurrenten. Weil ferner das Transportwesen einzig und allein von seinen Befehlen abhängt, so beherrscht er den Markt unumschränkt, – seine Erzeugnisse haben ja jederzeit bei der Beförderung den Vorzug vor allen anderen, und auf einen Wink von Seiner Hoheit sind willfährige Beamte in Menge bereit, den Transport von Producten seiner Rivalen zu verzögern oder nach Umständen ganz und gar zu hintertreiben. Endlich ist er der persönliche Eigenthümer einer ansehnlichen Flotille von Stromschiffen, welche den hohen Wasserzöllen und anderen sehr mannigfaltigen schweren Abgaben nicht unterliegen, die alle übrigen Fahrzeuge zu entrichten haben. Mit Einem Worte, die Gesetze, welche in Aegypten der Freiheit der Bewegung und des Verkehrs so hemmende Fesseln anlegen, sind für ihn nicht vorhanden.

Auf diese Weise kann man sich denken, daß dem Khedive Jahr aus Jahr ein enorme Erträgnisse in die Tasche fallen müssen, über die wirkliche Höhe dieser Summe fehlt es indeß an einem genauen Nachweis. Wohl aber giebt die erstaunliche Entwicklung, deren die Ausfuhr Aegyptens sich seit einer Reihe von Jahren erfreut, einen ungefähren Begriff von dem jährlichen Gewinn des Vicekönigs, denn weit über die Hälfte des Exports, der zum Beispiel in vier Jahren, von denen zwei noch auf die Regierung Said’s fallen, von 1862 bis 1865 inclusive, mehr als zweihundertundvierzig Millionen Franken betrug, kommt auf seine Rechnung. Mit dieser rapiden Entwicklung des Exports hat die Bevölkerungszunahme, namentlich in den größeren Städten des Landes, gleichen Schritt gehalten und selbstverständlich gleichfalls zur Erhöhung von Ismail’s Revenüen beigetragen. Als im Jahre 1854 Said den viceköniglichen Thron bestieg, zählte Alexandria nicht mehr als achtzigtausend Einwohner; im Jahre 1865 hatte es bereits zweimalhunderttausend, von denen die volle Hälfte Nichtägypter waren. Cairo, in welchem 1854 noch keine dreimalhunderttausend Menschen wohnten, umschließt heute über viermalhunderttausend, darunter, mit Einschluß der Griechen, etwa fünfundfünzigtausend Europäer.

Als Ismail noch nicht Khedive war – erzählt ein amerikanischer Publicist – ehe er noch Aussicht auf den Thron hatte, und nachmals, nach dem Tode seines älteren Bruders Achmed, wo er sich bereits die Herrscherlaufbahn erschlossen sah, bin ich viel mit ihm zusammen gekommen. Damals war er eine ganz angenehme Erscheinung, besser unterrichtet als die Mehrzahl der Orientalen, mit verbindlichem Wesen und feinen Manieren, mit vollkommener Geläufigkeit und Bequemlichkeit sich der französischen Sprache bedienend, glich er in Kleidung, Sitten und Unterhaltung einem eleganten und gebildeten Franzosen. Er trug ausschließlich europäische Tracht; von den Spitzen seiner feinen Lackstiefeln bis zu seinen tadellos geschnittenen Pantalons und zu seinem gut sitzenden Fracke hätte er im Bois de Boulogne und im Hyde-Park für das Muster eines tonangebenden Cavaliers gelten können. Die einzige Andeutung seiner morgenländischen Abstammung blieb sein rother Tarbusch oder Fez, aber sein Kopf war nicht geschoren wie bei anderen Bekennern des Islam. In seinem Palaste nahm er diese Mütze gern ab, und man sah dann sein kurz geschnittenes röthliches Haar, welches, im Verein mit seiner lebhaften Gesichtsfarbe, ihm ein entschieden europäisches Aussehen gab.

Wer den jetzt zur Corpulenz neigenden Mann von Mittelgröße mit den beweglichen hellbraunen Augen zum ersten Male erblickt, dem wird er so wenig türkisch wie nur möglich erscheinen. Bei näherer Bekanntschaft freilich wird man inne, daß die ausländische Cultur, das vielfache Reisen und Leben im Occidente blos äußere Erscheinung und Manieren, nicht aber Natur und Wesen des Khedive verändert haben. Er ist scharfblickend und vernünftig genug, um einzusehen, daß es ein Ding der Unmöglichkeit ist, die europäische Civilisation zurückzudrängen oder auch nur stauen zu wollen, die sich gleich einer Hochfluth durch die Schleußen ergießt, welche ihr Mehemed Ali und später Said Pascha in Aegypten geöffnet haben, aber er hat sie mehr zu seinem eigenen persönlichen Vortheil, als zur Wohlfahrt seines Reiches und Volkes


  1. Im Interesse unserer Leser, die im Laufe dieser Tage von allen Zeitungen und Wochenschriften mit „Aegyptischen Reisebriefen“, „Bilderbogen aus Aegypten“, „Briefen vom Nil“ und wie sich alle die officiellen und nichtofficiellen Berichte über die Feierlichkeiten in Suez betiteln, überschwemmt werden, glaubten wir bezügliche Anerbieten unseres Specialcorrespondenten in Alexandrien, sowie zweier bekannter Reisenden ablehnen zu müssen; wir bringen daher keine enthusiastischen Berichte über das von einigen kühler Denkenden entschieden mißtrauisch betrachtete Unternehmen und über die durch seine Inauguration veranlaßten Festlichkeiten, bieten aber später unsern Lesern, deren Interesse für ägyptische Verhältnisse durch die Ereignisse der letzten Zeit doch wachgerufen sein mag, einzelne Bilder des dortigen Lebens aus der Feder unseres Specialberichterstatters. D. Red.     

[779] zu benützen gesucht. Selbst die Handels- und Verkehrserleichterungen und die Milderung der Lage der armen Fellahs, welche unter Said eingetreten waren, sind von Ismail factisch wieder aufgehoben worden. Die Masse der Nation, die drei und eine halbe Million eingeborener Aegypter, schmachtet noch heute, kaum das nackte Leben fristend, in einem unbeschreiblichen materiellen und geistigen Elende.

Ein durch und durch praktischer Mann, ist Ismail viel schwieriger zu behandeln, als sein ungestümerer und weniger überlegender Vorgänger. Was Findigkeit und zähe Schlauheit betrifft, so können unsere gewiegtesten Diplomaten bei dem Khedive in die Schule gehen, wie er denn auch in verschiedenen Differenzen mit europäischen Mächten schließlich den unbestrittenen Sieg davongetragen hat. Allerdings besitzt er in seinem ersten Minister einen unvergleichlichen Gehülfen und Förderer seiner Pläne, einen Mann, der durch seinen erfinderischen Kopf und seine gewandte Feder für Aegypten und dessen Regenten das geworden ist, was in seinen Blüthentagen Reschid Pascha dem Sultan war. Obschon von Geburt ein armenischer Christ, also von vornherein mit den schwersten socialen Hemmnissen kämpfend, hat sich Nubar Pascha, durch sein überlegenes Talent und seine ungewöhnliche Bildung, doch schon als junger Mann erst Said und dann Ismail bei ihren heikelen Verhandlungen mit den europäischen Mächten und deren Geschäftsträgern in Aegypten unentbehrlich zu machen verstanden. Die hauptsächlichsten der modernen Sprachen sprechend oder doch verstehend und von Kindheit an für das diplomatische Handwerk geschult, schwang sich Nubar Pascha von einem untergeordneten Posten im Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten unter Abbas Pascha, unter dessen Nachfolger Said rasch zum Premierminister auf, welchen Posten er auch heute unter Ismail noch bekleidet.

Nubar Pascha’s äußere Erscheinung hat etwas ungemein Ansprechendes. Sein südlich dunkeles Gesicht ist rund und voll mit regelmäßigen Zügen und glänzenden schwarzen Augen. Die beständig lächelnde Lippe und die immer glatte, unbewölkte Stirn des Mannes lassen nicht ahnen, welche Schlauheit und Energie sich dahinter versteckt, denn, gleich allen hohen Würdenträgern des Ostens, heuchelt auch Nubar Pascha eine Apathie und Indolenz, die seinem eigentlichen Wesen ganz fremd sind. Seine Sprachfertigtet kommt dem polyglottischen Talente des Cardinals Mezzofanti nahe; theils im Abendlande, theils in Constantinopel erzogen, spricht er fast eine fremde Sprache so gut wie die andere. Der Erbe eines enormen Vermögens, hat er dasselbe durch glückliche Speculationen noch beträchtlich zu vergrößern gewußt und ist gegenwärtig unter den reichen orientalischen Paschas wahrscheinlich einer der allerreichsten. Zu seiner Ehre sei aber bemerkt, daß er seine Carriere nicht etwa der Apostasie verdankt, vielmehr hat er sein Christenthum niemals verleugnet und schwört bis heutigen Tages zu dessen Fahne.

Zwei Eigenschaften machen sich in Ismail’s Charakter die Herrschaft streitig: seine Geldgier und sein Ehrgeiz. Die erstere hat ihn zum größten Pflanzer und Kaufmann des Landes werden lassen, zum Bankier, Speculanten und Monopolisten, und anstatt seinen Reichthum in fürstlichen Passionen und Festlichkeiten zu vergeuden, wie es Said zu thun liebte, ist er so klug gewesen, Schätze auf Schätze zu sammeln und durch ganz Aegypten sich Grundbesitz zu erwerben, so daß er in seinem Reiche geradezu für geizig gilt. Als Baumwoll- und Zuckerproducent hat er ein ganz besonderes Talent für mercantilische Speculation an den Tag gelegt und jedweden Vortheil seiner Stellung auf das Geschickteste auszubeuten verstanden.

Zur Zeit, als die Viehseuche so ziemlich alle Lastthiere Aegyptens dahinraffte, führte der Vicekönig ungeheure Mengen der letztern ein und verkaufte sie mit hohem Nutzen. Sein ganzer Import ging ohne Quarantäne ein und war von Zöllen und Abgaben jeglicher Art befreit, so daß jede ausländische Concurrenz völlig ausgeschlossen und ihm das Monopol der Lieferungen blieb. Auch in englischen Steinkohlen soll er höchst glücklich speculirt haben; ägyptische Staatsschiffe mußten den Transport derselben frachtfrei übernehmen, so daß für Ismail auch hierbei ein ganz erklecklicher Gewinn abfiel, denn die jährlich aus England nach Aegypten gehenden Steinkohlen belaufen sich auf ein Quantum von nahezu viermalhunderttausend Tonnen.

Die Behandlung der Fellahs, welche unter unerbittlichen Aufsehern die ausgedehnten Ländereien des Khedive bebauen müssen, ist eine wahrhaft empörende. Früh und spät werden sie mit der Peitsche zur Arbeit angehalten. Ismail’s Reichthum ist mithin buchstäblich dem Schweiß und Blut seiner unglücklichen Unterthanen abgepreßt worden. Factisch sind sie Sclaven, wenn sie schon officiell nicht so heißen. Jene menschenfreundlichen internationalen Bestrebungen, die sich die Ausrottung des Sclavenhandels am weißen Nil zum Ziele gesetzt haben, kommen ihnen also nicht zu gute.

Die andere Charaktereigenschaft des Vicekönigs – jener intensive Ehrgeiz, welcher als Erbstück von Mehemed Ali auf ihn übergegangen ist und bei Said Pascha die größeren Verhältnisse des Patriotismus angenommen hatte – brennt in seiner egoistischeren Brust wie ein verzehrendes Feuer. Dieser Ehrgeiz hat ihn auch nicht ruhen und nicht rasten lasten, als bis er endlich das Ziel erreicht sah, welches der Lieblingstraum schon sämmtlicher seiner Vorgänger war, für welches sie Alle die unsäglichsten Opfer gebracht, die unerhörtesten Anstrengungen gemacht haben, ohne je reussiren zu können – die Thronfolge in der directen Linie seiner männlichen Nachkommenschaft.

In Aegypten, wie noch heute in der Türkei, war nämlich nicht der älteste Sohn des jedesmaligen Regenten der künftige Erbe des Thrones, sondern der älteste männliche Sprosse der Dynastie überhaupt, und der Umsturz dieser durch altes Gesetz geheiligten Bestimmungen, welchen Ismail schließlich durchgesetzt hat, muß eben so wohl als ein bedenkliches Wagestück von Seiten des Sultans als für ihn selbst betrachtet werden; denn in dem Ferman, das Aegypten als ein erbliches Paschalik erklärte, war dieses alttürkische Nachfolgegesetz ausdrücklich hervorgehoben und seit dem Vertrage zwischen der Hohen Pforte und Mehemed Ali, welchen die europäischen Großmächte garantirt hatten, immer gewissenhaft befolgt worden.

Ismail Pascha ist indeß möglich geworden, was seinen Vorgängern unmöglich war; die Pforte hat seinen Sohn als den künftigen Khedive anerkannt und bis jetzt keine der Großmächte einen Einspruch wider die willkürliche Verletzung einer Vertragsbestimmung erhoben, eben so wenig aber auch einer der geschädigten Prinzen gegen den Act protestirt. Stillschweigen ist jedoch nicht allemal gleichbedeutend mit Einwilligung, am allerwenigsten im Orient, wo man an die Löwenhaut, falls sie nicht zureicht, gern ein Stückchen Fuchspelz anzustücken pflegt. Nach dem alten Gesetz hätten die nächste Anwartschaft auf die Nachfolge in Aegypten gehabt: Mustapha Pascha, der Bruder, und Halim Pascha, der Onkel Ismail’s, der Erstere blos sechs Wochen, der Letztere nur zwei Monate jünger als der derzeit regierende Vicekönig, dessen Sohn erst zehn Jahre alt ist. Diese beiden Prinzen sind gleich gescheidte Männer, sehr populär im Lande und stützen sich auf eine mächtige Partei. Wenn sie für jetzt schweigen, so geschieht dies lediglich aus Furcht vor unliebsamen Maßnahmen, die sie treffen würden, wollten sie ihre Ansprüche geltend machen. Mustapha Pascha erfreut sich des Vorzugs europäischer Bildung in höherem Maße als alle anderen Mitglieder seiner Familie. Er hat einen großen Theil von Europa bereist und lebt viel in Paris, wo er in der besten Gesellschaft verkehrte, namentlich in literarischen und künstlerischen Kreisen. Ein Mäcen von Kunst und Wissenschaft, zeichnet er sich durch eine wahrhaft fürstliche Freigebigkeit aus. Auch in Constantinopel hat er sich längere Zeit aufgehalten und hohe Aemter unter der türkischen Regierung bekleidet. Aber er ist bekanntlich ein Reformer und das anerkannte Haupt der „jungtürkischen“ Partei; darum hat ihm der Sultan, welcher die Reform nur auf dem Papier liebt, seine Gnade, seine Aemter und seinen Einfluß entzogen. Ja, die Erbitterung, die den Großherrn gegen ihn ergriff und welche die den schwachen Monarchen in ihren Banden haltende alttürkische Partei immer von Neuem zu schüren suchte, hat ohne Zweifel eben so viel wie die reichen Spenden Ismail’s dazu beigetragen, daß dieser Letztere die Umstoßung des alten Successionsgesetzes endlich glücklich erwirkte.

Gleich dem türkischen Botschafter Dschemil Pascha ist auch Mustapha ein ausgesprochener Liebling der Pariser Damen und sein rother Tarbusch in jedem vornehmen Salon eine willkommene Erscheinung, wo sein ausgezeichnetes Conversationstalent den Vergleich mit den gesuchtesten „Causeurs“ der modernen Pariser Gesellschaft nicht zu scheuen braucht. Eben so hat er sich von jeher durch seinen Hang zur Intrigue hervorgethan, und seine Schlauheit, [780] seine Kühnheit und sein Muth sind so unbeugsam wie sein Wille. Ein solcher Mann kann sich wohl verstellen und seine Zeit und Gelegenheit abwarten, wird aber gewiß nicht, zahm und schwach, ohne Weiteres einem ungesetzlichen Act fügen, der ihn von einem Throne ausschließt, welchen er von der Stunde seiner Geburt an als sein rechtmäßiges Erbe betrachten mußte. Und selbst, wenn Ismail’s Sohn einmal wirklich den Thron seines Vaters besteigen sollte, so dürfte es ihm kein Leichtes sein, sich darauf zu erhalten. Gerade das Stillschweigen und die scheinbare Unterwerfung Mustapha Paschas thun Allen, die seinen Charakter kennen, untrüglich dar, daß er sich schon einen festen Plan vorgezeichnet hat, um damit hervorzutreten, sobald die Stunde zum Handeln da ist.

Vom Prinzen Halim Pascha laßt sich eine geduldige Unterwerfung unter Ismail’s Dictat noch viel weniger erwarten. In seinen Adern fließt das unbezähmbare Blut der Wüstenbeduinen, denen seine Mutter - eine von Mehemed Ali’s Frauen in dessen alten Tagen - angehört. Mit den Kennzeichen dieser wilden Race in Gestalt und Antlitz hat er auch ihre geistigen Eigenthümlichkeiten, ihre unüberwindliche Freiheitsliebe, ihre Treue in der Freundschaft und ihre Unversöhnlichkeit im Hasse geerbt. Durch ganz Aegypten und Syrien ist er selbst unter diesen geborenen Centauren, den Beduinen, als vollendeter Reiter berühmt. Seine Hauptleidenschaft ist die Jagd, und seine Lieblingserholung das sogenannte Dscherridspiel, jenes gefahrvolle Spiel, bei welchem ein Reiter dem andern im gestreckten Galopp seines Pferdes den Dscherrid oder Wurfspieß zuzuschleudern sucht. Darin und in der mit Falken und Hunden durch die Wüste sausenden Gazellenjagd mögen Wenige mit ihm wetteifern können. Trotz alledem ist auch er durch und durch mit europäischen Anschauungen erfüllt. Seiner Tochter hält er eine französische Erzieherin, und bei Gelegenheit eines feierlichen Diners, zu welchem viele Europäer geladen waren, stellte er Lehrerin und Schülerin seinen Gästen vor, zum Entsetzen der anwesenden Muselmänner. Kühn, freimüthig, mit offenem Herzen und offener Hand, genießt er eine große Beliebtheit und hat besonders im Volke zahlreiche Anhänger, deren Schaar durch die mancherlei Verfolgungen, welche er von Ismail Pascha hat erleiden müssen und die schließlich bis zu seiner Verbannung aus Aegypten geführt haben, nur noch mehr gewachsen ist.

Unähnlich seinem klügeren Vorbilde in den Tuilerien, hat der Khedive von sich und seinem Throne alle Mitglieder seiner Familie entfernt, anstatt die weise Politik zu üben, sie zu versöhnen und die Interessen des Hauses zu consolidiren. Mehr von innerer Zwietracht und Feindseligkeit gespalten und zerrissen ist kaum jemals eine Dynastie gewesen als die von Mehemed Ali gegründete. Ob sie bestehen oder stürzen wird, das lehren möglicherweise schon die nächsten Jahre, so viel aber steht jetzt schon fest, daß Aegypten nach Ismail’s Tode der Schauplatz heftiger Parteikämpfe werden wird, ebenso wie wir solchen in Frankreich nach Louis Napoleon's Ableben entgegenzusehen haben.

Im persönlichen Verkehr, namentlich mit Fremden, entfaltet der Vicekönig noch heute eine große Liebenswürdigkeit und weiß immer den europäischen Gentleman, den französisch gebildeten Cavalier herauszukehren, wenngleich diese Civilisation mehr nur äußerer Schliff ist, als bei seinem Vorgänger Said, und er im Innersten seines Herzens dem europäischen Wesen bei weitem nicht so zugethan sein soll, wie er es gern scheinen möchte. Was er von abendländischen Institutionen und Einrichtungen importirt, was er europäischen Mustern nachgebildet hat – bei Allem ist ihm der äußere Schein die Hauptsache gewesen, mit Ausnahme, wo es sich um Anstalten zur Erhöhung seines Privatvermögens handelt. In dieser Beziehung geht sein Absehen stets auf den Kern der Dinge.

Indeß hieße es doch das Kind mit dem Bade ausschütten, wollte man Ismail alles wahre und nachhaltige Verdienst um die Wohlfahrt seines Reiches absprechen. Trotz aller seiner vielen Verkehrtheiten und Extravaganzen und trotz des keine Schranke heilig achtenden Egoismus, welcher den Kern seines Wesens bildet, hat Aegypten unter seiner Regierung Fortschritte gemacht, die unsere Bewunderung verdienen. Soweit es nur cultivir- und bewohnbar ist, wird das ganze Land von einem Netze von Schienenwegen und Telegraphenlinien überzogen, die sich bis in Regionen erstrecken, welche außer dem eingeborenen Händler und einzelnen griechischen Kaufleuten aller Welt bisher fast eine Terra incognita waren. Der alte Vater Nil hat seinen Nacken einem zahlreichen Geschwader von Dampfschiffen beugen müssen, deren Räder das lauernde Krokodil bis weit hinauf in das Oberland zurückgetrieben haben, zu Hunderten sind Zuckerraffinerien an seinen Ufern entstanden, und Alexandrien und Cairo, vornehmlich das erstere, mit ihren Fabriken und Werkstätten, haben schon einen ganz europäischen Anblick gewonnen. Wenn aber die große Masse der Nation noch zu wenig menschenwürdigen Zuständen gediehen ist, so darf man nicht vergessen, daß Ismail Pascha nicht allein dafür verantwortlich gemacht werden kann. Ein großer Theil der Misère entspringt aus der altgewohnten Denk-, Glaubens- und Lebensweise, die selbst die Gesetzgebung eines Solon nicht mit Einem Male umschaffen könnte. In allen Fällen sind jedoch Leben und Eigenthum seiner Unterthanen unter Ismail’s Regierung tausend Mal sicherer, als sie es noch zu Anfang des vorigen Jahrzehnts unter dem Tiger Abbas waren, welcher in seinem Zorne keinen Mann und in seinen Begierden kein Weib verschonte.

Nichtsdestoweniger lautet das Endurtheil aller in Aegypten lebenden intelligenten Europäer dahin, daß Ismail Pascha bei seinem Volke entschieden unpopulär ist und daß Alle kaum die Zeit erwarten können, bis seine starke Hand die Zügel der Regierung nicht mehr führt.




Eine Schulfahrt der Neuenburger Cadetten.

Von Stephan Born.

Eine Nation, die sich selbst achtet, sorgt vor allen Dingen für eine gute Volksschule, denn die Rücksicht, welche die Erziehung der Jugend bei einem Volke genießt, ist der beste Maßstab für seine geistige Entwicklung wie für seine politische Freiheit. Zu den Ländern, welche mit Stolz auf ihre Volksschule blicken dürfen, gehört ohne Zweifel die Schweiz. Ihr ist die Schule sogar mehr als eine nothwendige, sie ist ihre bevorzugteste Institution, ihr vielgeliebtes Schooßkind.

Wie freudig überrascht es den Fremden nicht, wenn er in bescheidenen schweizerischen Dörfern, die jedes architektonischen Schmuckes entbehren, das Schulhaus am vornehmsten Platze seine leuchtende Façade ausbreiten sieht. Breite, bekieste Wege führen ihn zwischen wohlgepflegten Blumenbeeten in diesen, den wahren Palast des Volkes. Tritt er in die geräumigen Hausgänge, in die sauberen Schulsäle, so ergreift ihn urplötzlich ein Gefühl der Erhebung, er weiß sich auf geweihtem Boden. Nichts mehr von jenen finstern Kerkerwänden, zwischen denen wir Alten einst unsere Kinderjahre verseufzt; von jenen Marterbänken, auf denen wir peinvoll und ruhelos zu unserer und des Lehrers Plage hin und her gerutscht. Ein wohlthätiges Licht, frische Luft und ein bequemer Sitz schützen die Jugend vor jenem körperlichen Unbehagen, das zu unserer Zeit eine nothwendige Beigabe zu der geistigen Nahrung war, die wir empfingen.

In kleinen republikanischen Ländern wie die Schweiz verfolgt die Schule mit ihren nächsten Aufgaben zugleich einen wesentlich patriotischen Zweck; denn sie soll dem Vaterlande, das seine Kraft in langen Friedensjahren nicht durch ein zahlreiches stehendes Heer erschöpfen darf, ein schlagfertiges und begeistertes Volksheer erziehen. Sie muß deshalb dem Knaben schon früh die Waffe in die Hand geben, damit er als Mann sie einst ehrenvoll zu führen wisse. Aus diesem Bedürfniß sind die schweizerischen Cadettencorps entstanden. Ohne gesetzlichen Zwang durch die Landesbehörden, als eine freie Schöpfung der einzelnen Gemeinden, gewinnen sie auch so von Jahr zu Jahr eine größere Entwickelung. Die Handhabung der Waffe, den militärischen Gehorsam, lehrt die Schule in frühen Jahren; aber sie soll ihm mehr geben, sie soll sein Herz mit hoher Begeisterung für des Vaterlandes Unabhängigkeit und Ehre, mit inniger Liebe zu seiner [781] schönen Heimath, mit gehobenem Stolz auf seines Volkes blutig erkämpfte und männlich bewahrte Freiheit erfüllen. Deshalb führt die Schule den Zögling aus dem Hörsaal hinaus auf den offenen Plan, auf dem seine Altvordern einst gestritten; sie weist ihm die Trümmer der festen Burgen, die sie gebrochen; die Engpässe, die sie mit dem Beistande ihrer Frauen und Kinder vertheidigt; den Fels, von dem der beflügelte Pfeil die Brust des Tyrannen durchbohrt; das Feld, auf dem ein starkes Herz sich in die feindlichen Speere gestürzt, der Freiheit eine Gasse zu bahnen. Die großen Gestalten einer mächtigen Vergangenheit steigen so aus ihren ruhmvollen Gräbern empor und hauchen ihren Geist in die Seele des bewundernden Knaben. So wird lebendige Geschichte vorgetragen, eine Geschichte, deren Wahrzeichen eingegraben stehen in jedem Fels, in jeder Bergesschlucht, wo ewiges Zeugniß reden die starren eisgepanzerten Wälle mit ihren drohenden Zinnen und Thürmen.

Wie überall der Botaniker und Geologe seine Zuhörer hinausführt in den weiten Lehrsaal der Natur, so unterrichtet die Schweiz ihre Jugend in der Landeskunde, im weitesten Sinne dieses Wortes, durch die in neuester Zeit so sehr in Aufschwung gekommenen Schulfahrten, deren letzte von den Neuenburger Cadetten ausgeführte wir hier zu schildern unternehmen.

Um fünf Uhr Morgens, am 11. Juli 1869, wurde auf dem Bahnhof zu Neuchatel der Appell verlesen. Wir waren siebenundfünfzig Köpfe stark, ein halbes Hundert Schüler, die übrigen Lehrer. An unserer Spitze stand als erfahrener Feldherr der Präsident des städtischen Schulraths, Herr Dr. Guillaume. In der eidgenössischen Armee nimmt er freilich nur den bescheidenen Rang eines Bataillonsarztes ein; die Eigenschaft aber, daß unser Anführer die Wunden zu heilen versteht, die seine Helden schlagen oder empfangen, machte ihn uns nur um so kostbarer. Der Feldzug, den wir unternahmen, hatte übrigens durchaus keine kriegerische Aufgabe; ihre Waffen hatte die jugendliche Truppe mit friedlichen Alpenstöcken vertauscht, und der leichte Tornister barg wohl neben den unentbehrlichsten Reisebedürfnissen einen Wurstzipfel, vom zärtlichen Mutterherzen für besondere Fälle sorglich in eine stille Ecke eingebettet, doch sicher keine scharfen Patronen. Trotz alledem hatte die Mannschaft etwas entschieden Militärisches, als sie, ihre sieben Spielleute mit blinkenden Trompeten voran, in kleidsamer Uniform, auf das Commandowort ihres sechszehnjährigen Lieutenants vor dem bereitstehenden Zuge aufmarschirte. Im Nu war der uns angewiesene Waggon besetzt und fort rollte es in südlicher Richtung.

Kein Jubelruf, kein fröhliches Jauchzen, wie ich es wohl erwartet hatte, da die seit Wochen geplante Fahrt nun endlich zur Wirklichkeit wurde. Eine fast feierliche Stimmung lag auf den Herzen, es galt freilich nichts Kleines: eine Fahrt von längerer Dauer als jede vorhergegangene, über Schnee und Eis, eine Fahrt in die Alpen! – Wohl brauchte es eine gute Weile, ehe sich die jungen Gemüther an den Gedanken gewöhnten, daß der Traum nun zur Wahrheit geworden. Aber nach und nach brach sich der Bann –: „wir fahren, wir fahren!“ das war der Jubeltext, der schüchtern erst, dann deutlicher und heller über die Lippen drang, ein buntes Geplauder, ein neckendes Zwiegespräch erwachte auf allen Bänken; mit einem kräftigen Marsch setzen plötzlich die sieben Trompeter ein, und hurrah! Jetzt freilich herrscht kein Zweifel mehr: wir fahren, wir fahren!

Schon bei früheren Ausflügen hatte man für die erste Strecke die Eisenbahn benutzt. Hier in Granson, dessen epheuumrankter Kirchthurm uns eben entgegewinkte, war man vor zwei Jahren ausgestiegen und ein gelehrter Obristlieutenant vom eidgenössischen Generalstab hatte mit den Cadetten das Schlachtfeld besucht, auf dem vor vier Jahrhunderten Karl der Kühne eine so blutige Niederlage erlitten. Damals ging es zu Fuß nach Yverdon, dann um den Neuenburger See herum nach dem Schlachtfeld bei Murten. Heute heißt es die Kräfte sparen zu bevorstehenden größeren Unternehmungen, fort rollt es und weiter, und wie in einer Spatzenhecke wird es fröhlich und lebendig in dem Waggon. Dazu blasen die Sieben ihre schönsten Melodien und den Alten lacht das Herz im Leibe über die Freude der Jungen.

Auf der Höhe des Jorat, der Wasserscheide des Mittelmeer- und des Nordseegebiets, drängen die Köpfe sich an die Wagenfenster; nicht weit von Lausanne endlich tauchen die schöngeformten Linien der Savoyer Alpen herauf und ein Freudengeschrei begrüßt den mit Spannung erwarteten Genfersee.

In Lausanne wird der Aufenthalt von einer Stunde zur Prüfung der im Tornister verborgenen eßbaren Herrlichkeiten benutzt, denn das Reich des Proviant- und Zahlmeisters beginnt erst am Ziele unserer Eisenbahnfahrt. Außer dem Beitrag für die letztere, die sich auf ungefähr drei Franken für den Theilnehmer belief, hatte Jeder für die auf fünf Tage berechnete Fahrt zehn Franken eingezahlt, eine Summe, welche für einen fremden Touristen etwa zu einem Nachtquartier und Frühstück ausreicht. Freilich hatten wir von vornherein auf das Vergnügen verzichtet, mit Lord Rumpsteak und Lady Butterfly an der Table d'hôte zu sitzen und uns von deutschen Jünglingen in schwarzem Frack und weißer Cravatte bedienen zu lassen. Mit Ausnahme von Bex, unserer ersten Station, sollte der Heuboden unsere Schlafstätte und der gute Appetit unser Kellner sein.

Hier ist es am Orte, unsern Feldzugsplan einen Augenblick zu betrachten. Wir hatten die Aufgabe, von Bex im Rhonethal aus, wohin die Eisenbahn uns ohne Aufenthalt beförderte, den nordwestlichen Ausläufer der Kette des großen Muveran und der Dent de Morcle zu erreichen, von dort aus an die südöstlichen Abstürze der Diablerets zu gelangen, den Pas de Cheville zu überschreiten, dann, den Saumpfad verlassend, der wieder zurück in’s Rhonethal nach Ardon und Sitten führt, einen Uebergang nach dem Sanetschpaß zu suchen, von dort hinabzusteigen in’s Saanenthal im Canton Bern, um dann den Heimweg über Chateau d’Oeux, Freiburg und Murten anzutreten. Der vornehmste Zweck des Unternehmens war, die Schüler, welche in ihrer Mehrzahl auf dem Jura zu Hause waren, mit der Alpennatur, ihren Schönheiten und Schrecken bekannt zu machen.

Gegen Mittag verließen wir die Waggons in Bex und zogen mit schmetternder Fanfare in das kleine Städtchen, wo uns die Spitzen der Einwohnerschaft freundlichst empfingen und aufforderten, für die Nacht Quartier anzunehmen und am nächsten Tage dem Schul- und Cadettenfest des Ortes beizuwohnen. Diese Einladung wurde dankbar angenommen, da sie vortrefflich zu unserem Plane stimmte, wonach wir den ersten Tag zu einem Ausflug in die Umgegend von Bex zu benutzen gedachten.

Im Hôtel de l’Union, in dessen Garten wir die Tornister ablegten, wurde das erste gemeinsame Mittagsmahl bestellt. Auf Anordnung des Obercommandos sollte dabei, trotz mancher Einwendung des gutmüthigen Wirths, jeder Luxus vermieden werden; für solchen galten selbst Tische, Bänke und Teller. Ein halbes Dutzend mächtiger Schüsseln wurden auf den Rasen gesetzt, Löffel herumgereicht, und nun suchte Jeder sich einen Platz um die dampfende Kässuppe, liegend, knieend oder auf einem Tornister hockend, und schöpfte von der nährenden Speise, so viel ihm beliebte oder die neckenden Nachbarn ihm zukommen ließen. Es wurden Alle gesättigt. Ein feines Bürschchen, „guter Eltern Kind“, machte zwar die unehrerbietige Bemerkung, daß ihm der Käse ohne die Suppe, oder die Suppe ohne den Käse lieber wäre; aber er bewies damit nur, daß seine Wiege nicht zwischen Jura und Alpen gestanden. - „Mit einer solchen Suppe ginge ich bis Rom,“ rief Freund Bachelin, dem wir eine Skizze dieses Festmahls verdanken, dem Muttersöhnchen mit sittlicher Entrüstung zu. Jeder Versuch einer weiteren Kritik war damit glücklich abgeschlagen.

Der Nachmittag wurde zu einem Spaziergang nach den Salinen benutzt, die etwa anderthalb Stunden von Bex entfernt sind. Kurz vor dem Ziel machte man Rast auf schattigem Wiesengrunde. Vor uns lag sonnenbestrahlt in schimmernder Pracht die weiße, weithin leuchtende Dent du Midi; zu unserer Linken streckte die Dent de Morcle ihre zerklüfteten Flanken hinab in’s Thal. Hier war der Ort, sich mit den jungen Leuten über die gewaltigen Erdumwälzungen zu unterhalten, deren Zeugen uns rings umgaben. Es geschah dies weniger in Form eines Vortrages als in der eines Gesprächs, an welchem mehrere Lehrer sich gegenseitig ergänzend betheiligten. Nun erst wurde der Besuch der Saline, deren Existenz mitten in einer Alpenschlucht zu vielen Fragen Veranlassung geben mußte, wahrhaft fruchtbringend.

Diese Salinen standen eine lange Reihe von Jahren unter der Direction Charpentier’s, des Begründers der Gletschertheorie. Er gehörte der berühmten Geognostenfamilie Charpentier in Freiberg in Sachsen an, und Deutschland darf ihn mit Recht zu denjenigen seiner Söhne zählen, welche ihr Vaterland in der Fremde ehrenvoll vertreten haben. Seinem wissenschaftlichen [782] Wirken wurde ein sinniges Denkmal gewählt in einem ungeheuren erratischen Block, auf welchem dankbare Schüler und Verehrer seinen Namen eingraben ließen.

Um den Cadetten, nachdem sie aus dem tiefen Schacht des Bergwerks wieder an’s Tageslicht getreten, ein vollständiges Bild von der Gewinnung des Salzes zu geben, führten wir sie auf dem Rückweg nach Bévieux, wo die aus dem oberen Werk über eine Stunde weit unterirdisch hingeleitete Soole abgedampft und das fertige Salz erzeugt wird.

Als wir am Abend in Bex wieder eintrafen, wurden die Quartierbillets in Empfang genommen, und es bedarf wohl kaum der Versicherung, daß die schweizerische Gastfreundschaft die Gelegenheit wahrnahm, einen ihrer schönsten Triumphe zu feiern. Um neun Uhr, mit dem Zapfenstreich, ging die Jugend zu Bett, denn sie sollte um vier Uhr wieder auf den Beinen sein. Wir Alten saßen noch eine Weile unter dem herrlichen Nußbaum vor dem Hôtel de l’Union, die Blicke weidend an dem vom Monde beschienenen Gipfel der Dent du Midi, bis auch uns der Gedanke an die Mühen des nächsten Tages zur Ruhe drängte.

Das erste Mittagsmahl auf der Schulfahrt der Neuenburger Cadetten.
Nach der Natur aufgenommen von Bachelin.

Das war ein Leben und Treiben am folgenden Morgen! Wer hätte gedacht, daß das kleine Städtchen einen so reichen Kindersegen beherbergte? Sämmtliche Insassen der Ortsschule, Mädchen und Knaben, warteten in sonntäglicher Pracht auf das Zeichen zum Aufbruch. Der Musik an der Spitze des Zuges folgte die weibliche Jugend mit Blumen und Kränzen freundlich geschmückt; ihr zunächst war unserer Schaar, als den fremden Gästen, der Ehrenplatz angewiesen; an uns reihte sich dann das Cadetten-Corps von Bex mit blinkenden Waffen, und neben und hinter dem Zuge drängte sich die Bevölkerung des Ortes selbst und der weiten Umgegend. Unter Musik, Jubelruf, Hüte- und Tücherschwenken traten wir den Marsch an.

Welch’ ein Weg! Dem Ufer des brausenden Avençon folgend, führt er zu Anfang durch einen herrlichen Kastanienwald; höher anstrebend erreicht er die Region der Tannen, immer wilder, toller und rasender, je höher wir steigen, geberden sich unten die Wasser; da führt eine Brücke links über den wüthenden Bergstrom nach einem grünen Gelände und wir treten in das Hochthal des Plans. Dieses Vallée des Plans, das glücklicherweise noch nicht Mode geworden, aber wahrscheinlich diesem Schicksal nicht lange mehr entgehen wird, mit seinen saftiggrünen Matten, zwischen die Kette des großen Muveran und die Felsenzacken der Argentine gebettet, die es gleich einem geliebten Kleinod goldig umschließen, ist von so überwältigender und zugleich so rührender Schönheit, daß man noch lange in der Erinnerung in seinem Zauber gefangen bleibt.

Unser Festplatz lag eine halbe Stunde weiter und zugleich einige hundert Fuß höher, auf Pont de Nant, etwa viertausend Fuß über dem Meere, mit einem Blick auf die nahegelegene Dent de Morcle, den Martinetsgletscher und den Gletscher von Plan-Névé. Der Charakter der Landschaft war hier wegen der unmittelbaren Nähe der Hochgebirge schon wilder und rauher als im Vallée des Plans.

Wo irgend ein Fels, ein Baum Schatten gewährt, lagern sich jetzt malerische Gruppen; aus den mitgebrachten Körben und Beuteln entsteigen Flaschen und Eßwaaren, ein centnerschwerer Käse von der Größe eines Mühlrades wird im Nu kunstfertig zerlegt und unter die hungrige Schuljugend vertheilt. Elegante Wagen schleppen allmählich sich herauf, hier an den Endpunkt des [783] Fahrwegs. Schlanke, blasse Engländerinnen und blitzäugige Töchter des Südens haben aus ihren Pensionen in Bex sich hinauffahren lassen und entfalten die neuesten Moden und einen glänzenden Appetit in der frischen Alpenluft. Nach dem Mahle geben die Cadetten von Bex ein militärisches Schauspiel, sie exerciren im Feuer und tausendfältig hallt aus den wilden Schluchten des Gebirgs das Echo ihrer harmlosen Schüsse wider. Hier drehen die Mädchen sich im Tanze, dort in einem fernen Winkel, neben einer halbzerfallenen Sennhütte, hat sich ein Dutzend wackerer Waadtländer zu einer ungebundenen Kneiperei zusammengefunden. Mitten auf dem weiten Plan ist nach Schluß der Cadettenübung ein hoher Felsblock zur Tribüne auserwählt worden, warme patriotische Reden erklingen, ein telegraphischer Gruß an das eidgenössische Schützenfest in Zug wird vorgelesen, feurige Hochs erschüttern die Lüfte. Wir aber lassen zur Sammlung blasen, noch einige Worte aufrichtigen Danks an die guten Eidgenossen von Bex, noch ein Glas zum Abschied, noch ein begeistertes „qu’ils vivent!“ Unsere sieben Trompeterlein blasen ihren rauschendsten Festmarsch und wir ziehen von dannen, während uns noch lange die Echos der Jugendlust auf unserm steilen Wege begleiten.


Der erste Kranke auf der Schulfahrt und die Ziegenhütte.
Nach der Natur aufgenommen von Bachelin.

Für uns war es hohe Zeit zum Aufbruch gewesen, denn vor Sonnenuntergang sollten wir unser Nachtquartier am Fuße der Diablerets erreichen, und es war vier Uhr Nachmittags. Jetzt wurde die Fahrt erst ernsthaft, wir hatten vor dem Abend des folgenden Tages auf kein wirthliches Unterkommen mehr zu zählen. Das Brod, welches für uns in les Plans gebacken worden, wurde jetzt vertheilt; sechszig Pfund Fleisch trug ein Führer, den wir in Bex gedungen – so ausgerüstet durften wir uns schon in die Einöde des Col de Cheville und des Sauetschpasses wagen.

Während anderthalb Stunden hatten wir streng zu steigen, ehe wir die höhere Thalstufe erreichten, welche den Namen la Varra führt und in einer Ausdehnung von beinahe zwei Stunden nur wenige Sennhütten aufweist. Doch ehe wir zu den letzteren gelangten, wurde einer der Cadetten krank gemeldet. Der arme Junge sah recht blaß aus, als er sich ruhebedürftig auf den Boden hinstreckte und den Kopf auf den Tornister legte. Ein erfrischender Trunk war im Augenblick nicht zur Hand. Da erspähte unser Doctor und Feldhauptmann eine Ziegenheerde und ließ Jagd auf eines der Thiere machen, um dem Kranken mit etwas Milch wieder aufzuhelfen. Für die Kleinsten der Kleinen war diese Jagd natürlich ein Fest, sie brachten auch sogleich mehrere Gefangene an den Hörnern herbei. Das erste Thier freilich stellte sich zum allgemeinen Jubel als ein Böcklein dar, das nächste war dann glücklicherweise eine Ziege, die sich von den geschickten Fingern des Arztes, wenn auch nicht ohne Sträuben, melken ließ. Der Kranke war von dem heilsamen Trank, wenn auch in einem Pommadetopf gereicht, bald hergestellt und schritt munter mit den Anderen weiter. Nach jeder etwas größeren Anstrengung wurde übrigens regelmäßig Halt gemacht und einige Minuten geruht. In solchen Momenten zeigte der Eine und Andere, was ihm etwa auf seinem Wege aufgestoßen:

„War’s eine schöne Alpenblume, war’s
Ein seltner Vogel oder Ammonshorn,
Wie es der Wandrer findet auf den Bergen.“


(Schluß folgt.)



[784]

Deutsche Energie und Ausdauer!

Am 20. October 1869 brachte die gesammte Presse Amerika’s die Nachricht, daß Tags zuvor um zwei Uhr Nachmittags unter Musik und Kanonendonner und den sonstigen entsprechenden Feierlichkeiten die ersten Arbeiten am Sutro-Tunnel im Staate Nevada in der Nähe von Virginia-City begonnen wurden. Nicht umsonst erregte diese Nachricht das größte Interesse, ja in vielen Kreisen eine ungeheure Sensation, denn seit vier bis fünf Jahren hatte das Project dieses großartigen Werkes die Aufmerksamkeit nicht blos des fernen Westens, sondern der ganzen Vereinigten Staaten auf sich gezogen.

In Californien und Nevada befinden sich bekanntlich die bedeutendsten Silber- und Goldminen der Welt und keine derselben ist reicher und ergiebiger, als die sogenannte Comstock-Lode, deren Ertrag in jedem der letzten Jahre sechszehn Millionen betrug – soviel wie das ganze Mexico zusammen producirt. Und diese Schätze sind alle nahe der Oberfläche gefunden, denn von Minen nach europäischen Begriffen, in großen Tiefen und nach wissenschaftlichen Principien, ist hierorts nie die Rede gewesen. Und deshalb ist auch bei dieser oberflächlichen Betriebsweise die Thatsache nicht erstaunlich, daß die Unkosten, das Metall zu Tage zu fördern, ungeheuer groß waren, und von diesen sechszehn Millionen nur fünfmalhunderttausend Pfund Reinertrag übrig blieben. Wo nämlich die eine Grube von reichster Ergiebigkeit ist, da sind wieder andere völlig arm an Erzen, und in der Hoffnung, tiefer auf ergiebige Adern zu stoßen, arbeitet man weiter, und es steigt der Kostenaufwand ungeheuer und in vielen Fällen ohne irgend welches versöhnende Resultat.

Es war in der That wunderbar, daß der praktische Amerikaner nicht längst auf erfolgreichere Ausbeutung dieser enormen Gold- und Silberlager verfallen war, wenn nicht auch zugleich sein eigenthümlicher Charakterzug, rasch an’s Ziel seiner Bestrebungen zu gelangen und schnell die Früchte seiner Arbeit genießen zu wollen, in Erwägung gezogen wird.

Dem speculativen Geist eines unserer Landsleute, Adolph Sutro, aus Aachen gebürtig, aber seit einigen zwanzig Jahren einer der thätigsten und geachtetsten Bürger San Francisco’s, der in jenen Gegenden großen Landbesitz hatte, entsprang zuerst die Idee einen sogenannten Stollen zu bauen, der, die Comstock-Lode gerade durchschneidend, nach verschiedenen Richtungen hin sich in Zweigtunnels ausdehnen sollte. In einer Tiefe von zweitausend und mehr Fuß angelegt, sollte der Hauptstollen vier Meilen lang, zwölf Fuß breit und zwölf Fuß hoch werden, weit genug um zwei Karren, einen hinein, den anderen hinaus zu befördern, und noch Raum unter denselben für einen Canal zum Abzug des Wassers übrig lassend.

Sutro’s Plan fand rasch den Beifall einiger unternehmender hervorragender Bürger Californiens und Nevada's, und man beschloß, denselben mit Aufwand aller zu Gebote stehenden Mittel durchzuführen. Niemand verhehlte sich die ungeheuren Schwierigkeiten, die von allen Seiten der Ausführung entgegentreten würden – jedoch der Muth der Ueberzeugung stählte die kleine, kühne Gesellschaft. Man sicherte sich zuerst die Rechte einer Corporation von der Legislatur Nevada’s und begann dann die vielseitigen Operationen.

Man hatte Sutro zum bevollmächtigten Agenten ernannt, und Senator Stewart von Nevada zum Präsidenten. Letzterer jedoch wurde bald nachher von der Compagnie aufgefordert zu resigniren, da man es nicht zulässig fand, daß ein Betheiligter an den Interessen im Vereinigten-Staaten-Senat sei, an den man Ansprüche zu machen vorhatte. Man erwählte an Stewart’s Stelle jetzt Sutro zum Präsidenten der Gesellschaft, und in dieser Eigenschaft begab sich derselbe nun nach Washington. Es galt von der Regierung Concessionen zu erlangen, die das Zweckmäßige und Ersprießliche des Unternehmens durch ertheilte Rechte beweisen sollten. Niemand war geeigneter sich diese Vorrechte zu erkämpfen als der energische, geistigen und physischen Strapazen vollkommen gewachsene, von Feuereifer für die endlosen Vortheile seines Projectes durchdrungene, kühne, rastlos thätige Präsident der Gesellschaft. Rastlos vertrat er die ihm anvertrauten Interessen mit Wort und That und Schrift, wie es schwerlich ein Anderer gekonnt hätte. Ohne Furcht und mit wunderbarer Gewandtheit plaidirte er für seine Sache, die Sache der armen Minenarbeiter, aber hauptsächlich für die Sache des Landes überhaupt. Und die klugen, berechnenden Amerikaner stutzten vor den enormen Vortheilen, die eine richtige Ausbeutung der von den bedeutendsten Geologen geprüften und bewiesenem Reichhaltigkeit der Comstock-Lode mit sich bringen würde. Sutro kannte den Charakter der neuen Landsleute zu genau, um ihnen mit Theorien gegenüber zu treten, darum brachte er Zahlen und Facten, genau bewiesen, sorgfältig gesammelt, und er imponirte ihnen so sehr, daß man, als man die Richtigkeit seiner Behauptungen einsah, Concessionen machte, wie nie einer derartigen Gesellschaft zuvor zu Theil geworden waren.

Die Legislatur von Nevada brachte Sutro nach seiner Rückkehr von Washington eine Dankadresse dar, denn sie kannte zu wohl den unendlichen Werth, den diese Errungenschaften und ihre Folgen für den Aufschwung des Staates haben müßten.

Im Auftrage der Compagnie bereiste Sutro demnächst Europa, um das Bergwesen dort zu prüfen und die bedeutendsten Tunnels zu besichtigen. Zugleich auch sollte er untersuchen, ob in der finanziellen Welt Europa’s irgend welche Chancen vorhanden seien, die Anleihe mehrerer Millionen für den kostbaren Stollenbau zu realisiren. Hier fand er das Letztere unthunlich, und so kehrte er nach mehreren Monaten nach Amerika zurück.

Er versuchte nun die Geldfürsten New-Yorks für die Sache zu gewinnen; allein durch den Rückschlag der Geschäfte in Folge des amerikanischen Bürgerkrieges (der sich noch bei Weitem fühlbarer macht, als man in Europa anzunehmen geneigt ist) zurückhaltend und vorsichtig geworden, hielten diese ihn von einer Woche zur anderen hin mit unbestimmten Versprechungen. Endlich verlor er denn doch die Geduld und reiste plötzlich nach Washington ab, um bei dem mittlerweile wieder versammelten Congreß sein Heil zu versuchen. Er stellte nun der Regierung vor, daß sie, wie das ja auch überall in Europa der Fall ist, das Bergwesen in die eignen Hände nehmen sollte, da in den reichen Schätzen Californiens und Nevadas allein genug Reichthum liege, um die ungeheure Staatsschuld nach und nach zu decken.

Er gewann die einflußreichsten politischen Persönlichkeiten für seine Ansicht; Alles schien Erfolg zu versprechen – seine Bill sollte in kürzester Zeit dem Congreß zur Abstimmung vorgelegt werden – die Mehrzahl der Mitglieder desselben wollte für die Sache stimmen; da urplötzlich schien irgend eine böse Macht gegen ihn zu agiren, man legte im Congreß seine Eingabe bei Seite und ging zu anderen Fragen über, und dann vertagte man sich und die unerörterten Bills bis zum nächsten Jahr.

Jeder Andere würde nach den ungeheuren pecuniären Opfern, die er gebracht, nach den tausend Schwierigkeiten, die sich ihm entgegengestellt hatten und die zu analysiren hier zu weitläufig wäre, entmuthigt worden sein bei der Entdeckung, daß eine imfame Intrigue gegen den Erfolg der Sutro-Tunnel-Compagnie arbeite – nicht so die kleine kühne Gesellschaft selbst, am wenigsten ihr Präsident.

Ungeschwächt im Vertrauen auf die Trefflichkeit seiner Unternehmung für das Wohl und das Aufblühen des ganzen Landes, reiste er im letzten Frühjahr wieder nach Nevada ab, um im Verein mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft über die ferneren Schritte zu berathen. Hier in Nevada spielte der Zufall ihm jüngst eine Depesche in die Hand, die als Schlüssel zur Enträthselung der gegen sie arbeitenden Intrigue diente. Eine gewisse Bank, das mächtigste Finanzinstitut des fernen Westens, die mit Actien bei der jetzigen Minenbearbeitung in enormer Weise betheiligt ist, eine Bank, die das ganze Geldmonopol bis kürzlich in Händen hatte und in jenen Minenregionen unumschränkt herrscht und sich durch den Schweiß des armen Arbeiters gottlos bereichert hat, ein Institut, das zum Fluch statt zum Segen geworden ist, hatte unter den Nevada-Senatoren in Washington Einen zu gewinnen gewußt, der Alles aufbieten sollte, den Einfluß und Erfolg der Sutro-Tunnel-Compagnie zu vernichten. Die Depesche gab die zweifelhaftesten Instructionen – sie waren nur zu genau befolgt worden!

Sutro war wüthend über diese Infamie. Und wie er stets das Interesse des armen Arbeiters ebenso sehr im Auge gehabt [785] hatte wie das des reichen Actionärs, und gerade der arme Minenarbeiter durch den Bau des Tunnels von dem schweren Druck jener mächtigen Minenbeherrscher gewissermaßen emancipirt werden sollte, damit er und nicht jene den Lohn seines Fleißes ernte – so bebte er, ein zweiter Andrew Jackson, nicht davor zurück, die niederträchtigen Machinationen einer gewissenlosen Blutsauger-Institution bloßzulegen und zu entkräften. Er that dies in Virginia-City in Mitte jener Regionen in einer von ihm berufenen Versammlung von Arbeitern. Er redete in hinreißender, mächtig ergreifender Weise von den Vortheilen, die dem Arbeiter aus der Erleichterung der Arbeit und des Verdienstes durch die Erbauung des Stollens erwachsen würden, und wie dieser entgegengesetzten Falles fortführe ein Institut zu vergrößern und zu verstärken, das ihm das Lebensmark aussauge! Er sprach, wie man eben nur spricht, wenn man mit der vollen heiligsten Ueberzeugung des Herzens redet, und lautes Hurrarufen und lauteres Beifallsklatschen unterbrach oft minutenlang den kerntigen Vortrag. Und als er geendet hatte, da zeigte sich sofort thatkräftig die Wirkung desselben: die Miner erklärten, sie selbst wollten das Geld zum Beginn des Tunnels liefern; sie zeichneten auf der Stelle von ihren sauer erworbenen Ersparnissen eine enorme Summe und James Phelan, der Präsident der „Arbeiter-Association“, übergab der Compagnie im Namen derselben eine Anweisung auf fünfzigtausend Dollars baar.

Und so ist das große Werk, das erste dieser Art in ganz Amerika, das dem Lande die reichen unermeßlichen Schätze der Comstock-Lode erst recht erschließen soll, denn begonnen – ein Segen für Nevada, für die ganzen Vereinigten Staaten! Und es unterliegt wohl keinem Zweifel mehr, daß auch unser deutscher Landsmann den Lohn für seine Ausdauer und Energie erringen wird in der Erfüllung seines Wunsches, den Tunnel in drei bis vier Jahren (so lange wird, nach der Meinung des Haupt-Ingenieurs R. G. Carlyle, das kolossale Werk Zeit erfordern) unter seiner Oberaufsicht vollendet zu sehen!

Ehre dem deutschen Unternehmungsgeist, der deutschen Thatkraft und der deutschen Ausdauer! K. S.     




Blätter und Blüthen.

Charakterzüge Nestroy’s. Der lebenslustige und originelle Komiker und Volksdichter fürchtete in seinen letzten Jahren den Tod so sehr, daß ihn jede Anspielung auf Krankheit und Sterben außer Fassung brachte. Vor Charles Müller’s Gemälde „Der Tod der Girondisten“ haben ihn seine Freunde ohnmächtig zusammenstürzen gesehn. Er wollte das Bild für sich copiren lassen, um sich an die Schrecknisse des Todes zu gewöhnen.

Eines Abends fand er seine Schminke zu feucht, er schickte sie dem Fabrikanten zurück. Dieser ließ ihm sagen, er möge die Schminke nur gehörig austrocknen lassen, dann würde sie ihm noch im nächsten Jahre vortreffliche Dienste leisten, wenn er dann noch lebe und Komödie spielen könne.

Nestroy ließ erbleichend den Spiegel aus der Hand fallen, blickte den Garderobier starr an und stammelte: „Seh’ ich denn aus wie ein Mann, der das nächste Jahr nicht mehr erleben wird?“

„Lächerlich!“ antwortete der Gefragte, „Sie strotzen ja in der Fülle der Gesundheit. – Ein Mann, wie Sie, dem alle Freuden des Lebens zu Gebot stehn, sollte sich keine trübe Minute machen lassen.“

„Freuden – Freuden? Der Schauspieler hat nur eine Freude – die Schadenfreude, wenn Einer seiner Collegen durchfällt.“

„O nicht doch – Sie denken besser von den Künstlern.“

„Ich denke von Jedermann das Schlechteste, selbst von mir, und habe mich noch nie getäuscht.“

Noch viel mehr als den Tod fürchtete er den Scheintod.

„Vor zweitausend Jahren ließen die Römer ihre Leichen verbrennen,“ schreibt er in seinem Testament. „Vielleicht werden wir nach zweitausend Jahren auch so klug, – da ich das aber leider nicht abwarten kann, verordne ich“ u. s. w.

Trotz dieser Todesahnung und Todesfurcht verließen ihn Humor, Witz und Sarcasmus nicht.

Eigenthümlich berührten sich in Nestroy’s Charakter die beiden Extreme: Unverwüstliches Phlegma und schrankenlose Heftigkeit. Als am 16. October 1848 die kaiserlichen Soldaten gegen Bem’s Barricaden in der Jägerzeile anstürmten, und das Gewehrfeuer und der Kartätschendonner die Häuser in ihren Grundfesten erschütterten, saß Nestroy ruhig und gemüthlich in seiner Theatergarderobe und spielte Karten mit seinen Collegen. Die Kugeln sausten über die Dächer, die Bomben schlugen in die naheliegenden Häuser ein, Nestroy mischte ungestört die Karten und spielte ruhig weiter. Endlich zerschmetterte eine Kartätschenkugel das Fenster der Garderobe und schleuderte Glasscheiben und Rahmen mitten in’s Zimmer. Jetzt erst erhob sich der Komiker und sagte in seiner bekannten lakonischen Weise: „Kinder, jetzt gehn wir, sonst könnten uns ein paar Könige in der Hand verbrennen.“

Als Director war Nestroy ein Vater seiner Mitglieder und wurde von ihnen ebenso geliebt, als sein Vorgänger Karl gefürchtet wurde. Er war ein Mann, der Fünf gerade sein ließ und zu Allem „Ja“ sagte, darum witzelten auch seine Schauspieler: Weil der Director nur Ja sagen könne, habe er Regisseur und Secretair nur zum Neinsagen engagirt. Es kostete nur ein bittendes Wort, eine Thräne, um seine Casse zu öffnen; selbst wenn er getäuscht wurde, konnte er dem Bittsteller nicht zürnen.

Eines Tages trat ein Chorist laut schluchzend in sein Zimmer.

„Mein Gott, was haben’s denn?“ frug Nestroy bestürzt.

„Ach, Herr Director, meine Frau – meine gute arme Peppi ist vor einer Stunde gestorben.“

„Na, na – das ist freilich ein Unglück – aber verzweifeln’s nicht! Gott hat sie zu sich genommen – sterben müssen wir ja Alle.“

„So ein braves Weib wird wohl nicht wieder geboren – blutige Thränen könnt’ ich weinen – es giebt keine zweite Peppi mehr! Und ich bin so arm und unglücklich, daß ich ihr nicht einmal einen Sarg bestellen kann.“

„Da haben’s zwanzig Gulden derweil, wir werden schon mehr thun, aber sein Sie nur ein Mann und fassen Sie sich!“

Der Chorist dankte mit Thränen der Rührung und verließ laut jammernd das Zimmer, um den Sarg zu bestellen. Den klugen und minder leichtgläubigen Secretair befremdete dieser plötzliche Todesfall. Eine Stunde später trat er in die Wohnung des Choristen und fand ihn und – seine verstorbene Peppi lustig schmaußend und zechend am gut bestellten Tisch.

Nestroy sagte gutmüthig lächelnd, als er von dieser groben Mystification in Kenntniß gesetzt wurde: „Der Spitzbue! Aber ’s freut mich doch, daß seine brave Peppi nicht gestorben ist.“ Und der Chorist blieb nach wie vor im Engagement.

Originell sind die Improvisationen, mit denen Nestroy Photographien unterfertigte. Unter sein eigenes Bild, das er dem Schauspieler Gämmerlen sendete, schrieb er:

„Das Bild, das ich Dir hier spendire,
Häng’ hoch über Deine Thüre,
Damit es Dein Kämmerlein ziere,
Tapferster der bairischen Exkanoniere.“

Unter ein anderes Bild, das sein ältester Freund und Gefährte, Oberregisseur Grois, besitzt, der im Rufe diplomatischer Gewandtheit steht:

„Sei gegen Alle Liguorianer,
Nur gegen mich sei Kaner!“

Endlich unter ein drittes Bild, das im Kunsthandel circulirt:

„Den größten Meister im Treffen gewöhnlich man Jenen nennt,
Wo man die Getroffenen allsogleich erkennt,
Den größten Pfuscher im Treffen möcht’ ich daher das Schicksal nennen,
Denn die es trifft mit seiner schweren Hand, sind selten wieder zu erkennen.“




Aus den Sonntagsbriefen eines Zeitgenossen. Also das ist Eure gerühmte Volksbildung, das die Frucht Eurer Hingebung in Wort und Schrift zur Aufklärung der großen Masse? Eine wohldisciplinirte Rotte von sogenannten socialdemokratischen Arbeitern sprengt eine von den besten Männern der Fortschrittspartei (Löwe-Calbe, Schulze-Delitzsch, Hoverbeck, Fr. Duncker u. A.) berufene Volksversammlung in Berlin auseinander, setzt sich an ihre Stelle und verkündet einen Bannfluch gegen die Kämpfer der politischen Freiheit! Da seht ihr, wohin es führt, dem Volke die Waffe des öffentlichen Wortes und des Versammlungsrechtes in die Hand zu geben. Ihr werdet nun wohl auch zur Einsicht kommen, daß die große Masse der Bevormundung nicht entbehren kann und die allgemeine Bildung uns das Chaos bringt.

Diese Vorwürfe kann man jetzt von erschreckten Gemüthern oft hören. Die Brutalität, auf die sich die sogenannten Socialdemokraten stützen, wirkte wie das Erdbeben in Mittel- und Süddeutschland, von dem wir tagtäglich lesen. Was können wir, die wir die Fahne der Bildung hochhalten, darauf antworten? Löwe-Calbe, der letzte Präsident des ersten deutschen Parlamentes, beruft eine Volksversammlnug, um einen Beschluß über die Minderung der Militärlast zur allgemeinen Abstimmung zu bringen, und der Mann makellosen Charakters, der ein ganzes Leben der Freiheit gewidmet, muß den Präsidentenstuhl verlassen vor einem Manne, der den Knittel in der Hand trägt!

Schmerzlich brennend ist die Erinnerung an den Frühlingstag 1849 in Stuttgart, da Löwe-Calbe an der Seite Ludwig Uhland’s den bewaffneten Soldaten gegenüber stand, die das erste deutsche Parlament auflösten. Wer weiß, ob diese letzte Gewaltthat das Herz des Vaterlands- und Freiheitsfreundes nicht tiefer gekränkt hat!

Sehen wir aber über das Einzelne hinweg, so fragt sich: dürfen Ergebnisse, wie die eben bezeichneten, an den Wirkungen der Volksbildung verzweifeln machen und uns die fortgesetzte Arbeit für dieselbe verleiden? Im Gegentheil! Der Mißbrauch darf nirgends den rechten Gebrauch zerstören. Lässigkeit und Verzweiflung wäre der Sieg des Feindes. Die rohe Gewalt in ihren verschiedenen Formen läßt sich nur schwer besiegen, sie borgt auch aus dem Arsenal des Geistes ihre Waffen, und ein Hauptbestreben der niedrigen Gesinnung geht dahin, das Reine und Edle in Posse und Parodie zu verwandeln.

[786] Das freie Versammlungsrecht, in unserem modernen Leben noch neu, wird von Verführern und Verführten zum Aberwitz verkehrt durch eine Minderzahl. Wodurch vermag sie das? Durch Energie, durch Disciplin und einen bis zum Fanatismus gesteigerten Feuereifer. Das sind im Grunde gute Eigenschaften, und es gilt nur, ihren Mißbrauch zu verhindern. Die Freunde einer gerechten Freiheit, einer gesunden Bildung und einer wirklichen Mehrung des Wohlstandes für Alle dürfen nicht müde werden und sich von Widrigkeiten nicht abspenstig machen lassen.

Wir mußten darauf gefaßt sein, daß das, was wir von Bildung in die weitesten Volkskreise hinein trugen, sich auch gegen uns wende. Wir haben Selbstdenken, Selbstführung angerufen gegen jeglichen Autoritätsglauben. Wir müssen diese Gesetze anerkennen, auch wenn sie sich gegen uns selbst kehren. Es gilt nur, auszuharren und vom schlecht unterrichteten und zum Muthwillen verführten Volk an das besser zu unterrichtende zu appelliren.

Das Recht der Volksversammlung ist ein großes, muß aber auch spärlich und dann entschieden angewendet werden. Steht aber eine solche Versammlung anberaumt, dann bleibe nicht zu Hause und sage: „Sie werden schon das Rechte beschließen, ich habe keine Zeit.“ Kommt dann eine Verunreinigung und Verkehrung des hohen Rechtes zu Tage, so bist Du mitschuld durch Dein Ausbleiben. Das laß Dir gesagt sein!




Pariser Theater. Es ist schon schwer, sehr schwer, in Paris das tägliche Brod zu verdienen; noch viel schwerer ist es für Künstler und Schriftsteller, sich bemerkbar zu machen und unter dem dichten, hastigen Gedränge in den Tempel des Ruhmes zu gelangen; am allerschwersten wird es aber dem dramatischen Dichter, die Kinder seiner Muse auf die Bretter zu bringen, zumal wenn er es ernst mit seiner Kunst meint und nicht den Launen und dem schlechten Geschmack des Tages huldigen will. Die Laufbahn des französischen dramatischen Dichters ist schön, wenn sie ihn zum Ziele führt. Denn er gewinnt nicht nur Ehre und Ruhm, sondern auch viel Geld. Scribe hat mehrere Millionen hinterlassen, und Alexander Dumas Sohn und Victorien Sardou haben die erste Million bereits eingeheimst, obgleich Jener das Schwabenalter kaum zurückgelegt und dieser es kaum erreicht hat. Allein wie Viele gehen mit ergrautem Haupt herum, deren Stücke in den bestaubten Cartons schlummern! Je ernster das Streben des dramatischen Dichters ist, desto höher thürmen sich auf seinem Wege die Schwierigkeiten auf, die er unmöglich zu überwinden vermag, wenn er nicht einflußreiche Freunde besitzt, oder in der Presse sich einen Namen gemacht. Die schönste Hoffnung eines Pariser dramatischen Dichters ist es, sein Werk im Théâtre français aufgeführt zu sehen. Dieses Theater wird von den Franzosen, nicht so ganz mit Unrecht, als die erste Bühne der Welt betrachtet. Der Dichter, der in diesem Hause einen Sieg davonträgt, darf getrost in die Zukunft blicken. Dieser Sieg wird jedoch unter vielen Hunderten kaum von einem Einzigen errungen. Die Organisation des Théâtre français, oder wie dasselbe officiell heißt: Comédie Française, ist eben der Art, daß es fast ein Wunder ist, wenn ein junger dramatischer Dichter durch sein bloßes Talent dort ein Werk anbringt.

Das Théâtre français gehört zu den vier vom Staate subventionirten Theatern, unterscheidet sich aber von den andern Theatern durch seine eigenthümliche Verwaltung. Die vorzüglichsten Mitglieder desselben sind „Sociétaires“, d. h. sie theilen unter sich den Gewinn zu gleichen Theilen. Zeichnet sich ein neuengagirtes Mitglied durch ein bedeutendes Talent aus, so wird es von den Sociétaires zu ihrem Mitglied ernannt und genießt mit ihnen die eben erwähnten Rechte. Weniger begabte Mitglieder des Theaters beziehen blos ihr Gehalt von der Verwaltung und können von dieser auch entlassen werden.

Das Werk, welches ein Dichter dem Théâtre français einreicht, wird zuvor der Prüfung des ersten Secretairs unterworfen; nur solche Dichter, von denen bereits ein Stück in einem der subventionirten Pariser Theater zur Aufführung gekommen, genießen das Recht, ihr Werk unmittelbar dem Comité des Theaters zu überreichen. Drei lange Monate muß der arme Poet in Sehnsucht schmachten, bis ihn das Comité einladet, sein Werk vorzulesen. Mit Zittern und Zagen, zwischen Furcht und Hoffnung schwebend, folgt er der Einladung. Das Comité, aus den Sociétaires, und zwar bloß aus den männlichen zusammengesetzt, hört unter dem Vorsitze des Administrators das Stück, das entweder sogleich nach der Lectüre angenommen wird oder das Comité stimmt durch Kugelung ab. Wird das Stück abgewiesen, so theilt der Administrator dem Poeten unter vier Augen das unglückliche Resultat mit und vergißt dabei nicht, die Pille durch allerlei nichtssagende Complimente, durch fein gedrechselte Tröstungen auf die Zukunft zu versüßen. Wird nun das aus lauter Schauspielern zusammengesetzte Comité bei seinem Verdict von rein ästhetischen Grundätzen geleitet? Sind die Mitglieder desselben im Stande, den Kunstwerth eines dramatischen Werkes zu beurtheilen? Das sind Fragen, die in diesem Augenblick die Pariser literarische Presse sehr beschäftigen. Die Schauspieler des Théâtre français werden bei dem unbeschränkten Richteramte gewöhnlich von zwei persönlichen Interessen geleitet. Jeder von ihnen sucht vor Allem, ob das eingereichte Stück eine glänzende Rolle für ihn enthält, sodann, ob das Werk Casse machen werde, da ein Theil des Gewinnstes ihm zu Gute kommt. Es versteht sich fast von selbst, daß das Urtheil des Comités nicht selten durch Einflüsse von Oben bestimmt wird.

Als subventionirte Bühne hat das Théâtre français zwar die Verpflichtung, jährlich zwei neue Stücke zur Aufführung zu bringen; allein es braucht in dieser Beziehung durchaus nicht ängstlich zu sein. Emil Augier liefert ihm jedes Jahr ein Werk, das über hundert Vorstellungen erlebt; wenn aber ein zweites neues Stück mißglückt, so braucht die Direction nur nach ihrem sehr reichen classischen Repertoire zu greifen, und so kommt es, daß die jungen Dichter im Théâtre français Thür und Thor verschlossen finden. Ja, es ereignet sich häufig, daß das Comité Stücke verweigert, denen in anderen Theatern ein glänzender Erfolg zu Theil wird. Ponsard’s L’honneur et l’argent ist vom Théâtre français abgewiesen worden und hat im Odeon-Theater den lebhaftesten Beifall gefunden. Einige dramatische Dichter nun, deren Werke das Comité des Théâtre français vor Kurzem abgelehnt, schlagen gegenwärtig in der Presse einen gewaltigen Lärm. Sie verlangen, daß besagtes Comité nicht bloß aus Schauspielern, sondern zum Theil aus namhaften Schriftstellern und bewährten Kritikern zusammengesetzt sei, daß man ihre Hervorbringungen richte, aber nicht hinrichte. Bei dieser Polemik bekommt die Regierung manche derbe und wohlverdiente Ohrfeige. Hat nicht die Regierung ein halbes Menschenalter hindurch die Aufführung der Victor Hugo’schen Dramen verhindert? Und als man endlich, dem dringenden Verlangen des Publicums nachgebend, die Aufführung des „Hernani“ gestattete, hat man sich veranlaßt gesehen, dieses Stück trotz, oder vielmehr wegen des glänzenden Erfolges, wieder vom Repertoire verschwinden zu lassen. Die Polemik, welche durch die Wirthschaft im Théâtre français hervorgerufen worden, zeigt deutlich, daß man der Willkürherrschaft müde ist, und als solche hat sie eine Bedeutung, die nicht unterschätzt werden darf.



Marlitt. Der eigenthümliche Zauber, welcher über den Erzählungen dieser hochbegabten Schriftstellerin liegt, wird nicht nur von uns Deutschen, sondern von allen cultivirten Nationen des Erdballs lebhaft empfunden. Dafür sprechen in schlagender Weise die wiederholten englisch-amerikanischen Übersetzungen der „Gold-Else“, „Alten Mamsell“ und „Gisela“, und weiter die londoner, französischen, russischen, holländischen, czechischen, polnischen, schwedischen und dänischen Uebertragungen. Neuerdings beginnen – nach eingelaufenen Anfragen bei der Verlagshandlung – sogar die Spanier, Italiener und Ungarn die obengenannten Romane zu übersetzen und auch die kleinen „Thüringer Geschichten“ erscheinen binnen Kurzem in einer besonderen französischen Ausgabe. Dabei erleben die in Buchform erschienenen deutschen Ausgaben der genannten Romane, die in der Gartenlaube bereits von Millionen gelesen wurden, sehr rasch aufeinanderfolgende neue Auflagen (Gold-Else fünfte und Alte Mamsell vierte Auflage) und zwar nicht Schwindelauflagen mit vorgeklebten neuen Titeln, wie dies leider sogar gutrenommirte Autoren jetzt nicht verschmähen, sondern wirkliche, zwei bis dreitausend Exemplare starke Neudrucke. Wenn das Sprüchwort: Zahlen beweisen oder Zahlen frappiren, wahr ist, so dürfte augenblicklich Marlitt der gelesenste Autor in Deutschland sein.




Abermals gefunden! „Ich bin zwar auf Alles gefaßt, nur Eines möcht’ ich gewiß sein, Leben oder Tod“ – so klagte die Wittwe Wagner um ihren verschollenen Sohn (in Nr. 39 der Gartenlaube), und heute schon sind wir in den Stand gesetzt, ihr zuzurufen: „Glückliche Mutter, Dein Sohn lebt!“ – Durch treue Anhänglichkeit und aufopfernde Bemühung eines langjährigen Abonnenten der Gartenlaube, des Herrn Gustav Drexel in Newyork, gelang es, die von dem königlich württembergischen Consulat in Chicago bezeugte Nachricht zu erhalten, daß Karl Wagner nach zweijährigem rastlosen Wanderleben gesund daselbst angekommen ist. Wir haben der trauernden Mutter sofort die Freudenbotschaft mitgetheilt.



Bei Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:

Carl Maria von Weber.
Ein Lebensbild
von
Max Maria von Weber.
3 Bände. Eleg. br. Preis 6 Thlr. 25 Ngr.
Mit dem Portrait C. M. v. Weber’s in Stahlstich.

Carl Maria von Weber hat den besten Biographen in seinem Sohne Max Maria von Weber gefunden. Derselbe ist bei Ausarbeitung dieses wichtigen Buches mit großer Objectivität verfahren und sein Werk ist nichts weniger als eine Lobschrift auf seinen Vater. Außer den Familientraditionen, Erinnerungen, Tagebüchern und Briefen, die sich schon in seinem Besitze befanden, hat er durch siebenjähriges unablässiges Sammeln ein ganz ungemein reiches, noch nie veröffentlichtes Material an Correspondenzen und Mittheilungen zusammengebracht, das ihm theils auf zahlreichen deshalb unternommenen Reisen, theils auf briefliche Aufforderungen von Behörden und Privatleuten mit einer Bereitwilligkeit geliefert worden ist, durch die sich das warme Interesse an dem volksthümlichen Componisten und der pietätvollen Unternehmung des Sohnes deutlich documentirt hat.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.