Die Gartenlaube (1869)/Heft 48
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No. 48. | 1869. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen.
Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Die Gasselbuben.
„Hast schon wieder Recht, Schwiegersohn,“ rief der Bauer.
„es braucht kein Mensch zu wissen, was wir miteinander haben.
... Also in vier Wochen ist Hochzeit, wenn’s Dir recht ist ...
und nit wahr, das Andre ... das wie wir heut’ zusammenkommen
sind, das bleibt auch unter uns ...“
„Versteht sich,“ betheuerte Domini, „wie werd’ ich denn meinen Schwiegervater verrathen ... wir sind ja jetzt Ein Herz und Eine Seel’ ... und Ein Beutel ... ,“ setzte er für sich hinzu, während der Alte die eben eintretenden Bauern lärmend herbeirief und sie einlud, seine Gäste zu sein. Der Tiroler Wein wollte schon nicht mehr genügen, der Wirth mußte besseren auftischen, und that es bald mit einer Sorte, von der er hoch und theuer versicherte, daß eine solche im königlichen Hofkeller nicht zu finden sei.
Die Wirkung war mindestens eine baldige und allgemeine; Alles lachte und sprach durcheinander, Domini aber griff in die Cither und sang nach einer lustigen Weise.
„Wenn i unser Herrgott war’,
G’höret’ d’ Welt mein,
Ich machet’ aus’m Wasser
Lauter solchenen Wein ...
von Kletzenbrod sein;
Da nahm’ ich ’n Wendelstoa
und brocket ’n ein!“
Lärmender Beifall lohnte den Sänger und Alles stimmte zu lauter Wiederholung ein, der Feichtenbauer aber, dessen Gesicht immer mehr zu glühen begann, lachte und sang am lautesten; dann schlug er auf den Tisch und rief: „Kreuzbirnbaum, so ist es recht, so laß’ ich mir’s gefallen! Aufg’rebellt, Ihr Leut’, es ist nur schad’, daß keine Musikanten da sind! Heda, Wirth, eine andere Flasche!“ fuhr er fort, indem er die auf dem Tische stehende ergriff und in die Höhe hob, als wolle er sie wegwerfen.
„Was thust denn, Feichtenbauer?" rief einer der Zecher und hielt ihm den Arm, „sie ist ja noch halb voll!“
„Was schadet's?“ rief der Bauer sich losmachend entgegen und schleuderte die Flasche an die Wand, daß der rothe Wein daran herunter auf die Diele floß. „Bring’ eine andere, Wirth, bring’ gleich ein halbes Dutzend auf einmal, damit’s doch der Müh’ werth ist! Besinn’ Dich nit so lang ... ich kann’s zahlen!“ Dabei hatte er einen vollen ledernen Zugbeutel hervorgeholt und stürzte ihn auf der Tischplatte um, daß die Gulden und Thaler umher kollerten. „Da nimm Dir, dummer Kerl! Was kost’ Deine ganze Wirthschaft? Lang’ zu – ich hab’ genug daheim solchen Pfifferling!“
Der Wirth brachte das Verlangte, aber er schüttelte den Kopf und schob dem Bauer die zusammengelesenen Thaler zurück. „Das braucht’s nit, Feichtenbauer,“ sagte er, „wir werden schon gleich miteinander, bei Dir hat’s gute Weg’! ...“
„Kreuzbirnbaum,“ rief dieser erfreut, „so ist’s recht - so hör’ ich’s gern! Sollst leben, Wirth!“ Er schob ihm ein gefülltes Glas hin, stieß mit ihm an und stürzte das seine in einem Zuge aus.
„Du bist heut’ gut aufgelegt,“ sagte einer der Bauern lachend; „wenn Du so fort machst, kannst Du Dich gut auswachsen!“
„Geht’s Dich was an?“ rief der Feichtenbauer entgegen, dessen zornmüthiges Wesen durch den vielen Weingenuß noch gesteigert war. „Ich kann mehr Wein in meinen Stiefeln vertragen, als Du in Deinem ganzen Leben nur zu sehen kriegst ... und wenn ich mir einen Rausch trinken will, so kann ich’s zahlen, verstehst Du mich, Du Zaunschnipfer, Du!“
Der Angegriffene wollte gereizt entgegnen und es wäre wohl kaum noch gelungen, den Frieden zu erhalten, wäre nicht gerade im rechten Augenblick eine Unterbrechung von außen dazwischen gekommen, indem lautes Juchzen und bäurisches Singen von der Straße herein erscholl.
Eine Schaar junger Bauernbursche kam gegen die Anhöhe heran, alle mit den Armen aneinander angefaßt, daß sie eine Kette über die volle Breite der Landstraße bildeten. Einer, der der Anführer zu sein schien, sang in hohen kreischenden Fisteltönen vor:
„Wir san (sind) halt die Oachen’ (Eichenen),
Wir thun, was wir woll’n,
Und wer uns was einred’t,
Der Teufel soll’n hol’n!“
Die Uebrigen schrieen im wüsten Chore nach und abwechselnd folgte ein Anderer als Vorsänger:
„Wir Hüglinger Buben san
Von hoanbüchen (hainbuchen) Holz;
Kommt’s her, wer a Schneid’ hat,
Zum Raffa (Raufen) wenn’s wollt’s!“
[756] „Juhe, jetzt kommen die Richtigen!“ rief der Feichtenbauer,
indem er sich taumelnd erhob und, von Domini begleitet, durch
den Flur unter die Hausthür schwankte. „Heda, eingekehrt, Ihr
Hüglinger Buben …“, rief er, „heut’ bin ich der Wirth am
Berg; da geht kein richtiger Bursch vorbei! Herein da, alle
miteinander!“
Der Gesang brach ab und ging in Gelächter über, die Bursche kamen an’s Haus heran, mit dem Feichtenbauer zu schwatzen, dessen Zustand schon auf den ersten Blick erkennen ließ, daß es ohne Spaß und Jux nicht abgehen werde. Die Bauern in der Stube ließen sich inzwischen durch die ihnen gewordene Gastfreundschaft und freie Zeche nicht beirren, während der kurzen Abwesenheit des Bauers ihre Gedanken über denselben und seinen Begleiter auszutauschen.
„Was muß denn dem Feichtenbauer passirt sein, daß er heut’ gar so freigebig?“ sagte der Eine, mit dem er bald in Streit gekommen wäre. „Er ist ja ganz aus dem Häusel! Ich bin doch schon wie er bald dreißig Jahr auf meinem Gütel, und wenn ich auch nie besonders mit ihm zusammengekommen bin, hab’ ich ihn doch niemals so gesehn und auch nichts davon sagen hören, daß er mit der Flaschen so gut umgehn kann! …“
„Es hat eine eigene Bewandtniß mit ihm,“ sagte der Wirth, nicht ohne sich vorher vorsichtig umgesehn zu haben, „ich kenn’ ihn auch von Jugend auf, aber er ist immer ein exterer Mann gewesen, mit einem wilden und ungleichen Humor, wie wenn’s im April durcheinander regnet und die Sonn’ scheint! Er hat gearbeitet für Zehn, hat sich oft kaum das Essen und einen Tropfen Bier vergönnt, geschweige denn was Andres – nachher aber wieder, wenn ihm das Radel ist laufend ’worden, hat er keinen Handstreich gethan, manchmal zu der dringendsten Zeit, und ist Wochen lang aus dem Wirthshaus und aus dem Rausch nicht herausgekommen; … er ist das ewige Widerspiel!“
„Das ist wahr,“ sagte ein Anderer, „ich hab’ ihn selber so gesehn – die Bäurin hat genug mit ihm auszustehn gehabt und hat sich hinunter gekränkt und gehärmt, bis sie darüber abgeserbt und ausgezehrt ist … aber seit langer Zeit ist alles still gewesen …“
„Das macht,“ sagte der Wirth, „weil ihm die Bäurin auf ihrem Todbett in’s Gewissen geredt hat … darüber ist er in sich gegangen, und hat es ihr mit Hand und Mund versprochen hinüber in die Ewigkeit, daß er gut thun will … aber diemalen, so scheint’s, kriegt das Versprechen doch ein Loch …“
„Ich hab’ auch sagen hören,“ bemerkte ein Dritter, „er hat das Wetterreißen in den Händen und Füßen; das soll ihn dasig (kleinlaut) gemacht haben, denn der Bader hat ihm Alles verboten, Bier und Wein, und hat ihm gesagt, er könnt’ ganz contract werden, wenn er sich nicht halten thät’ …“
„Die Hauptsach’ nit zu vergessen,“ unterbrach ihn der Wirth, „wenn er die Zeit her gut gethan hat, so ist daran wohl meistens seine Tochter schuld – das ist ein richtiges Leut, ein Madel, vor dem man den Hut abziehn muß bis auf den Erdboden; die regiert den ganzen Feichtenhof und den Bauern dazu – und heut’, heut’ muß er ihr justament aus’kommen sein, und da hat ihn der Domini in seine Händ’ kriegt, der hat seine Freud’ d’ran, wenn’s irgendwo was absetzt, und legt überall noch ein Scheit zu …“
„Wer ist der Domini denn eigentlich?“ fragte der Erste wieder. „Wie mag ihn denn der aufgegabelt haben?“
„Kann mir’s nicht einbilden,“ erwiderte der Wirth, „so viel aber weiß ich, wenn er auch noch so alert thut, aussuchen thät’ ich mir ihn nicht, wenn ich eine Gesellschaft haben wollt’! Er ist da drüben am Inn zu Haus, wo’s in’s Tirol hinein geht, ein Wirthssohn, und sein Vater soll so reich sein, daß er die Kronenthaler in Habermetzen mißt; er selber ist ein gelernter Metzger, und geht die meiste Zeit feiernd im Gäu herum, Vieh einzukaufen, mit dem er handelt …“
Das Gespräch wurde durch den stürmischen Eintritt der Bursche unterbrochen, welche auf des Bauers Geheiß am Tische Platz nahmen und sich nicht lang nöthigen ließen, an dem Gelage theilzunehmen; der Wirth trug zu, was man verlangte; war er auch mit der ganzen Zecherei nicht recht verstanden, so wäre es doch zu sehr gegen seinen Vortheil gewesen, einen Gewinn von der Hand zu weisen und solche Gäste durch Widerspruch auf vielleicht lange Zeit zu verscheuchen. Johlend und juchzend ward mit den Gläsern angestoßen, daß der Wein überströmte, und dabei von den Heldenthaten erzählt, die man eben verrichtet hatte. „Das ist ein Hauptgaudi gewesen,“ rief der Anführer der Bursche, eine stämmige Gestalt mit breitem, von Sommersprossen bedecktem Gesicht und brandrothen Haaren, „das muß ich erzählen, wie uns die alte Kramergütlerin von Mittling in’s Eisen gegangen ist.… Es ist ein böses Leut, das keinem Menschen was vergönnt und den Ehhalten statt des Mehls Kleien unter die Nudel mischt … ich weiß es selber, denn ich bin ein paar Wochen bei ihr im Dienst gewesen und hab’ ihr allerhand in ein Wachsl’ gedruckt … da ist sie uns heut’ justament recht in die Händ’ gelaufen, daß ich meinen Gift hab’ auslassen können an der alten Hex’! Ihr hättet das Gesicht sehn sollen, wie wir ihr den Weg versperrt haben und wie sie gesehn hat, daß sie sonst nirgends aus kann, denn links ist ein Kothlacken gewesen und rechts der Straßengraben.… Wie wir ihr gesagt haben, daß wir sie nicht durchlassen, wenn sie nicht über den Stock springt, den ich ihr vorgehalten hab’, da hat sie geschrieen und aufbegehrt und geschimpft wie ein Rohrspatz – zuletzt aber, wie sie gesehn hat, daß doch nichts Andres hilft, hat sie klein beigegeben und ist über den Stock gesprungen, wie der best dressirte Pudelhund … die Röcke sind nur so geflogen!“
Wildes Gelächter begleitete die Erzählung, in das auch der Feichtenbauer einstimmte, obwohl bei nüchternem Verstande ihm wohl kaum entgangen wäre, daß die einer Standesgenossin zugefügte Schmach mittelbar auch ihn treffe; die andern Bauern lachten gezwungen, sie wollten es mit dem Muthwillen des jungen Volkes nicht aufnehmen. Dadurch ermuntert, reihten die Bursche Erzählung an Erzählung und prahlten, wie draußen im Flachlande die jungen Leute den unbeliebten Landgerichtsoberschreiber zwangen, ihnen mit ausgespannten Armen das Vaterunser vorzusagen, und wie ein andermal ein wegen seiner scharfen Predigten gegen die sündhafte Tanzlust mißliebiger Pfarrer genöthigt wurde, auf offener Straße eine Menuett aufzuführen.
Ueber dem Lärmen und Schreien war der Eintritt eines weitern Gastes um so minder beachtet worden, als derselbe gleich unmittelbar neben der Thür Platz nahm, nachdem er einen ansehnlichen Holzkasten, den er als Rückenbürde trug, auf die Bank abgesetzt, und der ihn begleitende Spitzhund sich hart unter demselben und zu den Füßen seines Herrn niedergekauert hatte. Der Händler war ein bejahrter, aber immerhin noch rüstiger Mann, der, als er die Mütze abnahm, sich den Schweiß der Wanderung abzuwischen, einen fast ganz kahlen Scheitel entblößte; der blaue Staubkittel, den er trug, verrieth, daß er sehr arm oder sehr sparsam war, und dafür sprach auch, daß das Glas Bier, das er sich genügsam geben ließ, ihm nach Mühe und Hitze trefflich mundete. Er schien anfangs das Gespräch am Fenstertische gar nicht zu beachten; als es ihm nicht mehr entgehen konnte – war er keineswegs davon erbaut, schüttelte den Kopf und schob zuletzt seinen Krug mit einer nicht mißzuverstehenden Geberde des Unwillens und einem kurzer Lachlaute von sich.
Die Bursche, die ihn jetzt gewahrten, steckten die Köpfe zusammen, und der Keckste, der rothe Steger-Martl, rief herüber: „Heda, Landsmann … Du da hinten an der Thür …“
„Soll das mich angehn?“ fragte der Mann gelassen und wandte ihnen halb das Gesicht zu. „Ich wüßte nicht, daß wir miteinander Schwein’ gehütet hätten und Du und Du geworden wären, und Euer Landsmann bin ich auch nit …“
„Das hören wir an Eurer Sprach’,“ entgegnete der Bursche, „daß Ihr ein Blitzschwab’ seid – aber Ihr habt vorhin gelacht bei dem, was ich erzählt hab’, und da will ich Euch nur fragen, ob Ihr was dawider einzuwenden habt – ob Euch ’was nit recht ist? …“
„Ich sitz’ hier in offener Schenk’!“ erwiderte der Händler so kaltblütig wie zuvor, „und bin ein Gast wie jeder andere; ich frag’ nicht, was Andre an ihrem Tisch treiben, und brauche mich nicht fragen zu lassen, was ich an dem meinigen thue – aber damit Ihr nicht etwa glaubt, ich fürchte mich vor Euch, so kann ich Euch wohl sagen, über was ich gelacht habe … über Euch, weil Ihr damit groß gethan, wie Ihr an wehrlosen Menschen Euren Muthwillen ausgeübt habt, so Viele über Einen, so viele Bursche über ein altes Weib, und weil ich mir vorgestellt hab’, wie es wohl wär’, wenn Ihr einmal dabei an den Unrechten kämt!“
„So?“ sagte Martl, der aufgestanden war und sich mitten [757] in die Stube stellte. „Wenn Ihr uns in den Weg gekommen wärt und wir hätten von Euch verlangt, Ihr solltet Menuett tanzen, da wärt Ihr wohl gar der Unrechte gewesen?“
„Das glaub’ ich schier selber,“ sagte der Mann, indem er ruhig sitzen blieb, aber kein Auge von dem Burschen verwandte.
„Na – dann könnten wir’s ja da auch probiren,“ neckte Martl weiter und trat etwas näher. „Wir wollen’s gleich auf der Stell’ miteinander abmachen! Was thätet Ihr wohl sagen, wenn ich von Euch verlangte, Ihr sollt da auf den Tisch hinaufsteigen und aufwarten wie ein Pudel?“
„Ich würde Nein sagen,“ antwortete der Krämer fest.
„Und wenn ich Euch,“ fuhr Martl fort und hob drohend seinen Stock in die Höhe, „meinen Hainbüchenen da zeigen thät?“
„Dann ließ ich dem, der einen Hund aus mir machen wollt’, durch meinen Hund antworten,“ sagte der Krämer. „Paß’ auf, Löw’!“ Dabei stand er auf und griff ruhig nach seinem Kruge, ihn auszutrinken, der Spitz aber war aus seinem Versteck hervorgebrochen und lag nun, den Kopf auf die Füße duckend, sprungbereit auf allen Vieren da. So unansehnlich das Thier war, funkelten doch seine Augen so bedenklich, es knurrte und fletschte die Zähne so grimmig, daß der überraschte Bursche unwillkürlich zurücksprang und in eine Fluth von Scheltworten ausbrach. „Himmelsacrament,“ schrie er, „das ist keine Art und Manier … bietet Eurem Hundsvieh ab, Ihr seid ein dummer Mensch, der keinen Spaß versteht.“ …
„Auf einen solchen Spaß wenigstens bin ich nicht eingerichtet,“ sagte der Krämer, indem er die Tragriemen seines Kastens über die Schultern schlang und nach der Mütze griff. Martl hatte sich grimmig zurückgezogen, aber er wagte nicht weiter etwas gegen den Mann zu unternehmen, denn seine Flucht war so eilig und sonderbar gewesen, daß die Bauern und selbst seine Genossen in lautes Gelächter ausbrachen und der kalten Entschlossenheit des Hausirers ihren Beifall nicht versagen konnten. Der am lautesten lachte, war wieder der Feichtenbauer, der den Mann durchaus veranlassen wollte, zu bleiben und an dem Gelage theilzunehmen. „Gut hast Deine Sach’ gemacht, Du Blitzschwab!“ rief er. „Da komm’ her und trink’ ein Glas’l mit mir … was hast denn in Deinem Kasten? Mit was handelst denn? Leg’ aus Deine Waar’, ich kauf’ Dir s’ ab … ich kann’s zahlen! Was kostet der ganze Bettel?“
Der Hausirer war furchtlos hinzugetreten und that aus dem gebotenen Glase Bescheid. „Mit kleiner, leichter Silberwaare, Herr,“ sagte er, „mit Leinwand, Tüchern und allerhand schöner Schnittwaar! Ich hab’ Spitzen, so fein wie Spinnweb’, die taugen überall hin, an ein Taufgewand, an ein Todtentuch, oder an einen Hochzeitsschurz …“
„Hahaha,“ lachte der Bauer, „mit dem Todtentuch soll’s noch eine gute Weil’ haben, denk’ ich – aber einen Hochzeitsschurz könnt’s wohl absetzen und ein Taufgewand.“ … Dabei stieß er Domini mit dem Ellenbogen in die Seite und blinzte ihm zu, daß die Bauern einander ansahen und zunickten, als wenn sie sagen wollten, daß ihnen nun über Manches ein Licht aufgegangen. „So pack’ aus, Kramer,“ fuhr er fort, „laß sehn, was man brauchen kann!“
„Ich kann nicht,“ erwiderte dieser, „ich bin auf Mittag zu dem Herrn Pfarrer von Kreuzling bestellt … ich hab’ noch zwei gute Stunden zu gehn und darf die Kundschaft nicht versäumen - der hochwürdige Herr will ein ganzes Altargewand kaufen.“ …
„Wie viel ist’s denn schon?“ sagte Domini und zog seine Uhr hervor, daß die Kette über seine Hand herabhing und die Aufmerksamkeit des Händlers auf sich zog. „Eine schwere Kette,“ sagte er, indem er sich vorbeugte und sie betrachtete, „und sauber gearbeitet … das ist ein Schwäbischgemündnerstück … ist Euch die Kette nicht feil? Mir gefallt sie besonders wegen dem Napoleonskopf, der auf der Walze eingegraben ist.“
„Nein,“ rief Domini lachend, „das ist sie nicht! Hättet Ihr Lust dazu? Will’s glauben, daß sie Euch in den Kram taugte … aber ich hab’ selber meine Freude daran. … Laßt dafür Eure eigne Waare ansehn. …“
„Es geht nicht,“ entgegnete der Händler. „Ihr werdet nit wollen, daß ich das gute Geschäft versäum’, wegen dessen ich eigens den weiten Weg gemacht hab’ … es ist bald elf auf Eurer Uhr, ich muß fest auftreten, damit ich noch zur rechten Zeit nach Kreuzling komm’ … aber wenn’s Euch so recht ist und mir der Herr ’was zu lösen geben will, so dürft Ihr mir’s nur sagen, wo Ihr daheim seid, und wenn Ihr mir für die Nacht ein Plätzchen in Eurem Stadel geben wollt, will ich noch vor Abends bei Euch einsprechen und Alles auspacken, was ich habe. …“
Der Bauer war es zufrieden, er hatte nicht nöthig, die Lage seines Gutes erst lange zu beschreiben, der Krämer kannte es bereits.
„Ein schöner Hof,“ sagte er, „ich kenn’ ihn lang’, man sieht ihn ja stundenweit, aber er liegt doch so weit ab, daß mich mein Weg noch niemals hingeführt hat … dafür will ich heut’ kommen und gehe jetzt meiner Handelschaft nach, und damit Adies.“ … Er ging; an der Thüre aber wandte er sich und rief lachend zurück: „Paß’ auf, Löw’ – daß uns Niemand den Weg verlegt!“
Lachen begleitete ihn, und die erst so feindliche Begegnung schien vollkommen friedlich verlaufen zu wollen, als er nochmals zurückkehrte und dem Wirthe zurief: „Da fällt mir eben ein, daß ich noch etwas vergessen habe. … Ich bin heut’ Morgens da drüben in der Thalschlucht an der einzelnen Mühle vorbeigekommen, die Müllerin ist eine Kundschaft von mir … Ihr werdet sie ja kennen, Wirth?“
„Freilich,“ rief dieser, „sie ist sogar eine weitschichtige Bas’ von mir, die Rohrmüllerin … was ist’s da mit ihr?“
„Ich habe nachgefragt, ob sie diesmal nichts braucht,“ erzählte der Krämer, „aber die Frau ist ganz auseinander gewesen und ganz verwirrt … ihr Sohn ist in der vorigen Nacht so arg geschlagen und verwundet worden, daß er im Bett liegen muß und fast nichts von sich weiß … sie läßt Euch bitten, Ihr sollt ihr von dem Wunderbalsam schicken, der so heilsam sein soll. Ihr wißt schon welchen, hat sie gesagt …“
„Gleich will ich den Buben damit hinüberschicken,“ rief der Wirth, indem er den Balsam aus einem Schrank hervorholte und die Ueberbringung anordnete. „Aber was ist denn mit dem Müller Hies geschehn? Wer hat ihm denn was gethan?“
„Das weiß ich nicht,“ erwiderte der Hausirer. „Die Mutter sagte, er wolle bald heirathen, seine Braut wohne im nächsten Dorf – er habe sie besuchen wollen und sei von dort so zurückgekommen …“
„Aha!“ riefen die Bursche lachend, „er ist Gassel gegangen und die Dorfbuben werden ihn ein Bissel gescheitert und gewasen’t haben …“
„Gescheitert?“ fragte der Krämer verwundert. „Was soll denn das heißen?“
„Da merkt man’s,“ entgegnete Steger-Martl, „daß Ihr nit bei uns daheim seid, weil Ihr unsre Brauch’ nit kennt! Wenn ein Bursch zu seinem Schatz Gassel geht und am Kammerfenster mit ihr discutiren und spenzeln will, nachher passen ihm die Buben auf und leiden’s nit, und wenn er nit aus dem Dorf ist, wird er hinausgejagt und wird mit Wasen (Wasenstücken) und Holzscheitern geworfen, bis er’s gut sein laßt oder bis er sich einmal stellt und sich durchrauft …“
„Nun, das muß wahr sein,“ rief der Krämer, indem er sich wieder zum Gehn anschickte, „Ihr habt schöne Gebräuche hier zu Land’ …“
„Oho!“ tönte es ihm vielstimmig entgegen, „wem es nicht gefallt bei uns, der braucht ja nicht da zu bleiben! Der Bändelkramer könnt’ auch was Gescheidres thun, als sich über die Leut’ aufhalten, die ihm seine Fetzen abkaufen sollen! So ist’s einmal Brauch bei uns und soll’s bleiben, und wem’s nit recht ist, dem machen wir’s recht!“
Hätte der Hausirer sich nicht so schnell auf die Beine gemacht, es wäre wohl möglich gewesen, daß die Bursche, auf den ersten Disput zurückkommend, die Doppelrechnung nachträglich auf einmal ausgeglichen hätten. Als man ihn nicht mehr sah und als Domini wieder die Cithersaiten schwirren ließ, wurde er vergessen; die Gläser wurden wieder eifriger gefüllt und dazu klangen die Schnaderhüpfeln und Trutzreime in der Runde:
„Und wer will a richtiger
Gasselbub’ wer’n,
Der darf sich um’s Was’nen
Und Scheitern nit scher’n!“
begann Domini, und der Steger-Martl fuhr fort:
[758]„An’s Was’nen und Scheitern,
Bue, darfst Dich nit kehr’n.
Wer das Gasselgehn fürcht’,
Hat sein Diendel nit gern!“
Ein Dritter aber schnalzte mit der Zunge, klatschte in die Hände und sang dazu:
„Das ist die recht’ Gaudi,
wenn All’s a so fliegt,
Nacha weiß ’s Diend’l doch,
Daß ’s kein Lettfeigen kriegt!“
Die Unterhaltung wurde immer lauter, die Gäste immer lustiger. Der Feichtenbauer hatte völlig vergessen, daß es noch eine Tochter gebe, auf die er zu warten habe; desto mehr gedachte Domini daran und wurde immer unruhiger, je länger deren Erscheinen sich verzögerte. Der Wallfahrtsgottesdienst mußte längst zu Ende, die kurze Wegstrecke von der Kirche zum Bergwirthshause längst zurückgelegt sein, wenn nicht unterwegs ein Aufenthalt stattgefunden … er gedachte des Umstandes, daß Wendel von dem Bauern loszukommen gesucht, und glaubte auf einmal die wahre Ursache davon zu errathen; er sah dessen Miene, als ihm angekündigt worden, er habe die Tochter zu erwarten und zu geleiten … und die einzelnen Funken fanden und trafen sich immer mehr und loderten zu Einer Flamme zusammen, die ihn bald nicht mehr rasten ließ und die Cithersaiten unter seinen Fingern glühen machte. Eine Weile rang er noch mit sich, es war ihm unerwünscht, den Bauer in seinem Zustande mit den Anderen allein zu lassen und vielleicht zu Fragen und Einflüsterungen Gelegenheit zu geben, die ihm unangenehm sein konnten – endlich gewannen Sorge und das Verlangen, sich Gewißheit zu verschaffen, die Oberhand, ein flüchtiger Blick auf die Zecher und den Bauer ließ ihn hoffen, daß mindestens für einige Augenblicke nichts zu befürchten sei.
„Ich will doch meiner Hochzeiterin ein Bissel entgegen gehn,“ raunte er dem Alten zu, „vielleicht kann ich gleich meinen Spruch anbringen,“ und verließ, von dem Nicken und Lachen desselben begleitet, die Stube.
Das Liebespärchen war indessen in traulichem Gespräch still und langsam seinen schönsten Lebensweg gewandelt, beschäftigt mit Entwürfen und Hoffnungen der Zukunft, die, unter jedem ihrer Schritte aufsprossend, sie grün und blüthenreich umgaben, wie die Saaten und Sträucher um sie her, oder sich selbst erfreuend mit Rückschau in die Vergangenheit und dem Aufsuchen der ersten Keime, aus denen die beglückende Neigung sich entfaltet. Sie waren Beide so schön in ihrer Liebe, klar und rein wie der Himmel über ihnen, daß es schien, als ob die Natur um sie her sich ihres Bundes erfreue, als ob ihretwegen die Büsche festlicher rauschten, die Vögel zärtlicher sängen und die Sonne goldener schiene.
Als sie am Eingange des Dorfes angelangt waren, blieb Christel stehn und hieß Wendel vorangehn und den Vater von ihrem Kommen verständigen; sie wolle in dem Wirthshause nicht verweilen, sondern trachten, daß sie eilig nach Hause kämen – dort wolle sie dann Alles entdecken und in Ordnung bringen. „Jetzt,“ sagte sie, „will ich noch einen Augenblick bei der alten Bäckin einkehren; ich hab’ es ihr versprochen und muß es wohl halten, denn wenn sie nicht gewesen wär’ und mir Alles erzählt hätte, wär’s jetzt nicht so schön, wie es geworden ist.“ …
Wendel war bereit. „Ich geh’ schon,“ sagte er, „zuvor aber gieb mir noch einmal Deine Hand und sag’ mir’s noch ’mal, damit ich’s glauben kann, daß alle die Glückseligkeit nit bloß ein Traum und eine Einbildung ist … sag’ mir, daß Du mich gern hast, Christel …“
„Von Herzen,“ sagte sie, ihm die Hand reichend und mit einem Blick, in dem ihre ganze Seele offen lag. „Ich will Dein Weib werden, Wendelin, und niemals von Dir lassen – niemals, so gewiß als ich einmal in den Himmel kommen will …“
„Und ich will Dich gern haben – über Alles,“ rief Wendel und drückte ihr feurig die Hand, „wie meinen Schutzengel! Aber ich will Dich auch nimmermehr lassen. … O mein Gott, wenn ich mir’s jetzt nur denke, daß Dich mir Jemand nehmen wollt’ … daß der Vater vielleicht Nein sagen könnt’ … Christel, ich weiß nit, was ich im Stand’ wär', zu thun! Bei der bloßen Einbildung steigt es mir ganz heiß auf und wird mir völlig schwarz vor den Augen …“
„Sei nit so wild, mein Bub’,“ sagte sie mit lieblichem Lächeln, „es steht Dir zwar recht gut an, wenn Du das Göschel so in die Höh’ ziehst in Deinem Eifer – aber ich kann’s nit leiden, das übertriebene Wesen! Sorg’ Dich nit – der Vater sagt nit Nein und es nimmt mich Dir auch Niemand, denn zum Nehmen gehören Zwei, Einer, der nimmt, und Einer, der sich nehmen laßt … Aber noch einmal, sei mir nit so wild; ich hab’s schon öfter gemerkt an Dir, daß Dich die gahe Hitz’ so überkommt – das mußt’ Dir abgewöhnen, Wendel – das ist nichts nutz’ …“
„Ja – ja – ja,“ rief der glückliche Bursche entgegen, „ich will ja Alles thun, was Du verlangst – ich will so fromm und so gut werden, wie Du ’s selber bist … aber mit Dir, Christel, mit Dir … Du mußt mich erst dazu machen!“
Sie schüttelten sich noch einmal die Hände und trennten sich, Wendel ging den Wiesenpfad hinter den Obstgärten des Dorfes entlang, das Mädchen trat in das bezeichnete Haus.
Unbeachtet und ungeahnt von Beiden war inzwischen Domini auf einer kleinen Erhöhung des nächsten Gartens gestanden und Zeuge ihrer Unterredung geworden; der Weindunst war ihm völlig verflogen, sein Gesicht noch blässer und verzerrter als sonst, denn wenn er auch zu weit entfernt war, die Worte des Gesprächs verstehen zu können, ließen doch die ganze Haltung desselben und jede Geberde erkennen, daß der Inhalt nicht von der Art war, wie sie zwischen Herrin und Knecht zu erwarten war. Knirschend biß er die Zähne übereinander, ballte die Fäuste und griff nach der Tasche, als wolle er ein Messer hervorziehn; eine Weile hatte er geschwankt, ob er nicht umkehren und den Bauer als Augenzeugen herbeirufen solle … dann rannte er die Anhöhe herab, entschlossen, um nicht blinden Lärm zu machen, sich vor Allem selbst volle Gewißheit zu verschaffen.
Er hatte nicht lange an dem Hause, in das Christel eingetreten war, zu warten; nach kurzem Aufenthalte trat selbe auf die Schwelle, sich mit heiterem Lachen verabschiedend – es brach ab und machte einem Laute der Ueberraschung Platz, als sie, um die Ecke biegend, plötzlich Domini gegenüber stand. Ein unerklärlich widriges Gefühl überkam sie, als sie in das blasse verzogene Gesicht und die boshaft funkelnden Augen des Burschen sah; es war, als ob eine eisige Hand ihr plötzlich an das heiß pochende Herz greife, und ein grausender Schauer überflog sie, wie er Jenen befällt, der im Begriff, Blumen zu pflücken oder Früchte zu sammeln, plötzlich die kalte Haut der Schlange berührt, die unter den Stengeln und Blättern auf der Lauer liegt.
„Grüß Gott,“ rief er ihr mit höhnischem Lachen zu, „die Jungfer Christel laßt hübsch lang’ auf sich warten – die Zeit muß ihr geschwinder vergangen sein, als anderen Leuten …“
„Was wollt Ihr?“ erwiderte sie, noch immer betroffen. „Wie kommt Ihr da her?“
„Wie ich da her komme? Was ich will?“ spottete Domini. „Das wird die Jungfer schon erfahren – das wird ihr schon Jemand Anderer sagen … aber jetzt bin ich einmal da und hab’ ihr Grüß Gott gesagt, da mein’ ich, thät’ sich’s vor Allem gehören, daß sie mir dankt und mir auch Grüß Gott sagt!“
„Ich bleib’ keinem Menschen Red’ und Antwort schuldig,“ entgegnete Christel, sich fassend, „aber für Euch hab’ ich kein Grüß-Gott und kein Dank-Gott … ich fürcht’, ich thät’ mich versünden, wenn ich bei Euch unsern Herrgott in den Mund nähm’. … Habt Ihr mir nit versprochen, daß Ihr mir nie mehr in den Weg kommen wollt, mein Leben lang?“
„Ho … Zeit und Weil’ sind ungleich,“ rief er hinwider, „es geht nit allemal, wie man sich’s einbildet! Wenn es mich nun reuen thät’, was ich versprochen hab’? Wenn ich nicht leben könnte ohne die Jungfer Christel und wäre deswegen wieder gekommen? Warum ist denn die Jungfer gerade gegen mich so zuwider und harb’?“ setzte er mit lauerndem Blick hinzu. „Es ist doch nit alleweil’ so gewesen …“
Eine dunkle Gluth der Scham und des Unwillens flog über das Antlitz des Mädchens. „Freilich ist’s einmal anders gewesen,“ sagte sie mit erhöhter Stimme, „freilich bin ich dummes Ding einmal schon auf dem Wege gewesen, Euch für ’was zu halten, was Ihr nit seid – aber mein Schutzengel hat mich glücklich davor bewahrt und hat gemacht, daß mir die Augen aufgangen sind, noch zur rechten Zeit … drum laßt mich meiner Weg’ gehn und kommt mir nit wieder vor’s Gesicht, sonst bin ich auch von meinem Versprechen frei und sag’ dem Vater Alles!“
In einem gesunden Körper wohnt eine gesunde Seele. Dieser Ausspruch bewährt sich vollkommen bei jedem naturwüchsigen Thiere. Das von den kräftigsten Eltern ererbte Gut, die Gesundheit, kann aber Nachlässigkeit und Lüderlichkeit untergraben, eine naturgemäße, emsige Pflege hingegen sie dem Thiere auf Lebenszeit befestigen. Einfache, kräftige Nahrung und Reinlichkeit sind die Factoren zur Begründung und Erhaltung der Gesundheit unserer Hausthiere, absonderlich des Hundes. Sein Behälter sei geräumig und luftig, im Sommer kühl, im Winter hingegen warm. Immer rein gehalten, übt die Umgebung auch auf den Hund den wohlthätigen Einfluß, daß er mit ihr sich selbst rein hält. Aber das Thier muß sich frei bewegen können, frei von der Last und dem Druck der Kette. Wie manche gesunde Kraft versiecht, wie viel Lebensmuth, Anhänglichkeit und Liebenswürdigkeit verschmachtet an diesen verhängnißvollen eisernen Banden! Wahrlich, dieses Elend an der Kette ist ein schwarzer Fleck auf den Gedenkblättern unserer Culturgeschichte und ruft in der düsteren Bedeutung der Worte „ein Hundeleben führen“ mit ernster Mahnung unsere Menschlichkeit an.
Der frei sich bewegende und entwickelnde Hund wird an Körper und Geist ein gesundes, gewandtes, vielseitiges und gehobenes Wesen. Man bringe ihn freundlich an seine Seite, leite
und unterrichte ihn als Freund, um ihn zu demjenigen Hausthier
heranzubilden, das unseres Verkehrs am würdigsten ist, und jede
Mühe, die wir an seine Ausbildung wenden, belohnt sich ebenso
angenehm als nutzbringend. Mag es doch nicht außerhalb der
Erfahrung liegen, daß eine wohldressirte Hündin ihre höhere
Hundebildung auch auf ihre Jungen in ihrer drollig nachäffenden
Weise überzutragen versuchen sollte; denn unserm trefflichen Specht möchten wir gern glauben, daß er zu der reizenden Darstellung
der instruirenden Hundemutter ein leibhaftiges Original vor Augen
gehabt habe. Zwar verstößt die Peitsche in der vorliegenden
Anwendung gegen bestimmte Paragraphen der Hundedressur; uns
gewährt aber der Mißbrauch dieses gefürchteten Erziehungsinstrumentes
einen köstlichen Einblick in das gemüthliche Leben der Hundekinderstube.
Unsere heutige Aufgabe geht allerdings über dieses Bild hinaus und leitet uns zu der angemessensten Form der Erziehung des Hundes in ihren Grundzügen hin. Wir folgen ihr mit großer Freudigkeit aus dem lebendigen Bereiche unserer Erfahrungen heraus und in dem warmen Bestreben, die glänzende Begabung unseres „Menschthieres“ in’s beste Licht zu stellen und dieser gemäß vor dem großen Forum der Gartenlaube eine würdige Behandlung und Schulung unseres Hundes zu befürworten.
[760] Die erste Grundlage der Erziehung des Hundes bildet frühzeitige, unausgesetzte und freundliche Beschäftigung mit ihm. Schon bei seiner Geburt walte das aufmerksame Auge seines Pflegers über dem kleinen Wesen; er unterstütze die Fürsorge der Mutter durch warmes und trocknes Betten der Jungen, helfe der Alten an Körperkraft auf durch gute, reichliche Nahrung, um so mittelbar auch die Ernährung der Jungen zu befördern. Gut genährt und von plagenden Schmarotzern gereinigt, entwächst das Hündchen gesund und kräftig den Säuglingswochen und tritt nunmehr in die Pflege seines Erziehers. Dieser beginnt in der achten oder neunten Woche die belehrende Beschäftigung mit dem jungen Schüler. Indem er den Kern aller Erziehung, welcher in dem alten Sprüchwort „Jung gewohnt, alt gethan“ liegt, vernünftig ausbeutet, sichert er sich weiter einen unfehlbaren Erfolg dadurch, daß er dem Schüler Alles – auch das Schwierigste – spielend beibringt. Dem jungen Hunde Appell lehren oder beibringen, heißt nichts anderes, als ihn durch humanen Umgang vertraulich, anhänglich, willig und folgsam machen.
Nichts Unsinnigeres kann erdacht werden, als der alte Gebrauch der Thier-Schultyrannen. Man ließ den Hund dreiviertel oder ein Jahr in völliger Zügellosigkeit zu einem wahren Tölpel voller Unarten heranwachsen, und nun brachte man ihn plötzlich in das Fachwerk einer Dressur hinein, deren Pedanterie und Schablonenmäßigkeit jedem einsichtsvollen Thierkundigen geradezu lächerlich erscheinen muß. Wer kennt nicht das kriechende Avanciren und abwechselnde „Couche tout beau“ vor dem „Dressirbock“, diesem Popanz der Hühnerhund-Schule? – wer nicht das pedantische Lenken an langer Dressirleine im Felde nach der sogenannten Stubendressur, wo dem oft mit Korallen und Peitsche mißhandelten Thiere so recht exemplarisch die „graue Theorie“ alle Lust zur Jagd, alle Anhänglichkeit und Liebe an den Herrn auf ewig austrieb, gerade so wie die Eindrücke einer einseitigen Schultyrannei den menschlichen Geist verdüstern und nicht selten jeder höheren Entwicklung entfremden? Wer mag es wohl nicht schon gesehen haben, daß der Stock, den der lernbegierige Pudel aus dem Wasser holen soll, wenn dieses heitere Gemüth ihn kurz vorher als ein Werkzeug der Mißhandlung kennen gelernt hat, nun ihm auch ein Gegenstand des Abscheus und der Furcht bleibt, vor dem das geängstete Thier zurückweicht, statt ihn als ein beliebtes Gebrauchsstück seines Herrn freudig herbeizubringen? Gewiß sind Viele schon Zeugen jener großen Kurzsichtigkeit gewesen, wodurch selbst Wasser liebende Hunde vor diesem Elemente einen gründlichen Widerwillen bekommen, wenn ihre herrischen Gebieter beim Zagen der Schüler, in’s Wasser zu gehen, zu jener vermeintlichen Radicalcur der Gewalt griffen, den Hund entweder in’s Wasser zu stoßen oder, an Hals und Rücken gepackt, hineinzuwerfen! Solche Mißerzieher sind auch die Urheber der traurigen Erscheinung „verschlagener“ und „handscheuer“ Hunde, dieser Armensünder des Prügelsystems, die bei dem Pfiff oder Ruf ihres Tyrannen zusammenschrecken und sich verkriechen, durch deren ganzes Leben sich sozusagen der brennende Faden der Furcht und des Zagens zieht! Doch Dank der unverwüstlichen Natur unseres ebenso intelligenten als geduldigen Thieres gingen selbst aus dieser traurigsten aller Schulen zuweilen vortreffliche, brauchbare Hunde hervor; aber bei weitem die meisten wurden für ihr Leben verpfuscht und viele talentvolle kamen nicht zur vollen Entwicklung ihrer Eigenthümlichkeiten[WS 1].
Kehren wir dieser düsteren Knechtung den Rücken und beschauen uns die heitere Unterweisung auf humaner Grundlage. Durch häufigen Verkehr und dadurch, daß wir ihn selbst füttern, haben wir uns des kleinen Zöglings Zuneigung bereits in hohem Grade erworben. Wir haben ihn an Namen, Ruf und Pfiff und – ist es ein Hühner- oder anderer Jagdhund – nach und nach auch an die Leine gewöhnt. Nun führen wir ihn mit uns spazierend in’s Freie, anfangs nur kurze Strecken, allmählich weiter. Schon in der zwölften Woche kann eine fleißigere Lehre im Apportiren beginnen. Indem man schon frühe vor dem Hündchen spielend etwa einen Ball hinrollt, wird es eifrig danach springen, ihn haschen, aufnehmen und dem freundlich es zu sich Lockenden bald auch bringen. In Kurzem werden Wiederholungen dieser Spielübungen, welche den Schüler jedoch niemals ermüden, wohl aber beleben sollen – demselben zur Gewohnheit, die er bei allmählich ernsterer, aber immer milder Behandlung, wie durch Belobungen und Schmeicheleien, stets lieber gewinnt. Auf dieser Grundlage baut man nun leicht weiter. Man beginnt alsdann mit hierzu sich eignenden Racen, wie dem Pudel, Hühnerhund, der Dogge, dem Neufundländer und selbst dem Pommer, die Lehre, das Verlorene und Versteckte zu suchen. Zuerst verbirgt man das vom Hunde Herbeizubringende vor seinen Augen, so daß er es sogleich auf den Zuspruch: „Such’, verloren!“ ohne Mühe hervorholen kann. Allmählich geht man weiter und hat bei einem einigermaßen gelehrigen Thiere bald die Freude, außerordentlich schnelle Fortschritte zu bemerken. Nach jedem gelungenen Versuche belobe man den Hund oder reiche ihm zeitweis nach dem Zustandebringen besonders schwieriger Aufgaben einen Leckerbissen. Von entschiedenem Erfolge bei den Uebungen mit meinen Hühnerhunden war immer die Weise, daß ich einen mit Heu ausgestopften Kaninchenbalg, den man bei dem Größerwerden des Hundes mit einem Hasen- und zuletzt mit einem beschwerten Fuchsbalg vertauscht, eine immer weiter geführte Strecke bis zu einem verborgenen Orte auf dem Boden hinschleifte, sodann den im Stalle oder an einer Leine liegenden Hund auf die Spur des Geschleiften mit dem beschriebenen Zurufe hetzte. Alle meine Zöglinge begriffen, nachdem sie erst einmal ohne Anstand apportirten, sofort das Versteckte zu suchen und zu bringen schon im ersten Vierteljahre ihres Lebens. Ich habe bei mehreren die Freude erlebt, daß sie weite Strecken nach dem Verlorenen zurückgingen, ja ich habe sogar einen besonders begabten Hühnerhund herangezogen, welcher halbe Stunden Wegs weit dies immer willig und mit sicherem Erfolge that. Keine bessere Vorübung, eine Wildfährte zu verfolgen, das gefundene oder gefangene Wild oft fernher herbeizubringen, giebt es für den Zögling, als die beschriebene.
O trefflicher, unvergeßlicher Caro, wie gedenken wir Brüder deiner gerade bei diesem Abschnitte der Dressur so lebhaft! Wohl ruhst du, leider zu frühe und ohne Nachkommenschaft geschieden, nun im Grabe, aber die Thaten deiner Intelligenz auf Jagd und Spaziergang leben noch fort im Allen, die Zeugen deiner Liebenswürdigkeit, Klugheit und großen Bravour waren! Mit Stolz und Freude verkünden wir deinen Ruhm in diesem Blatte, und besonders eine ergötzliche Thatsache mache die lebendige Runde in dem Gebiete der Gartenlaube.
Eine Stadt am Main, wo uns vor wenig Jahren noch ein lieber, jagdbeflissener Oheim wohnte, dem wir den dreijährigen schwarzen Riesenhund mit der großen stolzen Fahnenruthe nicht ohne Herzweh überließen, sollte der Ort der unvergeßlichsten That Caro’s werden. An einem der Stadt benachbarten Badeorte fiel einst unserem Oheim vor dem Nachhausewege ein, Freund Caro eine Probe seiner glänzenden Fertigkeit im Verlorensuchen ablegen zu lassen. Er ließ zu dem Ende sein Taschentuch auf seinem Sitze in dem besuchten Vorplatze des Tempels der trügerischen Göttin Fortuna mit der Bitte an die Versammlung zurück, es für den in einer Viertelstunde erscheinenden Meister Caro zur Entwicklung seines Talentes fein liegen zu lassen. Herr und Hund waren eine Weile weggegangen, als es einem Spielgehülfen des grünen Tisches gefiel, den als Schalk bekannten Oheim düpiren zu wollen, indem er das Taschentuch in die Schooßtasche seines eleganten Fracks verbarg. Unter großer Erwartung des Publicums erschien endlich Meister Caro innerhalb der angegebenen Zeit auf der Bühne. Majestätisch-sicher markirte er jeden Ort, wo sein Herr sich vorher aufgehalten, und auch besonders scharf und wiederholt die Stelle auf dem Sessel, wo noch vor Kurzem das Taschentuch gelegen. In kluger Ahnung umging er nun mit hoch gehobener Nase den Umkreis, und im Nu hatte der vortreffliche Spürsinn durch allen Parfüm hindurch das Taschentuch im Croupier-Fracke gewittert. In sichtlicher Verlegenheit ob der Entdeckung des Hundes drehte sich der Mann der Roulette zu wiederholten Malen vor der schnuppernden Nase des Thieres wie eine Glücksscheibe im Kreise herum, bis plötzlich – o vergeltendes Schicksal! – unter homerischem Gelächter des Publicums der göttliche Caro den halben Schooß des Fracks mit dem theuren Fund durch einen derben Riß sich annectirte und mit dem corpus delicti im Rachen wie der Wind davonjagte! –
Und wenn ich hierzu die Versicherung gebe, daß der Hund von mir niemals einen Schlag bekam, dann bedarf es wohl keiner besonderen Empfehlung unserer Lehrweise. Jeder Hund wird bei der angedeuteten Behandlung ohne alle Gewaltmaßregeln alles das begreifen und willig lernen, was er überhaupt zu lernen fähig ist. Denn durch einseitiges, kurzsichtiges Meistern wird [761] alles das nur irre geleitet, ja unterdrückt und verdorben, was aus der Naturgabe des Hundes heraus sich in der Schule der Erfahrung mit den verschiedensten Zügen der Eigenthümlichkeit oft so überraschend entfaltet. Man wecke – wir wiederholen es – nur die Anhänglichkeit und Liebe des Thieres. Beide leisten das scheinbar Unmögliche. Auch hier mögen Thatsachen sprechen. Unser „Bruno“ gerühmten wackeren Wesens konnte ohne uns Brüder fast nirgends sein. Einst nahm ich ihn mit auf einer Reise von Staden in der Wetterau über Friedberg per Eisenbahn nach Darmstadt. Dort aus dem dunkeln Eisenbahnbehälter gethan, folgte er mir in die Stadt. Ich legte ihn in meinem Logis an den Fuß einer Bettstelle mittels eines leichten Strickes an und ging auf längere Zeit aus. Während meiner Abwesenheit riß sich das nach mir verlangende Thier los, sprang zu dem offnen Fenster des untern Stocks hinaus in den Hof und suchte, wie später in Erfahrung gebracht wurde, viele Straßen vergeblich nach mir ab, weil ein Platzregen meine Spur für die Nase des Hundes gänzlich verwischt hatte. Zuletzt wurde das treue Thier noch von dem Director des Bahnhofes gesehen, wie es längs der Schienengeleise gen Frankfurt davoneilte. Bruno war am Abend des folgenden Tages in der geliebten Heimath – fünfzehn Stunden unbekannten Wegs weit – angekommen! Seine große Aufmerksamkeit verband sich mit seiner Anhänglichkeit an den Herrn, und beide Eigenschaften ließen den Hund Manches erlernen und empfangen, wozu ein Hühnerhund gewöhnlichen Schlags kein Interesse zeigt. Bald hatte er auf unseren Excursionen, die fast stets Forschungen in der Natur gewidmet waren, sich es abgemerkt, daß unter Anderem Vogelnester gesucht wurden, und in kurzer Zeit verhalf uns seine vortreffliche Nase rasch und sicher zu Nestern aller Art: das kluge Thier fand sie wie Hühner und Hasen.
Aber dieses Absehen, gleichsam dieses Nachahmen menschlicher Handlungen von Seiten des Hundes ist nur ein Product vielfältigen freundlichen Verkehrs mit ihm, und wir kommen zurück zu der thatsächlichen Wahrheit: der Mensch zieht den Hund durch milde, freundliche Behandlung und durch häufigen Umgang mit sich zu sich heran. Aber auch umgekehrt dem Menschen könnte der gefügige, geduldige Hund seine Leidenschaft und Rohheit bändigen lehren. Vergißt unser Thier doch so leicht Mißhandlungen, vergilt es doch solche nicht selten durch Handlungen der aufopferndsten Liebe! Darum ihr Alle, die ihr Menschlichkeit und warmes Gefühl für unsere Mitgeschöpfe in der Brust heget, wendet sie an bei jedem Thiere, das im Dienste der Menschheit seine trefflichsten Eigenschaften offenbart!
Auch ein König.
Seit vierzehn Tagen schon flanirte ich in London und hatte bereits alle Quartiere der Arbeit und der Aristokratie durchstrichen. Ich glaubte Alles gesehn zu haben und fing schon an mich gründlich zu langweilen. „Und doch,“ sagte mein englischer Freund, der mit der Topo- und Ethnographie von London sehr vertraut war und mich oft auf meinen Streifzügen begleitete, „eine unserer Berühmtheiten, eine Notabilität ersten Ranges, welche in ihrer Art wohl nirgends ihres Gleichen hat, kennen Sie doch noch nicht. Kommen Sie – das ist Savile Row“, setzte er hinzu.
Die Straße schien mir nichts Bemerkenswerthes zu haben, es war eine von jenen monotonen Gassen mit den schmalen grauen Häusern, von denen jedes auf’s Haar dem andern gleicht, wie man sie in diesem Theile Londons zu Hunderten und Aberhunderten findet. Da sah ich plötzlich über einem der kohlen- und rauchgeschwärzten Gebäude das königliche Wappen mit seinen drei Straußfedern in ungewöhnlich großen Dimensionen und reichster Ausstattung.
„Irgend ein Hoflieferant?“ frug ich gleichgültig.
„Ein Hoflieferant!“ wiederholte mein Begleiter mit einem mitleidigen Lächeln. „So wissen Sie also nicht, daß wir hier vor der Residenz eines Königs, vor dem Geschäftspalaste des Kaisers der Schneiderwelt, mit Einem Worte vor der classischen Stätte stehen, die sich der weltberühmte Waters zum Herrschersitz erkoren hat? Um’s Himmelswillen,“ fuhr er fort, „lassen Sie hier nicht laut werden, daß Sie Waters nicht kennen, sonst sind Sie in unserer fashionablen Welt auf immer und ewig unmöglich gemacht. Er ist ja der glückliche Mann, welcher eine ganze Galerie von gekrönten Häuptern zu seinen vertrauten Freunden zählen darf, und ich – bin einer von seinen geringsten Unterthanen, dessen Loyalität durch eine Reihe ominöser Ziffern in einem seiner centnerschweren Hauptbücher – für Manche gar entsetzliche Werke! – sattsam gewährleistet ist.“
„Gekrönte Häupter?“ warf ich ein, „ist das nicht eine kleine rhetorische Figur?“
„Durchaus nicht, vielmehr ganz buchstäblich gemeint. Der kranke Mann drüben an der Seine neigt seinen Hals unter Waters’ Maßbande. Der Kaiser aller Reußen sendet ein Telegramm nach Savile Row, denn die Vermählung seines Thronfolgers naht heran, und stracks begiebt sich der Herrscher über Quadratmeilen von Tuch und Buckskin sammt Courier und Geschäftsführer nach Berlin, wo er, nach Uebereinkunft, einen Congreß von kaiserlichen Gesandten vorfindet, der sich nicht mit eitlen diplomatischen Verhandlungen, sondern mit viel praktischeren und nützlicheren Fragen zu befassen hat. Und mehr noch, jener Werk- und Geschäftsführer, selbst eine hochwichtige und hochmögende Persönlichkeit, ist soeben erst aus Aegypten zurückgekehrt, wohin ihn der Khedive beordert hatte, um sich für die bevorstehenden großen Suezcanal-Festlichkeiten nach der neuesten europäischen Mode ausstaffiren zu lassen.“
„Ein so großer Mann, wie Sie mir da diesen Phönix von Schneider schildern, läßt sich wohl selten zu dem gemeinen Gros der kleiderbedürftigen Menschheit herab?“ meinte ich, durch die Mittheilungen meines Freundes allmählich neugierig gemacht[WS 2].
„Im Allgemeinen nicht, doch statuirt er unter Umständen einzelne Ausnahmen. Eine auserlesene Crême aus den obersten Zehntausend und einige wenige von seinen ‚speciellen Freunden‘ dürfen sich allein der Ehre rühmen, die Dimensionen ihrer hochadeligen und bevorzugten Leiber von unserm großen Manne wissenschaftlich gemessen zu sehen, denn dieser behält sich selbst ausschließlich das Recht vor, nachzusehen, ob Schnitt und Sitz auch comme il faut ausgefallen sind. Ich kann Ihnen versichern, daß in den Tuilerien seine Karte vor denen aller Botschafter und Feldmarschälle den Vorrang hat. Ihr Geschäft kann Aufschub erleiden, seines nicht. Louis Napoleon und er sind alte Freunde, sie kennen einander genau und respectiren gegenseitig ihre Macht. Der einstige Beherrscher der europäischen Politik hat sich gewiß klein genug gefühlt, wenn er von Waters’ kritischem Auge gemustert worden ist. Werden Schnitt und Sitz tadellos befunden, so endet der persönliche Verkehr mit dem Granden von Savile Row; alles Uebrige bleibt seinem Geschäftsführer überlassen, und jetzt erst fühlt sich der Kaiser wieder ganz er selbst, ertheilt kurz und ruhig seine Befehle und macht der Audienz mit einer Handbewegung ein Ende.“
„Wie kommt es, daß Waters bei Louis Napoleon in so hoher Gunst steht?“
„Als Napoleon in London lebte und sein Zutritt zu dem französischen Staatsschatze noch zu den unverwirklichten ‚Idées Napoléoniennes‘ gehörte, war er bekanntlich nicht immer mit dem gehörigen kleinen Gelde versehen, und da soll Waters sein Bankier gewesen sein. Den Fehler der Undankbarkeit besitzt Louis Napoleon nicht, wie er durch eine Menge von Beispielen bewiesen hat, und so ernannte er, nachdem er den Thron bestiegen, Waters zu seinem Hof- und Leibkleiderkünstler.“
„Von da an datirt jedenfalls der Aufschwung des Letzteren zu seiner gegenwärtigen erhabenen Stellung?“
„Keineswegs; er selber ist der Schmied seines Glücks, dieser König aller Ritter von der Nadel. Vor Jahren, als die Mode enganliegende Kleider erheischte, regierten andere Schneider, u. A. Ihr deutscher Landsmann Stultz, nachmals als vom Geschäft zurückgezogener Millionär zum Baron von Ortenberg erhoben. Es war zur Zeit des ‚ersten Gentleman von Europa‘, unsers Georg’s des Vierten, wohlgekleideten, aber unseligen Andenkens, zur Zeit des Stutzerfürsten Brummel und anderer Celebritäten der Mode. Waters hielt sich noch ganz in zweiter Linie; mit [762] dem Instinct des wahren Genies erkannte er indeß, daß die Tage des engen Schnitts gezählt waren, und führte, gewissermaßen im Stillen erst, die lose und bequeme Kleidermode ein, deren wir uns Gott sei Dank! bis heutigen Tages erfreuen. Bald fanden sein ‚Schnitt und Sitz‘ überall Gnade vor dem gebildeten Auge, und ehe er es noch selbst recht wußte, war er der unumschränkte König der Schneider, der Neid und die Verzweiflung aller seiner Herren Collegen in England und auf dem Continente geworden, der glückliche Mann, welchem die gewaltige Herrscherin im Reiche der Mode, Paris, auch heute noch keinen ebenbürtigen Rivalen gegenüberzustellen hat.
Waters ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein Geschäftsepikuräer. Nur einer ganz kleinen Zahl der ersten Tonangeber des Geschmackes geruht er in ihren eigenen Wohnungen das Maß zu nehmen. Bei dergleichen Gelegenheiten muß sein Wagen, ein prachtvoller Brougham, herbei, und der Kunde, vor dessen Hause diese elegante Equipage zu halten sich herabläßt, steht sicher auf den höchsten Sprossen der gesellschaftlichen Stufenleiter. Man erzählt sich eine Anekdote, daß ein edler Graf, Earl S…, dessen Hochmuth größer ist als seine Güter, Waters eines Tages höhnisch fragte: ‚Ist das Ihr Wagen, Mr. Waters, der vor meinem Hause hält?‘ ‚Allerdings, Mylord,‘ lautete die schnelle Antwort, ‚aber er hat zum letzten Male da gehalten.‘ Und der Schneider machte eine tiefe Verbeugung, entfernte sich und strich den hochgebornen Grafen unerbittlich aus der Liste seiner Kunden.“
Unsere Anfrage, das merkwürdige Etablissement in Augenschein nehmen zu dürfen, wurde auf das Bereitwilligste erfüllt, indem man uns sofort einen speciellen Cicerone durch das weitläufige Territorium zutheilte. Leider aber war der große Mann nicht selbst zugegen: er befand sich in Brighton bei einem seiner erhabenen Geschäftsfreunde.
Schon der Eintritt in die kunstgeweihten Hallen macht einen ungewöhnlichen Eindruck. Thüren, Pulte, Ladentische, die letzteren mit den neuesten Neuigkeiten an Stoffen und Mustern bedeckt, sind vom massivsten, blank polirten Mahagony; Trümeaux von der Decke bis zum Fußboden, bequeme Divans und Fauteuils schmücken die Wartezimmer, aus denen man in das „Zuschneide-Departement“ gelangt. Es ist das ein geräumiger Saal, der sein Licht durch eine Glaskuppel empfängt, und jeder Zoll seiner Wände über und über mit mehr oder weniger der Vollendung nahen Garderobestücken behangen, mit Uniformen, Jagdcostümen, Promenaderöcken, Reiseanzügen, Hofkleidern u. a. m. Auf jedem einzelnen Kleidungsstücke war der Name seines künftigen Trägers angebracht, und welche glänzende Namen gab es da zu lesen! Die Spitzen der gesammten Pairie von Großbritannien und Irland, das halbe Parlament waren vertreten, und so manche auswärtige fürstliche Größe dazu!
„Es ist gegenwärtig unsere Sauregurkenzeit,“ bemerkte unser Führer. „Sie sehen jetzt blos ein halbes Dutzend Zuschneider beschäftigt; wenn aber die Saison beginnt, dann haben wir mehr als die doppelte Anzahl, und jeder darf dann vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein kaum von seiner Arbeit aufstehen. Hier nebenan haben Sie unser eigentliches ‚Atelier‘.“
Er öffnete die Thür. Ich sah ein großes Gemach; rund um seine Wände lief eine Galerie, und der Fußboden desselben gewährte einen höchst eigenthümlichen Anblick. Nicht auf Werktischen, wie dies in anderen ähnlichen Etablissements der Fall zu sein pflegt, sondern auf der Diele selbst saßen wie die Türken mit untergeschlagenen Beinen über hundert Mitglieder der edlen Schneiderzunft. der Eine nähte, der Andere reihte an, ein Dritter säumte, der Vierte faßte Knopflöcher ein, ein Fünfter bügelte, und so in’s Unendliche fort, während gleichzeitig eine unabsehbare Menge von Nähmaschinen in Bewegung waren. Die Mehrzahl der Männer schienen mir kräftige, gesunde Bursche zu sein, meist schon in mittleren Jahren, und straften offenbar das bekannte englische Sprüchwort Lügen, daß der Schneider nur der neunte Theil eines Menschen ist.
„Während der Saison,“ nahm der Cicerone wieder das Wort, „sind auch alle die Galerieen da oben mit Arbeitern und Maschinen besetzt; da haben wir auch nicht einen Zoll freien Raum, und wenn der Saal noch dreimal so groß wäre, als er ist, er würde dann noch immer kaum groß genug sein. Jeder der Leute, welche Sie hier sehen, ist ausgezeichnet in seinem speciellen Arbeitsfache – die Arbeitstheilung ist bei uns bis in’s Kleinste durchgeführt – und verdient wöchentlich seine zwei bis drei Pfund Sterling, oft noch mehr, wenn er Extra-Arbeitsstunden zu berechnen hat. Vor ein paar Monaten war jedoch der ganze Saal hier und alle unsere Arbeitsräume öde und leer, sämmtliche Männer, mit Ausnahme des Alten hier rechts in der Ecke, hatten ‚Strike‘ gemacht; blos er war verständig genug, um einzusehen, daß es besser sei, wenn er seine Familie von dem erhaltenen Lohne behaglich sättigte, als halb verhungern ließ bei den Spenden der Genossenschaft. In den meisten Fällen sind die Gesellen zu ihren alten Meistern zurückgekehrt, nachdem sie mehr als fünfzigtausend Pfund Sterling verausgabt und eine viel größere Summe von Arbeitslöhnen eingebüßt haben.“
„Stehen Arbeitgeber und Arbeiter wieder auf dem alten guten Fuß zusammen?“ frug ich.
„Größtentheils. Die Leute waren froh, daß sie wieder kommen konnten, und wir, daß wir sie wieder hatten. Sie wissen, was unsere Kunden brauchen und fordern, neue Leute wissen es nicht. Wie ich Ihnen schon sagte, Sie sehen hier nichts als auserlesene Arbeiter, von denen jeder in irgend einem Zweige der Schneiderei Vorzügliches leistet.“
Wir gingen ein paar Stufen hinab und traten in einen Raum, der rundum mit Haufen von Kleiderschnitten in starkem braunen Papier garnirt war. Auf jedem stand wieder mit deutlicher Schrift ein Name vermerkt, und abermal war mir’s, als wenn ich in jenen Vademecums der britischen Aristokratie, „Dodd’s Peerage“ und „Gentry“ blätterte, die in England etwa die Stelle unserer Gothaischen Hofkalender und genealogischen Taschenbücher vertreten. Dutzendweise zogen die Namen von Herzogen und Marquis, von Earls und Viscounts, von Lords und Baronets, von Right Honorables und Honorables und von nicht wenigen festländischen Notabilitäten an meinen Augen vorüber, ich befand mich mithin in der allerbesten Gesellschaft. Jeder dieser betitelten Herren hatte hier sein Maß und seine Schnitte für Hof- und Gala-, für Reit- und Jagdkleidung und seine Nummer daneben, so daß er aus seinem Schloß, von seinem Landsitz, von seinem Hôtel in Neapel oder Constantinopel blos einen Brief oder ein Telegramm nach Savile Row zu expediren braucht, um in allerkürzester Frist, „in keiner Zeit“, sagt der Engländer, seinen neuen Frack für den angesagten Hofball in den Tuilerien, seinen Scharlachrock für die nächste Fuchshatz, seine Promenadentoilette für Biarritz oder Baden-Baden zu erhalten. Ein besonderer Beamter steht diesem merkwürdigen Archive vor, in dem ich mir ordentlich wie ein unberufener plebejischer Eindringling erschien.
Wir stiegen wieder zum großen Werksaal empor und dann in das erste Stockwerk hinauf. Eine fürstlich ausgestattete Galerie empfing uns, mit einer lebensgroßen Büste Louis Napoleon’s an dem einen und der Büste der Prinzessin von Wales am andern Ende. Sie bildet den Corridor zu einer Reihe von luxuriösen Gemächern, wie sie im Palaste eines Lords nicht reicher und schöner angetroffen werden. Da sahen wir erst das blaue, darauf das gelbe, dann das rothe Zimmer, sämmtlich im besten Geschmack decorirt und mit Allem versehen, was die Gegenwart an Wohncomfort zu Tage gefördert hat.
„Das ist unser Damendepartement,“ erklärte unser Cicerone; „denn Sie müssen wissen, wir haben auch eine ausgebreitete Damenkundschaft. Alles, was aus der vornehmen und vornehmsten weiblichen Welt des Landes zu Pferde steigt und den Reitcorso von Rotten Row in Hydepark, welchen Sie gewiß schon manchmal bewundert haben, zu einem so unvergleichlichen Schauspiele macht, wie es die Erde nicht zum zweiten Male darbietet, dem liefern wir die nöthigen Reitgewänder und die dazu gehörigen festen Unaussprechlichen; und hier im gelben oder blauen oder rothen Gemache können die Herzoginnen und Marquisen, die Gräfinnen und Ladies Anprobe halten, ganz als wären sie in ihren eigenen Toilettegemächern. Den Salon hier“ – er öffnete die Thür zu einem noch kostbarer eingerichteten Raume – „nennen wir den Salon des Prinzen von Wales. Darin pflegt mein Chef Seine königliche Hoheit zu empfangen, wenn uns, was ziemlich häufig geschieht, der Prinz mit seinen Geschäftsbesuchen beehrt.“
In der Nähe dieses fürstlichen Salons hat sich Waters sein eigenes Allerheiligstes hergerichtet, ein kleines, aber echt englisch comfortables Zimmer, in welchem ein bequemer großer Schreibtisch und einige bequeme Lehnstühle standen. Hier hält der große Mann seine Levers, wenn er sich in der Stadt befindet; eine [763] Einladung zu diesen Privatconferenzen pflegt aber den Betreffenden immer einen gelinden Schreck in's Herz zu jagen, denn sie ist ein zarter Wink, endlich einmal auch der Habenseite des Conto zu ihrem Rechte zu verhelfen. Dergleichen Citationen in das Allerheiligste sind übrigens außerordentliche Seltenheiten, zu denen nur im äußersten Nothfalle geschritten wird, denn Waters – so erzählte mir nachher mein Freund - ist ein Gentleman durch und durch. Von unliebsamen Mahnungen oder gar von lästigen Klagen und häßlichen gerichtlichen Maßnahmen ist bei ihm nicht die Rede; im Gegentheil, wenn einer seiner Kunden vielleicht ein Wort fallen läßt von einer gewissen financiellen Ebbe, an der er augenblicklich laborirt, so ist ihm ein willkommener Vorschuß viel gewisser, als eine Aufforderung, die Rechnung zu begleichen. Mit allen reichen Erben steht Waters denn auch auf vertrautestem Fuße, und für gar manche derselben hat er Jahre lang den allezeit bereitwilligen Bankier abgegeben, bis sie zu den Gütern und Titeln ihrer Ahnen gelangten.
Das eigentliche Comptoir des Hauses ist nicht der mindest merkwürdige Theil des merkwürdigen Etablissements; es liegt im Erdgeschoß und hat ganz das Aussehen, als wäre man in einem großen Bankinstitute. Da gewahrt man Reihen von Mahagonypulten, an welchen zahlreiche Commis dickleibige Strazzen und Hauptbücher regieren. Der Erste dieser Schreiberschaar lud uns höflich ein, doch auch das sogenante „Strong Room“, das feuerfeste unterirdische Gewölbe, noch zu besichtigen, das zur nächtlichen Aufbewahrung der Geschäftsbücher dient. Eine sinnreiche Maschinerie hebt diese letzteren jeden Morgen in das Comptoir herauf und läßt sie allabendlich wieder in ihr sicheres Verließ hinab. Es war eine sehr ansehnliche Localität; an den Wänden sah ich lange Regale aufgeschlagen und auf denselben ruhten ganze Generationen von Contobüchern, denen man den fleißigen Gebrauch deutlich genug ansah. Es war ihrer eine solche Masse, als wenn sie die Rechnungen der gesammten Nation umschlössen.
„Nun,“ frug mich mein Freund, als wir wieder auf der Straße standen, „nun, was sagst Du zu diesem König von Savile Row?“
„Ich neige mein Haupt in schuldiger Ehrfurcht vor ihm – aber ich denke, ihn nicht um seine Protection zu ersuchen. Fünfzehn Pfund Sterling für einen Frack, wie ich sie auf dem Conto des Herzogs von Sutherland zufällig notirt fand – das paßt nicht für die Börse eines deutschen Touristen.“
Aus den Erinnerungen eines Gefängniß-Inspectors.
„Und führe uns nicht in Versuchung.“
Wie unzählige Male wird das nachgebetet, und wie selten wird das verstanden! Es giebt nur einen Ort, an welchem sich das Verständniß von selbst aufdrängt. Dieser Ort ist das Gefängniß. Die Gefangenen, welche hier Jahr ein, Jahr aus beherbergt werden müssen, sind sämmtlich der Versuchung unterlegen. Sie sind es aber nicht immer, weil Neigungen, Gewohnheiten und Leidenschaften dem Versucher zu Hülfe kamen und in die Hände arbeiteten, sie sind es häufig genug erst dann, nachdem Sorgen, Kümmernisse und die bitterste Noth, welche unverschuldet sie heimsuchte, alle Kräfte aufgezehrt und jeden Widerstand unmöglich gemacht hatten.
In meiner Erinnerung summiren sich diese Ausnahmsfälle zu einer nicht geringen Höhe. Jeder einzelne Fall hat mir die schmerzlichsten Seelenleiden vor Augen geführt. Ich habe Gelegenheit gehabt, in die Brust des Gefallenen tief hineinzusehen, und die Wahrnehmungen, die ich hierbei machte, haben mich oft zum aufrichtigen Mitleiden, oft sogar zur Bewunderung hingerissen.
Der Fall, den ich hier mittheilen will, und der nicht sehr alt ist, soll nicht allein unterhalten, er soll auch neuerdings die Aufmerksamkeit auf einen Uebelstand hinleiten, welcher dringend Abhülfe fordert. –
Es war früh nach fünf Uhr, ein wundervoller Morgen im schönen Monat Mai. Ich hatte die Anstalt zum ersten Mal revidirt, Alles in Ordnung gefunden, nichts zu tadeln gehabt, für den Augenblick nichts zu thun, und trat, um eine Stunde allein zu sein und den schönen Morgen im Freien zuzubringen, aus dem Hause hinaus in den kleinen Garten, der mir zur Benützung überlassen war. Meine Angehörigen und auch die mir untergebenen Beamten wußten es, daß ich nicht gestört sein wollte, so lange ich mich in diesem Garten befand. Ich konnte daher, wenn ich gerufen wurde, allemal annehmen, daß etwas Ungewöhnliches vorgekommen sein mußte.
An jenem Morgen war ich kaum fünf Minuten aus dem Hause, als meine Tochter erschien und mir meldete, daß ein Mann mich zu sprechen verlange, der nicht warten wolle und sich auch nicht abweisen lasse.
Der Gefängniß-Beamte muß zu jeder Zeit zugänglich sein, er darf dies nicht auf gewisse Tagesstunden beschränken; ich verließ daher, wenn auch ungern, ohne Zögern den Garten und ging in das Haus zurück nach meinem Arbeitszimmer. An der Thür desselben erwartete mich ein großer, starker Mann, der mich mit den Worten anredete.
„Ich melde mich bei Ihnen als Gefangener.“
„Haben Sie Strafe zu verbüßen?“ fragte ich, ohne den Mann genauer anzusehen, indem ich in mein Zimmer eintrat und die Thür desselben offen ließ.
„Nein.“
Erst dieses kurze, ganz ungewöhnlich gesprochene Wort machte mich aufmerksam. Ich wendete mich zurück, nach der Thür zu, und sah nun den Mann in das Zimmer und mir näher treten. Die Bewegungen, die er hierbei machte, waren schleichend und schleppend, ohne Sicherheit und ohne Halt. Und doch hatte ich einen Mann vor mir, der mindestens sechs Zoll über fünf Fuß groß, starkknochig gebaut war und kaum vierzig Jahre alt sein mochte. Wenige Schritte vor mir blieb derselbe stehen, schweigend und in sich zusammengesunken. Um den Kopf, der mühsam hochgehalten wurde, hing das dunkelgefärbte Haar angeordnet, wirr umher; das mit einem starken, struppigen Bart bedeckte Gesicht hatte keine Farbe, es sah entsetzlich bleich; die Augen zeigten sich geröthet, die Lider stark aufgelaufen, der Blick war müde, schläfrig, wie dies nach einer durchwachten Nacht der Fall zu sein pflegt; die linke Hand befand sich in der Seitentasche eines schmutzigen Paletot, die rechte hing schlaff an der Seite herab. In demselben Moment, in welchem ich diese in das Auge faßte, löste sich von dem untersten Theile derselben ein dunkelgefärbter Tropfen los und fiel auf den Boden nieder, wo vorher schon ähnliche Tropfen niedergefallen sein mußten, da die Diele an dieser Stelle bereits dunkel gefärbt war.
„Sie verlieren Blut!“ schrie ich vor Ueberraschung laut auf. „Sind Sie verwundet?“
Der Mann erwiderte nichts, er streckte mir nur beide Hände entgegen, welche in der Gegend des Gelenkes mit schmutzigen Tüchern umwunden waren. Diese Tücher zeigten sich bereits so naß, daß sie das Blut nicht mehr aufnehmen und zurückhalten konnten, die Tropfen lösten sich schneller los, sie fielen zahlreicher zu Boden nieder, und bald hatten sich auch hier kleine Blutlachen gebildet. Das Hochhalten der Hände mußte dem Manne Schmerzen bereiten, er biß die Zähne fest zusammen; auch die Augen wurden auf einige Augenblicke lebhaft, sie richteten sich fest, aber stier und stechend auf mich. Das währte jedoch nur ganz kurze Zeit, die Kräfte schienen zu schwinden, die Arme fielen schlaff hernieder, der Mund blieb geschlossen, kein Wort begleitete diese Bewegungen.
„Wer sind Sie?“ fragte ich, um dieser peinlichen Scene ein Ende zu machen.
„Ich bin der Actuar Thürbeck,“ entgegnete der Mann mit matter, leiser Stimme.
„Aber was wollen Sie denn hier? Ich habe keine Anweisung, Sie in das Gefängniß aufzunehmen.“
„Das weiß ich. Sie müssen mich aber dennoch aufnehmen. Ich bin ein Verbrecher, sogar ein schwerer Verbrecher, Sie dürfen mich nicht wieder aus diesen Räumen lassen.“
„Was haben Sie, Herr, gethan?“
Thürbeck stierte vor sich nieder, er antwortete nicht, aber in seinem Gesicht zuckte jede Muskel. Einige Male machte er den
[764] Versuch, Worte hervorzubringen, das gelang aber nicht, es kamen nur gurgelnde, unverständliche Laute zum Vorschein. Ich hatte das vorher schon bei verschiedenen Gefangenen wahrgenommen. Das Bewußtsein der Schuld läßt gleichzeitig alle Folgen derselben übersehen, den Verlust der Ehre und der zukünftigen Existenz, das Elend, in welches die Familie versetzt ist, und die Strafe, mit welcher die Schuld gesühnt werden muß. Und das zusammengenommen erzeugt einen Schmerz, der so ungeheuer groß ist, daß er die Brust und die Kehle zusammendrückt, daß er lähmt und eine Mittheilung unmöglich macht. Das Zucken hörte nach und nach auf, Thürbeck wurde ruhiger, bei einem neuen Versuch stieß er hastig, mit tonloser Stimme, die Worte heraus:
„Ich habe Cassengelder unterschlagen, ich habe Bücher gefälscht, ich, ich –“
Er konnte nicht weiter sprechen, kein Wort weiter hervorbringen. der große kräftige Mann war bis tief in das Innerste erschüttert. Ich holte einen Stuhl herbei und ließ ihn niedersetzen. Das schien ihm wohlzuthun, er streckte die markigen Glieder, holte mehrere Male tief Athem und sah mir einige Secunden wehmüthig ernst in das Gesicht. Dann sagte er bittend:
„Haben Sie Mitleiden mit mir. Sie sind ja auch Beamter, sind wohl auch Soldat gewesen. In die Lage, in der ich mich befinde, kann jeder Beamte kommen. Ich habe gefehlt, ich bin schuldig, ich weiß das, ich bin aber durch die Verhältnisse dazu gedrängt worden. Ich bin kein Spieler, kein Trinker, kein Schlemmer gewesen, habe nur selten ein Wirthshaus besucht und jeden unnützen Aufwand vermieden. Und dennoch ein Verbrecher! Wenn Sie einige Zeit übrig haben, so will ich Ihnen sagen, wie ich das geworden bin.“
„Aber Sie sind verwundet,“ sagte ich, als mein Blick zufällig wieder auf seine Hände fiel, „Sie bedürfen ärztlicher Hülfe. Lassen Sie –“
„Nein, nein,“ unterbrach mich Thürbeck, „das hat nichts auf sich. Wenn ich davon hätte sterben sollen, so würden Sie mich nicht vor sich sehen. Ja, Herr, ich wollte mir den Tod geben, weil ich mich der Verzweiflung überließ, nicht Herr meiner Sinne war, weil ich an nichts dachte, nicht an Weib, nicht an Kind, nicht an Gott, nur allein an meine Schuld. Aber der Tod kam nicht, ich habe seit gestern auf ihn gewartet, die ganze Nacht ihn herbeigewünscht, aber er kam nicht, er befreite mich nicht von den unsäglichen Qualen, die ich ertragen muß. – Ich bin Soldat gewesen, vierzehn Jahre lang,“ fuhr Thürbeck nach einer kleinen Unterbrechung fort; „zuletzt war ich Wachtmeister bei der reitenden Artillerie. Mein Einkommen in dieser Stelle betrug monatlich mindestens fünfundzwanzig Thaler. Außerdem hatte ich für Kleidung nichts auszugeben, für Arzt und Apotheker nichts zu zahlen, meine Kinder hatten unentgeltlichen Unterricht, und ich hatte weder an den Staat, noch an die Commune, noch an die Geistlichkeit irgend etwas zu entrichten.“
Die Erinnerung an das Soldatenleben schien für den Augenblick alles Elend in Vergessenheit zu bringen. Das vorher durch Schmerz entstellte Gesicht glättete sich, die Augen wurden lebhaft, der Ausdruck von Ermüdung war nicht mehr zu bemerken, Thürbeck hatte, vielleicht unbewußt, eine soldatische Haltung angenommen. Das war indeß nur von kurzer Dauer. In noch größerer Betrübniß fuhr er fort:
„Das Alles wurde anders. Ich hatte das Unglück, mit dem Pferde zu stürzen und den Fuß zu brechen, und erhielt in Folge dessen den Abschied mit der Berechtigung, mir ein Unterkommen bei einer Civilbehörde zu suchen. Dies Unterkommen fand ich bei dem Gericht in meiner Garnisonstadt. Mit dem Tage meiner Annahme erhielt ich monatlich sechszehn Thaler zwanzig Silbergroschen Diäten. Dagegen hörte von da an Alles auf, was mir als Soldat gegeben worden war. Ich bekam keine Pension, mußte dagegen Abgaben zahlen an den Staat, an die Commune, an die Geistlichkeit und an die Schule; ich mußte mir Kleider schaffen und zwar anständige Kleider, weil ich als Beamter anständig auftreten sollte; ich mußte mir Bücher kaufen, weil ich als Soldat nichts gelernt hatte, was mir in meiner neuen Stellung hätte nützen können. Und alle diese Ausgaben sollte ich, neben den Kosten des Unterhalts für mich und meine Familie, bestreiten mit monatlich sechszehn Thaler zwanzig Silbergroschen. Da hieß es denn sich einschränken. Das Unmögliche läßt sich aber nicht möglich machen. Mein Gehalt reichte nicht hin, die allernothwendigsten Ausgaben zu bestreiten, ich mußte Credit beanspruchen. Dieser Credit war für meine Verhältnisse ungewöhnlich, ich konnte denselben aber nicht verringern, obwohl ich im Laufe eines ganzen Jahres jeden Pfennig zu Rathe hielt, mit den Meinigen häufig nur Salz und Brod verzehrte und die Kinder meist barfuß laufen ließ.“
Thürbeck machte eine Pause. Ich hatte eine Tasse Kaffee kommen lassen, die er mit der Bemerkung annahm, daß er seit gestern nichts über seine Lippen gebracht habe. Nachdem er die Tasse hastig geleert und den Verband erneuert hatte, fuhr er fort:
„Die Entbehrungen waren fühlbar, die Sorgen für den Unterhalt von großem Umfange. Das hätte mich muthlos machen können, ich fand jedoch gerade hierin eine dringende Veranlassung zum Fleiß, weil ich nur erst nach bestandener Prüfung eine Besserung meiner Verhältnisse erwarten durfte. Die Hoffnung hielt mich in dem Streben nach Ausbildung aufrecht. Nach Jahresfrist hatte ich ein gutes Examen bestanden. Kurze Zeit später wurde ich als Bureau-Assistent und Sportel-Receptor bei der Gerichtscommission in R. angestellt. Ich war glücklich, ich glaubte das Ende meiner Leiden erreicht zu haben. Mein Gehalt betrug nun jährlich dreihundertundfünfzig Thaler, so stand es in der Bestallungsurkunde. Davon wurde mir aber ein Zwölftel, also der Gehalt für einen ganze Monat, als Beitrag zum Pensionsfonds zurückbehalten. Es wurden mir ferner die laufenden Beiträge zu diesem Fonds in Abzug gebracht. Ich mußte meine Frau gegen eine hohe Prämie in die Wittwencasse einkaufen, und endlich, um mein neues Amt anzutreten, mit Weib und Kindern, Hab und Gut, meinen Wohnort wechseln und dreizehn Meilen umziehen, ohne hierfür eine Entschädigung zu erhalten. Ich war arm. Die kleinen Ersparnisse, die ich als Soldat hatte machen können, waren ausgegeben, ich hatte bereits nicht unerhebliche Schulden, und mußte deren noch weit mehr machen, um nur erst meinen neuen Bestimmungsort zu erreichen. R. ist ein kleines freundliches Städtchen. Außer dem Kreisrichter wohnen dort nur noch zwei Prediger, ein Arzt und der Bürgermeister, sonst kein Beamter. Der Kreisrichter, ein freundlicher liebenswürdiger Mann, dem man gut sein mußte, machte mich darauf aufmerksam, daß ich mich diesen Familien vorstellen müsse. Ich that das. Die Folge davon war, daß ich Einladungen erhielt, die ich glaubte nicht zurückweisen zu können, und daß ich zuletzt wieder einladen mußte. Ich zögerte damit. Der Kreisrichter, dem es nur darum zu thun war, mir den Aufenthalt möglichst angenehm zu machen, und der das freundliche Verhältniß, in welches ich getreten war, erhalten wollte, drängte mich dazu, indem er meinte, daß ich dies ‚Anstandshalber‘ nicht länger hinausschieben dürfe. Das bestimmte mich endlich, den Anforderungen des gesellschaftlichen Verkehrs gerecht zu werden und neue Verpflichtungen zu übernehmen. Kurze Zeit später erkrankte erst meine Frau und dann zwei meiner Kinder. Da ich am Tage nicht im Hause bleiben, die Pflege und Wartung also nicht selbst besorgen konnte, so mußte ich neben dem Arzte und dem Apotheker auch noch eine Wärterin annehmen. Die Ausgaben, welche dadurch verursacht wurden, hinderten mich, für ältere Verpflichtungen etwas zurückzulegen. Die Folgen hiervon wurden bald fühlbar. Ich erhielt Mahnbriefe und, da diese keinen Erfolg haben konnten, bald darauf Drohbriefe. Von dieser Zeit an quälte ich mich Tag und Nacht, einen Ausweg oder ein Mittel zu finden, meine Gläubiger zufriedenzustellen. Ich stellte diesen meine Lage vor, bat um Nachsicht, und beschränkte die Ausgaben auf die wirklich nur allernothwendigsten Bedürfnisse. Das half mir nichts, ich konnte nichts erübrigen, der Gehalt war eben nur für das Allernothwendigste berechnet.“
Thürbeck schien hier zu übertreiben. Ich konnte mich nicht enthalten, ihm das zu sagen. Er hörte mir ruhig zu, erwiderte dann aber mit einer Heftigkeit, die mich überraschte:
„Sie sagen mir da nichts Neues, meine Gläubiger schrieben mir dasselbe, diese wunderten sich sogar, daß ich bei meinem Gehalte nicht auskommen könne, und meinten, daß derjenige, der etwas ‚Gewisses‘ habe, seine Ausgaben danach einrichten müsse. Ach Gott, ja, die Leute hatten scheinbar nicht Unrecht. Ich hätte mir keine Kleider, keine Bücher schaffen dürfen, weil ich sie nicht bezahlen konnte; ich hätte nicht umziehen, auch nicht den Wünschen meines unmittelbaren Vorgesetzten nachgeben dürfen und lieber auf [765] allen gesellschaftlichen Verkehr verzichten müssen; ich hätte endlich für meine Frau und Kinder keinen Arzt und keine Wärterin halten, und Medicamente nicht beziehen dürfen, wenn ich hierzu keine besonderen Mittel hatte, weil meine Gläubiger dadurch verkürzt wurden. Wenn Sie glauben, daß Sie ein Recht haben, dies von mir zu verlangen, so will ich mich bescheiden, daß ich übertrieben habe. Aber Sie können das nicht verlangen. Berücksichtigen Sie nur, lieber Herr, daß zu der Zeit, wo mein Gehalt fixirt wurde, ein gewöhnlicher Pferdeknecht mit höchstens dreißig Thalern, und eine Magd mit sechszehn Thalern Lohn jährlich abgefunden wurde, während jetzt jener fünfzig bis sechszig Thaler, und diese bis dreißig Thaler erhält; berücksichtigen Sie ferner, daß diese Lohnerhöhung für alle anderen Lebensverhältnisse genau dieselbe ist; und dann berücksichtigen Sie, daß der Gehalt eines Bureau- Assistenten, auf dem eine weit größere Vertretungs-Verpflichtung haftet, als auf Knecht und Magd, unverändert derselbe geblieben ist, und die Abzüge sich gesteigert haben.“
Thürbeck machte es wie viele andere Verbrecher, er gestand die strafbare Handlung zu, wälzte aber die Schuld auf die ungünstigen Verhältnisse, die ihn dazu gedrängt haben sollten. Ich benutzte eine Pause, die er machte, um ihm dies zu Gemüthe zu führen. Er ließ mich aber nicht ausreden.
„Sie haben mich nicht verstanden,“ sagte er mich unterbrechend, „ich will mich nicht entschuldigen, ich weiß recht gut, daß der Mensch, und vorzugsweise der Beamte, unter allen Verhältnissen treu und ehrlich sein muß, ich kam nur darauf zu sprechen, um Ihnen die Größe meiner Leiden einigermaßen klar zu machen. Lassen Sie mich in meinem Bekenntnisse nun zum Schluß kommen. Etwa vierzehn Tage nach Empfang des letzten Drohbriefes gingen an einem Tage zwei Klagen gegen mich ein. Der Schneider und der Fuhrherr hatten diese angestellt. Ich war bei dem Anblick derselben wie erstarrt, folgte einer augenblicklichen Eingebung, und steckte die Papiere, indem ich sie zusammendrückte, in meine Tasche. Das war das erste Unrecht. Ich war mir dessen vollständig bewußt, ich verhehlte mir auch nicht, daß damit nur momentan geholfen sei, daß ich ein Mittel ersinnen müsse, dies erste Unrecht zu vertuschen. Nur Geld konnte mich retten. Wo sollte ich das aber finden? Die erste Gehaltszahlung war erst nach vier Wochen fällig. Vorschuß durfte ich nicht nehmen. Geld! Hatte ich denn nicht genug unter meinem Verschlusse? Wenigstens acht Tage lang schloß ich fast stündlich den Kasten auf und ließ das Geld durch meine Hände gleiten, schloß aber immer wieder zu, indem ich sagte: ‚du mußt, du willst ehrlich bleiben.‘ Ich kann Ihnen nicht mit Worten ausdrücken, wie unendlich schwer es mir wurde, wie das Blut in mir kochte, wie der Schweiß massenhaft ausströmte, der Kopf und die Brust mir zu zerspringen drohete. Dieser peinigende Zustand verschlimmerte sich, als eine dritte Klage einging, und diese von mir gleichfalls unterdrückt worden war. Dies war etwa drei Wochen vor der Gehaltszahlung. Drei Wochen umfassen eine kleine Ewigkeit, wenn jede Stunde Leiden schafft, für welche es gar keinen Namen giebt. Auf der einen Seite peinigte mich die Furcht vor der Entdeckung meines strafbaren Handelns, auf der andern Seite quälten mich die Sorgen und Entbehrungen, und da mitten hindurch schrie eine Stimme aus mir heraus: ‚nimm von dem Gelde, was du verwahrst, dann ist dir geholfen.‘ Diese Stimme war laut, ich konnte sie nicht zum Schweigen bringen, sie war am lautesten, wenn ich Cassegelder einschließen mußte. Ich entschloß mich, dies so viel als möglich zu vermeiden. Das war schon Schwäche, ich fürchtete die Gefahr. Als ich anfing, die eingehenden Gelder anzusammeln und täglich nur ein Mal einzuschließen, bestürmten mich Gedanken anderer Art: ‚Behalte das Geld, schließ es nicht ein,‘ so rief es in mir. Ich schrie zwar immer noch: ‚nein! nein! nein!‘ aber dies Schreien war nur der Ausdruck innerer Angst, es beruhete nicht mehr ausschließlich auf Ueberzeugung und dem Bewußtsein meiner Pflicht.
Das Unglück wollte, daß eines Tages eine Post von über hundert Thalern mir in meiner Wohnung gezahlt wurde. Es war dies beinahe dieselbe Summe, welche das Object der gegen mich angestellten Klage bildete. Ich steckte das Geld in meine Tasche und nahm es mit nach dem Gericht, um dasselbe zu buchen und einzuschließen. Am Abend hatte ich das Geld noch in meiner Tasche. Die Nacht, welche nach diesem Tage folgte, verbrachte ich in einer furchtbaren Aufregung, kein Schlaf kam in meine Augen, ich fand keine Ruhe. Mein Denken richtete sich aber nicht mehr auf den Widerstand gegen das Unrechtthun, sondern lediglich darauf, das Unrecht zu verdecken. Als der Morgen grauete, verließ ich mein Lager geistig und körperlich ermattet. Und doch hatte sich die Aufregung gelegt. Ich war ruhig geworden, weil ich es aufgegeben hatte, ehrlich zu sein.“ –
Thürbeck schlug beide Hände vor das Gesicht, und mit einer Stimme, wie ich sie noch bei keinem Menschen gehört hatte, rief er: „Herr, ich wurde ein Verbrecher. Das Geld, das mir nicht gehörte, schickte ich fort; die Bücher, in welche ich die Zahlung hätte vermerken müssen, blieben unausgefüllt.“ –
Dies Bekenntniß und die Art und Weise, wie es gegeben wurde, war herzzerreißend. Ich vermochte das Weinen nicht zu unterdrücken, die Thränen nicht zurückzuhalten, und verließ das Zimmer. Als ich nach vielleicht zehn Minuten dahin zurückkehrte, hatte Thürbeck seine Stellung noch nicht verändert. Was sollte ich thun? Sollte ich trösten? Gab es denn für solchen Schmerz Trost? Worte reichten dazu jedenfalls nicht hin.
Ich setzte mich ruhig an meinen Arbeitstisch und schrieb die Anzeige an den Director. Thürbeck achtete nicht auf mich, er zog seine Hände nicht von dem Gesicht zurück. Erst als ein Unterbeamter eintrat und mit den Schlüsseln, die er in der Hand trug, unnützen Lärm machte, fuhr er auf. Seine Augen irrten umher, er schien nicht zu wissen, wo er sich befand. Ich befürchtete eine Scene, der Beamte sollte nicht Zeuge sein, ich schickte ihn fort. Kaum hatte dieser das Zimmer verlassen, so trat Thürbeck auf mich zu und ergriff meine Hände.
„Sie behandeln mich, den Verbrecher, mit Güte,“ sagte er, während seine Augen naß wurden, „Sie ziehen Ihre Hände nicht zurück, Sie verachten mich nicht, der gütige Gott lohne Ihnen das, ich vermag es nicht zu thun. Ich habe Ihnen gesagt, unter welchen Umständen ich Verbrecher geworden bin, offen und ehrlich, wie ich es später nicht wieder werde sagen können. Ich muß Ihnen auch noch mittheilen, wie ich hierher gekommen bin.
Gestern gegen Mittag sah ich den Cassen-Revisor ankommen. Ich hielt mein Verbrechen bereits entdeckt. Alles Blut stieg mir in den Kopf, ich war keines Gedankens mächtig. In meiner Angst, ohne Bewußtsein, verließ ich das Gerichts-Local und die Stadt, ich lief auf Nebenwegen in eine unweit derselben gelegene Waldung, und in diese so weit hinein, bis ich vor Ermüdung niederstürzte. Ich wußte nicht, wo ich mich befand, und eben so wenig, weshalb ich hierher gelaufen war und was ich hier thun wollte. Die Angst hatte mich fortgetrieben, die Angst ließ mich nicht denken, keinen Entschluß fassen. Es war Abend geworden, ich wußte nicht, wie das gekommen war, ich lag noch an derselben Stelle, meine Glieder waren steif, wie gelähmt, der Kopf brannte mir wie Feuer, die Augen schmerzten mir, und doch konnte ich sie nicht schließen, ich war unbeweglich, und doch fand ich keine Ruhe. Um mich herum in einem weiten Kreise rührte und regte sich nichts, es herrschte die tiefste Stille, kein Laut drang bis zu meinen Ohren, nur hier“ – er legte die Hand auf die Brust – „war es lebendig, da arbeitete das böse Gewissen und bereitete mir Qualen, die mir noch in der Erinnerung schrecklich sind. Um mich her war dichte, undurchdringliche Finsterniß, und Friede und Ruhe. Auch in mir sollte es still werden. Ich wollte den Faden zerreißen, der mich mit dem Leben zusammenhielt, der Tod mußte das Gewissen zum Schweigen bringen, die Qualen endigen. Es kam anders. Der Verlust des Blutes aus den Wunden, die ich mir zugefügt hatte, erleichterte die Brust, und machte nach und nach auch den Kopf frei. Ich vermochte wieder zu denken. Weib und Kinder, die nichts wußten von meiner Schuld, traten mir vor die Augen. Da mußte ich so ganz unwillkürlich die blutenden Hände hoch heben und in einander fügen, und aus der erleichterten Brust drängten sich Worte inbrünstigen Gebetes zu Gottes Thron empor. Meine Angst milderte sich, Friede kam in meine Brust und Ruhe in mein gequältes Herz. Ich war im Stande, mit voller Ergebung in meine Zukunft die Wunden, die mir den Tod geben sollten, zu verbinden, um mich dem trostlosesten Leben, dem Leben im Zuchthause, zu erhalten.“ –
Der Beamte kehrte zurück. Er überbrachte mir die Anweisung, Thürbeck einzuschließen. Auf dem Wege nach dem Gefängnisse mußte ich diesem versprechen, seiner Frau von seinem Aufenthalte Nachricht zu geben, und ihm zu gestatten, sich ausruhen zu dürfen. –
[766] Die Verhandlung vor den Geschworenen zeichnete sich besonders dadurch aus, daß der Vertheidiger unwiderleglich nachwies, daß der Angeklagte nur durch die Unzulänglichkeit seines Gehaltes zu dem Verbrechen geführt sei, und daß das Strafgesetzbuch bezüglich der Verbrechen und Vergehen im Amte insofern eine nicht zu rechtfertigende Härte enthalte, als es hier die Annahme mildernder Umstände, welche in dem vorliegenden Falle unbedenklich angenommen sein würden, ausschließe. Thürbeck wurde mit der niedrigsten Strafe, das ist drei Jahre Zuchthaus, belegt.
Seine Verurtheilung erregte allgemeine Theilnahme und großes Bedauern. Er hat seine Strafe, welche durch die Bemühungen seines Vertheidigers im Wege der Gnade in Gefängnißstrafe verwandelt wurde, in meiner Anstalt verbüßt, und unmittelbar nachher, gleichfalls durch seinen Vertheidiger, bei einem Privat-Institute gegen einen Jahresgehalt von fünfhundert Thalern Beschäftigung gefunden. Er ist jetzt glücklich mit diesem immer noch kleinen Gehalt und ein tüchtiger und geachteter Beamter.
Deutschlands größte Tragödin.
Zwei Schröder, Frau und Mann,
Umgrenzen unsres Drama höhern Lauf;
Der Eine stand in Kraft, als es begann,
Die And’re schied – da hört’s wohl, fürcht’ ich, auf.
Eine melancholische Weissagung, welche Grillparzer schon im Jahre 1854 in das Album der großen Schauspielerin schrieb, und die wir hier an die Spitze dieser Zeilen gestellt haben. Sophie Schröder selbst konnte sich in den Jahren, da sie sich längst von der Bühne zurückgezogen hatte, ohne jedoch diese nur im Geringsten außer Acht zu lassen, einer gleichen trüben Ahnung, wie sie ihr bewundernder Freund Grillparzer ausgesprochen hatte, nicht erwehren, und zürnend rief sie einmal aus: „Die Kunst geht unter, das Handwerk siegt. Je mehr es glitzert und prasselt und rauscht, desto größer ist der Jubel! Große Namen – kleine Künstler. Und die sogenannten Künstlerinnen? Toilettemachen – das ist Alles. Aber Begeisterung – Leidenschaft – ohne die keine dramatische Kunst sein kann, lieber Gott! – Ja, eine Leidenschaft, mit der man das Haupt an den Wänden blutig schlägt – – – eine Leidenschaft, wenn auch Wasser und Brod und ein leinen Kleid dazu – aber Himmel, eine Leidenschaft!“
Derjenige, dessen Aufzeichnung wir diese denkwürdigen Worte verdanken, setzt hinzu: „Bei diesen Worten sah ich die große Sophie Schröder und bekam eine Ahnung von Phädra und Medea – Die mittelgroße, aber immer noch volle, rüstige Gestalt wuchs und dehnte sich – die Augen klärten sich, bekamen Leben und Gluth, und wie mit einem Zauberhauche waren die zweiundsiebzig Jahre von diesem Antlitz hinweg geweht. Sie war wieder jung durch eine Leidenschaft!“
Sophie Schröder, die Mutter und große Lehrerin der Schröder-Devrient, war die größte Meisterin deutscher tragischer Kunst, sie steht in ihrem Fache einzig da, ein Vorbild für die deutsche Schauspielerwelt, eine Gestalt voll Weihe und Größe, voll Anmuth und Erhabenheit. Ihr Erscheinen war das der dominirenden geistigen Kraft, das der königlichen Herrschaft über ihren Stoff, ihre Umgebung und ihre Hörer; der sittliche Ausdruck davon war es, der so überwältigend immer hervortrat, der Ausdruck der moralischen Größe eines vollwichtigen, in sich eisenfest abgeschlossenen Charakters; es war die erhabene Weihe der tragischen Kraft, die sich glanzvoll in allen ihren poetischen Gebilden wiederspiegelte.
Sophie Schröder besaß in einem Grade, wie Niemand, die hinreißende Kunst der Declamation. Sie besaß die Kunst, den Sinn der Einzelnheiten mit seinem charakteristischem Empfinden zu malen und dabei durchweg den Hauch einer schwunghaften, schönen Idealität walten zu lassen. Bestimmt und deutlich sprach sich der Gehalt des bezeichnenden Wortes aus; die Rede strömte fest und sicher, und wo Gefühl und Leidenschaft mit heftiger Stärke hervortraten, schoß kein Laut über das rechte Ziel hinaus. Denn es war immer die gediegenste Besonnenheit und Ruhe, womit sie selbst in der größten Leidenschaft ihre Rolle beherrschte. Ihr war vollständig jene würdevolle heilige Ruhe eigen, welche die beredte Verkünderin des herrlichsten inneren Lebens ist, jene edle Einfachheit und stille Größe, welche Winckelmann im Sinne hatte, wenn er sagte: „wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag auch noch so wüthen, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren des Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.“ Diese besaß Sophie Schröder, weit unter ihr lag das „Gemeine“, sie war die Trägerin des vollendetsten, anbetungswürdigsten Idealismus.
Eine so große Künstlerin mußte auch als Weib fest in sich ruhend und bedeutend sein. Was von ihrem Lebenslauf bekannt ist, bringt den Beweis dafür; leider aber war die große Tragödin selbst bemüht gewesen, alle Erinnerungen, die nicht ihrer Kunst, sondern ihrer Persönlichkeit, ihrem Leben galten, zu vernichten – ein großer, charakteristischer Zug der Künstlerin - groß gegenüber der koketten Eitelkeit, mit welcher Sophie Schröder’s Nachfolgerinnen und Nachfolger, die Pfleger und Träger des kunstzerstörenden Virtuosenthums, ihre theuere Person auf ellenhohe Socken zu stellen pflegen. Ein Biograph Sophie Schröder’s hat einen schweren Stand, denn als Leitfaden vermögen ihm nur die Erinnerungen der Kinder, die Darlegungen der Zeitgenossen zu dienen, sie selbst hat Nichts hinterlassen, was sein Forschen irgendwie fördern könnte. Es war im Jahre 1854, als eine bösartige Cholera-Epidemie und die Abwesenheit ihres Sohnes in Sophie Schröder eine trübe Stimmung und den Gedanken hervorbrachte, daß ihrem Leben einsam ein schnelles Ende gesetzt sein könnte. Sie erschrak, ihre Papiere sollten nicht in unrechte Hände fallen. So wurde Alles vernichtet, was auf die Vergangenheit Bezug hatte, und damit sicher viele Documente von den Händen bedeutender Männer und Frauen, worauf die Geschichte ein Anrecht gehabt. Das geschah im vollen Bewußtsein der That; in dem Erkennen, von ihrer Kunstgröße nichts hinterlassen zu können, hielt sie die Erlebnisse einer einfachen und, wie sie selbst gesteht, oft irrenden Frau des Andenkens nicht werth.[1]
Sophie Schröder verwendete auf das Einstudiren ihrer Rollen die denkbar größte Sorgfalt. Sie selbst sagte: „Ich las meine Rollen so lange durch, bis ich mich dabei ausgeweint hatte, und erst dann ging ich an das eigentliche Studium und suchte die gehabten Empfindungen im richtigen Maße der Steigerung zu reproduciren.“ Eine vortreffliche, reich ausgestattete Bibliothek gewährte ihr die Möglichkeit, bei den Stücken auf historischer Grundlage vor dem Studium ihrer Rolle die einschlagenden Geschichtswerke in Berathung zu ziehen, um den Geist der Zeit zu ergründen, in welchem sie sich zu bewegen habe; gleichwohl hat ein gewisses Gefühl des Zagens in den ersten Minuten des Auftretens die Künstlerin durch ihr ganzes Leben begleitet, und selbst in der Periode ihrer größten Triumphe stellte sich diese beängstigende Empfindung bei jeder neuen Rolle, bei jedem neuen Publicum ein.
Sie begnügte sich – um nur Eines als Beweis für ihren großen, rastlosen Eifer anzuführen – nicht mit der einfachen Benützung des von der Natur ihr verliehenen prachtvollen Rede- Organs, sondern unterwarf dieses einer besonderen andauernden Schulung. Von ihrer Tochter Elisabeth, welche ihr die Rollen überhören mußte, weiß man, daß sie dieselben mit einem zwischen
[767] die Zähne geklemmten Korke hersagte. Es geschah dies, um sich des vollständigen Gebrauches des Buchstaben S zu versichern, der für die Deutlichkeit der Rede, nach ihr, von größter Bedeutung sei; gleichfalls pflegte sie das R, welches bei germanischen Völkern wenig anlautet und ohne dessen richtigen Gebrauch die Rede allen Glanzes entbehrt. Wurde nun schließlich das Hinderniß des Korkes entfernt, so ging ein Strom der Rede aus ihrem Munde, für dessen Gewalt es keine Hemmung gab, als den eigenen beherrschenden Willen.
[768] Wie mächtig ihr Bildungstrieb war, geht auch daraus hervor, daß sie noch im vierzigsten Jahre Englisch lernte und in ihrem siebenzigsten einen französischen Sprachlehrer hielt, um eine in Vergessenheit gerathene Sprache wieder aufzufrischen. Dabei war sie eine aufrichtige Patriotin, wie sie mit großer Kühnheit in Hamburg selbst dem Marschall Davoust bewies, und daß sie sich gern und eifrig als warme Vertheidigerin des Royalismus sprechen hörte, ist begreiflich und nur ein dankbarer Zug ihres Herzens; sie hat ihr ganzes Leben lang von Kaiser und König nur Huldigungen empfangen.
Bei allem Ernst der Kunst aber, bei allem Eifer und Studium war und blieb sie Weib genug, um ihr leicht bewegtes Herz nicht jenen Leidenschaften zu verschließen, welche von je dem weltfüllenden Genius als verhängnißvolle Begleiter fluch- und segenreich mitgegeben sind. Den Fuß auf Wolken zu setzen, ist hienieden versagt; die glühende, unbefriedigte Seele jagt nach Ersatz und sucht ihn in Verhältnissen, die ihn oft nicht gewähren. Sophie Schröder war nicht immer glücklich: sie war dreimal verheirathet und zweimal wurde das Band der Ehe wieder freiwillig gelöst; vielleicht war auch sie von Schuld nicht frei – doch wer wird auf die schöpferischen, mit dem Prometheusfunken begnadigten Genien der Menschheit einen Stein werfen, wenn sie mächtiger, heißer, voller fühlen und begehren, als wir Anderen? Die Künstlerin selbst ruft auf einem Papierstreifen, der sich in ihrem geringen Nachlaß gefunden: „Wir sollen Euch die ganze Wahrheit auf der Bühne darstellen, was scheltet Ihr uns, wenn wir sie selbst empfinden?“ Diese Worte sind der rührende Aufschrei eines leidenschaftlichen Herzens, das die Anklage der Welt gegen sich gerichtet und für seine Verirrungen nur die Größe des eigenen Talents schuldig zu sprechen weiß.
Es sind wenige Tage, daß auf dem neuen südlichen Kirchhof zu München über der Grabstätte Sophie Schröder’s die Marmorbüste der vor nun bald zwei Jahren Dahingeschiedenen aufgestellt wurde. Die erste Anregung hierzu war vom Intendanten des Münchener Hoftheaters, Baron von Perfall, ausgegangen, und seiner Aufforderung hatten die Hof-Intendanzen und dramatischen Künstler Deutschlands in einer nur sie selbst ehrenden Weise entsprochen.
Professor Zumbusch wurde mit der Ausführung des Monumentes betraut, und gerade für Sophie Schröder, die Trägerin und Priesterin des classischen Idealismus, hätte kein tüchtigerer Bildner gefunden werden können, als eben er, dessen ideale, schönheitdurchwehte Gestalten ihren Schöpfer rasch berühmt gemacht haben. Aus seinem Atelier, in dessen hohen Räumen eben die gewaltigen Figuren zum Münchener Königsdenkmal voll stolzer Schönheit aufgebaut werden, ging denn auch die Büste der gefeierten Tragödin in einer Weise hervor, deren classische Einfachheit im Entwurf ebenso sehr die Bewunderung erregt, als die vollendet schöne und naturtreue Ausführung.
Daß Zumbusch das Modell zu der dem Friedhof zur schönsten Zierde gereichenden Büste unentgeltlich gefertigt, ist ein Act echt künstlerischer Pietät gegen die Verstorbene.
Die Kolossalbüste ist aus weißem carrarischen Marmor gefertigt und trägt unter der Brust den Namen „Sophie Schröder“. Im oberen Theile des aus gelbrothem Marmor hergestellten Postaments ist in Lapidarschrift zu lesen: „Geboren am 1. März 1781 zu Paderborn; gestorben am 25. Februar 1868 in München.“ Darunter befinden sich aus Erz gegossen die Embleme der tragischen Muse. Auf dem unteren Theile des auf einem Würfel von schwarzem Granit ruhenden Postaments aber stehen die Worte: „Dem Andenken der großen Tragödin von ihren deutschen Kunstgenossen.“
Eine Mord-Weihnacht.
Weihnachten naht, das schönste christliche Fest, das Fest der Liebe und der Freude, des Wohlthuns und der Barmherzigkeit. Es naht mit seinem flittergeschmückten Tannenbaum und den strahlenden Kerzen, und wo sein Glanz hinfällt, zeigt er lachende, fröhliche, glückliche Gesichter. Draußen wirbeln die Flocken durch die Straßen, die einsam und verlassen seit dem Einbrechen des Abends daliegen und sich erst dann mit gedrängten Schaaren Andächtiger beleben, wenn durch die Stille der Mitternacht das weithin hallende Geläute der Glocken zur Christmette in die lichtschimmernden Kirchen ruft.
Das ist ein schöner Brauch in Süddeutschland und namentlich in dem katholischen München. Die vollen Töne der Orgel und triumphirende Chorgesänge brausen hernieder in das Schiff der Kirche, das dicht von Betenden erfüllt ist; das Licht von Hunderten kleiner Wachskerzen bricht nur ungewiß durch den hohen, nachtbedeckten Raum, und von dem glanzumgebenen Hochaltar spricht der Priester den Segen. Die gläubigen Münchener lassen sich diesen nicht gern entgehen und üben alljährlich die fromme Pflicht. Sie wissen aber auch von einer Weihnacht, die mit Blut und Todtschlag an ihrer alten Stadt vorübergezogen ist, und wenn heute noch jedes Kind davon zu erzählen weiß, so ist es, weil sie sich gern der damals von den Söhnen ihrer Berge bewährten opfermuthigen Treue gegen Fürst und Vaterland rühmen.
Es war für die Baiern ein trauriges Fest, die Weihnacht vom Jahre 1705, in welchem der Tod blutige Ernte hielt, und mit kurzer flüchtiger Skizze mag hier geschildert werden, wie in so heiliger Zeit so großes Elend über das Land gekommen.
Die weite, freie, sandige Hochebene, auf welcher München liegt, verengert sich südlich zum grünen, waldigen Isarthale, bei Tölz die Region der baierischen Hochalpen betretend. Der in diesen hausende Oberländer unterscheidet sich von den Bewohnern der Ebene gerade so, wie die Hochlands-Clane von den schottischen Niederländern. Treu und fest hängen sie zäh am Alten, sind starr, gleich den Granitblöcken ihrer Heimath. Wenn sie zur Hauptstadt niedersteigen aus ihren grünen Bergen, will es ihnen dort nicht recht gefallen. Die armen Gebirgsbauern sind an ein Gut gewöhnt, das kein Reichthum in das Gewühl der Städte zu zaubern vermag: die reine, frische Luft ihrer Höhen! Sie peitscht ihnen das Blut munter durch die Adern und verleiht ihnen den hitzigen, kampfbereiten Muth.
Eine große Idee begeistert diese Menschen, treibt sie unaufhaltsam vorwärts. Auch die Bauern in den von der Isar durchströmten baierischen Gebirgsgauen hatten eine solche herausgegriffen unter den mannigfachen Gründen des Aufstandes, dessen Fahne sie im Jahre 1705 erhoben. „Die Kinder erretten!“ war ihr treuherziges Feldgeschrei.
Das war, nachdem der Kurfürst Maximilian Emanuel im Türkenkriege viel für Oesterreich gethan hatte; er sah sich schlecht gelohnt, und da die offene spanische Erbschaft ihn vollständig mit dem Hause Habsburg entzweite, schloß er ein Bündniß mit Ludwig dem Vierzehnten. Prinz Eugen’s und Marlborough’s Sieg bei Hochstädt (13. August 1704) legte Baiern dem Feinde bloß. Der Kurfürst zog sich in seine Statthalterschaft der Niederlande zurück, seiner Gemahlin Therese Sobieska die Regierung übertragend. Entschloß sich die Tochter des tapferen Polenkönigs, die zahlreichen Elemente der Volkswehr aufzubieten, dann war noch Rettung möglich, aber der Jesuit Schmacker, ihr alles vermögender Rathgeber, zog vor, die bethörte Frau nach Venedig zu locken. Große österreichische Corps rückten nun an, die Sieger wollten das Land zerstückeln, alle Gräuel des Krieges, unerschwingliche Lasten drückten den Bürger und insbesondere den Bauer; dazu gesellte sich noch eine bedeutende Recruten-Aushebung, bei der man Nachts die junge Mannschaft gebunden aus den Betten holte. Das Maß des Ertragens für ein wehrhaftes Volk war vollgerüttelt. „Lieber baierisch sterben, als kaiserlich verderben!“ so scholl es zuerst vom Nordgau aus. „Brüder, es muß sein!“
Gleich einer Lawine schwoll die Volksbewegung an, die Unterländer waren der Kopf derselben, die Oberländer aber das feurige Herz. In Tölz kamen sie zusammen zu tagen und die gewaltsame Hinwegführung der kurfürstlichen Kinder zu verhindern und dort wurde sogleich der Zug nach München beschlossen. Umsonst mahnten einige Vorsichtige ab, mit allzu geringen Mitteln, ohne die nöthige Kundschaft und Vereinigung mit den unterländer Insurgenten das Wagniß zu begehen. Die heißköpfigen Gebirgsbauern wollten von keinem Aufschube wissen. Der Jägerwirth aus der Hauptstadt, ein geborener Tölzer, versicherte
[769] sie der Mitwirkung der Bürgerschaft. Ein Thor sollte ihnen heimlich geöffnet werden, unter ihren langen Mänteln würden die Bürger auf dem Wege zur Christmette die Gewehre verborgen tragen, so werde man die österreichische Garnison leicht überwältigen und den Feind aus der Residenz, ja vielleicht sogar aus dem Lande werfen können.
In hellen Haufen brachen sie auf, Alles am Wege mit sich fortreißend, Beamte mußten mit ihren Gerichtsunterthanen folgen. Bei der Prämonstratenser Abtei Schäftlarn an der Isar war der Halt- und Sammelplatz. Auch hier kam es denn wieder zur Ueberlegung, die Beamten trugen Bedenklichkeiten vor, sie hegten Zweifel an der Echtheit der vorgezeigten, den Aufstand empfehlenden kurfürstlichen Patente. Namentlich hatte der Postmeister von Anzing einen Boten geschickt mit der Nachricht, daß auf Vereinigung mit der unterländischen Landesdefension nicht zu rechnen sei. Wiederum riethen die Besonnenen zur Umkehr. Aber die Tölzer Schützen besetzten die Brücke und drohten Jeden niederzuschießen, der nicht mithielte. Noch mahnte der zum Führer gezwungene Alram, Pfleger von Vallay, zum Rückzuge, er wollte das Heranziehen von Verstärkung und die Verbindung mit dem an vierzigtausend Streiter zählenden Volksheer aus dem Unterlande abwarten; der Jägerwirth aber drang durch, unterstützt von seinem tollen Verwandten, dem Tölzer Schützencommandanten Jäger. Letzterer vermaß sich nöthigenfalls mit seinen Schützen die Stadt allein zu nehmen, und in der Christnacht müßte es losgehen. Auch der Feind könne Verstärkung heranziehen und die Unterländer Landesvertheidiger sollten sie schon als Herren von München finden. Während dieser Berathung gelang es Oettlinger, dem Pfleger von Starnberg, in die Stadt zu entkommen und dem Befehlshaber Graf Löwenstein Kunde zu bringen. Alram aber blieb nichts übrig, als seine Leute in Marschordnung zu stellen, und die opfergeweihte Schaar gegen seine bessere Ueberzeugung vorwärts zu führen. Im Ganzen waren es zweitausendsiebenhundertneunundsechszig Mann, von denen zweihundert Mann an die Isarbrücke als Wache postirt wurden. Ein zweiter Haufen kam durch den Forstenrieder Wald angezogen, die Streitkräfte der Bauern auf vier- bis fünftausend Mann erhöhend.
Eine kleine Stunde von München isaraufwärts liegen die drei Dörfer Sendling. Hier machte das Volksheer noch einmal Halt. Der Pfleger Alram trug den Sendlinger Bauern auf, die Lagerfeuer zu unterhalten, damit der Feind über ihr Vorrücken sich täusche. Dann ging er an’s Werk, ohne Hoffnung, ohne Vertrauen auf den Ausgang, aber mit festem Mannesmuthe.
Das leichte Zurückwerfen eines österreichischen Streifpikets steigerte noch die Zuversicht der Hochlandssöhne. Der erste Anprall des kraftvollen Menschenschlages aus den Bergen, von den Seen, von den Quellen der Flüsse war unwiderstehlich, fürchterlich.
Das Isarthor fiel ihrer stürmenden Hand, um zwei Uhr waren sie eingedrungen. Umsonst indessen strengten sie die sehnsüchtigen Blicke an, das Feuersignal vom Petersthurme zu schauen, welches die Erhebung der Bürger und damit die Oeffnung der inneren Thore verkünden sollte, denn sie befanden sich erst in der Vorstadt. Sie ahnten nicht, wie schaurig öde es in den Straßen der Hauptstadt war, deren gewarnte Machthaber bei Lebensstrafe Jedem geboten hatten, sich ruhig zu Hause zu halten.
Sechs kostbare Stunden gingen nutzlos verloren, während welcher die Hochländer ihrer Lust fröhnten, Pulver zu verpuffen; mit zwei kleinen, dem Kloster Benedictbeuren entnommenen Kanonen beschossen sie die Mauern und pürschten mit ihren Stutzen Jeden weg, den sie auf der Brustwehr erblickten. Auch ließen sie es nicht an einer übermüthigen Aufforderung zur Uebergabe fehlen. Grau brach der Wintertag an, die harte Erde dröhnte unter dem Anmarsch der aufgebotenen regulären Armee. Von dem hohen rechten Isarufer herüber kündete General Kriechbaum mit den drei Kanonenschlägen den Entsatz an. Die Bauern hatten den strategischen Fehler begangen, die dominirenden Höhen und die wichtige Brücke unbesetzt zu lassen. Zwar befanden sich einige der entlassenen bairischen Officiere und in des Kurfürsten Diensten gestandene Franzosen unter ihnen; doch die letzteren konnten sich dem Volke nicht verständigen, an Mannszucht war ohnehin nicht zu denken. Unverzüglich ließ der österreichische General seine Grenadiere und sein Fußvolk in dichter Colonne im Sturmschritt über die Brücke marschiren, während die Reiterei über den im Augenblick wasserarmen Fluß setzte. Vom Isaranger aus und durch’s Sendlinger Thor machte zugleich die Besatzung einen Ausfall und nun begann ein fürchterliches Blutbad. Denn Husaren und Panduren gaben, Alles niedermetzelnd, keinen Pardon, die Sensenmänner aber mäheten die Köpfe der Gegner weg und ihre Schützen fehlten selten das Ziel.
Gegen die Uebermacht hartnäckig kämpfend, zwischen zwei Feuern, zogen sich die Bauern über ein drei Viertelstunden breites, keinen natürlichen Schutz bietendes Wiesenfeld gegen Sendling zurück. Sobald sie die dortigen Verhaue erreicht hatten, bildeten sie wieder feste Massen. Noch einmal wurden die Husaren rückwärts formirt, um theils über die heutige Theresienwiese, wo auf der Anhöhe drei Mörser standen, theils von der Thalseite her die Bauern zu überflügeln, was auch gelang. Das Fußvolk stürmte die Verhaue; jedes Haus, jeder Zaun, Graben, jede Hecke wurden mit Wuth vertheidigt und – genommen. Einem halben Tausend Bauern nur gelang es, sich mit geringem Verluste nach dem Forstenrieder Forste durchzuschlagen; die Uebrigen, wer es noch vermochte von der geschmolzenen Schaar, flüchteten sich auf den Kirchhof, dort sollte die Mauer als Brustwehr dienen, das arme Leben theuer zu verkaufen. Bald war es nur ein Schlachten mehr. Als sich der Wintertag zu Ende neigte, waren die Gefangenen und Verwundeten fortgeschleppt, und der Rest der Landesvertheidiger lag todt oder unter den Erschlagenen versteckt auf dem ländlichen Friedhofe. Während des Gemetzels in Sendling war, im Rücken des General Kriechbaum, der Bauern Hauptmacht über Anzing her im Anzuge, bis versprengte Flüchtlinge auf sie stießen mit dem Rufe: „Alles ist verloren!“
Sechshundert Verstümmelte wurden den Münchener Bürgern zum „abschreckenden Exempel“ auf die Straßen der Stadt geworfen, in der Decemberkälte und ohne Labung und Verband! Was bis zur Nacht nicht ausgelitten, durfte von mitleidigen Seelen in Spitäler gebracht werden. Aber nur Wenige hatten den Muth, mitleidig zu sein! Mit empörender Gleichgültigkeit berichtet der österreichisch gesinnte Bürgermeister von Vacchiery „die Mord-Execution“ an einen Freund in Landshut. Die Scharfrichter und Henker bekamen viel Arbeit in München: was irgendwie an der Spitze gestanden, alle die in Feindeshand gerathenen Officiere verfielen ihnen. Der Jägerwirth wurde geviertheilt, dem wackeren Alram aber gelang es, sich zu salviren. So endeten die Mordweihnachten des Jahres 1705. –
Von München nach Sendling ist es ein angenehmer Spazierweg. Der Theresienwiese entlang führt der Pfad auf der südlichen Hügelkette an dem im italienischem Landhausstil erbauten Schießhaus und bald nachher an dem die Bavaria nebst ihrer Walhalla umgebenden Hain vorüber.
Von da an betritt der Pfad das freie Feld, unten gruppirt sich die Stadt, dem Anscheine nach wenig bedeutend, am Ufer des Flusses hin, im fernen Süden erscheinen bläulich verschwommen die Hochalpen. Der Fußweg schlängelt sich um ein schönes, ländliches Gehöfte, ihm gegenüber, jenseits der Landstraße erhebt sich die Kirche von Untersendling. Wir befinden uns auf der Stelle des wüthendsten Kampfes. Heute sieht es so idyllisch friedlich hier aus, wie nur ein stiller, ländlicher Ruheplatz sein kann.
Das Andenken der Gefallenen lebt noch fort. An der Kirche ist ein schönes in lebhaften Farben gehaltenes Schlachtenbild von Lindenschmitt. Der berühmte Schmied „Baldes Maier“ von Kochel bildet den Mittelpunkt, seine Stachelkeule wüthet unter dem Feinde, zur Hünengestalt wurde ein kraftvoller Greis der Jachenau als Vorbild genommen. Wehrhafte Jünglinge athmen zu den Füßen des Recken aus, braune Husaren, wilde Panduren säbeln sie nieder.
Zwanzig Minuten führen aus dem freundlichen Dorfe nach Mittersendling, einem beliebten Vergnügungsort und zugleich Station auf der Rosenheimer Bahn. Eine Viertelstunde später folgt Obersendling. Die Gegend ist waldig und hügelig geworden; an dem Hesseloher Forst vorbei, dem Botaniker seiner reichen Flora halber bekannt, führt hier der Schienenweg über den Fluß auf das rechte Ufer, und ganz nahe liegt die Menterschwaige, allen Münchenern bekannt und lieb. An heitern Sommertagen unternehmen Tausende die Lustfahrt, oder wandern zu Fuß südlich in’s Isarthal. Der Strom wühlt sich tief unten sein steiniges Bett, die herrlich bewachsenen steilen Ufer umsäumen ihn grün, nördlich dehnt sich [770] majestätisch die Hauptstadt aus, im Süden winken die Berge, das weite Meer dunkler Forsten begrenzend. Aus ihren Schluchten, ihren Thälern und Höfen brachen vor hundertvierundsechszig Jahren die Schaaren auf nach München, sich selbst zu befreien und, wie sie so liebenswürdig, gutmüthig riefen, „die Kinder zu erretten“!
Sieg fanden sie nicht, wohl aber ein rühmliches Ende.[2]
Ein neuer Wunderdoctor. Das in Thüringen gelegene, sehr bekannte und besuchte Oertchen R.[WS 3] hat schon einmal durch einen Wunderdoctor, der in seinen Mauern erstand, großen Zulauf und großen Ruhm gehabt; heute schreibt man der Gartenlaube von einem neuen – Beutelschneider, der dort sein Wesen treibt, und setzt uns zugleich in die erfreuliche Lage, das wunderthätige Recept mitzutheilen, welches der offenbar mehr im Gesangbuch als in der Heilkunst unterrichtete fromme Mann verschreibt. Der Brief, den die Gartenlaube d. d. M., 31. Octbr. 1869 erhalten, lautet mit Weglassung der einleitenden Worte folgendermaßen:
„… Der elfjährige Sohn meines Bruders litt im letzten Sommer und leidet noch jetzt an einer Halswirbelverrenkung. Da man das Leiden jedoch anfangs nicht erkannte und keine dasselbe veranlassende Ursache zu ergründen vermochte, so kam man auf die Vermuthung, das Uebel sei gichtischer Natur, und wurde in diesem Glauben bestärkt, als sich Symptome zeigten, welche darauf hinzuweisen schienen, und selbst ein Arzt sich jener Anschauung zuneigte. In dem Wahne nun, daß auch der gelehrteste und geschickteste Arzt nichts gegen die Gicht vermöge, sah sich die Familie meines Bruders nach einem ‚Wunderdoctor‘ um.
Dieser fand sich bald in dem nahegelegenen R. in der Person des dortigen Schultheißen. An ihn wurde trotz meines Protestirens ein Bote gesendet, der bald genug mit dem Recept, welches ich Ihnen hier beilege, zurückkam. In diesem selbst aber befanden sich drei zusammengeknitterte und wohl durchnähte Papierchen, jedes mit einem langen Zwirnsfaden versehen, um es der im Recept enthaltenen Vorschrift gemäß zu brauchen. Das Mittelchen kostete fünfzehn baare Silbergroschen, ohne den Botenlohn, und half natürlich – Nichts. Mündlich war noch dem Boten die Weisung mitgegeben worden, daß, wenn der Patient die im Recept vorgeschriebenen Worte und Gebete nicht selbst sprechen könne, sein Pathe zugegen sein und dies für ihn thun solle. Der Patient hat es glücklicherweise selbst fertig gebracht und, wie mir scheint, ist das dem elfjährigen Knaben zu verzeihen. Was soll man aber zu den Anderen, zu den Erwachsenen sagen, die einen solchen Firlefanz veranlaßten und glaubten? Deren Treiben sieht doch genau aus wie eine reine Verirrung des Verstandes und wie eine wahre Gotteslästerung F. W.“
Das Recept, von welchem in dem Briefe die Rede ist, lautet wörtlich:
Auf den Freitag früh sieben Uhr nimmt der Patient einen Zettel in die Hände und verrichtet folgende Gebete:
1) die drei Artikel des christlichen Glaubens (Was ist das? nicht);
2) das Vaterunser, nicht Amen;
3) die drei Artikel, nicht Amen;
4) das Vaterunser, nicht Amen;
5) die drei Artikel, nicht Amen;
6) das Vaterunser; bei diesem wird Amen gesagt; aber bei den fünf ersten Gebeten wird nicht Amen gesagt.
Wenn das so geschehen ist, wird der Zettel um den Hals gehangen, auf den bloßen Leib und so, daß der Zettel auf die linke Seite zu liegen kommt. Der erste bleibt liegen bis auf den Dienstag früh halb acht Uhr. Da wird der herunter genommen, und der Faden darum hergewickelt, aber das Ende vom Faden nicht untergesteckt, und hinverscharrt, wo Rasen ist. Sogleich wenn das geschehen ist, wird der zweite genommen, und die Gebete wieder so verrichtet. Wenn Amen gesagt ist, wird der auch so angehangen. Dieser bleibt liegen bis auf den Freitag früh acht Uhr. Da wird der herunter genommen, und so verscharrt. Und der letzte genommen, und die Gebete nochmals so verrichtet. Wenn Amen gesagt ist, wird der auch so angehangen. Dieser bleibt liegen bis auf den Dienstag früh halb neun Uhr. Da wird der herunter genommen und auch so verscharrt. Aber jeder Zettel in ein ander Loch. Auch muß der Patient 2 Sgr. einem Armen vor Anfang der Cur geben.
R., den 8ten Juli 1869.
Schultheiß.
Albert Traeger. Mit jedem Jahre um die Weihnachtszeit erscheint der Dichter der Gartenlaube mit einer neuen Gabe auf dem literarischen Markte. Kaum ist vor circa vierzehn Tagen die abermals stark vermehrte und wahrhaft prachtvoll ausgestattete siebente Auflage seiner Gedichte ausgegeben, so erfreut er uns neuerdings wieder mit einem neuen Jahrgang seines bekannten Albums: „Deutsche Kunst in Bild und Lied“, mit Originalbeiträgen deutscher Maler, Dichter und Tonkünstler, dessen literarische Redaction unser verehrter Mitarbeiter auch dieses Mal mit gewohntem Tact besorgt hat. Brachvogel, Ernst Dohm, J. G. Fischer, Freiligrath , Hamerling, H. Lingg, Rittershaus, Sturm und viele andere treffliche Dichter lieferten poetische Beiträge, während die artistische Ausstattung mit ihren lithographirten und farbigen Bildern – einige schwache Blätter ausgenommen – recht Ansprechendes bietet. Jedenfalls werden die „Gedichte“ sowohl, die schon ein Lieblingsbuch der deutschen Nation geworden, wie das „Album“ wieder allerwärts auf dem Weihnachtstische glänzen.
Noch einmal das Aennchen von Tharau. Im Anschluß an unsere neuliche Notiz in Nr. 45 der Gartenlaube erhalten wir von Jemandem, der mehrere Jahre in Ostpreußen gelebt hat, die erfreuliche Mittheilung, „Aennchen von Tharau“ sei nicht aus der Welt verschwunden, wie man allgemein annehme, sondern lebe und blühe noch heute in aller Anmuth fort, indem, wie unser Gewährsmann versichert, der jedesmalige Prediger zu Tharau seit der berühmten Auferweckung des S. Dach’schen Liedes durch Herder sein ältestes Töchterlein Anna nenne. Wir nehmen an, daß diese Notiz allen für das „Aennchen von Tharau“ schwärmenden Sängern und Sängerinnen Deutschlands höchst interessant sei, geben sie selbst aber unter allem Vorbehalt.
Von Auerbach’s „Barfüßele“ sind die dritte und vierte Lieferung bereits ausgegeben. Es stellt sich mit jedem Hefte mehr und mehr heraus, daß seit Kaulbach’s Reineke Fuchs kein illustrirtes Werk, was Innigkeit der Erfassung und vortreffliche Ausführung anlangt, eine solche künstlerische Bedeutung beanspruchen kann, wie dieses Vautier’sche Prachtbuch.
Kleiner Briefkasten.
Wilhelmine P. Berlin. Ihre Wette ist gewonnen, wenn Sie nach den Regeln der Metrik die Strophe oder Stanze je aus einer bestimmten Anzahl von Versen bestehen lassen; dagegen hat die Gewohnheit bei Gesangliedern den aus mehreren Reimzeilen bestehenden Verssatz oder das Gesetzlein ebenfalls kurzweg als Vers bezeichnet, und zwar in kirchlichen wie in weltlichen Liederbüchern. Es lebt noch Mancher, der sich bei feierlichen Commersen oder Festessen mit Festliedern zu der Ankündigung hinreißen ließ: „Die Musik spielt den ersten Vers vor!“
Ein ungelehrter Laie fragt an, warum der protestantische und deutsche Theolog Tischendorf seine Sinai-Bibel nicht seiner Kirche und seinem Vaterland erhalten, sondern der russischen Krone griechischer Confession zugewendet habe. Der Laie hat davon gehört, daß in diesem Bibel-Original jener vielberufene Nachsatz: „Und wer nicht glaubet, der soll verdammt werden“ nicht enthalten sei, und verspräche sich gern gerade davon sehr viel für so manche Gemeinde, die jetzt von orthodoxen und pietistischen Predigern auf die Dauer Unerträgliches mit anhören müsse.
Bei Ernst Keil in Leipzig erscheint:
In 18–20 Bänden. 19 Bände sind bereits erschienen.
Subscriptionspreis jedes Bandes 7½ Sgr. = 27 kr. rhein.
Herman Schmid ist durch seine vortrefflichen Novellen namentlich den Lesern der Gartenlaube schon lieb und vertraut geworden. Es weht aus ihnen nicht blos erfrischend der kräftige Hauch jener sonnigen Berge und grünen Thäler, in denen sie meistens sich ereignen, sie sind auch rein und keusch wie dieser Hauch, dabei voll spannender Vorgänge und warmen dramatischen Lebens. Erzähler wie dieser, die nicht wie Handwerker fabriciren, sondern aus der Tiefe des Gemüths heraus poetisch gestalten und das innerste Sein des Volks in so mannigfaltig anheimelnder und ergreifender Weise und in so markigen Gestalten zu schildern wissen, werden auch im Herzen des Volkes stets einen sicheren Platz behaupten. Es ist deshalb begreiflich, daß unser deutsches Publicum die gesammelten Schriften von Herman Schmid mit großer Freude aufgenommen.
- ↑ Was Zuverlässiges gesammelt werden konnte, finden diejenigen
unserer Leser, welche sich genauer unterrichten wollen, in dem soeben
erschienenen Buche „Sophie Schröder, wie sie lebt im Gedächtniß ihrer Zeitgenossen und Kinder.“ Wien, Wallishauser. Das Buch ist von der
berufenen Hand ihres Schwiegersohns, Dr. P. Schmidt, geschrieben und
kann in seiner geist- und liebevollen gründlichen Zusammenstellung des
vorhandenen Materials als ein würdiges Andenken an die große Tragödin
von uns auf das Beste empfohlen werden. Zahlreiche Briefe interessanter
Persönlichkeiten, darunter König Ludwig der Erste, der zu der Künstlerin
in freundschaftlicher Beziehung stand, Emilie von Gleichen, Auguste
Crelinger, Amalie Heizinger, Louise Neumann, Marie Seebach, Castelli,
Emil Devrient, Herloßsohn, La Roche, Lewinsky und Andere, illustriren
das elegante Buch, welches an poetischen Beiträgen Gedichte an die
Gefeierte von Bauernfeld, Bodenstedt, Redwitz, Schloenbach, Herman Schmid und Anderen bringt, und mit einem Anhange „Aus Sophie Schröder’s
Album“ schließt, in welchem wir Namen wie Grillparzer, Grunert, Ludmilla Assing, Hebbel, Ludwig Löwe, Riehl, Varnhagen u. A. vertreten
finden – ein Inhalt, dessen vielseitiger Reichthum dem Werke mit Recht
die weiteste Verbreitung sichert. D. Red.
- ↑ Das Andenken daran ist durch Schauspiel, Novelle und Ballade bis auf die neueste Zeit fortwährend poetisch verherrlicht und erneuert worden und so bis heute, namentlich in Süddeutschland, wach und lebendig geblieben. Die Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Eigenthümkeiten
- ↑ Vorlage: gewacht
- ↑ Sehr wahrscheinlich ist Ruhla gemeint, siehe der Artikel: Ein thüringischer Wunderdoctor des vorigen Jahrhunderts.