Die Gartenlaube (1872)/Heft 30

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 30.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Eine Leidenschaft.


Von E. Werber.[WS 1]


Auf einer Fußreise in den Karpathen hatte ich mich eines Tages, von einem sehnsüchtigen Verlangen nach großer Wildniß und gänzlicher Einsamkeit geleitet, an einen sehr entfernten Punkt und ohne Führer gewagt und, von der Großartigkeit der Natur hingerissen, ganz und gar den Rückweg zu meiner Herberge vergessen. Die Dämmerung sank herab und ich stand noch vor einem tosenden Wasserfalle, der seine chaotischen Träume in die Wildniß sang; erst als die Bäume im Dunkel zu verschwimmen anfingen, brach ich auf. Da ich mich auf meinem Wege zu wiederholten Malen aufgehalten hatte und keiner bestimmten Richtung gefolgt war, so wußte ich nicht, wie weit ich von der Dorfherberge entfernt und welche Richtung ich einschlagen solle, um sie zu finden. Ich ging, nach einem Blicke auf die verschiedenen Lichtungen des Waldes, links über den sanften Rücken einer Wiese, welche mich aber bald wieder vor einen dichten Wald brachte. Unschlüssig, ob ich weitergehen oder umkehren solle, blieb ich stehen und es fing an mir unbehaglich zu werden, als plötzlich ich die Klänge eines Claviers zu vernehmen glaubte. Ein Clavier? Nicht möglich! Ein Clavier hier oben in der Wildniß, wo nicht einmal das Brüllen der Kuh oder das Meckern der Ziege zu hören ist, hier oben das modernste Instrument der Musik? Ich lachte über die Täuschung meines Ohrs und wollte die Wiese wieder zurückgehen, als ich von Neuem jene Klänge hörte, und diesmal stärker. Ich lauschte und vernahm deutlich einen wilden Octavenlauf. Ich wußte jetzt, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Es war ein Clavier hier oben in der wildesten Wildniß der Karpathen! Ein Clavier und ein Mensch, der Clavier spielte! Wo aber war das Haus, in welchem dieser Mensch lebte? Es war schwer, die Richtung auszufinden, von welcher die Klänge kamen.

Ich schritt auf gut Glück in den Wald und fand nun, daß er nicht dicht war. Bald klangen zu meiner Freude die Töne deutlicher zu mir herüber und nach etwa dreihundert Schritten sah ich Licht durch die Bäume schimmern. Es kam von einem Abhange außerhalb des Waldes. Rüstig schritt ich weiter, dem Lichte zu, und sah, als ich aus dem Walde trat, daß dieses Licht nicht aus einem Hause, sondern aus einer Lehmhütte, eigentlich einem Lehmstalle, kam, welcher dicht an den Felsen angebaut war. Hier konnte das Clavier nicht sein; solche Hütten sind nur von Hirten und dem Vieh für ein paar Nächte bewohnt, wenn sie sich auf die höchsten Weiden wagen. Und doch – die Töne kamen, jetzt anmuthig sich verschlingend, voll und harmonisch aus dem Lehmstalle. Meine Neugier war auf’s Höchste gespannt, und ich vergaß beinahe darüber, wie erfreulich mir Verirrten ein Obdach war. Die Hütte war lang und tief; aber sie hatte keine Fenster, sondern nur zwei breite Ritzen und in der Mitte eine große Oeffnung, welche als Eingang diente. Als ich mich diesem Eingange näherte, sprang mir ein großer Hund mit wüthendem Gebell entgegen. Das Clavierspiel hörte auf, und nun sah ich etwas Seltsames, Unerwartetes, Unglaubliches. Unter den Eingang trat aus der Hütte eine Frau in elegantem Seidenkleide, in der einen Hand eine hohe Alabasterlampe und in der andern ein Pistol haltend.

„Wer ist hier?“ frug sie rasch und entschlossen auf Polnisch. Ich antwortete, so gut es mit meinem schlechten Polnisch ging, ich sei ein Fremder, habe mich im Gebirge verirrt und sei den Tönen und dem Lichte nachgegangen, hoffend, hier eine Herberge für die Nacht zu finden.

„Sind Sie ein Deutscher?“ frug sie. Als ich diese Frage bejahte, sagte sie in geläufigem Deutsch und mit einem reizenden polnischen Accent: „Ich spreche Deutsch, kommen Sie herein.“

Ich folgte ihr in die Hütte. Es saß eine andere Frau an einem Lehmherde und sah mich mit großen Augen an. Sie war eine Dienerin der Frau, und schien den Abendthee zu bereiten.

„Sie finden keinen Comfort bei mir,“ sagte die Dame, „nicht einmal ein Bett. Ich schlafe auf einem Strohsack, meine Dienerin auch; mein Diener und der Hund schlafen vor der Hütte draußen. Ich werde Ihnen meinen Strohsack geben und eine wollene Decke, und Sie werden die Güte haben, sich vor der Hütte niederzulassen.“ Dann wandte sie sich an ihre Dienerin und hieß sie Thee, Rum, schwarzes Brod und Wildpret aufstellen. Sie hatte eine weiche Stimme, sprach aber schnell und in gebietender Weise, wie eine polnische Aristokratin, die gewohnt ist, mit Leibeigenen umzugehen.

„Setzen Sie sich,“ sprach sie, auf einen Stuhl oder vielmehr auf einen Klotz zeigend, der nahe beim Herde stand. Dann ging sie zum Clavier, blätterte in den Noten und schien sich weiter nicht um ihren Gast kümmern zu wollen. Sie war jung, klein und schmächtig gebaut und hatte die Biegsamkeit einer Schlange und die Raschheit eines Salamanders. Ihr Gesicht war ganz slavisch, breit an den Wangen und der Stirn. Ihr Haar war dunkel, kurz geschnitten und am ganzen Kopfe in vollen dichten Ringeln hoch aufgebäumt. Das grau-braune Auge, ungewöhnlich groß, hatte einen geistvollen, durchdringenden Blick; [480] die Stirn, welche der Wölbung nach hoch zu sein schien, war zur Hälfte und absichtlich vom Haar bedeckt. Der Mund war nicht schön, ebensowenig die Nase, beide aber waren ausdrucksvoll im höchsten Grade. In manchen Momenten erinnerte ihre Physiognomie an eine Katze, in anderen an ein Kind.

Die Hütte war groß, in der Mitte stand das Clavier. An der einen Wand befanden sich ein Schrank mit Geschirren und ein Tisch oder vielmehr eine Holzplatte, auf vier rohen Pflöcken ruhend. An der gegenüberliegenden Wand standen ein Koffer, einige Holzstühle und ein eleganter Damenschreibtisch; in der Ecke lagen die beiden Matratzen, von welchen ich eine bekommen sollte, um vor der Hütte darauf zu schlafen. Der Boden war, wie die Wände, von Lehm und feucht. Ich hatte manches Seltsame, manches Absonderliche im Leben gesehen; allein einen Lehmstall, von einer jungen vornehmen Dame bewohnt und der als einzigen Comfort einen gepolsterten Clavierstuhl aufzuweisen hat, das hatte ich noch nicht gesehen! Sie nahm jetzt wieder am Clavier Platz und that es mit solcher Nonchalance und setzte mit solcher vornehmer und geistreicher Handbewegung einen Zwicker auf die Nase, daß ich, noch ehe sie spielte, von ihrer Genialität überzeugt war. Ihre kleinen Hände fegten die Tasten wie ein Sturmwind; aber der Körper blieb aufrecht und ruhig. Sie hatte eine seltsame Art, zu spielen, immer in den Extremen, entweder mit solcher Wucht und Leidenschaft, daß man glaubte, sie wolle das Clavier zerschlagen, oder leise und fast undeutlich. Es war ein originelles, geniales, aber kein klares, kein fertiges Spiel; es erinnerte mich an das Tosen des Wasserfalls in den Bergen draußen und auch wieder an das Säuseln des Grases; aber der Wasserfall war majestätischer und das Gras sinniger.

Die Frau fing an, mich ungeheuer zu interessiren; halb war sie mir sympathisch, halb unsympathisch; halb bewunderte, halb bemitleidete ich sie. Wer konnte sie sein? Excentricität ist zwar nichts so Seltenes unter den Polinnen; allein sie äußert sich gewöhnlich in patriotischer oder in erotischer Form. Eine Polin, welche sich mit einem Clavier in der Wildniß der Karpathen verbirgt, ist gewiß eine Seltenheit.

Sie stand jetzt vom Claviere auf, setzte sich auf ihren Strohsack und frug die Dienerin, ob sie das Abendessen bereitet habe.

Diese antwortete auf Polnisch: „Ja, gnädige Gräfin.“

Die gnädige Gräfin geruhte, mich zum Essen einzuladen und mir einen Stuhl ihr gegenüber anzuweisen. Ich machte einige Versuche, ein Gespräch anzuknüpfen, welche aber von ihr nicht ermuthigt wurden. Der Thee war stark und rein, das Wildpret vorzüglich, und ich hatte Hunger. Als ich zum zweiten Male zugriff, schien sie Mitleid mit mir zu haben und sagte: „Essen Sie, essen Sie, so viel Sie wollen!“ Sie selbst aß wenig und dieses Wenige in langen Pausen, welche sie damit ausfüllte, daß sie entweder erstaunt in eine Ecke blickte oder mich mit einem forschenden Blicke durchbohrte. Nach dem Thee holte sie aus einem Kistchen auf dem Schreibtische zwei Cigarren, bot mir eine und zündete die andere für sich an. „Erzählen Sie mir, woher Sie kommen,“ sagte sie plötzlich. Als sie aus meiner Erzählung vernahm, daß ich Naturschwärmer sei, schien ich Gnade vor ihr zu finden. Sie lächelte jetzt zuweilen und sagte, während ich sprach, oft zustimmend: „Ja, ja.“ Wie Alles, was sie that, originell war, so rauchte sie auch auf eine originelle Weise. Sie blies den Rauch ihrer Cigarre nie gerade hinaus, sondern wiegte das Haupt hin und her und ließ den Rauch allerlei Figuren beschreiben, wobei sie ihre Augen ein wenig zudrückte und dieses Spiel unendlich zu genießen schien.

„Kennen Sie Wien? Kennen Sie Pest?“ frug sie plötzlich.

Ich sagte ihr, daß ich in Wien meine Heimath habe und oft nach Pest komme.

„Kennen Sie Remeny in Pest?“ frug sie leichthin.

„Ich habe die Ehre, einer seiner näheren Bekannten zu sein,“ antwortete ich.

„So?“ sagte sie und fuhr nach einer Weile fort. „Er ist ein großer Mann, ein Genie – wie alt ist er wohl?“

„Sechszig Jahre,“ antwortete ich.

„Und schön, nicht wahr?“ frug sie.

„Für sein Alter – ja,“ erwiderte ich.

Wie ein Sturmwind fuhr sie vom Stuhle auf, ging eine Weile in der Hütte auf und ab, kam dann wieder zurück und sagte mit einem stechenden Blicke: „Was Sie eben sagten, war nicht richtig. Ein Genie hat kein Alter; ein großer Mann ist immer schön, selbst wenn er häßlich wäre. Ich finde, Remeny ist der schönste Mann auf Erden.“

Ich war vor Erstaunen stumm geworden.

„Wenn ein Komet einen blutrothen Kern und einen langen leuchtenden Schweif hat, mit dem er die silbernen Sterne verdeckt, so ist er nicht deshalb schön, sondern er ist schön, weil er eine große Erscheinung ist, und das Genie ist ein Komet,“ sagte sie und blickte mit leuchtenden Augen in die Nacht hinaus. Nach einer Weile frug sie: „Remeny hat viele Gegner, nicht wahr?“

„Ja,“ antwortete ich, „man findet seine Richtung zu excentrisch.“

Sie lächelte fein und sagte: „Weil man klein ist und gewöhnlich. Er ist eben kein weißes Täubchen, das angenehm im Hühnerhofe girrt, kein weißes Lämmchen, das mit unschuldigem Stimmchen die Träume seines bornirten Hirnchens auf der Weide schüchtern erzählt; er ist ein Löwe, der einsam in die Wüste brüllt und seine Mähne schüttelt – und davor fürchtet man sich. Ich fürchte mich aber nicht.“

Ich wagte zu fragen: „Sie kennen Remeny wohl sehr genau?“

Sie sah mich mit strafendem Blicke an und sagte: „Ich habe nie die Ehre gehabt, mit Remeny zu sprechen; aber ich kenne ihn besser, als Ihr Alle – ich weiß, was er denkt.

Die Frau war mir unheimlich, und doch fesselte sie mich. Ich hätte ein Jahr meines Lebens darum gegeben, sie ergründen zu können, aber ich fühlte, daß sie ein Abgrund war. Ich hatte ein Gefühl, welches mir sagte, nicht weiter im Gespräch über Remeny zu gehen, und frug sie, seit wann sie hier oben wohne.

„Seit zwei Monaten,“ sagte sie. „Wie gefällt Ihnen mein Palast?“

„Ich finde ihn für eine Dame Ihrer Art etwas primitiv und fürchte sogar, daß Sie sich einen Rheumatismus darin holen werden,“ erwiderte ich.

„O, den hab’ ich schon!“ rief sie lachend, „schon seit vier Wochen; aber das macht nichts. Wenn ich unten auf meinem Gute sein werde, dann leg’ ich mich auf ein Bärenfell vor den Kamin und lasse mich mit einem andern Bärenfelle zudecken und so bleib’ ich liegen, bis ich keine Schmerzen mehr habe. Auf unseren Gütern ist’s schrecklich langweilig,“ fuhr sie fort und gähnte dabei. „Wenn ich eine andere Dienerin fände, so bliebe ich noch hier bis zum Anfange des Septembers; aber dieses dumme Geschöpf will nicht mehr hier oben bleiben, und keine meiner anderen Dienerinnen will wieder herauf kommen. Ich habe alle Fünf der Reihe nach hier oben gehabt, aber keine blieb länger als zwei Wochen. Sie hatten Langeweile oder fürchteten sich, klagten über Zahnweh und Reißen in den Gliedern, und wenn ich sie nicht gehen ließ, dann machten sie mir kalten Thee, verbrannten das Wildpret und gaben mir so schlechtes Essen, daß ich sie zuletzt fort schickte.“

„Sind Sie weit vom Dorfe P. entfernt?“ frug ich.

„Sieben Meilen,“ sagte sie. „Mein Diener geht jede Woche zwei Mal hinunter und kauft Brod, Eier und Fleisch.“

„Wie haben Sie nur das Clavier herauf gebracht?“ forschte ich weiter, da sie jetzt mittheilsam wurde.

„Ja, das war eine schreckliche Geschichte,“ rief sie mit reizender kichernder Stimme. „Von meinem Gute bis zum Dorfe P., das weit von meinen Besitzthümern liegt, konnte man es auf einem Wagen fahren. Allein von P. bis herauf sind die Wege für einen Wagen unmöglich. Ich mußte also Männer suchen, welche es hinauftragen würden.“

„Sieben Meilen bergauf über Steine und Gestrüpp?“ rief ich.

„Ja,“ sagte sie. „Ich wollte es haben, ich mußte es haben, ich kann nicht ohne Musik leben. Ich habe im Dorfe ausschellen lassen, daß ich vierhundert Gulden bezahlen wolle für acht Männer, welche, abwechselnd zu Vieren, das Clavier herauf tragen würden. Nun gab’s Streit im Dorfe; Alle wollten das Geld verdienen. Sie kamen, ein ganzer Haufen, vor die Herberge und ich mußte mich in eine Kammer einschließen, damit sie mir nicht zu Füßen fielen und das Kleid mit bittenden Küssen besudelten. Ich ließ Loose ziehen, und so wurde Friede gemacht und mein Clavier kam nach einem siebenzehnstündigen Transporte hier an.“

[481] „Es kann aber doch nicht die Stimmung halten in diesem feuchten Loch?“ sagte ich.

„Natürlich nicht!“ rief sie lachend. „Ich habe einen Schlüssel und stimme es, so oft es nöthig ist.“

„Sie selbst? mit Ihren Kinderhändchen?“ frug ich.

„Glauben Sie, ich habe keine Kraft?“ sagte sie und holte aus der Schublade des Schreibtisches zwei eiserne Halter, deren jeder zehn Pfund wog, und welche sie mit Leichtigkeit in die Höhe hob. Ihr zarter kleiner Körper bog sich zurück und schien fast an den Hüften brechen zu wollen.

„Wozu machen Sie denn solche Kraftübungen?“ frug ich erstaunt.

„Weil ich Clavier spielen will, wie Remeny denkt. Als ich zuerst Remeny’s Schriften las, da konnte ich in meinen Händen kaum einen Regenschirm tragen und spielte Clavier wie eine Schwindsüchtige. Das war jämmerlich!“ sagte sie und legte die eisernen Halter auf den Tisch. „Ich kann aber das Gewinsel nicht ausstehen,“ fuhr sie fort, „ich liebe alles Große, alles Gewaltige, alles à la Remeny.“

Es fiel mir auf daß, trotzdem sie mich vor wenigen Minuten fast zurecht gewiesen, sie nun doch wieder von Remeny zu sprechen anfing.

„Man sagt, Remeny trinke viel Champagner,“ sagte sie nach einer Weile; „ist es wahr?“

„Ja, er leistet Ungewöhnliches darin,“ erwiderte ich, absichtlich Alles, was sie wissen wollte, tropfenweise gebend.

„Ich finde, nur geistreiche Menschen sollten Champagner trinken. Was können dumme oder grob organisirte Menschen aus dem Champagner ziehen? – Ich habe auf meinem Gute oft aus Langeweile mich vor meinen Kamin gelegt und Champagner getrunken, ganz allein, ganz langsam, und es war mir immer, als ob ich Ideen tränke.“ Dann fuhr sie mit lieblichem Kichern fort: „Fragen Sie doch den Lieutenant X. oder den Banquier Y. in Pest, ob sie auch Ideen aus dem Champagner trinken!“

Ich mußte laut lachen und sagte ihr, Remeny habe an einem Abende eine geistreiche Improvisation über den „Champagnertropfen“ gemacht.

„Haben Sie sie nicht aufgeschrieben?“ frug sie rasch.

„Man hatte keine Zeit dazu,“ erwiderte ich; „er improvisirte auf Flügeln, man konnte ihm nicht folgen.“

Plötzlich, wie wenn sie bereute wieder von Remeny gesprochen zu haben, frug sie: „Wie gefallen Ihnen denn die polnischen Dörfer?“

„Es ist viel Schmutz darin,“ sagte ich aufrichtig.

„Ja,“ rief sie, „vor jedem Hause eine Pfütze, in jedem Hause eine Stube, in jeder Stube ein halb Dutzend Menschen, ebenso viel Schweine und Hühner, kein Fenster, keine Seife, kein Wasser, brrr – ich versichere Sie, ich halte mich für eine viel größere Heilige als die Elisabeth von Ungarn; denn die kam schon als Kind nach Deutschland und hat nur thüringische Bauernhäuser besucht: ich aber besuche polnische!“

„Das ist sehr verdienstvoll von Ihnen,“ sagte ich; „denn ich kann mir denken, wie viel Ueberwindung es Sie kostet.“

„Ach, zuweilen bin ich froh, wenn eine Frau in die Wochen kommt oder ein Kind im Sterben liegt; es giebt dann doch etwas zu thun. Es giebt dann sogar sehr viel zu thun, denn die Bauern sind dumm und eigensinnig wie die Kameele. Ein Bauer läßt seine Frau aus lauter Dummheit und eine Frau ihr Kind aus lauter Eigensinn sterben. Oft könnte man ein Kind durch frische Luft und ein paar Gläser Milch retten; aber sie wollen es nicht. Die einzige Fensteröffnung ist das ganze Jahr mit Papier verklebt und der Magen des Kindes mit Kartoffeln. Ich möchte Ihnen nicht rathen, je ohne eine große Flasche Riechessig in eine polnische Bauernstube im Winter zu gehen!“

„Sind Sie im Winter immer auf Ihrem Gute?“ fragte ich leichthin.

Aber die Frau hatte eine erstaunliche Spürkraft; sie merkte, daß unter meiner Frage eine tiefe Neugier lag. Sie sah mich mit durchdringenden Katzenaugen an und sagte: „Wenn ich nicht auf meinem Gute bin, so bin ich anderswo.“

Meine Verlegenheit war groß. Sie schien sie einen Augenblick zu genießen, dann aber Mitleid mit mir zu haben, denn sie stand auf und setzte sich an’s Clavier. Ich athmete auf. Die Frau war halb eine Fee, halb ein Dämon.

Sie spielte einen wilden Ungarmarsch, und ihre Nasenflügel gingen dabei auf und nieder. Dann brach sie plötzlich ab und spielte eine leise, fast schwüle Melodie. Sie spielte sie mehrere Male nach einander, sah sich dann um und sagte: „Sie sollten dies kennen –“ Ich verneinte. „Es sind Stimmen aus Remeny’s ‚Frühlingsnächten‘,“ sagte sie, „und von seinem Freunde P. musikalisch illustrirt.“ Plötzlich hörte sie zu spielen auf, nahm die Cigarre wieder vom Tische, ging zum Eingang der Hütte und rief mir zu: „Kommen Sie, die Nacht ist wunderschön.“ Und sie hatte Recht. In stummer Majestät ragten die schwärzlichen Berge in die Luft; ein lauer Wind flüsterte in den Bäumen und silberne, goldene, röthliche, blaue und grüne Sterne funkelten am Himmel. Die Gräfin lehnte mit dem Rücken an der Hütte und sah stumm zum Himmel hinauf. Plötzlich sagte sie, ohne das Auge von den Sternen abzuwenden, und mit ganz veränderter Stimme: „Lebt Remeny noch mit der Fürstin B.?“ Ich erwiderte ihr, daß er schon vor einem Jahre mit ihr gebrochen habe und sie nach Petersburg zurückgegangen sei. „Wie lange hat er mit ihr gelebt?“ frug sie.

„Etwa fünfzehn Jahre,“ antwortete ich. „Er war ihrer schon lange überdrüssig, allein er glaubte ihr Rücksichten schuldig zu sein; endlich brach er doch, denn sie wurde unerträglich.“

„Hat Remeny jetzt kein Verhältniß?“ frug sie.

„Kein ernstliches, so viel ich weiß,“ versetzte ich.

Nach einer Weile sagte sie: „Lassen Sie uns schlafen gehen.“ Sie bot mir die Hand, und ich sah, daß ihr Auge feucht war. –

Sie ging in die Hütte zurück und ließ einen Strohsack für mich herausbringen. Ich wollte ihn nicht annehmen, da ich wußte, daß es der ihrige war, und ich sie doch nicht auf der feuchten Erde konnte schlafen lassen. Sie hörte mein Weigern und rief mir aus der Hütte zu: „Nehmen Sie doch den Sack, ich werde auf dem Clavier schlafen.“

Ich gab nach. Der Diener brachte mir eine wollene Decke und legte sich dann in einiger Entfernung von mir nieder. Zwischen uns legte sich der Hund, nachdem er, leise knurrend, mich beschnüffelt hatte.

Ich konnte lange nicht einschlafen. Das Seltsame des Erlebten, meine Neugier, wer diese Frau sei, hielten mich wach. Ganz besonders beschäftigte mich Ein Gedanke: was war Remeny dieser Frau? Was konnte der sechszigjährige Remeny diesem jungen, höchstens vierundzwanzigjährigen Geschöpfe sein? Unbestreitbar war Remeny ein großer Mann, ein Genie, wie die Gräfin sagte, und hatte seine ganze geistige Frische und Kraft bewahrt. Allein Remeny hatte in unzähligen ernsthaften und leichten Liebesverhältnissen seine Herzenskraft verausgabt und ich hielt ihn nicht fähig, den Werth eines jungen, begeisterten, großen Herzens jetzt noch zu fühlen. Liebte die Gräfin Remeny? War es wahr, daß sie ihn nicht persönlich kannte? – Wenn diese Frau liebt, sagte ich zu mir selbst, so ist’s auf Leben und Tod. Mir bangte für sie und ich hoffte, im Hinblick auf ihre excentrische Natur und den Umstand, daß sie Remeny nur aus seinen Werken kannte, ihr Interesse für ihn sei nur eine Erhitzung ihrer lebhaften Phantasie. Endlich schlief ich ein, aber ich schlief unruhig. Tosende Wasserbäche, durchdringende Augen, weiße Frauenhände, wilde Accorde und das silberweiß vermengte schwarze Haar Remeny’s gaukelten in meinen Träumen wirr durcheinander.

Als ich erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Der Diener, welcher neben mir geschlafen hatte, kam, als er mich wach sah, aus der Hütte und bot mir seine Führung zur Dorfherberge an. Vorher sollte ich noch ein Frühstück nehmen, wie mir die Gräfin sagen ließ. „Wo ist die Gräfin?“ frug ich.

„Die gnädige Gräfin geht spazieren und wird erst im Laufe des Nachmittags zurückkommen. Sie läßt dem Herrn sagen, wenn er wieder einmal nach Polen komme, möge er sie wieder in den Karpathen besuchen,“ sagte der Diener.

Auf meine Frage, wer die Gräfin sei, antwortete er, daß sie ihn nicht beauftragt habe, mir dies zu sagen.

Ich setzte mich an den Tisch und warf dabei meine Blicke in der Hütte umher, welche mir beim hellen Tageslicht noch schrecklicher schien als beim Lampenschein. Ich sah jetzt auch viele Bücher auf dem Schreibtische und auf einigen Stühlen liegen und konnte meiner Neugier nicht widerstehen, zu sehen, was die Gräfin in den Karpathen las. Es war Remeny, wieder Remeny und noch einmal Remeny. Dann einige Bände Voltaire, Heine, Mirza-Schaffy und eine Geschichte der französischen Revolution.

[482] Ich wünschte, der Gräfin ein Zeichen meiner Dankbarkeit zurücklassen zu können. Aber was? Ich wünschte ein Maler zu sein, um ihr eine Skizze zeichnen zu können. Das Einfachste schienen mir einige Worte auf einem Streifen Papier. Ich öffnete meine Brieftasche und fand zu meiner größten Freude ein Briefchen Remeny’s, welches mir derselbe am Tage meiner Abreise von Pest geschickt hatte. Es lautete:

„Mein lieber M. Ich hoffe, Sie haben gestern mit dem Souper nicht lange auf mich gewartet. Es war mir nicht möglich zu kommen, denn ich hatte ganz abscheuliche Magenkrämpfe. Ach, man wird alt und kann nichts mehr vertragen! Finden Sie in den Karpathen ein Mittel, mich zu verjüngen, so bringen Sie es mir. Ihr Remeny.“

Diese Zeilen schloß ich in ein Couvert, deren ich auf dem Schreibtisch sah, und schrieb darauf: „Meiner gütigen Wirthin in den Karpathen.“ Dieses Briefchen Remeny’s mußte sie unendlich freuen; und zugleich stimmten die „abscheulichen Magenkrämpfe“ und Remeny’s Bekenntniß, daß er sich alt werden fühle, ihre Begeisterung ein wenig herab. Ich verließ mit Bedauern die Lehmhütte und erreichte gegen zwei Uhr Nachmittags die Dorfherberge, wo mein Führer aus der Hütte mich verließ. Ich frug in der Herberge nach der Gräfin Namen und Verhältnissen und erfuhr, daß sie eine Tochter des hoch angesehenen und reich begüterten Grafen Z. und seit fünf Jahren mit dem Grafen Br. verheirathet sei, aber schon lange nicht mehr mit ihm lebe. Sie habe sich ihrer Excentricitäten wegen mit ihrer Familie entzweit. Ihr Mann lebe in Italien und habe ihr einziges Kind, einen Knaben von vier Jahren, der Mutter der jungen Gräfin übergeben. Diese besuche zuweilen mit dem Knaben auf ein paar Tage die Gräfin Br., wenn sie auf ihrem Gute, eine Tagereise hinter Lemberg, sei. Sie reise aber viel und im Sommer gehe sie immer auf ein paar Wochen in die Karpathen. So hoch, wie dieses Jahr, sei sie noch nie gegangen und Niemand könne begreifen, was sie da oben mache.

Auf meiner Rückreise nach Pest über Lemberg kam ich am Gute der Gräfin Br. vorüber. Es war ein altes trauriges Gebäude; sehr umfangreich, doch nur ein Stock hoch. Ein paar verwitterte Thürmchen gaben ihm das Aussehen eines Herrschaftshauses; im Uebrigen war es einfach, ja kahl. Ich begriff, wie die Seele dieser Frau in diesem reizlosen Gebäude und dieser reizlosen, morastigen Gegend verdursten müsse.

Als ich in Pest ankam, war Remeny verreist. Wenige Wochen darauf wurde ich von meinem Posten in Wien abgerufen und lebte zwei Jahre in Stockholm. Nach dieser Zeit kam ich nach Wien zurück und machte kurze Zeit darauf einen Ausflug nach Pest. Einer meiner ersten Besuche galt Remeny. Ich fand ihn nicht gealtert, im Gegentheil, er sah jünger als vor zwei Jahren aus. Ich sagte es ihm und er schien sich darüber zu freuen. Er fragte mich, ob ich schon eine Einladung für den Abend habe. Als ich es verneinte, lud er mich zu Tische ein und versprach mir, mich nach dem Diner in ein höchst interessantes Concert zu führen, welches zu einem wohlthätigen Zwecke gegeben werde und woran sich auch einige Dilettanten aus der hohen Gesellschaft betheiligen würden. Ich versprach pünktlich zu sein und ging in den Gasthof zurück, um mich für’s Concert umzukleiden. Man hatte mir ein kleines Zimmer gegeben und mich gebeten, bis zum Abend damit fürlieb zu nehmen, wo zwei Zimmer, wie ich sie wünschte, im ersten Stock hergerichtet sein würden. Als ich zu Remeny kam, fand ich einige meiner Bekannten bei ihm, welche auch zu Tische geladen waren. Man war ungeheuer heiter und lebhaft. Remeny trank viel, ich fürchtete, zu viel; allein er ging nicht über die Grenzen einer warmen Lebhaftigkeit hinaus. Gegen Ende des Diners sah er oftmals auf die Uhr. Ich sagte scherzhaft zu ihm, er scheine das Concert kaum erwarten zu können.

„Komm!“ erwiderte er mit einem seltsamen Blick.

Endlich brachen wir auf. Im Concertsaale trennten sich die Uebrigen von Remeny und mir. Wir Beide blieben beisammen. Der Saal war schon ziemlich angefüllt, namentlich waren alle vorderen Sitze eingenommen. Dennoch ging Remeny kühn bis zur ersten Reihe vor. Es war kein einziger Stuhl mehr frei; allein kaum waren wir zwei jungen Leuten sichtbar geworden, als sie von ihren Stühlen aufstanden und sich in den Hintergrund des Saales zurückzogen. Remeny hatte die Sitze für uns durch zwei seiner Scribenten besetzen lassen. Die Plätze waren ausgezeichnet; nicht in der Mitte, aber so gelegen, daß man die Künstler bei ihrem Erscheinen auf dem Podium frei im Auge hatte.

Remeny, der viel Gefeierte, der viel Getadelte, der viel Beneidete, kannte alle Welt und sprach mit allen Zunächstsitzenden. Auch hier blickte er oft auf seine Uhr und schien außerordentlich ungeduldig auf den Anfang des Concerts zu sein. Das Programm war interessant. Es enthielt Männerchöre, Gesangs-, Violin- und Clavier-Soli. Die Künstler waren genannt, die Dilettanten nicht. Die von denselben auszuführende Piècen waren die Chöre, zwei Gesänge für Sopran und die G-moll-Ballade für Clavier von Chopin.

Endlich begann das Concert; die Nummern folgten sich rasch. Ein Chor, dann die Violine, dann ein Gesang. Die Sängerin war eine große, dicke Frau, mit einer mächtigen Stimme und vieler Kunst des Vortrags. Sie war in blaßrothen Atlas gekleidet und mit Diamanten und Blumenketten übersäet. Sie wurde unter starkem Applaus warm empfangen; übrigens war sie die Frau eines Barons G., welcher eine der höchsten Staatswürden bekleidete. Remeny applaudirte wie wahnsinnig. „Applaudiren Sie doch,“ sagte er zu mir, „hinter uns sitzt die ganze Aristokratie und wir werden nirgends mehr eingeladen, wenn wir nicht wenigstens Ein Paar Handschuhe für die Baronin zerreißen.“ Und er lächelte mit dem sarkastischsten Lächeln.

Als die Baronin gerufen wurde, sang sie gütigst noch ein ungarisches Volkslied und der Jubel wollte kein Ende nehmen. Endlich verschwand sie. Ich frug Remeny, wer die Dame sei, die Clavier spielen werde; er antwortete mir nicht, sondern sah gespannt auf die Thür, aus welcher sie gleich kommen mußte. Ich bemerkte, daß die hinter mir sitzenden Damen die Köpfe zusammen steckten und zischelten. Jetzt öffnete sich die Thür und es erschien eine kleine zarte Gestalt, von den Fußspitzen bis zum Kinn und den Händen keusch und ernst in schwarzen Sammt gehüllt. Wie sie zum Clavier herantrat und lebhaft begrüßt wurde, sah sie mit großen Augen und todtenbleich in die Menge, verbeugte sich stolz ein wenig nur und setzte sich dann an den Flügel. Wo hatte ich diese Frau schon gesehen? – Wie ein Blitz durchzuckte es mich: in der Lehmhütte auf den Karpathen hatte ich sie gesehen. Ja, es war ihre Gestalt, ihr Gesicht, ihr unvergeßliches Auge, ihr Haar, das sie so wie damals trug, nur daß es noch höher aufgebäumt war und noch ein wenig tiefer auf der Stirn lag.

„Wie heißt die Dame?“ wollte ich Remeny fragen. Aber die Worte starben auf meiner Lippe, so war ich von Remeny’s Gesichtsausdruck betroffen. Seine Züge waren todtenbleich und wie vergeistigt. Seine Nasenflügel zuckten leise und seine Augen brannten mit glühender Leidenschaft auf der Gräfin Gestalt. Er war in diesem Augenblicke schön wie ein Gott. – Er kennt sie – rief es in mir, und ich lehnte mich tief in meinen Stuhl zurück, um sein Gesicht während ihres Spiels beobachten zu können. Sie begann. Sie spielte wie früher, wild, eigenthümlich, abgerissen, excentrisch, aber elektrisirend; ihr Spiel packte den Zuhörer. Remeny bohrte seine dunkeln Augen in sie und schien kaum zu athmen. Es war eine athemlose Stille im Saal; wen das Spiel nicht fesselte, den fesselte die unbeschreiblich interessante Erscheinung der Frau.

Gegen die Mitte der Ballade hob sie das Auge von den Tasten, und ich sah, daß ihr Blick auf Remeny fiel. In diesem Augenblicke stockte ihr Spiel; sie schien sich der nächsten Tacte nicht zu erinnern. Sie ging einige Tacte zurück und fing die Phrase wieder an. Remeny drückte seine Augen gewaltsam an sich; ich sah, daß er kämpfte. Als sie an der fatalen Stelle ankam, stockte sie wieder. Es entstand eine leise Bewegung im Saale. Remeny knirschte vor Wuth und sagte für sich hin: „wie kann man so dumm, so närrisch, so kopflos sein!“ Sie hielt eine Secunde beide Hände vor die Augen, und spielte dann, einige Tacte, die ihr offenbar nicht in’s Gedächtniß zurückkamen, überspringend, mit einer so hinreißenden Leidenschaft die Ballade zu Ende, daß der ganze Saal in einen Beifallssturm ausbrach. Remeny applaudirte nicht; er sah ihr düster nach, als sie das Podium verließ. Sie wurde stürmisch gerufen. Blaß und mit verstörtem Blicke erschien sie. Man bat um noch eine Pièce; sie zog sich zurück und kam trotz wiederholtem Rufen nicht mehr.


(Schluß folgt.)




[483]
Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Nr. 35. Der Panther Europas.
Von Guido Hammer.


In jenen einsamen, unwirthlichen Wäldern und Gebirgen Europas, welche den Luchs, diesen Panther unseres Continents, noch bergen, ist er sicherlich das verderblichste aller sonst noch neben ihm hausenden Raubthiere. Ebenso vorsichtig schleichend

Der Luchs auf dem Rehwechsel.
Originalzeichnung von Guido Hammer.

wie sprunggewandt, so kühn wie blutdürstig, zerrüttet er bald jedweden Wildstand, am ehesten aber den der so scheuen und erregbaren Rehe. Denn was davon dem nimmersatten Mordgesellen nicht nach und nach zum Opfer fällt, wechselt sehr bald von dem so bedrohten, unheilvollen Standorte hinweg. Hieran aber und an dem unstäten Gebahren der übrigen Waldthiere, namentlich des Edelwildes, sowie an den aufgefundenen, immer nach ganz bestimmter Art gerissenen und angeschnittenen Stücken wird der die bezeichneten Forsten bejagende Waidmann sehr bald gewahr – auch ohne noch die darin würgende Bestie selbst von Angesicht zu Angesicht oder nur deren Gefährt erblickt zu haben – wessen Geistes Kind den Waldfrieden stört.

Von unnahbarem Geklüft oder verfallenen Dachs- und Fuchsbauen aus, welche Schlupfwinkel, neben undurchdringlichen Nadelholz- und Rohrdickungen, der Luchs gern zu seiner festen Heimstätte wählt, durchstreift er rastlos Wald und Gebirge, dabei in seiner heißen, nie zu stillenden Blutgier Raub auf Raub zu häufen. Zu solchem Zwecke aber lauert die geschmeidige Canaille hinter Felsblöcken und alten Baumstümpfen, oder auch aufgebäumt in dem untersten starken Geäst mächtiger Bäume liegend, stundenlang in steinerner Unbeweglichkeit und doch nie eingeschläferter Aufmerksamkeit dem Wilde auf seinen Wechseln auf. Und wehe [484] dem Stücke, das an so verhängnißvoller Stelle seiner Bahn wandelt – blitzschnell sitzt ihm das krallige Teufelsthier im Nacken; schnell wird es zu Falle gebracht. Nur ein von ihm etwa angesprungenes, harzgepanzertes Wildschwein ist nicht so leicht zu bezwingen, vielmehr gelingt es einem solchen wohl, den mörderischen Angriff dadurch zu vereiteln, daß es mit seinem aufgedrungenen und scharf bespornten Reiter durch so wirres, ästestarrendes und für jede andere, minder robust geartete Creatur geradezu undurchdringliches Waldchaos stürmt, daß der aufgesessenen, mächtigen, sonst so schmiegsamen und zähen Höllenkatze doch schier die Sinne dabei vergehen und sie, abgestreift von ihrem unaufhaltsam dahinbrausenden, wuthschäumenden Borstenrosse, diesem die so energisch behauptete Freiheit willenlos gewähren muß. Desto leichter hingegen bewältigt das funkeläugige Mordgeschöpf das schwache Reh, sobald dies nur einmal von ihm erfaßt worden ist. Mißlingt jedoch dem sonst so beharrlichen Raubthiere der Anfall in den ersten drei bis vier Sätzen, so findet selbst jenes wehrlose Wild noch Rettung, und zwar in der Flucht; denn nimmer verfolgt der Luchs ein im Sprunge verfehltes und fliehendes Thier auch nur einen Schritt weiter.

Tiefe Todtenstille, wie sie die herbstabendlich Ruhe einsamer Waldung so oft in erhabenster Weise mit sich bringt, herrscht im weiten, weiten Forstgebiete. Da knistert es von fern, ganz leise durch den dicht geschlossenen Fichtenunterwuchs, und das geübte Ohr erkennt bald, daß der vernommene Ton vom vorsichtigen Tritte eines nahenden Wildes herrührt. Und richtig! Auf kaum handbreit ausgetretenem Wildsteige, der hier gerade einmal eine kleine Blöße überschreitet, wird ein stattlicher Rehbock, gefolgt von seinem sanftäugigen Gespons, sichtbar, doch nur auf Augenblicke, denn schon sind die zierlich Vorwärtsschreitenden wieder in dem Dunkel tiefniederhängenden Gezweigs verschwunden. Aber bald erscheint auf nächstliegender lichter Stelle, die von mächtigen moosüberzogenen Steinblöcken und flechtengrauen Stämmen umschlossen ist, das traute Paar noch einmal, hier die noch nachsprossenden zarten Gräser zu naschen. Vertraulich nisteln dabei die beiden schmucken Geschöpfe umher, nicht ohne daß der vorsichtigere Bock dann und wann den schönen Kopf plötzlich emporwürfe und dann scharfäugend und witternd die Umgebung prüfte, ob Alles geheuer. Nichts Verdächtiges hat sich ihm dabei bemerkbar gemacht und ruhig, graziös mit den schlanken Läufen über Anflug, wirre Haide und schlanke Halme schreitend, äßt er, immer in Gemeinschaft mit seiner treulichen Genossin, auf dem so heimlich gelegenen Plätzchen weiter.

Da plötzlich ein Rascheln, dem sofort das hastige Aufschnellen des gekrönten Hauptes unseres Bockes folgt – doch schon zu spät! Bereits im nächsten Moment sitzt dem Aermsten in blitzschnellem und nur allzu sicherem Sprunge ein hier auf der Lauer gelegener Luchs im Nacken, sein scharfes Gewäff tief in des Ereilten Glieder einschlagend und ihm mit furchtbarem Bisse Genick und Hals zerfleischend.

Wie ein vom Bogen abgeschnellter Pfeil fliegt der so grausig Gepackte mit jähem Satze hoch über die langhalmigen Schmälen dahin, seinen eingefressenen Mörder mit durch die Lüfte führend. Festgekrallt, wankt und weicht dieser nicht von seinem Sitze – unrettbar verloren ist das bedauernswerthe Opfer! Schon nach wenigen Secunden fließt diesem der rothperlende Schweiß stromweise aus den geschlagenen schweren Wunden, und dadurch bis zum Tode erschöpft und niedergedrückt von der peinlichen Last seines Würgers, bricht lebend das edle Wild zu Boden. Mit tiefklagendem Tone haucht hier, unter den Fängen seines bluttrinkenen Dämons, das Thier die letzten Athemzüge aus, wobei ein smaragdener Schein, der Verkünder des Todes, dessen eben noch so dunkelstrahlendes Auge umflort. Sein Bewältiger aber schlürft nun in wilder, berauschender Wonne das warme Blut der unter ihm noch zuckenden Beute bis zum letzten Tropfen, nachher erst an den edleren Eingeweiden und saftigsten Stücken Wildpret auch noch seinen Hunger stillend. Nach solch blutigem Genusse aber verläßt die endlich befriedigte und nun nach behaglicher Ruhe sich sehnende Bestie ihren reichen Vorrath, um später wohl noch ein oder mehrere Male dahin zurückzukehren und weitere Mahlzeiten zu halten. Ist jedoch, wie bei heißen Tagen, in der Zwischenzeit das Fleisch auch nur durch einen Hauch anbrüchig geworden, oder haben Wölfe und Füchse den willkommenen Fund verzehrt – dann beginnt der pardelgefleckte Satan von Neuem seine wilde Jagd.




Das deutsche Damaskus.[1]


Nachdem die „kriegerischen Berichterstatter“ der Gartenlaube heimgekehrt waren, zogen die friedlichen Apostel derselben wieder aus, um das Auge zu weiden an den neuen Saaten, die der deutsche Frühling brachte. Auch ich hatte mein Bündel geschnürt. Die mir angewiesene Route führte über den Thüringer Wald nach Süden, und die präcise Ordre der Redaction der Gartenlaube ließ mir also keinen Zweifel darüber, daß ich über Suhl und Schleusingen zu gehen und mich nicht hinten herum zu drücken hatte, wie die meisten Touristen, namentlich die Berliner, die bis zur Schmücke vordringen, da Forellen essen und dann umkehren, um über Gotha und Eisenach durch’s Werrathal zu dampfen, weshalb sie eben das Herz des Waldes und die Gegend, wo im Mittelalter ein gut Theil seiner Geschichte gemacht wurde, wenig kennen lernen.

Oberhof war meine höchste Etappe. Hier ließ einst Ernst der Fromme Geleitsgeld erheben, von einem „reitenden Jüden 6 Gr.“, vom „gehenden Jüden 3 Gr.“, und als dagegen remonstrirt wurde, „von jedem Jüden ohne Unterschied 10 Gr. 6 Pf.“ – Jetzt kommt Jude und Christ ohne des Frommen Geleite den Berg viel sicherer und schneller hinunter nach Zella St. Blasii, einem gothaischen Grenzstädtchen mit bedeutenden Kurzwaarenfabriken, welches namentlich eine enorme Menge Terzerole, immer hübsch blau gemacht, mit Goldgrund, geätzt etc., in alle Welt vertreibt.

Nur eine Stunde von Zella entfernt liegt Suhl. Nach Ueberwindung einer mäßigen Anhöhe geht es thalein. Zur Rechten erstrecken sich üppig grüne Wiesen, welche in hastiger Eile vom klarsten Gebirgsbach durchzogen werden. Ja, er hat Eile, denn kaum ist er dem immergrünen Moosteppich des Waldes entlaufen und nur eben von der Sonne beschienen, so legt man ihm auch schon alle möglichen Hindernisse in den Weg, Gewerk an Gewerk, Bohrmühlen, Schleifmühlen etc. Sie alle muß er treiben, soll man ihm nicht seinen Todfeind, das Feuer, auf den Hals schicken, damit er, der Freie, Dienste in rußiger Dampfmaschine leiste. – Kräftig rauscht das Wasser gegen die Schaufeln, und wenn sich das große Rad auch nur widerhaarig, langsam umwälzt, drinnen im Gewerk äußert sich die Wirkung seines stetigen Stoßes um so lebhafter. Nach altdeutschem Brauch werden hier fast noch alle von Wasser in Bewegung gesetzten Triebwerke Mühlen genannt. Wir stehen vor einer Ausnahme, einem Rohrhammer. Der gleichmäßige kräftige Schlag der Hämmer gehört mit zu den charakteristischen Tönen des Waldgebirges und heimelt uns um so mehr an, je mehr er leider durch das Eingehen der Eisenproduction verstummt. Im Rohrhammer werden heute Damastläufe geschmiedet, ein interessanter Fabrikzweig, den ich in einem spätern Artikel schildern werde.

Doch nun hinein nach Suhl, in die offene freundliche Gebirgsstadt, die alte „Rüst- und Waffenkammer des heil. römischen Reichs“, in ganz Europa, in allen Erdtheilen bekannt. Die Grafen von Henneberg nannten sie noch 1427 unser „Dorff zu Sull“, 1445 den „Flecken zu Sula“, und versahen sie erst 1527 mit Stadtrechten. Im Jahre 1634 ließ Graf Isolani die wehrlose Stadt plündern und niederbrennen, weshalb man hier keine wirklich alten Häuser sieht. Aber welch einen Marktplatz und welch ein Bild hat der Tourist von den Fenstern des stattlichen Gasthofes „Zum deutschen Haus“ aus vor sich! Gerade rings um Suhl herum, nahe an der Grenze von Ostfranken, entfaltet Thüringen noch einmal, wenn auch auf engem Raume zusammengedrängt, alle seine Reize in größtem Maßstabe: hier ist der Wald am grünsten, hier sprudeln die Quellen, rauschen die Bäche am reichsten, hier zumal liegen die Lungen und ein gut Stück Herz [485] von Thüringen. Die Ihr das Laufen verlernt habt in den großen Städten, die Ihr mit einem Fuße ein wenig zu weit im Geisterreiche steht, die Ihr an jenem Heimweh leidet, welches keine Heimath kennt – hierher müßt Ihr kommen; hier seht einmal im „Deutschen Haus“ zum Fenster heraus, versenkt Eure müden Augen in die Wälder des Domberges, welche ein einziges Riesenbouquet bilden, vertieft Euch in dieses Grün von unbeschreiblicher Frische und träumt im Anblick der alten Ottiliencapelle, die dem schönen Bilde den Charakter der Ruhe, des Beständigen giebt. Hier werdet Ihr gesunden.

In Suhl zu sein, ohne von der bedeutenden Gewehrfabrikation Notiz zu nehmen, ist rein unmöglich, und je wichtiger dieser Erwerbszweig der alten Bergstadt im Lauf der Zeit geworden ist, um so mehr zieht es uns an, zuerst die Vergangenheit desselben zu betrachten.

Genau ist zwar nicht mehr festzustellen, wie weit die Suhler Waffenfabrikation zurückdatirt, aber eine Urkunde gedenkt schon 1499 der Panzerer, Plattner und Harnischschmiede, und Süddeutschland namentlich bezog viele Rüstungen (blanche und schwartze, glatte und geriffte Kuris, Helmlin, blanche lange Stiern zu den Pferden, stehlern Achßeln, faustkolbenn), Schwerter (Rappier, Spitzschwertt, lange wehr zu beiden feusten, Jagbloz [Waidmesser], Tolg), Armbrüste (mit eyben bogen und winden), Hellebarden (Knebelspies, Eisen zum Scharfrennen, Seuschwerter, Schweinspies) und Gewehre (schwarze fuhrbüchßen, verbeinte fuhrbüchßen mit Schwalben schwentzen, birschbuchsen), Musketenzünder etc.

Im Jahre 1563 gab der gefürstete Graf Georg Ernst den Schlossern, Büchsenmachern und Windenmachern die erste Innung. Die größten hier gebauten Doppelhaken waren gegen sechs Fuß lang, schossen sechszehn Loth Blei und wogen circa fünfundvierzig Pfund. Die kleineren Haken schossen eine Bleikugel von vier Loth, mußten aber immer noch durch eine drei und einen halben Fuß hohe Gabel unterstützt werden. Im sechszehnten Jahrhundert gingen die Suhlaischen Gewehre schon in die Schweiz (Basel, Zürich, Bern, Solothurn, Genf), nach Burgund, Belgien, Tirol, Venedig mit den ionischen Inseln, Ungarn, Siebenbürgen und in die österreichischen Lande. Die Kriege gegen die Türkei wurden meist mit Suhler Feuerwaffen geführt und das polnische Zeughaus in Krakau war angefüllt mit Suhler Gewehren, ebenso das in Wilna. Die Armee des Stephan Bathori führte Gewehre aus Suhl gegen die Moskowiter. Liefland, Preußen, Danzig wurden von hier aus mit Waffen versehen, und Dänemark erhielt auf einmal sechstausend Musketen, mit dem dänischen Reichswappen verziert. Auch nach England, Irland und Spanien gingen die Gewehre. Des drohenden Türkenkrieges wegen bestellte Kaiser Rudolph der Zweite viele Tausend Musketen und sandte Boten von Prag aus hierher mit „kaiserlichen Freibriefen“, auf Grund deren die Waffen von allen Durchgangszöllen befreit wurden. In den ersten Jahren des dreißigjährigen Krieges bezogen sowohl der Graf Ernst von Mansfeld, Markgraf Georg Friedrich von Baden-Durlach, Herzog Christian von Braunschweig, der König Christian der Vierte von Dänemark wie Tilly und Wallenstein Suhler Waffen. Nach der Zerstörung Suhls durch Isolani wanderten viele Büchsenmacher aus; die kriegführenden Mächte sahen ein, wie wichtig es sei, die Waffen im eigenen Lande zu bauen, hatten auch alle Ursache genug, neue Gewerbszweige einzuführen, und von da ab entstanden nach und nach wohl die meisten deutschen Waffenfabriken. Sehr tolerant benahm sich der sächsische Hof bei Ausbruch des siebenjährigen Krieges, denn Preußen durfte von 1757 bis 1762 circa zwanzigtausend Gewehre in Suhl bauen lassen. Bald darauf bezog Sachsen selbst circa siebenundzwanzigtausend.

Bei Ausbruch der französischen Revolution waren die kleinen deutschen Fürsten fast gar nicht „mit Gewehr versehen“ und machten deshalb starke Bestellungen. Im Jahre 1804 wurden circa 16,000, 1805 circa 9000, 1815–1819 jährlich 12,000 Infanteriegewehre geliefert etc. Besonders reges Leben kam durch die Erfindung des Percussionsschlosses in die Fabrikation (1823), mehr noch aber durch die französische Juli- und die belgische Septemberrevolution. Preußen allein bestellte circa 23,000 Gewehre und Carabiner, 2000 Säbel, 4000 Lanzenspitzen, und die Regierung des Königreichs der Vereinigten Niederlande gegen 40,000 Gewehre, Büchsen, Pistolen, sowie eine bedeutende Anzahl einzelner Waffentheile, größtentheils für die ostindischen Colonien bestimmt. Die modernen Transportmittel, Eisenbahn und Dampfschiff, brachten Bestellungen aus allen Welttheilen, namentlich auch auf Galanteriegewehre. Der Naturforscher, der Afrikareisende würde mit nicht wenig Interesse die merkwürdigen, ungewöhnlich praktischen Jagdgewehre bewundern, die hier mitunter in den Comptoirs einiger Fabrikanten stehen, welche letztere selbst vielerfahrene Jäger sind: da eine auffallend lange Flinte für einen Lederstrumpf im fernen Westen Amerikas, dort eine dem Gesetz der Schwere allzu sehr nachgebende Büchse für einen Bärenjäger im hohen Norden etc. Erste Bedingung ist dabei: Alles muß im Feuer stürzen! Der Rückstoß mag dann freilich auch mitunter kolossal sein.

Mit Einführung der Hinterlader ließ Preußen die hiesigen Fabriken lange Zeit im Stich, indem es die Zündnadelgewehre theils bei dem hochverdienten Erfinder bauen ließ, statt sich durch eine angemessene Geldsumme in Besitz der Erfindung zu setzen, theils Staats- (königliche) Fabriken errichtete. Tüchtige Volkswirthe bestreiten die Rentabilität solcher Fabriken, der Fabrikant aber versichert, bessere Gewehre bauten dieselben auch nicht. Es ist nicht möglich, von den vierziger Jahren ab, die Leistungen der einzelnen großen Fabriken alle anzuführen, vielweniger die der anderen. Um aber ein herausgerissenes Blatt ihrer Geschichte zu geben, muß erwähnt werden, daß in jener Zeit allein die Fabrik von Spangenberg und Sauer für zweiundzwanzig Staaten über 200,000 neue Gewehre, Carabiner und Pistolen gebaut, nebenbei aber circa 128,000 Gewehre umgeändert hat, abgesehen von Gewehrtheilen. Rußland z. B. empfing 3,570 Schlösser zu Hinterladern. Ohne Suhler Gewehre ist kaum eine Schlacht geschlagen worden. Mit ihnen wurden auch die Bürgerkriege in Peru, Paraguay, Uruguay etc. geführt, und mit Suhler Zündnadelgewehren bewaffnet der deutsche Organisator und Instructeur Köppen die japanische Armee, während unter Anderen eben Baiern 30,000 Werdergewehre (ohne Systeme) erhalten hat, Holland 17,000 Beaumontgewehre bauen läßt und eine eigene Gewehr-Revisions-Commission in Suhl etablirte. Die neuen ausgezeichneten Revolver der preußischen Marine hat die Fabrik von E. Schmidt und Nöschel geliefert. Preußen läßt 8000 Pistolen bauen, Japan 4000 Zündnadelgewehre (letztere zum Theil in Zella).

Was nun die Fabrikation der Gewehre selbst betrifft, so kann ich mich, bei dem beschränkten Raum der Gartenlaube, speciell nur auf den wichtigsten Theil der Handfeuerwaffe, das Rohr, einlassen, in Bezug auf welches ein Correspondent der „Kölnischen Zeitung“ mit Recht sagt, daß es schließlich gleichgültig sei, ob der Schuß vermittelst einer mehr oder weniger complicirten, guten oder schlechten Mechanik, oder durch einen brennenden Fidibus abgefeuert wird. Eine eingehende Schilderung aller einzelnen Systemtheile müßte auch höchst trocken ausfallen und gehört in Fachwerke.

Bis in die neuere Zeit bestand ein Gewehr aus zwei Haupttheilen, dem Lauf, der die Ladung aufnimmt und zugleich dem Projectil die Direction giebt, und einem Feuerzeug (Schloß). Fast vier Jahrhunderte hindurch ergaben die Veränderungen der Schußwaffe, abgesehen von den Zügen, im Wesentlichen fast immer nur eine Verbesserung der Feuerzeuge. Diese führten dem Pulver das Feuer von der Seite her zu. Nach Erfindung der Hinterladungsgewehre legte man sehr bald die Zündmasse in die Patrone ein (Einheitspatrone). Da wurde das frühere Feuerzeug erst zum eigentlichen „Schloß“, denn mit dem Zündnadelgewehr wanderte dasselbe hinter den Lauf, in die Längenachse desselben, bildet seitdem einen Theil des „Verschlusses“, und die Entzündung erfolgt innerhalb der Patrone durch horizontalen Nadelstoß. Der Verschluß, aus lauter Cylindern bestehend, läßt zahllose Abänderungen zu, die sich denn auch ganz außerordentlich mehren, zum Schrecken der Fabrikanten, da sie immer neue Einrichtungen und mühsames Einarbeiten der Büchsenmacher, mehr Zeit und mehr Löhne erfordern.

Gegenwärtig beschäftigen sich sieben bis acht Fabriken mit dem Bau von Militärhandfeuerwaffen. Die bedeutendste und älteste derselben ist die der Firma Spangenberg und Sauer. Sie liegt am nordwestlichen Ende der Stadt, in der sogenannten Aue am Lauterfluß, hat bedeutende Wasserkraft und vereinigt deshalb an einem Orte alle Zweige der Fabrikation, namentlich auch die der Stahlrohre in einem ganzen Complex von zum Theil stattlichen [486] Gebäuden. Hier ist unser durchaus sachkundiger und gefälliger Führer der Herr Controleur, Revisor Löhlefink.

Im Rohrhammer dieser Fabrik kommen zu Militärgewehren nur noch Stahlrohre in Anwendung. Das Material, Rundstahl, neuerlich auch Quadratstahl, wird aus Westphalen bezogen. Rundstahl hat bereits die geringste zulässige Stärke. Der Hammerschmied giebt zunächst einem Ende des Stabes Feuer und staucht dies dann auf einer eisernen Platte vor dem Herd, damit es sich zum „Pulversack“ verstärkt. Hierauf macht er das ganze Rohr glühend, läßt es im „Hammerschlag“ abkühlen und liefert es dann an die Bohrmühle. Vierkantige Stäbe dagegen müssen erst unter dem Rohrhammer rundgeschmiedet werden, wobei sie sich zugleich strecken, ehe mit ihnen, wie angegeben, verfahren werden kann. Diese immer noch uneigentlich Rohre oder Läufe genannten Stahlstäbe machen drei Bohrungen durch: die erste Bohrung, die Rauhbohrung und die Glattbohrung. Bei der ersten Bohrung hat der Bohrer die Gestalt eines schräg abgeschnittenen Meißels.

Die glatt gebohrten Läufe werden äußerlich abgedreht, der Pulversack achtkantig gefraist, weshalb er von da ab „Achtkant“ heißt, und dann „gekolbt, innen geschmirgelt. Alle Militärläufe sind jetzt gezogene. Das Ziehen derselben geschieht nicht mehr aus freier Hand, sondern auf Ziehmaschinen. Der Rohrzieher setzt zwei Rohre in die Maschine ein, eins vor das andere, so daß sie genau in derselben Längenachse liegen. Die runden Ziehkolben (Ziehstangen) werden durch die Rohre gesteckt und führen an jedem Ende das kleine Werkzeug, den „Zahn“ oder „Haken“. Die Ziehkolben gehen langsam durch die Rohre hin und wieder zurück, wobei sie je nach dem bestimmten Drall sich drehen, wirken aber nicht gleichzeitig, vielmehr schneidet auf einem „Marsche“ nur ein Zahn, während der andere Zahn einen „todten Marsch“ macht und erst auf dem Rückgange zieht, so daß in der That auf einmal nur ein Zug in ein Rohr geschnitten wird. Die Läufe erhalten in der Regel vier Züge; so oft muß denn auch der Kolben anders gestellt werden und macht also im Ganzen vier Märsche tour und vier retour. An dem von dem Zahn ausgeschnittenen, auf allen vier Flächen blitzenden Spahn, welcher gerollt ist und gerade gerichtet ein elegantes Vierkant giebt, ersieht man schon, wie schön und sicher die Maschine arbeitet. Der Lauf zeigt innen vier Züge und vier Felder. Unser Führer bemerkt: „Züge werden eingeschnitten, die Felder bleiben stehen und geben das Caliber.“

Drall ist die schraubenförmige Windung der Züge. Auf drei Fuß Länge macht er gewöhnlich einen Umlauf, bei Polygonal-Zügen schon auf anderthalb Fuß, variirt überhaupt sehr, je nach den Ansichten der „Besteller“. Das walzenförmige Patronenlager wird wieder auf einer besonderen Maschine eingeschnitten, und auch diese Arbeit erfordert Fachkenntniß und ganz besondere Aufmerksamkeit. – Nachdem der Lauf garnirt, d. h. mit Visir, Korn, Haften etc. versehen worden ist, wird er „gefrischt“ und geschmirgelt. Frischen macht die Züge glatt, kommt mit den Wänden der Seele nicht in Berührung, während beim Schmirgeln Züge und Felder zugleich polirt werden.

Von jetzt ab nimmt wieder das Aeußere des Laufes unser Interesse in Anspruch, namentlich das Bruniren (Bräunen). Ein blitzender, blanker Lauf stört den Schützen im Zielen, außerdem ist der braune Lauf leichter rostfrei zu erhalten und wird also durch angreifende Putzmittel nicht so leicht abgenutzt oder beim Putzen verbogen. Das Bruniren geschieht durch Auftragen einer Mischung von salzsaurer Stahltinctur, Scheidewasser, blauem und grünem Vitriol, Galmei, Weingeist und Quecksilbersublimat. Wenn der Lauf trocken ist, wird er mittelst einer Drahtbürste vom Rost gereinigt, sobald die gewünschte Farbe vorhanden, mit heißem Wasser begossen, abgetrocknet und mit Oel abgewischt, welches Verfahren öfter wiederholt wird. Zuletzt erhält der Lauf wohl auch noch einen farblosen Lacküberzug (Benzoe in Spiritus aufgelöst), der viel Dauer hat.

Der Lauf, der wesentlichste Theil des Gewehres, wurde innerhalb des letzten Decenniums außerordentlich verbessert. Das Experimentiren geht immer fort und an Abschluß ist nicht zu denken. Tüchtige Büchsenmacher halten aber an gewissen, etwa den folgenden Grundsätzen fest, mit denen vielleicht manchem einfachen Jägersmann gedient ist:

Man hat früher viel zu viel Werth auf die Eisen- oder Wandstärke der Rohre gelegt und glaubte durch die Vermehrung derselben die Widerstandskraft zu steigern. Aber gerade dadurch wurden die Läufe weniger haltbar, und je kleiner das Caliber in gleich starkem Laufe, desto weniger haltbar wird dieser. Gußstahlläufe erfordern nur die geringste Wandstärke, seltener das Frischen, und letzteres vergrößert ihr Caliber weniger als das der Eisenläufe. Im Eisenlauf, auch dem Damastrohr der Büchse (der ja das eiserne Futter hat), werden die Zugkanten leicht stumpf. Der gezogene Stahllauf hält zwei- bis dreitausend Schüsse aus, ehe das sogenannte „Flattern“ sich zeigt, die Präcision des Schusses sich mindert. Geschoß und Lauf müssen bezüglich des Gewichtes in einem gewissen Verhältniß stehen. Ist das Geschoß zu leicht, so bewirkt die Explosion einen zu starken Rückstoß. Aus einem ganz reinen Rohr ist der erste Schuß gewöhnlich verloren, wegen zu geringer Reibung. –

Bezüglich der Militärgewehre steht übrigens gegenwärtig die Patrone vorn an. Die Patrone wird gegeben und demnach das Gewehr construirt werden. Metallhülse ist selbstverständlich die erste Bedingung und diese Hülse (weil sie nicht verbrennt) erfordert wieder den Auswerfer, also eine complicirtere Mechanik. –

Durchwandern wir weiter die Fabrikräume. Ueber dem Rohrhammer befindet sich ein großer Maschinensaal, wo viele sonst in Betrieb befindliche Maschinen gebaut worden sind, in demselben Gebäude aber noch Rauh-, Glattbohr-, Kolb-, Abdreh-, Fraismaschinen und Werkstätten für die Klein- und Ladestockschmiederei. Im Nebenhaus steht eine Dampfmaschine von zehn bis zwölf Pferdekraft, welche bei eintretendem Wassermangel arbeitet. Ein anderes Haus enthält die Werkstätten der Schloß- (System-) und Patentschmiederei, ein viertes die der Schäfter und das Schaftmagazin, ein fünftes Schleiferei etc., namentlich die mechanische Werkstatt. Ein sechstes besetzen die Feiler von Garnituren, Schlössern, respective Systemen, Visiren etc., die Rohrzieher. Auch dient es als Magazin, Bureau und Comptoir. Wieder in einem andern Haus befinden sich die Revisionszimmer für Export-Waffen, und in einem großen Gebäude ist der Sitz der königlich preußischen Gewehr-Revisions-Commission. Hier liegen denn auch die Geschäftslocale der Equipeure, d. h. Fertigmacher und Zusammensteller, welche die Gewehre zur Controle, respective Abnahme bringen.

Chef der Gewehr-Revisions-Commission ist Oberstlieutenant Puttkammer, ein verdienstvoller Officier, reich mit Orden geschmückt, der in wahrer Humanität mit der strengen Wahrung der Staatsinteressen die Förderung der Fabriken und damit auch der Arbeiter zu verbinden weiß. Sein Vorgänger war Cäsar Rüstow, ruhmvoll bei Roßdorf gefallen. –

Es giebt noch manche andere größere Fabriken am Ort. Im Ganzen sind fünfzehn Gesellschaftsfirmen für Gewehrfabrikation und achtundzwanzig Handelsfirmen eingetragen. Außerdem existiren noch eine Menge Werkstätten, deren Besitzer nicht im Firmenregister stehen.

Mit dem Bau von Galanteriewaffen beschäftigen sich noch viele Fabriken. Hierbei ist zu bemerken, daß in denjenigen für Militärhandfeuerwaffen auch Galanteriegewehre gebaut werden und daß andererseits einige Fabriken auch Kriegswaffen bauen.

Uebrigens ist die Leistungsfähigkeit derselben mit den oben gegebenen Zahlen durchaus nicht festzustellen, denn je mit dem Eintreffen größerer Bestellungen werden neue Werkstätten errichtet und noch nöthige Maschinen aufgestellt. Die seltene Solidität der hiesigen Verhältnisse beruht darauf, daß fast nur feste, sichere Bestellungen in Ausführung kommen, also nie eine Ueberproduction, der Ruin der Fabrikanten und der Arbeiter zumal, vorhanden ist. Dies gilt ebenfalls von Galanteriegewehren. Naturallohnung kennt man gar nicht. Die Löhne sind im Verhältniß zu den Preisen der Lebensmittel gestiegen. So ist denn Suhl auch eine der wenigen Fabrikstädte, welche bis jetzt den Socialisten verschlossen blieben.

Statistisches Material bezüglich der Galanteriewaffen steht mir nicht zu Diensten, da viele Fabriken ihren desfallsigen Absatz aus naheliegenden Gründen geheim halten, was bei Kriegswaffen nicht angeht. Man vermuthet, daß Suhl jährlich vier- bis fünftausend Galanteriegewehre versendet, was mehr sagen will, als wenn das doppelte Quantum unsolider, leichthin gearbeiteter Waffen auf Messen ausgeführt oder in Commissionslagern aufgestapelt würde.

Die drei größten Fabriken treffen nunmehr ihre Einrichtungen [487] dahin, daß künftig jede allein jährlich 30,000 neue Militärgewehre wird liefern können. – Der Verbrauch an Material entzieht sich aller Controle, da nicht nur jede Fabrik, sondern auch jede der äußerst zahlreichen selbstständigen Werkstätten dasselbe unmittelbar anschafft.

Der Wahrheit ziemlich nahe wird es kommen, wenn man annimmt, daß durchschnittlich 6200 Centner Eisen und Stahl, 4- bis 600 Centner Messing, 200 Centner Blei, 20 bis 30 Centner Schmirgel, 4000 Klaftern Holz (theils gekohlt), 2000 Centner Steinkohlen und circa 30,000 Cubikfuß Schaftholz jährlich zur Rohr- resp. Gewehrfabrikation verbraucht werden. Mit dem hoffentlich bald beginnenden Bau des „Zukunftsgewehres“ wird sich dies Alles gewaltig steigern, denn die Suhler Fabriken haben ihren Jahrhunderte alten guten Ruf so durchaus gewahrt, daß man sie künftig, auch abgesehen von der Eile, die es mit der neuen Bewaffnung haben wird, im eigenen Interesse nicht mehr übergehen kann.

Sobald die definitive Entscheidung für irgend ein System getroffen worden, komme ich wohl noch einmal auf das „deutsche Damaskus“ zurück.




Ein Tag des Kaisers.


„Das Tusculum des Kaisers“ war die Ueberschrift eines früheren Artikels der Gartenlaube, in welchem das Oberhaupt des deutschen Reiches auf seinem Landsitze in seinen Mußestunden dargestellt wurde. Der gegenwärtige Artikel macht es sich zur Aufgabe, die Leser dieses Blattes einen Blick in die Wohnung des Kaisers und in das Geschäftsleben desselben in Berlin thun zu lassen.

Von den Jahren 1834–1836 hat sich der Kaiser, damals Prinz Wilhelm von Preußen, durch Meister Langhans sein eigen Haus an der Ecke des Opernplatzes und der Linden, an der Stelle bauen lassen, wo früher das alte markgräflich Schwedt’sche Palais stand. Der Raum war verhältnißmäßig sehr beschränkt, weniger nach der Tiefe des Bauplatzes hin – denn in dieser Richtung geht das Gebäude bis zur Behrenstraße hindurch – als vielmehr nach der Frontseite, die von der einen Seite durch die königliche Bibliothek, von der andern durch das niederländische Palais begrenzt und beengt wurde. Und doch hat Meister Langhans in diesem Bau ein Musterwerk geliefert, nicht nur in der edlen einfachen Architektur desselben, die in nachfolgender Zeit für eine ganze Reihe von größeren Privatbauten maßgebend wurde, sondern auch in der Ausnützung des ihm zu Gebote stehenden Raumes. Die Front desselben erstreckt sich nach den Linden nur in einer Länge von zweihundertneunzig Fuß, sie hat in der ersten Etage nur eine Reihe von dreizehn Fenstern, nach der Bibliothek zu sogar nur drei Fenster Tiefe, und doch ist in dem Innern desselben so viel Platz, daß die Repräsentationsräume der ersten Etage eine Gesellschaft von wenigstens achthundert Personen aufnehmen können, ohne daß im Mindesten ein Mangel an Raum fühlbar würde. Langhans hat durch die Ueberbauung der Höfe drei großartige Prachträume geschaffen, den sogenannten weißen runden Marmorsaal, die gelbe Galerie und den Adlersaal, von denen kein einziger in der Front liegt, und diese großartigen Räume nebst einem daran stoßenden Wintergarten sind so geschickt untereinander verbunden, daß man eine große Gesellschaft in denselben sich ein- und ausbewegen lassen kann, ohne daß eine Stauung des Verkehrs entstünde. Das königliche Schloß hat weit kolossalere Festräume, aber nicht die Bequemlichkeit in den in der Hofsprache sogenannten Doublesappartements, wie das Palais unter den Linden. Hier hat der Kaiser seit dem Jahr 1836 seinen Wohnsitz aufgeschlagen. Dazwischen liegt nur eine Unterbrechung in den Jahren 1848 und 1849 nach jenen sturmbewegten Märztagen, in denen das Palais, um es vor der Wuth des Pöbels zu schützen, durch eine Aufschrift mit Kohle als Nationaleigenthum erklärt wurde. Es war dies ein kluges Auskunftsmittel, aber in keiner Weise ein Rechtstitel, der den Prinzen von Preußen nach seiner Rückkehr nach Berlin abgehalten hätte, in sein Haus wieder einzuziehen und dasselbe unter den mannigfachsten politischen Strömungen, unter den durchgreifendsten Veränderungen des inneren und äußeren Staatslebens, in denen auch seine Thronbesteigung mitbegriffen ist, bis zum heutigen Tage zu bewohnen. Zur Unterscheidung von dem großen königlichen Schlosse wird die Wohnung des Königs unter den Linden speciell „Das Palais“ genannt.

Im Schlosse hält sich der Kaiser nur auf, wenn er große Staatsacte vornimmt, wie zum Beispiel die Eröffnung des Reichstages oder der Kammern, oder wenn er größere Gesandtschaften empfängt, wie damals die japanesische, wenn er große Feste giebt, oder fremde hohe Gäste bei sich beherbergt. Die einzigen Gäste, die im Palais Aufnahme finden, sind die Tochter des Hauses, die Großherzogin von Baden, und der Bruder der Kaiserin, der Großherzog von Sachsen. Einen ständigen Aufenthalt hat der Kaiser auch selbst in seinem Lieblingsschlosse, dem Schlosse von Babelsberg, nicht. Er geht dahin, wie ein Privatmann in sein Gartenhaus vor’s Thor geht, er schläft eine, zwei, drei Nächte dort, aber immer wieder kehrt er nach Berlin in das Palais zurück, in welchem all die vielfachen Fäden der obersten Staatsleitung zusammenlaufen.

Der Tag des Kaisers beginnt des Winters wie des Sommers zwischen sechs und sieben Uhr. Sowie sich der Monarch von seinem Lager erhebt, ist er auch sogleich für das Staats- und Geschäftsleben fertig. Er kennt nicht jenen Vielen so angenehmen Uebergangspunkt der Pantoffeln und des Schlafrocks, er hat derartige Kleidungsstücke nie besessen; gleich gestiefelt und gespornt und mit dem Militärüberrock angethan, tritt er in den Tag hinein und begiebt sich durch die Bibliothek in das derselben zunächst gelegene Gemach, in sein Arbeitszimmer. Dasselbe bildet die Ecke zwischen dem Opernplatz und den Linden, zwei Fenster gehen nach dem ersteren, nach der von wildem Wein bewachsenen Veranda hinaus, eines nach den Linden, und durch dasselbe fällt der Blick unmittelbar auf das Denkmal Friedrich’s des Großen. Der erste Gang des Kaisers hat in der Regel ein kleines Pult zum Ziel, welches an dem ersten Fenster der Veranda steht; in dasselbe ist ein sogenannter Tageskalender eingezogen, er enthält unter der betreffenden Tageszahl einen Rückblick auf die Tage gleichen Datums aus den verschiedenen Lebensperioden des Kaisers, auf die irgend ein für ihn bemerkenswerthes Factum fiel; jeder Tag hat seinen religiösen oder poetischen Spruch, und das Ganze ist eine Arbeit des gleichsam vortragenden literarischen Rathes des Kaisers, des Geheimen Hofraths Schneider. Der nächste Gang des Kaisers pflegt nach dem ersten Fenster des an das Schreibzimmer anstoßenden Audienzgemaches zu sein. Dort hängt der Barometer, der namentlich im Frühjahr bei den Truppenbesichtigungen ein Factor von unbestrittenem Einflusse ist.

An dem linken Fenster des Eckzimmers steht ein Schreibtisch von polirtem Mahagoniholz mit einem Geländer, nicht sehr groß; die Platte desselben, mit Ausnahme eines kleinen, zum Schreiben bestimmten Raumes ist mit Paketen zusammengebundener Briefe, mit Schreibmaterialien jeder Art, mit kleinen Gegenständen bedeckt, an deren sorgfältiger Aufbewahrung man erkennen kann, daß sie für den Besitzer werth- und bedeutungsvoll sind; da ist unter Anderm, um nur Einiges zu erwähnen, ein kleines Portefeuille in bunter Seide auf weißem Grunde gestickt, dessen Farbe nun auch schon verblichen; über und neben dem einfachen Porcellanschreibzeuge sind die Miniaturbilder der Kaiserin Augusta aus der Zeit ihrer Verheirathung, ferner der Schwester des Kaisers, der Kaiserin Charlotte von Rußland, dann die Photographien seiner Kinder, Schwieger- und Enkelkinder, diese aber nur in ganz einfachen photographischen Visitenkarten, aufgestellt. Wenn der Kaiser seinen Blick höher hebt, dann fällt derselbe auf die weißen, lorbeerbekränzten Marmorstatuetten seines Vaters Friedrich Wilhelm des Dritten und seines gewaltigen Ahnen Friedrich des Großen, von dem in der Familie nur als von dem großen Könige gesprochen wird. In dieser stillen und dem Kaiser so lieben Gesellschaft nimmt er seinen Morgenkaffee ein; dann geht er an die Lectüre der Zeitungen, von denen ihm der „Reichs- und Staatsanzeiger“, die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ und die „Spener’sche“ gebracht werden. Die ersten beiden sieht er durch, die „Spener’sche“ liest er. Was ihm aus in- und ausländischen [488] Zeitungen noch zu wissen nöthig ist, darüber bekommt er eine kurzgefaßte Uebersicht in aufgeklebten Auszügen aus denselben.

Alle Gemächer, die zu dem Appartement des Kaisers gehören, und es sind deren sieben, tragen noch in der fast schmucklosen Wandbekleidung den Stempel der Einfachheit jener Zeit, in denen sie entstanden sind. Was ihnen heut zu Tage das Gepräge des Luxus und des Reichthums giebt, und was ihnen in noch weit höherem Grade den Stempel der Individualität desjenigen, der diese Räume bewohnt, aufdrückt, das hat sich erst im Laufe der Zeit angesammelt, sei es durch Ankäufe, oder auch durch Geschenke, und so kann man wohl sagen, daß dieses Eckzimmer mit den großen Oelbildern, welche die Wände bedecken, mit den Möbeln, den Geräthen, den fast unzähligen größeren und kleineren Kunstgegenständen, welche die Tische, die Sophas, die Stühle, die Wände zieren, fast ein kleines Museum bildet, in welchem sich die Lebensgeschichte des Mannes verkörpert, dessen Dasein insofern zu einem der glücklichsten zu rechnen ist, als sich in ihm das Streben der Jugend, die Arbeit des Mannesalters noch in späten Jahren zu einem Erfolge verklärt haben, wie es vor ihm wohl nur wenigen Sterblichen vom Schicksal beschieden worden ist. Aber wie nach Schiller’s Ausspruche das Genie der Fleiß ist, so kann man in eben derselben Anwendung vom Kaiser sagen, daß das höchste Pflichtgefühl, daß unablässige Arbeit auch die Gewähr ihres Erfolges in sich tragen.

Die in diesem Zimmer befindlichen Gegenstände sind meistens Geschenke und Arbeiten der Kaiserin. Sie selbst überwacht diesen Raum mit der zarten Sorgsamkeit einer treu waltenden Hausfrau, damit nichts dem Gemahle fehle, nichts ihn störe oder unangenehm berühre. Da steht in dem Schreibgemache eine lange breite Tafel, mit Büchern, Karten, Andenken, Papieren jeder Art bedeckt; an einer Ecke ist der Platz für alle an den Kaiser gelangenden Sendungen, und es ist ein ziemlicher Stoß, der jetzt der Erledigung harrt. Auf einem einfachen ledernen Stuhle daneben sitzend, macht sich der Monarch an die Arbeit, er öffnet eigenhändig jeden Brief, ja fast jedes Packet, das seine Adresse trägt. Mit Hülfe einer Stahlbrille liest er alle an ihn gerichteten Sendungen, und macht sogleich auf den Rand der Eingaben die nöthigen Bemerkungen, in welcher Weise der betreffende Briefschreiber unmittelbar beschieden werden solle oder von den betreffenden Ministerien Recherchen anzustellen oder Berichte einzufordern sind. Auf dem Bodenteppiche liegen mehrere große, dunkle lederne Mappen, die in Messingbuchstaben die Aufschriften des Militär- und Civilcabinets und der verschiedenen Ministerien tragen. In diese Mappe legt der Kaiser die betreffenden Eingaben und verschließt dieselben. So gelangen sie an ihre demnächstige Bestimmung. Wenn diese Arbeit beendet, läßt der Kaiser den Flügeladjutanten vom Dienst eintreten. Derselbe überreicht den Rapport des Commandanten von Berlin und giebt eine Uebersicht der angesetzten Vorträge und Audienzen. Darauf bestimmt der Kaiser, welche persönliche Meldungen er von Militärs im Laufe des Vormittags entgegennehmen will.

Gegen ein halb zehn Uhr ist die Zeit, wo die Kaiserin ihren Morgenthee einnimmt, und das ist der Moment, wo sich das kaiserliche Ehepaar seinen Morgengruß bietet. Von der Bibliothek führt eine äußerst kunstvoll construirte eiserne Wendeltreppe in die Beletage, in die Appartements der Kaiserin. Auf diesem Wege begiebt sich der Gemahl in die obern Gemächer und verweilt bei der Kaiserin, während sie ihr Frühstück einnimmt. Es werden da, wie in jedem andern Hause, häusliche Angelegenheiten besprochen. Der Haushofmeister, der Castellan treten ein. Ersterer bringt das Menu für die Tafel, die Kaiserin sieht dasselbe durch, setzt hinzu und streicht, giebt Anordnungen etc. Ist dies geschehen und sind beide Ehegatten allein, dann liest die Kaiserin ihrem Gemahl aus Zeitungen oder Büchern vor, und darauf machen beide Herrschaften zusammen einen Gang durch die ganze Front der nach der Lindenseite gelegenen Gemächer, oft kommen auch der Kronprinz oder die Kronprinzessin dazu, und so lange bleibt der Kaiser bei seiner Gemahlin, bis der Adjutant durch das Sprachrohr, welches von den untern in die obern Gemächer geht, ankündigt, daß der Vortrag da sei. Dann geht der Kaiser hinab, und unten in der Bibliothek warten seiner schon der Ober-Chef und Hausmarschall Graf Pückler und der Hofmarschall Graf Perponcher. Den Vorträgen dieser obersten Beamten des kaiserlichen Haushalts reihen sich andere an, Audienzen etc. Die betreffenden Persönlichkeiten halten sich in dem Adjutantenzimmer, dessen Fenster rückwärts nach dem Hofe gehen, und welches den einzigen Zugang zu den übrigen Gemächern des Kaisers bildet, so lange auf, bis die Reihe an ihnen ist, und sie durch den Flügeladjutanten angemeldet werden. Auf dem braunen doppelsitzigen Ledersopha in der Mitte desselben mag schon Manchem das Herz gepocht haben in Erwartung des gewichtigen Momentes, wo der Officier vom Dienste vor ihn hintrat mit der Aufforderung, ihm zu folgen, indem der Kaiser ihn erwarte, zu einer Entscheidung vielleicht, die für das Schicksal des Einzelnen, wie für den Staat von tief eingreifender Bedeutung war.

Für die militärischen Meldungen, für die Audienzen ist ein Salon bestimmt, in den man unmittelbar vom Adjutantenzimmer aus eintritt; er ist nach den Linden hinaus gelegen, und seine Fenster sind die ersten beiden links vom Portale des Palais. Hier sind auch die Fahnen und Standarten der Berliner Garnison aufgestellt. In dem zunächst gelegenen Salon ist auf einem Tische ein Tableau des Schlachtfeldes von Königgrätz ausgebreitet, auf einem anderen großen Tische nahe am Fenster eine Sammlung der verschiedensten Gegenstände aus lapis lazuli aufgestellt, vom größten bis zum kleinsten, vom Petschaft bis zum Armleuchter und zur Pendule aus diesem Stoffe angefertigt – eine äußerst kostbare Sammlung, die der Kaiser so nach und nach zusammengebracht hat, und die wieder seine Vorliebe für die blaue Farbe und speciell für das Königsblau bekundet. Das ist das Vortrags-, gewissermaßen das Amtszimmer des Kaisers, während das vorhin geschilderte Eckzimmer sein Privatarbeitszimmer genannt werden kann. Der Kaiser selbst hält diesen Unterschied ziemlich strict inne; in seinem Privatzimmer nimmt er z. B. die Vorträge der Würdenträger seines Hauses und Hofes entgegen, wie z. B. des Oberstkämmerers Grafen Redern, des Ministers des königlichen Hauses Freiherrn v. Schleinitz, des General-Intendanten des Hoftheaters v. Hülsen, etc., in dem Vortragszimmer jedoch arbeitet er mit den Organen der Staatsgewalten, und zwar zunächst mit denen, durch deren Vermittelung ihm alle Entscheidungen aus den Ministerien vorgelegt werden, also mit dem Chef des Civilcabinets, dem Geheimen Cabinetsrath v. Wilmowski, dem Chef des Militärcabinets, dem Obersten v. Albedyll, wohl auch zuweilen mit den Ministern selbst. In der Mitte des Salons steht ein ziemlich großer viereckiger, mit grünem Tuch beschlagener Tisch mit einem großen Schreibzeug von Gußeisen; an diesem Tisch giebt der Kaiser seine Unterschriften. Hier werden die Ministerconseils abgehalten, hier wurde über alle die großen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit entschieden, von hier aus wird Preußen, wird das Reich regiert. Während dieser Arbeiten sitzt der Kaiser, oft auch lehnt er im Fenster, und ab und zu richtet sich sein Blick über die Mousselinvorhänge hinweg hinaus auf die Straße, und so kommt es auch wohl oft vor, daß er einem oder dem andern der Vorübergehenden, der ihm persönlich bekannt ist, mit der Hand grüßend zuwinkt. Den Militärüberrock tragt er dabei offen; sowie aber draußen eine Truppe vorüberzieht, so hat diese Bequemlichkeit ein Ende; dann wird Alles strammer angezogen, die rothen Klappen übereinander geknöpft, und so steht der Kaiser im vorschriftsmäßigen Anzuge da, als ließe er die Truppe an sich vorbeimarschiren. Wenn er auch vor ihrem Auge unsichtbar bleibt, das hindert ihn nicht, der militärischen Vorschrift zu genügen, der Truppe ein Beispiel der Achtung zu geben, die er von ihr selbst verlangt. Er duldet als Militär keine Unregelmäßigkeit, erlaubt sich aber auch selbst keine, auch wenn es Niemand bemerkt.

Die Aesthetik seines Lebens ist die der Pflicht, und alles Zuwiderhandeln ist ihm verhaßt, nicht nur darum, weil es unpraktisch, sondern auch weil es in Gedanken unlauter wäre. So liegt er auch den laufenden Geschäften des Tages auf das Gewissenhafteste ob. Es mögen wohl auch bei ihm Tage kommen, wo er körperlich nicht disponirt, wo er geistig nicht gestimmt ist zum Arbeiten, aber solchen Anwandlungen giebt er niemals nach. Die Pausen zwischen den einzelnen Vorträgen und Audienzen benutzt er, um ab und zu nach seiner Bibliothek zu gehen. Dieselbe hat eine sehr ebenbürtige Nachbarin an der königlichen Bibliothek, an die sie unmittelbar anstößt. An den beiden Seitenwänden des Gemachs ziehen sich hohe Bücherschränke von hellem polirtem Holze entlang. Sie enthalten die Privatbibliothek des Kaisers, die von dem Geheimen Hofrath Schneider in Ordnung gehalten wird. Jeden Sonnabend Morgens erscheint dieser, um über die literarischen Einsendungen, über die Ankäufe Vortrag zu [489] halten und den Kaiser, der im Drange der Geschäfte selbst wenig zum Lesen kommt, über die literarischen Erscheinungen im Laufenden zu erhalten. Aber nicht nur Bücher, Karten und Prachtwerke sind in diesem Raume angehäuft, sondern auch Kunstgegenstände jeder Art, die der Monarch entweder angekauft, oder zum Geschenk erhalten, oder auch in einer der unzähligen Verloosungen und Bazars, an denen er sich selbstverständlich betheiligen muß, gewonnen hat. Unter diesen Sachen hält er ab und zu Umschau, um Eines oder das Andere zu einem Geschenk, einer Ueberraschung auszuwählen, und das gewöhnlich, während er sein zweites Frühstück verzehrt. Dasselbe wird vom Jäger oder einem Lakaien gebracht, und die Platte, auf der es servirt ist, hat eine bestimmte Stelle auf einem der niedrigen Schränke, in denen die großen Kupferwerke liegen. Viele Leute in Berlin, die nicht Kaiser sind, würden beim Anblick des Butterbrodes, der paar Schnitten kalten Fleisches sich sagen: Wie haben wir das bei uns zu Hause Alles reichlicher! Und dies einen Tag wie den andern, nur so lange es Hummer giebt, wird von dieser Lieblingsspeise des Kaisers dem Fleische etwas beigelegt. Früher stand neben der Platte eine halbe Flasche Moselwein, von welcher aber der Kaiser nur etwa zwei kleine Gläser trank, die andere Hälfte wurde zum Diner aufgehoben. An die Stelle desselben ist zum Frühstück jetzt Tokayer getreten.

In den Pausen zwischen Vorträgen und Audienzen kommt auch oftmals die Kaiserin herab; namentlich in Zeiten, wo sich der Kaiser nicht recht disponirt fühlt, führt sie die Sorge um den Gemahl häufig nach dessen Gemächern. Mit welch schwerbeladenem Herzen mag sie im letzten Winter oft die schmale Treppe herabgestiegen sein!

Bis gegen drei Uhr gehört der Tag den Geschäften, nur an einem einzigen Tage in der Woche, am Freitage, fallen diese für die Staatsangelegenheiten aus. An diesem Tage hört der Kaiser die hohen Beamten in Angelegenheiten seines Hauses und Hofes. Der Letzte, der im Laufe des Vormittags vorgelassen wird, ist der Privatsecretär und Verwalter der Privatschatulle, der Geheime Hofrath Borck. Derselbe hat alle Unterstützungsgesuche und Gnadengeschenke bis zu einem gewissen Betrage unter sich und in seine Hand ist vom Kaiser viel Vertrauen gelegt. Er hat über die Gelder, die er ausgiebt, Niemandem Rechenschaft zu geben, aber der Kaiser weiß auch, was er an dem Manne besitzt und daß dieser der würdige Sohn eines Vaters ist, der ihm viele Jahre gedient hat und an dessen Stelle der Sohn nachgerückt ist. Von äußerem militärischen Habitus, kurz und wenig sprechend, ist Geheimrath Borck ein Mann, der, im guten Sinne des Wortes, lebt und leben läßt. Bei seinem offenen rechtlichen Charakter, bei der liebenswürdigen Bonhomie seines Wesens weiß er immer den Dingen eine günstige Seite abzugewinnen und im wohlwollenden Sinne zu erörtern. Das hat sich bei so vielen Gelegenheiten kundgegeben und so ist es auch gekommen, daß der Genannte zu den bekanntesten und beliebtesten Persönlichkeiten Berlins gehört.

Um drei Uhr hält vor dem Seitenportale des Palais eine offene zweisitzige Kalesche, bespannt mit zwei Trakehner Rappen. In diese steigt der Kaiser ein, und fort geht es die Linden entlang durch das Brandenburger Thor nach dem Thiergarten hinaus, etwa eine halbe bis drei Viertel Stunde lang – nicht länger. Denn wenn der Kaiser das Palais wieder betritt, dann weiß er schon Einen im Vorzimmer seiner harren, und zwar den Mann, dessen Geschäfte meistentheils am wenigsten Aufschub leiden, der in seiner Mappe die wichtigsten Entscheidungen vorlegt, den Fürsten Bismarck. Für ihn ist der Kaiser stets zu sprechen; es giebt wohl Tage, wo der Reichskanzler zu anderer Zeit im Palais erscheint, aber Gott behüte uns vor solchen! denn dann ist er immer Sturmvogel. In den Zeitperioden jedoch, wo die Politik ruhige Fluth ist, gehört seinem Vortrage die vierte Nachmittagsstunde.

Wenn dann so der Kaiser die Pflichten seines hohen Amtes abgethan, kann er sich mit vollem Bewußtsein redlich und mühsam gethaner Arbeit zur Tafel setzen, und um seinen Appetit brauchen wir uns dann nicht zu sorgen. Ist die Kaiserin von Berlin abwesend, so kommt es wohl selten vor, daß der Kaiser Gäste um sich sieht, nur etwa bei besonderen Gelegenheiten, wie z. B. bei Geburtstagen fremder Souveraine, nach Truppenbesichtigungen etc. Gewöhnlich speist er dann allein. Häufig wohl geht er dann selbst zu Gast bei einem Generale oder einem Minister. Aber auch während der Anwesenheit der Kaiserin in den Wintermonaten kommt es vor, daß die Herrschaften beim Diner allein sind. Die Zusammensetzung des Menu richtet sich vollkommen danach ein, ob das Diner nur für den Kaiser und die Kaiserin servirt wird, oder für zwanzig, für dreißig, für hundert Gäste. In ersterem Falle ist es ganz einfach; etwas Anderes ist es natürlich, wenn Gäste zugegen sind; dann entspricht es auch vollkommen den Erwartungen, welche sich jeder Eingeladene von einem kaiserlichen Haushalte zu machen versucht fühlt und wohl auch berechtigt ist. Während jeder minder gut situirte preußische Staatsbürger sich nach dem Mittagsessen zur weitern Pflege seines Leibes gemächlich auf dem Sopha ausstrecken und ein Stündchen auf das Ohr legen kann, ist solche Annehmlichkeit dem Beherrscher von vierundzwanzig Millionen Preußen nicht beschieden, oder vielmehr, er erlaubt sich dieselbe nicht. Denn nach dem Diner warten seiner schon wieder neue Einläufe, Telegramme etc., auf die er resolviren muß oder auch wohl in eigenhändigen Briefen sich äußert, und das bis in die Abendstunden hinein.

Während für die Berliner die königlichen Theater um halb sieben Uhr beginnen, ist für den Kaiser der Anfang erst dann, wenn er seine Geschäfte abgethan hat. Fast täglich besucht er das Theater, sei es das königliche Schauspielhaus oder das Opernhaus; oft geht er an einem Abende in beide. Seltener, daß er einer Vorstellung in einem Privattheater beiwohnt. Er liebt die Abendunterhaltungen durch die dramatische Kunst ebenso sehr, wie sein Vater Friedrich Wilhelm der Dritte dieselben gepflogen hat, theils wegen der angenehmen heitern Anregung, die er durch dieselben empfängt, theils aber auch wohl wegen der Ruhe, die er, allein oder auch nur mit der Kaiserin und seinem Bruder Karl in seiner Loge sitzend, nach all’ den Mühen und Anstrengungen des Tages sich hingeben kann. Die Theaterzeit ist für den Kaiser die einzige Erholung des Tages; während er an anderen Orten für tausenderlei Interessen bereit sein muß, während er, der Mächtigste im Staate, anderswo durch unzählige Rücksichten gebunden ist, fühlt er sich hier in seiner Loge als Herr seiner selbst; hier bleibt er abgeschlossen für sich, hier kommt nichts an ihn heran, was ihm störend oder unangenehm ist. Denn selbst die Geselligkeit, welche ihm die Kaiserin durch eine größere oder kleinere Anzahl von Gästen fast jeden Abend in ihren Salons bereitet, selbst diese bringt ihm oft nicht jene Behaglichkeit, nicht das günstige Sichausruhen, das jeder Privatmann nach des Tages Last und Mühen sich verschaffen kann. Es treten hier in den verschiedenen Persönlichkeiten so viel mehr oder minder versteckte Absichten und Wünsche an ihn heran, es ist der Charakter gewisser Angelegenheiten, daß sie sich am besten beim Thee zwischen zwei Fauteuils einleiten oder besprechen lassen, kurz, es warten in den rothen Salons der Kaiserin so viel Rücksichten auf ihn, daß diese Thees und Soirées eben nur wieder zu einer geistigen Arbeit für ihn werden. Kommt dann die Jahreszeit heran, wo in dem Zimmer über seinem Schreibgemache, in dem kleinen Salon der Kaiserin, allabendlich nicht mehr die Lüstres aufflammen, hält sich die Kaiserin des milden Klimas wegen in Coblenz oder in Baden-Baden auf, dann verbringt er die Zeit nach dem Theater in seinem Eckzimmer, trinkt eine Tasse Thee, ißt ein Butterbrod und fertigt dabei alle Einläufe ab, die an der bekannten Tischecke im Verlaufe des Abends wieder aufgespeichert worden sind. Nicht eher sucht er das Lager, als bis Alles erledigt ist; um sich jedoch bei der Arbeit frisch und wach zu erhalten, sitzt er auf einem hohen Lederstuhle und hat dabei die betreffenden Papiere auf einem mit grünem Tuche überzogenen Pulte vor sich liegen. Erst wenn der letzte Federzug gethan – gegen elf Uhr – giebt er dem Kammerdiener das Zeichen, daß er sich zur Ruhe begeben wolle.

Das Schlafzimmer des Kaisers liegt zwischen der Bibliothek und dem Adjutantenzimmer; es hat nur ein großes Fenster, welches nach rückwärts in einen kleinen Garten sieht. Den Boden bedeckt ein Teppich, von dem man gerade nicht sagen kann, daß er noch sehr schön sei. Mehrere große Mahagoni-Schränke enthalten die Uniformen des Kaisers, welche er am meisten zu tragen pflegt. Um die eine Seite des Schlafgemaches läuft ein Metallgestell, in dessen Einschnitte die Säbel und Degen des Kaisers gestellt sind. Es [490] mögen deren über fünfzig sein; die Körbe haben einen Lederüberzug, und an jedem hängt ein kleines Stück Pappdeckel, auf dem von des Kaisers eigener Hand geschrieben steht, welche historische Bedeutung die Waffe im Allgemeinen, und welche sie für ihn speciell habe. Eigenthümlich ist auch eine Pyramide von Spazierstöcken, von denen jeder einzelne für den Besitzer eine Erinnerung sein mag an Personen, von denen sie ihm verehrt, an Orte, wo sie im Gebrauch gewesen sind. Daneben steht ein

Denkmal für Freiherrn von Stein bei Nassau.
Nach einer Photographie.

polirter Schreibtisch mit einem etageförmigen Aufsatz. Er hat als solcher ausgedient, seine Fächer dienen nur noch als Platz für mehrere Uhren in Etuis und eine große Anzahl von Ordensdecorationen, auf deren Etuis von des Kaisers eigener Hand die Namen derselben aufgeschrieben sind. Auf dem mittleren Aufsatze erhebt sich jene Gypsbüste der Königin Louise, die, nach ihrer Todtenmaske angefertigt, das edelste der Frauenbilder in einer dichten Umhüllung von Flor darstellt. Am Morgen ist es das Bild des Vaters, welches dem Kaiser an seinem Schreibtische entgegentritt, am Abend ist es das der Mutter, deren Andenken ihm in die Ruhe der Nacht nachfolgt, und die Hand des Sohnes hat auf ihr Haupt einen Kranz von Lorbeeren gelegt.

Sonst hat das Schlafzimmer des Kaisers nur noch einige einfache Geräthe; in der Nische des Fensters stehen einige Toilettegegenstände und Vorrichtungen, in der Ecke daneben ein kleiner auseinander zu klappender Waschtisch mit einem weißen Blecheinsatze und einer Waschschüssel von weißem Porcellan. An die grüne Wollengardine ist der Theaterzettel und darüber eine alte, sehr einfache Taschenuhr angesteckt. Ein Beweis, wie pünktlich der Kaiser in allen Dingen ist, wie treu und sorgsam er seine Zeit wahrnimmt, sind die Uhren an den verschiedenen Stellen des Schlafzimmers; auch über seinem Bette hängt eine solche, unmittelbar unter dem aus Holz geschnitzten Bilde des Gekreuzigten. Sie muß jedenfalls für den Kaiser einen hohen Werth haben. Wie fände sie sonst, schlicht und materiell werthlos, wie sie ist, hier einen Platz? Das Bett selbst, in dem der Kaiser seine Ruhe hält, steht in einer Nische, dem Fenster gegenüber; es ist von polirtem Holze und von jener Form, die vor etwa vierzig Jahren modern war, dabei schmal, wie alle Berliner Betten, und von einer grünseidenen Steppdecke überbreitet. Der Kaiser hat die Gewohnheit, mit dem Kopfe hoch zu schlafen. Neben dem Bette befindet sich ein mit einer Wachstuchdecke

[491]

Die Treppenfahrt des Grafen Sandor in Ofen.
Nach dem Originalbilde von G. Prestel.

[492] überzogener Nachttisch aus Tannenholz mit geschnitzten Beinen, ein Möbel, wie es in seiner übergroßen Unscheinbarkeit Mancher nicht in dem Schlafzimmer eines Kaisers suchen würde. Aber der Mann, der für Deutschland, der für Preußen eine neue Aera des Glanzes und der Größe geschaffen hat, ist für sich und seine Person von einer fast puritanischen Anspruchslosigkeit. Ein Bild davon ist die ganze Einrichtung dieses Schlafzimmers.

Georg Horn.




Erinnerungen aus alter Zeit.


1. Ein Tag mit Goethe auf der Dorfkirchweih.


Gar ernst und viel erzählend steht das alte Schloß von Großkochberg dort über dem gleichnamigen, thüringischen Dorfe, das sich darunter südlich im Thale hingebaut hat. Ein breiter, tiefer Wallgraben mit Wasser umzieht den umfänglichen Schloßbau, und hinter ihm nach Norden hebt sich auf dem hohen Ufer des Walles das dunkle Grün mächtiger Fichten, Ulmen, Buchen, der Anfang seines großen Parkes, empor, und läßt das Grau der alten Mauern und Thürme noch klarer hervortreten. Eine Brücke führt zu einem von alterthümlichen Gebäuden umgebenen Vorhofe, von dem dann rechts ein breiter Stufenaufgang zum Hauptportale leitet. Das ganze Aeußere dieses Schlosses ist das Bild eines alten, festen Rittersitzes, rein von allen angeklecksten Neubauten und sogenannten modernen Verschönerungen.

In diesem Schlosse lebte der Freiherr Friedrich v. Stein mit seiner Gattin, zwei Söhnen und einer Tochter. Die Mutter des Freiherrn, die Frau Stallmeister v. Stein, die bekannte Freundin Goethe’s, hielt sich im nahen Weimar auf. In dem alterthümlichen Schlosse von Großkochberg mit seinen gar wohnlich eingerichteten Räumen und seiner einfachen, aber gediegenen Ausstattung bewegte sich ein schönes Familienleben, welches Kunst und Wissenschaft zu treuen Hausgenossinnen erwählt hatte. Der Hausherr, ein liebenswürdiger Mann, der selbst malte und ein sehr eifriger Freund von Anlagen und Bauten war, hatte mit großem Geschmacke ein zum Theile unwirthliches Grundstück, das sich nördlich hinter dem Schlosse an einen fast kahlen Kalkberg lehnte, zu einem weiten Parke umgewandelt. Der ganze Park schien ein Stück selbstgewachsener Kunst zu sein. Alle einzelnen Partien machten einen wohlthuenden Eindruck, und alle waren trotz ihrer Mannigfaltigkeit doch Glieder eines schönen Ganzen.

In dem alten Schlosse selbst kehrten geistreiche Menschen, Künstler und Schriftsteller nicht selten ein. Auch der Herzog Karl August von Weimar war gern hier, namentlich aber Goethe. Der gastlichen Stein’schen Familie war überhaupt willkommen, wer in solchen Kreisen sich wohl fühlte. Namentlich gaben die beiden näheren Städte Weimar und Rudolstadt viele willkommene Gäste. Das kleine Städtchen Rudolstadt hatte gerade damals eine schöne Blüthezeit unter der kunstsinnigen Fürstin-Wittwe Caroline. Noch lebten dort Freunde Schiller’s und unter diesen und mit den Erinnerungen an ihn etwas von seinem Geiste. Neben dem tüchtigen Capellmeister Max Eberwein glänzte der patriotische Liedercomponist Albert Methfessel als Kammersänger. Er war in Großkochberg ein vielgesehener Gast.

Besonders lebhaft ging es auf dem alten Schlosse her, wenn das Dorf im Herbste sein Kirchweihfest hielt. Zwischen dem Dorfe und seinem Gerichtsherrn v. Stein waltete ein gutes patriarchalisches Verhältniß. Zu einer solchen Kirchweihe war ich – damals Schüler auf dem Gymnasium zu Rudolstadt – mit meinen Eltern geladen. Diese wohnten nur ein halbes Stündchen von Großkochberg entfernt, und so lange ich noch im Elternhause lebte, hatte ich viel mit den Söhnen des Herrn v. Stein verkehrt. Der ältere, Fritz, war ein sehr befähigter Knabe und Goethe’s Liebling. Da er, wie ich, ein sehr lebhaftes Temperament hatte, so vereinte uns dieses zu jener eigenthümlichen Knabenfreundschaft, die in der einen Stunde sich warm umarmen möchte, in der andern aber sich gar ernstlich zausen kann. Der jüngere Sohn des Hauses, Karl, war mir zu ruhig, zu überlegend.

An einem jener sonnigen und lebenerfrischenden Herbsttage wanderten meine Eltern mit mir als Kirmeßgäste nach Großkochberg. Hier erfuhren wir, daß außer anderen Gästen auch Goethe und mein musikalischer Mentor Methfessel, dieser mit M. v. Holleben, einem liebenswürdigen und kunstsinnigen Herrn von Rudolstadt, sich eingefunden hatten. Der Name Goethe zuckte wie ein Blitz in meine Seele. Obgleich ich früher vorzugsweise Schiller schwärmerisch verehrte, so hatte mein väterlicher Lehrer Abraham Voß (Sohn des Johann Heinrich Voß), der Uebersetzer Shakespeare’s, mich später doch auch für Goethe begeistert. Ich hatte ihn noch nie gesehen, und konnte nun in seiner Nähe sein, ihn vielleicht sprechen. Bald aber wich meine freudige Aufregung einer niederdrückenden Scheu. Ich erinnerte mich, oft gehört zu haben, daß der Geheimrath v. Goethe in seinem ganzen Wesen etwas unnahbar Hohes habe. Meine Bedenken wurden noch bestärkt durch die erste Begrüßung beim Eintritte in den Saal, in dem die Gäste des Herrn v. Stein saßen oder standen. – Ja, es lag etwas Hohes, ich möchte sagen Fürstliches in dieser aufgerichteten Gestalt mit dem schönen Kopfe, dieser imponirenden Stirn und den großen geistvollen Augen; aber ein Zug um den Mund sprach ein etwas störendes Ich! – Wie sollte ich indeß freudig überrascht werden durch die natürliche Freundlichkeit dieses genialen Mannes!

Der geehrte Leser erlaube mir, ehe ich weiter erzähle, einen ganz kurzen und bescheidenen Excurs, der zwar nicht zur Kirmse, aber zu Goethe gehört. In der riesenhaft angeschwollenen Goetheliteratur finde ich die eine Seite von Goethe theils gar nicht, theils meinem Gefühle nach zu wenig ausgeführt, gerade die Seite, die uns als Menschen zu ihm zieht: daß er, wo er nicht von kleinen Geisterchen zum Theile mit widerlich lächerlichem Weihrauche beräuchert, wo er nicht von eitler geschwätziger Jämmerlichkeit, die sich an ihn anzusaugen suchte, heimgesucht, oder nicht, wie ein Wunderthier, selbst mit frecher Eindringlichkeit, aufgesucht wurde, kurz, wo er sich überhaupt nicht gebunden und belästigt fühlte, daß er da menschlich unmittelbar, ja herzlich sich geben konnte; so daß man gar Manches an ihm entschuldigen und ihn lieb gewinnen mußte. Um diese gute menschliche Seite in dem unmittelbar Beobachteten und treu Wiedergegebenen aus dem Leben Goethe’s zu zeigen, übergebe ich diese Erinnerungen seinen Verehrern.

Kommen wir auf die Erzählung zurück. So stand denn ich armes Schülerlein in der großen Gesellschaft, von Niemandem speciell beachtet, als von den treuen Augen meiner guten Mutter. Fritz v. Stein war abwesend, Karl wurde von einer gnädigen Tante examinirt. Dennoch hielt ich eine genaue Revue über alle guten Regeln des Anstandes, die ich namentlich in der Tanzstunde erhalten hatte, um vor Allem dem einen Gegenstande meiner Verehrung gegenüber mich fein säuberlich zu benehmen. Dies muß mir so leidlich gelungen sein; denn Karl v. Stein behauptete später gegen seinen Bruder: er habe mich heute in der Gesellschaft nicht wieder erkannt; denn ich hätte eine so ceremonielle Haltung angenommen, daß ich, einige unbedeutende Steifheiten abgerechnet, ganz gut am königlich sächsischen Hofe hätte debutiren können.

Goethe hatte sich neben die Hausfrau, eine feingebildete, tactvoll edle Frau, gesetzt und unterhielt sich mit ihr so, daß die schönen Züge der sonst so stillen, bleichen Frau, sich zu immer mehr Leben verklärten. Im ganzen Wesen Goethe’s trat immer mehr ein leichtes, heiteres Sichhingeben hervor. Besonders interessirte mich das feine, gesellige Umgangsspiel zwischen Goethe und einer Frau v. F. Diese schien die entschiedene Absicht zu haben, Goethe für sich zum Cavalier zu gewinnen. Sie wußte sich immer näher und theilnehmender an Goethe zu wenden und schien Alles aufzubieten, den herrlichen Mann heute für sich einzunehmen. Goethe blieb artig, er wurde es in der feinen Form immer mehr. Aber je artiger er gegen Frau v. F. wurde, umsomehr wußte er der anspruchloseren Frau des Hauses anzugehören. Zwischen ihm und der Frau Stallmeister v. Stein war, wie ich auch später bemerkte, ein Verhältniß gegenseitiger Achtung. Frau v. Stein schien ein geistiges Bedürfniß, das sie drängte, zu Goethe zu führen; Goethe dagegen Umgang und Urtheil der feinfühlenden [493] Frau zu suchen, die ebenso gebildet und klar, als einfach war in Erscheinung und Wort.[2]

Indessen kam Fritz v. Stein und erlöste seinen Bruder und besonders mich von unserer Wachtparade in der großen Gesellschaft. Wir eilten auf eine Brücke, welche westlich über den Wallgraben führte, auf einen großen abgerundeten Kiesplatz, an den sich nach Süden der große Pavillon schloß, zu dessen Säulenhalle eine breite Treppe führte. Hier waren wir mitten im fröhlichen Spiele, indem wir mit großen, schweren Kegelkugeln nach einem ziemlich entfernten Pfahle warfen, als Goethe kam und uns zurief: „Was treibt Ihr da?“ – Und wie anders war jetzt dieser so gefeierte Mann! Leicht kam er einher, freundlich schaute er uns an, nahm Fritz v. Stein an der Hand und forderte uns auf: „Jetzt, Burschen, kommt mit mir!“ Er schlug den nächsten Weg in den Park ein, und ich folgte schüchtern; ich gestehe, nicht ohne Neid auf den Spielcameraden, den Goethe an der Hand führte. Goethe wußte herrlich mit uns zu plaudern, er gab uns Räthsel auf und setzte sich in eine Laube, welche neben einem Quell sich erhob. Vor uns lag der blaue Spiegel eines ovalen Teiches, dessen klares Wasser ein grüner Grasrand einfaßte.

Nachdem wir einige Räthsel gelöst hatten, während ich in respectvoller Ferne stehen blieb und nur schüchtern antwortete, fragte mich Goethe, warum ich so scheu und fern bliebe? Auf meine langsame Antwort: „ich weiß, vor wem ich stehe,“ rief Fritz v. Stein:

„Stille Wasser sind tief; der ist ein ebenso wilder Bursch, wie ich.“

Goethe lächelte und fragte mich, ob ich schon einen Beruf gewählt hätte? Ich antwortete, daß ich eigentlich Soldat hätte werden wollen; da meine Eltern aber das nicht wünschten, möchte ich Theologie studiren.

„Hm, hm!“ entgegnete Goethe, „ein leidlicher Sprung! – Theologie? – Aber da hüte Dich vor den theologischen Quacksalbern und vor den Todtengräbern, die das alte Gebein ausgraben, und gelehrt darüber spintisiren und es sortiren und wunderbarlich combiniren. – Ein Theologe? – Hm, ja! – nur aber ein rechter. Und das ist nicht leicht. Hüte Dich vor der gelehrten Species, die mit dunklen Worten andächtig kramt. Meine nicht, was Rechtes zu erhaschen, wenn man schwache Weiblein gefangen nimmt, und verkommene Taugenichtse mit Gnadenworten streichelt. – Ein rechter Dorfpastor, der mitten im Leben steht, der es frisch faßt und warm beleuchtet, ist besser als ein aufgeblasenes Kirchenlicht, das weiß, was Niemand weiß, und beweist, was Keiner versteht. Halte am Leben und seiner frischen Quelle, nicht an flimmerndem Scheine, – an der Natur, nicht an wunderlichem Gelehrtenkrame.“

Während Goethe dies sprach, und nach und nach lebhaft wurde, kam ein Theil der Kirmeßgäste mit dem Hausherrn. Da sich nun Goethe an diese anschloß, wendeten wir drei jungen Bursche uns auf dem nächsten Seitenwege nach einem anderen Theile des Parkes, und während die Brüder Stein in ein lebhaftes Gespräch mit einander geriethen, flüchtete ich mich zu einem einsamen Plätzchen, und suchte mir Goethes Worte über die Theologie treu in meine Brieftafel niederzulegen.

Bald rief uns die Tischglocke zusammen, und nach einem sehr belebten Mittagsmahle in dem schon oben erwähnten offenen Pavillon, welcher einen freien Blick in den Park hinein gewährte, begab sich die ganze Gesellschaft nach dem Dorfplane, wo die Ortsgemeinde ihren Kirmeßtag hielt, ziemlich in der Mitte des Dorfes. Um eine majestätische Linde, welche ihre riesigen Aeste weit um sich breitete, zog sich ein erhöhter, runder Plan. An der einen etwas hoch gelegenen Seite war von Balken, Birken und Tannen eine Laube errichtet.

Schon ging es unter dem alten Baume gar lebhaft her. Zu der Fiedel scharfem Striche, von drei Baßtönen, einer schneidenden Clarinette und zwischendurch von der Trompete und großen Trommel begleitet, drehte sich schleifend das fröhliche Völkchen, jauchzend und tratschend, während ringsum der frische Dorftrunk, das selbsterbraute Bier, in großen Gläsern und Krügen fleißig von Hand zu Hand, von Mund zu Munde ging. Sobald man aber den Dorfherrn, denn das war Herr v. Stein im humansten Sinne des Wortes, mit seinen Gästen kommen sah, schwieg die Musik und löste sich der Tanz. Zwei Männer, die Senatoren der Gemeinde, und zwei frische, junge Burschen, die gewählten Vortänzer der Kirmeß, kamen mit großen Gläsern voll Bier ehrbar dem Herrn und der Frau v. Stein entgegen, hießen sie willkommen und kredenzten ihnen und ihren nächsten Gästen den „frischen Trunk“. Herr v. Stein trank auf das Wohl seiner Großkochberger, und die Abgeordneten geleiteten die Angekommenen zu der Laube, welche man für den Gerichtsherrn und seine Gäste erbaut hatte. Während die erwähnten beiden jungen Burschen ein Paar verschämter junger Tänzerinnen den beiden Söhnen des Herrn v. Stein zuführten und der eine sich bei Fräulein v. Stein die Ehre des Tanzes ausbat, bot die Musik alle Kräfte auf, einen besonders schönen Walzer zu spielen, und die drei Paare tanzten jetzt den sogenannten „Ehrentanz“. Anfangs hatte sich Goethe unter die Leute begeben und mit ihnen gesprochen, dann aber setzte er sich in die Laube. Schweigend saß er da, und das große Auge beobachtete das bewegte, jubelnde Volk in seinem fröhlichen, derben Gebahren. Hier die gemächlichen Alten mit Pfeife und Bierkrug, da die gemessenen, neugierig umschauenden und dabei gar ausdrucksvoll richtenden und schlichtenden Frauen, in der Mitte das sich schwenkende, drehende, trappelnde junge Volk.

Als nach ein paar Stunden die Stein’sche Gesellschaft heimging, engagirte Goethe den lebhaften Methfessel und ging mit ihm in den Schloßpark. – Nach einiger Zeit wurden Beide vermißt, geheimnißvolles Flüstern folgte hier und da, nachdem Diener eingetreten waren und Meldungen an den Hausherrn gemacht hatten. Man rief Fräulein v. Stein ab. Auch ich wurde bald abgerufen und in einen Salon geführt. Hier fand ich Methfessel am Flügel, neben ihm den Sohn des Cantors vom Orte, welcher einen vollen, sonoren Baß sang, und Fräulein v. Stein, welche eine herrliche Discantstimme besaß. Letztere kam mir fröhlich entgegen: „Sie müssen mitsingen, wir führen die Kirmeß auf.“ Goethe stand mit einem Papier im Hintergrunde. Er hatte einen Text niedergeschrieben, den Methfessel in flüchtigen Zügen componirt; Alles war in vielleicht zwei Stunden geschehen. Goethe las uns nun seinen kurzen Text mit dem vollen Ausdrucke des Lebens – Wenige können lesen, wie es Goethe konnte – zweimal vor, machte die nöthigen Bemerkungen und übergab dann Methfessel das Weitere, indem er uns verließ. Nun wurde der Gesang eingeübt, während Methfessel nach einzelnen hingeworfenen Noten und musikalischen Zeichen accompagnirte. Wir waren mitten im Singen – da trat ein Diener ein und bat, wir möchten zum Thee kommen. Er wurde an die vertraute Adresse gewiesen; bald kam ein zweiter, ein dritter, endlich Goethe und rief: „Kinder, ich bewältige den Sturm nicht mehr. Eilt und kommt! Eure Musik ist ja Dorfkirmse; da geht viel in den Kauf. Lieber Methfessel, jetzt gilt’s Selbstverleugnung. Kommt!“

Mit den Worten: „Menschen, ihr mordet mein ungebornes Kind!“ stand Methfessel auf und rief Goethe nach: „Ja, kommt! – Der hat gut reden, sein Ding ist fertig; – aber wir, wir führen eine richtige Dorfkirmse auf, daß die armen Zuhöhrer sich entsetzen werden.“

Er nahm mit Todesverachtung seine Papiere. Wir folgten ihm. Wir glichen einem Trauerzuge. So traten wir in den Salon der Frau des Hauses, wo sich die übrige Gesellschaft, längst auf uns harrend, gesetzt hatte. Vor Frau v. Stein rauschte und rauchte die Theemaschine, und die sorgliche Herrin rief: „Mein Thee, mein armer Thee!“

Methfessel aber antwortete: „Meine Kirmse, meine arme Kirmse!“

„Was will er mit der Kirmse?“ hieß es, und die nicht verstandene Klage des armen Componisten machte der in unser Geheimniß uneingeweihten Gesellschaft gar mancherlei Bedenken.

Indessen hatten die Diener den Flügel hereingebracht. Der unruhige Methfessel trank mit Hast eine Tasse Thee mit Rum und flüsterte Goethe zu, der neben ihm saß: „Ihr tragt die Schuld, wenn wir elendiglich zu Schanden kommen. O ich Esel, daß ich mich durch Euch berücken ließ!“

Obgleich auch Goethe jetzt die Sache bedenklich zu finden schien, stand er doch auf, rief Methfessel leise zu: „Besser frisch [494] los, als erst am Angsttüchlein kauen!“ und trat vor den Flügel, wo er mit fester Stimme rief: „Eine neu etablirte Künstlergesellschaft bittet um geneigtes Gehör; wir produciren das Ende der Verschwörung, genannt ‚Die Dorfkirmse‘.“

Während sich jetzt Alle forschend aufrichteten, sammelten wir Sänger uns um Methfessel, der sich mit den Worten an den Flügel setzte: „Ja, eine sehr neu etablirte Künstlergesellschaft!“ Uns aber flüsterte er zu: „Wenn’s nicht recht mehr gehen will, schreit nur recht confus durcheinander, daß die Geschichte wenigstens noch ein sehr schlechter Witz wird.“

Methfessel begann seine Einleitung anfangs zaghaft, bald aber mit Hingebung und meisterhaft. Goethe’s Gesicht verklärte sich. Uns faßte Methfessel’s Spiel. Wir erlangten Muth, der zur Begeisterung wuchs. Alles gelang wunderbar.

Unsere Dorfkirmse war eigentlich eine für die Musik kurzgeschürzte Idylle mit lebensvollen, frappanten Bildern der Dorfkirmse, vom Erwachen vielgeschäftigen Lebens beim Aufgange der Sonne bis zur derbplastischen Darstellung des Tanzes unter der Dorflinde, des Trinkens und seligen Plauderns auf dem lebendigen Dorfplane. Eine sehr glückliche Conception Methfessel’s hatte die Idylle mit liebenswürdigem Humor in Melodie, Ton und Rhythmus wiedergegeben. Das Ganze schloß mit einem bekannten alten Walzer, der immer langsamer, immer dünner wurde, bis er mit drei einsamen Tönen des Baß in c–a–Octav-C verklang.

Ein wahrer Jubel großer Heiterkeit brach aus, und lebhafter Beifall wurde immer lauter. Methfessel wendete sich mit strahlenden Blicken an uns Sänger und rief: „Ihr habt inspirirt gesungen, wie geübte Meister! Dank, tausend Dank!“

Er aber hatte wunderbar gespielt, und vor ihm standen doch nur einzelne Noten und Zeichen, wie einsame Wegweiser. Louise v. Stein hatte mit ihrer herrlichen Stimme nicht nur richtig, sie hatte mit sinniger Naivetät gesungen und der Bassist namentlich den Schluß gekrönt. Frau v. Stein wendete sich zu Goethe: „Nun, da haben wir nach langer Zeit den Naturforscher[3] auch wieder als lieben Dichter gehört.“

Goethe aber rief: „Heute gebührt unserm Methfessel der Preis!“ und drückte diesem herzlich die Hand. –

Unsere aufgeführte Dorfkirmse hatte in der ganzen Gesellschaft liebenswürdige Geister geweckt. Ein sinnig heiteres Leben und Bewegen ging durch alle Gäste. Selbst ein alter wohlbeleibter Herr, ein einstiger Lehrer in der Familie, der sonst nur ernst, gebeugt die Einsamkeit aufsuchte, schlich aus seiner abgesonderten Ecke in ein Nebenzimmer, trällerte dort stillvergnügt Klänge aus längst verschwundener Zeit und setzte, so zierlich er konnte, die widerstrebenden Füße, als dränge ihn sein Behagen, eine Menuet aus alter Zeit zu versuchen.

Als ich mit den Meinigen in später sternenheller Nacht heimging, blickten wir noch hinauf zu dem alterthümlichen Schlosse, das so ernst und schweigsam vor uns stand, und mein Vater rief: „Das war heute eine Kirchweih der Musen unter edlen Menschen.“

A. Schmeißer.


  1. Der Abdruck dieses Artikels wurde durch unvorhergesehene Umstände verzögert.
    D. Red.
  2. Man hat das Verhältniß zwischen Goethe und der Frau Stallmeister v. Stein bisweilen gewiß falsch aufgefaßt. Ich war öfter bei Frau v. Stein in Weimar, und sie selbst führte mich später bei Goethe ein. Wer die geistig bewegte Frau und ihr Leben näher kennen lernte, wer sie mit Goethe zusammen sah, mußte zu obigem Urtheile kommen.
  3. Gerade in jener Zeit widmete sich Goethe jahrelang mit großem Eifer den Naturwissenschaften, namentlich der Lehre von den Farben.




Blätter und Blüthen.


Maler und Sportsman. (Mit Abbildung.) Das ist ein waghalsiges Viergespann, welches hier die steile Treppe mit dem Wagen herunterklettert! Gleichwohl ist dies kein Bild, welches nur der Phantasie eines Zeichners und den im Atelier erträumten Situationsbildern angehört; es ist ein selbsterlebtes Abenteuer, welches der Künstler hier verewigt hat. Der Held desselben ist Graf M. Sandor, einer der abenteuerlustigsten unter den ungarischen Granden, das Jahr der Handlung das Jahr 1827, der Ort derselben die steile Treppe, welche von Ofen zur Christinenstraße hinabführt, und der Genosse der verwegenen Fahrt, welche keiner Wette ihren Ursprung verdankt, sondern nur der Laune des kühn die Gefahr herausfordernden Grafen, der Zeichner des Bildes, der Maler und eifrige Sportsman Johann Gottlieb Prestel, bekanntlich ein geborener Frankfurter.

In Folge einer unglücklich ausfallenden Ehrensache verließ der dort studirende Prestel München und fand in Ungarn längere Zeit eine Stellung als Director eines arabischen Gestüts. Das wildfeurige Magyarenland mit der prächtigen Zucht seiner Rosse und seinen abenteuerlustigen Magnaten bot ihm eine Fülle von Jagd- und Sportsvergnügungen, die seiner Kunst zugute kamen. Es konnte nicht fehlen, daß der Künstler, der selbst ein tüchtiger Sportsman, namentlich ein ausgezeichneter Reiter war, mit den Großen des Landes in nähere freundschaftliche Beziehung kam und zu allen ihren Jagden und Belustigungen mit eingeladen wurde. Namentlich stand er lange Jahre im innigsten Verkehr mit dem Grafen M. Sandor, dessen originelle, aber unsinnig gewagte und lebensgefährliche Abenteuer er sowohl mitmachte, als auch skizzirte. Der späteren Ausführung dieser Skizzen verdankt das bekannte und verbreitete Sandor-Album seine Entstehung. Jene Treppenfahrt in Ofen, deren Bild wir hier vorführen, war nicht einmal das vermessenste unter den Wagstücken des Grafen. Bei dem Durchblättern des Sandor-Albums, dessen Bilder übrigens mit großer Meisterschaft der Zeichnung und einer bewundernswerthen Kenntniß des Pferdes ausgeführt sind, wandelt uns oft ein haarsträubendes Grauen an, wenn wir die durchgehenden Rosse sehen, die sich von hohen Felsen herab in Steinbrüche stürzen, die vermessenen Winterstrompartien über den Eisgang der Donau, die verschiedensten Sprünge mit dem Pferde über hohe Gitter und Mauern, über kleine Flüsse, selbst über Wagen und Pferde hinweg, und dergleichen mehr – Reiterwagstücke, welche die Gartenlaube gelegentlich einer früheren Charakteristik des Grafen Sandor (Jahrgang 1866, Nr. 2) in Wort und Bild bereits ihren Lesern vorgeführt hat. Jedenfalls war der nähere Umgang mit ihm nicht ohne Gefahr; es kam dem vortrefflichen Wagenlenker nicht darauf an, einen Wagen absichtlich umzuwerfen, wenn seine darin sitzenden Gäste ein kleines Abenteuer wünschten, oder es machte ihm Vergnügen, einen Spazierritt mit lauter des Reitens unkundigen Personen zu veranstalten, welche dann nach kurzer Zeit sämmtlich auf der Erde lagen. Dieser Sportshumor hatte doch für die Dilettanten seine sehr bedenklichen Seiten.

Nach mehrmaligen größeren Ausflügen nach England, Frankreich und Italien, wo er sechs Jahre verweilte, wurde Prestel, der als Jagd- und Pferdemaler jedenfalls eine Specialität ist, im Jahre 1838 Hofmaler des Herzogs von Nassau und lebte dann in Wien und später in Mainz.




Gerstäcker’s ethnographische Sammlung. Abermals muß ein Wunsch ausgesprochen werden, den die Pietät dictirt und der von der Vaterlandsliebe recht dringend unterstützt werden sollte. Bekanntlich hat unser Friedrich Gerstäcker von allen seinen Reisen Andenken an die Völker mitgebracht, mit denen er rings um die Erde in Verkehr gekommen ist. Diese für die Culturgeschichte so außerordentlich wichtigen Gegenstände sind im Laufe der Zeit zu einer stattlichen Sammlung angewachsen, die nun in andern Besitz übergehen soll. Aus dem Kreise seiner Familie wissen wir, daß Gerstäcker es als seinen letzten Willen mit aussprach, die Sammlung möge verkauft werden, daß er aber zugleich den Wunsch betonte, wie lieb es ihm wäre, wenn sie nicht durch Auction zerrissen zu werden brauche, sondern in einen Besitz übergehen könnte, sei’s der einer öffentlichen Anstalt oder eines wissenschaftlichen Privatschatzes.

Wir üben eine Freundespflicht aus, wenn wir diesen Wunsch des zu früh Dahingeschiedenen zur Kenntniß unsers Publicums bringen. Wie reichhaltig die Sammlung ist, darüber mögen einige Andeutungen hier folgen. Dieselbe enthält aus Australien: Harpunen, Wurfspeere, Körbe für Lebensmittel, Muscheln als Trinkgefäße, Beile, Ruder etc.; – von den Südsee-Inseln: Bogen, Pfeile, Lanzen, Ruder, Keule, Schurz etc. von den Fidschi-Inseln, Reibfeuerzeug, Schaufel, Lichtnuß von Tahiti, Kopfschmuck von Maiao, Dolch mit Haifischzähnen, Schurz, Korallen- und Muschelschmuck; – aus Californien: Bogen und Pfeile der Indianer, Köcher, Schurze, Korb; – aus Nordamerika: Boxhandschuh, Tomahawk, Calumet; – aus Mexico: Guitarre aus Puebla, Steinmasken von den Pyramiden etc.; – aus Süd-Amerika: Gaucho-Gürtel, Feuerzeug, Lasso, Perlen-Diadem, Sattel, Sporen, Pfeifen, Caraiben-Schurz; – Chinesische Gegenstände: Hut, Holzsandalen, Regenschirm aus Bambus, Pantoffeln, Bilder; von Japan: Regenschirm, Sonnenschirm, Bambusbüchse, Spiegelmetall; – von Java: Maultrommel, Flöte, Sandalen, Spielzeug, Bilder, Bambusbüchsen, Flaschen, Früchte, Körbe, Tigerschädel, Messer etc.; – von Borneo: Bogen und Pfeile, Köcher, Blasrohr, Halsschmuck, Lanzen, Schilde, Körbe, Schurz, Betelbüchse etc. – von Afrika: Guitarre, Kopfkissen, Messer, Tabaksbeutel, Schmuck etc. aus Aegypten, Schwert, Schild, Amulet, Lanze aus Abyssinien; – von den Polarmeeren (Behringsstraße): Walfischlanze, Walroßtau, Harpunen, Verschiedenes aus Walroßzahn, Lanzenspitzen, Bogen, Pfeile, Zobelpfeile, Ruder, Tabaksbeutel aus dem Fuß eines Albatroß etc.; – endlich aus Europa: Schneeschuhe aus Tirol und Hirschgeweihe aus dem Thüringer Walde.

Es bleibt uns nun nichts übrig, als ruhig abzuwarten, ob sich Angebote auf die ganze Sammlung finden. Wir nehmen derlei gern in Empfang zur Vermittelung an Gerstäcker’s Wittwe.




Für die Ueberschwemmten in Böhmen. Obwohl unser Blatt keinen directen Aufruf für die armen Unglücklichen in Böhmen erlassen hat, sind uns in Folge des Abdrucks des schönen Gedichtes: „Das Wasser kommt“ doch verschiedene Einsendungen zugegangen, über die wir hiermit dankend quittiren: N. N. in Hettstadt 2 Thlr.; Wiese in Stralsund 1 Thlr.; Unbenannt 10 fl.; aus Reichenbach i. V. 5 Thlr.; N. N. in Osnabrück 1 Thlr.; Concert des Arions in Greiz 26 Thlr. 20 Ngr.; durch Verloosen des Gedichts: „Das Wasser kommt“ von Paul Würsching in Nürnberg 2 Thlr.; aus Berlin 5 Thlr.; Günther Schönau in Hütten-Steinach 5 Thlr.; C. Stadtl in Nördlingen 2 fl. rh.; aus Erlangen 1 fl.; A. F. 1 Thlr.; Jeder nach Kräften 1 Thlr.; Unbekannt 1 Thlr.; A. R. in Weimar 10 Thlr.; Sammlung bei einer Hochzeit in Mutzschen 11 Thlr.; Redaction der Gartenlaube 20 Thlr.




Stein-Feier. Nachdem wir bereits früher (Jahrgang 1868, Nr. 42) zwei auf das Stein-Denkmal bezügliche Illustrationen veröffentlicht, das Denkmal selbst und die landschaftlichen Umgebungen desselben darstellend, führen wir heute, anknüpfend an die nunmehr stattgehabte Enthüllung des Denkmals, die bildliche Darstellung desselben unseren Lesern noch einmal vor. Die zur Stunde noch nicht eingegangene Schilderung der Enthüllungsfeierlichkeit folgt in der nächsten Nummer.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Auf S. 479 steht in der Vorlage C. Werber, auf S. 508 (Beginn des Schlussteils) heißt es aber E. Werber und auch die Erzählung Ein Meteor mit der Fußnote Verfasser von „Eine Leidenschaft“ im Jahrgang 1874 ist wieder mit E. Werber gezeichnet.