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Die Gartenlaube (1872)/Heft 37

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[597]

No. 37.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


(Fortsetzung.)


Karl Brandow ließ, während er im Schritt den holperigen Waldweg entlang ritt, die Zügel auf den Hals des Pferdes gleiten und nahm einen Brief aus der Tasche, welchen er vorgefunden, als er vor einer halben Stunde nach Hause kam:

„Werther Herr und Freund! Ich beeile mich, Ihnen mitzutheilen, daß, wie ich vorausgesehen und Ihnen vorausgesagt, gestern von dem Curatorium einstimmig beschlossen worden, den Termin auf keinen Fall abermals hinauszuschieben, im Gegentheil, Sie bei Ihrem mündlich und schriftlich abgegebenen Versprechen zu halten und die Zehntausend auf einmal an dem Verfalltage von Ihnen einzufordern. Es thut mir herzlich leid, nach den Confidenzen, die Sie mir gemacht, Ihnen das schreiben zu müssen; aber ich nehme mit Sicherheit an, daß Sie – erregbar wie Sie sind – Ihre Lage verzweifelter angesehen haben, als sie in Wirklichkeit ist. Auf alle Fälle, meine ich, ist es besser, Sie wissen, woran Sie sind, und können die acht Tage, welche Ihnen noch bleiben, dazu benutzen, neue Quellen zu entdecken, wenn die alten wirklich ganz und gar versiecht sein sollten.

Ich spreche, da ich zu der Zeit so wie so noch auf einige andere unserer Güter muß, am Fünfzehnten bei Ihnen vor, und kann, wenn es Ihnen recht ist, das Geld mitnehmen und Ihnen die Reise hierher ersparen. Vielleicht begleitet mich meine Frau, die sich sehr darauf freut, Dollan, von dessen romantischer Lage ich ihr so viel vorgeschwärmt habe, kennen zu lernen und ihre Freundinnen – Frau Wollnow in Prora und Ihre Frau Gemahlin – nach Jahren einmal wiederzusehen. Bedarf es noch eines stärkeren Beweises meiner Ueberzeugung, daß Sie der Mann sind, den Boten von seiner Botschaft zu trennen, und daß ich mich nennen darf wie immer Ihren und Ihrer liebenswürdigen Frau Gemahlin aufrichtig ergebenen

Bernhard Sellien.

P. S. Soeben erfahre ich etwas, was mich sehr interessirt und Sie vielleicht auch interessiren wird. Gotthold Weber, der ausgezeichnete Landschafter, dessen Bekanntschaft ich vor zwei Jahren in Italien machte, und mit dem Sie, wie Sie mir später gelegentlich einmal mittheilten, von der Schule her so befreundet sind, ist heute durch Sundin gekommen, um nach Prora zu gehen und sich dort und in der Umgegend längere Zeit aufzuhalten. Ohne Zweifel wird er Sie aufsuchen, oder vielleicht suchen Sie ihn auf. Er gehört zu den Leuten, die man gern findet, auch wenn man ihrethalben einen Umweg machen muß.“

Karl Brandow lachte höhnisch, indem er den Brief in die Tasche steckte und wieder nach dem Zügel griff.

„Ich glaube, der Teufel hat dabei sein Spiel. Seitdem ich weiß, daß der Mensch hierher kommen wird, verfolgt mich der Gedanke, daß er, just er, mich retten kann. Weshalb? vormeintlich, weil nur ein Narr sich dieser Mühe unterziehen würde, und er der größte ist, den ich je gekannt habe. Und während ich ihm heute Morgen an der Nase vorbeifahre, beeilt sich alle Welt, mir auf die Spur zu helfen, die er so sorgfältig vor mir zu verbergen sucht. Es war ja klar, daß der Mensch, der Jochen, heute Morgen und jetzt nicht sagen durfte, wo er war; aber – er gehört zu den Leuten, um deren willen man gern einen Umweg macht. Und welche reizende Ueberraschung es für sie sein wird, wenn ich ihn ihr bringe!“

Und abermals lachte der Reiter, aber es klang noch bitterer als das erste Mal, und er brach noch schneller ab, um die Unterlippe zwischen die Zähne zu klemmen, während er mit der Reitpeitsche auf ein paar allzuweit in den Weg vorspringende Zweige hieb.

„Wie sie blaß wurde, als der Pfaff’ mit der Nachricht herausplatzte! Sie wollte sich natürlich nichts merken lassen, natürlich! Nur schade, daß man doch Alles merkt, wenn man neun oder zehn Jahre lang das Vergnügen des täglichen Beisammenseins genossen hat! Und wie sie dreinschaute, als ich hernach so schnell aufbrach, als wisse sie, um was es sich handle! und wie stumm sie unterwegs war, trotzdem ich meine ganze Liebenswürdigkeit aufbot! Sie glaubt nicht mehr an meine Liebenswürdigkeit, ich auch nicht; aber ich habe sie so oft mit dem Menschen geärgert, da kann ich ihr ja auch einmal eine Freude mit ihm machen. Und wenn der blöde Schäfer, wie wohl möglich, mehr um ihretwillen als meinetwillen Versteckens spielt – nun, desto leichter wird man ihn an der Nase führen können, desto lustiger wird die Geschichte. Aber freilich, bevor ich meinen Musjö zappeln lassen kann, müßte ich ihn haben. Nun, wir werden ja gleich sehen.“

Und Karl Brandow schwang sich aus dem Sattel, befestigte den Zügel des Pferdes an einen Baumast und begann den schmalen Fußsteig durch den Wald nach dem Hünengrabe hinaufzusteigen.



[598]
9.


Gotthold arbeitete oben bereits seit einer halben Stunde mit dem Eifer des Landschafters, der seinen Gegenstand mit Wärme erfaßt hat und die Stunde ausbeuten muß, die so nicht wiederkommt. Prangten Himmel und Erde und Meer morgen, wenn die Sonne sich neigte, wieder in denselben tiefen Lichtern, fielen die Schatten von den Hügeln so kräftig in das Thal, in die Schluchten – er würde nicht wieder auf demselben Platze stehen, das Vergessene nachzuholen, das Angefangene zu vollenden.

So saß er denn auf einem der niedrigeren Steine des Hünengrabes, das Malbrett auf den Knieen, mit glühendem Künstlerauge die Schönheit des Ortes und der Stunde trinkend, mit emsiger Künstlerhand ein Abbild dieser Schönheit schaffend. Und die Farben auf der Palette mischten sich wie von selbst, und jeder Pinselstrich auf der kleinen Leinwand brachte das Abbild dem Urbild näher mit einer Schnelligkeit und Sicherheit, über die der Künstler selbst freudig erstaunt war. So hatte ihm nie eine Arbeit gefördert, so waren sich nie Absicht und Vollbringen liebend begegnet, so hatte ihn nie das Hochgefühl des Könnens beglückt.

„Und sollte denn doch der Traum, daß ich nur hier werden kann, was ich zu werden bestimmt bin, mehr als Traum gewesen sein?“ sprach er bei sich, „und soll sich auch an mir die tiefsinnige Weisheit der Antäusmythe bewähren? Aber freilich, wir sind ja Alle Erdensöhne; es ist nicht Schuld der Mutter, wenn wir uns von ihr loslösen, um nach fernen Sonnen zu streben, in deren unheimlicher Gluth uns dann gar schnell die wächsernen Flügel schmelzen. Ich war da unten ein solcher Ikarus.“

„Ja, ja,“ rief er laut, „Rom, Neapel, Syrakus, ihr Malerparadiese, was ist dies dürftige Stück Erde im Vergleich zu euch! und doch, mir ist es mehr, so viel mehr, es ist meine Heimath!“

„In der Dich ein alter Freund herzlich willkommen heißt,“ sagte eine helle Stimme hinter ihm.

Gotthold wandte sich erschrocken.

„Karl Brandow!“

Er stand da, die schlanke elastische Gestalt an den Block gelehnt, auf welchem heute Morgen die Schlange gelegen; und die runden harten Augen, deren stechender Blick fest auf ihn gerichtet war, erinnerte Gotthold an die starren Schlangenaugen.

„Freilich bin ich’s,“ sagte Karl Brandow, indem er näher trat mit einem Lächeln, das freundlich sein sollte und so kalt war wie die Hand, die er Gotthold jetzt entgegenstreckte und in die Jener zögernd die seine legte.

„Wie hast Du mich hier gefunden?“ fragte Gotthold.

„Ich bin ein alter Jäger,“ erwiderte Brandow und zeigte seine weißen Zähne. „So leicht entgeht mir nichts, noch dazu auf meinem eigenen Revier. Aber ich will nicht prahlen. Die Sache war in der That einfach genug. Einmal wußte ich schon seit ein paar Wochen, daß Du kommen würdest; sodann hörte ich heute Mittag bei Plüggen auf Plüggenhof – Otto Plüggen, der Stroh-Plüggen, weißt Du, zum Unterschied von seinem jüngeren Bruder Gustav, dem Heu-Plüggen, der Gransewitz bekommen – ich sage: von unserem neuen Pastor hörte ich, daß Du gestern Abend in Rammin gewesen und nach Prora gefahren seiest. Natürlich schickte Plüggen auf meine Bitte sofort seinen Wagen, um Dich nach Plüggenhof einzuladen; Du warst nicht mehr da, heute Morgen schon zu Fuß mit Jochen Prebrow nach Dollan aufgebrochen. Nun, es versteht sich wohl von selbst, daß es mich jetzt keine Minute länger in Plüggenhof litt, trotzdem wir uns eben erst zu Tisch gesetzt hatten, um Dich mit vollen Gläsern empfangen zu können. Ich habe meine beiden Blässen halb zu Schanden gefahren und meine arme Frau halb todt geängstigt, um Dir wenigstens unterwegs zu begegnen, im Falle Du grausam genug gewesen wärest, unsere Rückkehr nicht abwarten zu wollen. Wir kommen an; wir fragen nach Dir noch vom Wagen herab: es ist Niemand dagewesen! Meine Frau und ich sehen uns erschrocken an. ‚Da sitzt Einer oben auf dem Hünengrabe!‘ sagt Hinrich Scheel, mein Factotum, der jetzt an den Wagen tritt; ‚da habe ich ihn heute Mittag schon sitzen sehen.‘ – ‚Es ist nicht unmöglich,‘ sagt meine Frau; ‚er wird unterwegs erfahren haben, daß wir nicht zu Hause sind, und fleißig, wie er ist, die Zeit benutzen. Es war immer ein Lieblingsplatz von ihm.‘ – Ich sage gar nichts, sondern laufe mit dem Fernrohr auf die Giebelstube und sehe, was Hinrich trotz seiner Schielaugen ohne Fernrohr gesehen hatte; laufe wieder hinab, springe auf’s Pferd, und – da habe ich, den ich suchte. Es ist wunderschön, was Du da gemalt hast, wirklich ganz famos; aber nun die Geschichte zusammengepackt, wenn ich bitten darf! Morgen ist auch noch ein Tag und für heute ist es wahrlich genug und zu viel. Von Mittag bis jetzt, das hält auch nur ein Künstler aus. Wie wird sich meine Frau freuen!“

Karl Brandow hatte sich bereits Gotthold’s Reisetasche über die Schulter geworfen und griff jetzt nach dem Malkasten, in welchem dieser mittlerweile die Sachen geordnet.

„Einen Augenblick!“ sagte Gotthold.

„Du kannst mir Deine Schätze sicher anvertrauen.“

„Das ist es nicht.“

„Was denn?“

Gotthold zögerte; aber hier war keine Zeit für lange Ueberlegung.

„Dies ist es,“ sagte er. „Ich kann Deine Einladung, so freundlich dieselbe ausgesprochen ist und so ehrlich sie, ich will es glauben, gemeint ist, nicht annehmen.“

„Um Himmelswillen, weshalb nicht?“

„Weil ich damit ein Unrecht begehen würde gegen mich und in gewissem Sinne auch gegen Dich. Gegen mich: ich könnte nicht in Dollan, in Eurem Hause weilen, ohne bei jedem Schritt, in jedem Augenblick eine Beute der schmerzlichsten Erinnerungen zu sein; und wer ersparte sich nicht gern, wenn er es vermeiden kann, eine solche Prüfung! Gegen Dich: – es muß gesagt sein, Brandow! ich habe Dich stets für meinen Feind gehalten und meine Gesinnung gegen Dich ist keine freundliche gewesen bis zum heutigen Tage, bis zu dieser Stunde. Wer würde einen Mann in sein Haus laden, von dem er weiß, daß er ihm nicht freundlich gesinnt ist!“

„Ist es möglich?“ rief Brandow. „Der Strohkopf von Plüggen und der Pfaff’ sollten wirklich Recht gehabt haben, als sie sagten: ‚er kommt nicht!‘ ‚Er kommt,‘ sagte ich, ‚und wäre es auch nur, Euch zu beweisen, daß er der großmüthige Mensch geblieben ist, der er immer war!‘ Nein, Gotthold, so darfst Du mich nicht Lügen strafen, schon um der albernen Gesellen und ihres Gleichen nicht, die dann wieder eine prächtige Gelegenheit hätten, sich über den Karl Brandow lustig zu machen, der immer hoch hinaus will und dann mit einer langen Nase abziehen muß. Nun, es ist ja leider was daran: ich bin nicht mehr, der ich war, bin ein armer Teufel, habe lernen müssen bescheiden zu sein; aber diesmal will ich es nicht sein, diesmal nicht. Und nun, Deine Hand, alter Feind! so! eingeschlagen! ich kannte Dich doch besser, als Du Dich selbst.“

Sie begannen den Hügel hinabzugehen, Brandow, der es sich nicht nehmen ließ, Gotthold’s Sachen zu tragen, noch immer in seiner hastigen, sich manchmal überstürzenden Weise eifrig sprechend, Gotthold still und vergebens bemüht, die Betäubung abzuschütteln, die ihm das Hirn umnebelte und das Herz beklemmte; er hatte wahr, ganz wahr sein wollen; er war es nicht gewesen: er hatte das Letzte nicht gesagt, weil er es nicht sagen konnte, weil er als ein Thor, ein Geck erscheinen mußte, wenn er es sagte, und als ein roher Mensch, wenn er es nicht sagte, sondern einfach: ich will nicht. Aber war das nicht noch immer besser, als sie wiedersehen?

Gotthold stand still; er riß sich Rock und Weste auf; ihm war, als ob er ersticken müßte.

„Es ist verzweifelt schwül hier im Walde,“ sagte Karl Brandow. „Wir hätten es ja viel näher, wenn wir die andere Seite hinab und dann durchs Feld gegangen wären; aber wir müssen meines Fuchses wegen schon den Umweg machen. Da steht der Racker und schlägt sich vor Ungeduld die Hufeisen ab. So, nun wird er en avant!

Brandow hatte die Zügel über den Arm genommen, Gotthold einen Theil seiner Sachen ergriffen; so schritten sie schnell durch den Wald auf einem Querpfade, der sie bald hinaus auf das Feld brachte. In geringer Entfernung, nur noch durch ein paar Wiesen und durch eine mächtige Roggenbreite von ihnen getrennt, lag der Gutshof, zum Theil bereits im Schatten, den die Haidehügel zur Linken weit in das Thal hineinwarfen, während die Wipfel der höheren Bäume des Gartens und die Kuppen der mächtigen Pappeln, die den Hof auf den drei anderen [599] Seiten umrahmten, im Abendschein glühten. Das Fensterchen der Giebelstube schimmerte und blitzte in dem Scheine. Gotthold konnte den Blick kaum abwenden; er meinte, es müsse sich jeden Moment öffnen und sie in dem Rahmen erscheinen und ihm mit der weißen Hand drohen: nicht näher! um Gotteswillen nicht! Und dann war ihm wieder wie damals, wenn er mit Curt auf einen köstlichen Sonnabendnachmittag und wundervollen Sonntag herauskam und sie in der Ungeduld, an’s Ziel zu gelangen, die letzte Strecke im Laufe zurücklegten. Seine Erregung wuchs mit jedem Schritte; er hörte kaum noch, was sein Begleiter sagte.

Aber Karl Brandow sprach in diesem Augenblicke auch nur, um die Sorge, die ihn drückte, vor seinem Gaste zu verbergen. – Hätte er sie nicht doch lieber mit seinem Vorhaben bekannt machen sollen, auf die Gefahr hin, ihren Widerspruch herauszufordern, oder, schlimmer noch, ihr dadurch eine Freude zu bereiten? Hätte er nicht wenigstens die letzte Gelegenheit benutzen und sie durch Hinrich auf den Besuch vorbereiten müssen, anstatt dem Hinrich noch ausdrücklich Schweigen anzubefehlen? Oder würde der kluge Mensch wieder einmal, wie schon so oft, nach seinem Kopfe gehandelt und eine verfahrene Sache in das rechte Geleis gebracht haben? Und doch, was konnte geschehen, wenn er plötzlich mit ihm vor sie hintrat? Würde sie ihn, angesichts ihres Gastes, Lügen strafen? sagen, sie habe von nichts gewußt und ihr Mann habe die Unwahrheit gesprochen? Es war ja auch das bei ihr möglich; aber wehe ihr, wenn sie es that!

„Da wären wir!“ sagte Karl Brandow, als sie jetzt unter den alten Linden vor der Hausthür anlangten. „Willkommen auf Dollan! nochmals willkommen!“

Er hatte es sehr laut gesagt, halb in die offene Hausthür hinein, und rief jetzt mit der ganzen Kraft seiner helltönenden Stimme über den stillen Hof: „Hinrich, Fritz! – wo steckt denn das Volk?“

Aber im Hause regte sich nichts, und im Hofe zeigte sich Niemand.

„Das ist nun so am Sonntag nicht anders,“ sagte Brandow. „Da läuft Alles wild, und zumal, wenn der Herr vom Hause ist. Rike! Hinrich! Fritz!“

Ein halbwüchsiger Bursche in schmutziger rother Weste und in Stulpenstiefeln kam jetzt über den Hof gelaufen und in demselben Augenblicke trat auch eine junge Magd aus dem Hause. Brandow empfing Beide mit scheltenden Worten. Die Magd sagte schnippisch: sie sei bei der Frau gewesen, die das Kind gar nicht beruhigen könne, das immer noch über den Arm weine; und der Bursche brummte, indem er das Pferd am Zügel ergriff: er habe dem Hinrich bei dem Brownlock helfen müssen, der wohl die Kolik bekommen werde.

„Da schlage das Wetter d’rein!“ rief Brandow; „der verdammte Hinrich, das habe ich nun davon! Ich muß Dich einen Augenblick allein lassen, oder willst Du mitkommen?“

Brandow wartete Gotthold’s Antwort nicht ab, sondern eilte mit langen Schritten über den Hof. Er mußte wissen, was das mit dem Brownlock war. Und dann: Cäcilie hatte in der Kinderstube zu thun; sie würde sicher nicht sogleich erscheinen.

„Was ist es mit dem Kinde?“ fragte Gotthold.

„Sie ist gefallen, just als die Frau nach Hause kam, und hat sich ja wohl den Arm gebrochen,“ sagte das Mädchen, das den Fremden mit einem neugierigen Blick ihrer lüsternen grauen Augen gestreift hatte und jetzt wieder geschäftig in’s Haus eilte.




10.


Gotthold folgte ihr auf den Hausflur und in die Wohnstube linker Hand und wäre ihr gern in das Nebenzimmer gefolgt, aus welchem, als das Mädchen die Thür öffnete und wieder schloß, das Wimmern eines Kindes und die Stimme einer Frau ertönte, die dem Kinde zusprach. Es war ihre Stimme – etwas tiefer und sanfter, däuchte ihm, als damals; aber er hatte nur ein paar Laute vernommen vor dem Weinen des Kindes.

„Armes Kind,“ murmelte er, „armes Kind, wenn ich ihr helfen dürfte!“

Seine Hand streckte sich nach dem Griff der Thür, aber sank alsbald wieder herab. Wenn das Mädchen gesagt hatte, daß er da war, würde sie ja wohl für einen Moment heraustreten; auf jeden Fall mußte ja Karl bald zurückkommen.

Er stellte sich an das offene Fenster und sah über den leeren Hof nach dem Gebäude hinüber, in welches Brandow gegangen war. Wie konnte er nur so lange bleiben! Er wandte sich wieder in das Zimmer, in welchem es bereits zu dunkeln begann, und seine Blicke schweiften mechanisch über die Bilder und Möbel, von denen er manche noch zu kennen glaubte, während sein Ohr gespannt nach dem Nebenzimmer lauschte. Aber dort war es jetzt still geworden, ganz still, und in der Stille tickte die alte Schwarzwälderuhr so laut – er hatte sie vorhin nicht gehört –, der Abendwind flüsterte in den Linden vor dem Fenster, und dann hörte er wieder nichts, als das Sieden seines Blutes in den Schläfen.

War ein Unglück geschehen? war das Kind – er mußte Gewißheit haben.

Aber als er den Fuß hob, öffnete sich die Thür und Cäcilie trat herein. Das Mädchen hatte ihr nichts gesagt von dem Fremden; sie kam, ein Stück Leinwand aus dem Nähkorbe zu holen, der in dem einen der beiden Fenster stand. Der Schatten des breiten Spiegelpfeilers fiel dicht über Gotthold; sie sah ihn nicht, sie war, den Blick auf das hellere Fenster gerichtet, bis unmittelbar in seine Nähe gekommen, als sie plötzlich stehen blieb, erschrocken beide Hände zu der dunkeln Gestalt hebend. Das Abendlicht fiel in ihr blasses Gesicht, aus dem die großen dunkeln Augen seltsam gläsern stierten.

„Ich bin es, Cäcilie!“

„Gotthold!“

Er wußte nicht, daß er die Arme ausgebreitet; er hätte im nächsten Momente nicht mehr sagen können, ob sie wirklich an seiner Brust gelegen. Als er wieder zu sich kam, stand er an ihrer Seite neben dem Bettchen des Kindes.

„Das Mädchen hat mit Gretchen gespielt, kurz bevor wir zurückkamen – sie ist gefallen, den Arm unter sich; ich meinte, sie habe sich nur eben wehe gethan; aber es ist schlimmer und schlimmer geworden, sie kann den Arm nicht mehr bewegen und weint bei der leisesten Berührung; ich glaube, sie hat ihn gebrochen, hier über dem Gelenk.“

Gotthold hatte sich über das Kind gebeugt, das ihn groß, aber nicht ängstlich ansah. Er glaubte in Cäciliens Augen zu blicken.

„Bist Du ein neuer Doctor?“ sagte das Kind.

„Nein, Gretchen, ein Doctor bin ich nicht, aber wenn Du Mama recht lieb hast, so laß mich einmal an Deinen Arm fassen.“

„Er thut so weh,“ sagte Gretchen.

„Es soll gar nicht lange dauern.“

Gotthold nahm den kleinen Arm und bewegte ihn im Schultergelenk und im Ellenbogen – das Kind ließ es ruhig geschehen; dann glitt er vorsichtig an dem untern Arme herab bis zum Knöchel und bog ein wenig das Handgelenk. Das Kind wimmerte leise, Gotthold legte das Aermchen auf die Decke und richtete sich empor.

„Ich glaube mit voller Bestimmtheit versichern zu können, daß der Arm nicht gebrochen ist, es ist weiter nichts als eine starke Zerrung der Sehnen. Ich möchte einen einfachen Verband anlegen, der Gretchen von ihren Schmerzen befreien wird, da er sie verhindert, das Gelenk zu bewegen. Das wird ausreichen, bis der Doctor kommt. Darf ich?“

Er hatte leise gesprochen; aber das Kind hatte es doch gehört.

„Erlaube es ihm doch, Mama,“ sagte es; „ich habe den neuen Doctor viel lieber als den alten.“

Ueber Cäciliens bleiche Wangen rannen ein paar große Thränen, auch Gotthold’s Augen wurden heiß. Er fragte, ob wohl eine Binde, die er beschrieb, vorhanden sei; es war eine da, ganz wie er sie brauchte. Während er sie zusammenrollte, sagte er:

„Es ist doch gut, daß ich während meiner Studienjahre im Interesse meiner Kunst und aus wirklicher Liebe zur Sache fleißig anatomische und andere medicinische Collegia besuchte. Ich habe schon ein paar Mal mit meinem bischen Wissen helfen können, wo keine andere Hülfe zur Hand war und der Fall ein wenig schlimmer lag, als diesmal. Ich wiederhole: es ist auch nicht die Spur einer wirklichen Gefahr vorhanden und ich würde, wenn es sein müßte, ohne mich zu besinnen, die Verantwortung übernehmen.“

[600] „Ich vertraue Ihnen vollkommen.“

Gotthold’s Lippen zuckten. Sie hatten sich vom ersten Augenblick bis zum letzten „Du“ genannt; er hatte sie nicht anders genannt im Wachen und im Traume während dieser zehn Jahre!

Der Verband war angelegt, zu Gotthold’s Zufriedenheit. Gretchen, vom Weinen müde und jetzt ganz ohne Schmerzen, hatte das Köpfchen auf die Seite geneigt und schien einschlafen zu wollen. Gotthold ging aus dem Gemach zurück in das Wohnzimmer. Und während er hier in dem dämmerigen Raume nach dem Hute tappte, bemächtigte sich seiner die wunderlichste Empfindung.

Er hatte nicht eigentlich vergessen, daß er Brandow aufsuchen und ihm von dem Zustande des Kindes Nachricht bringen wollte; aber es war ihm, als ob er damit etwas ganz Unnöthiges, ja Unschickliches vorhabe; als gehe das Kind Karl Brandow so wenig an, wie ihn selbst Karl Brandow’s Pferd; als habe über das Kind nur er und Cäcilie zu entscheiden, und als sei dies Alles nicht seit einer Viertelstunde, sondern immer so gewesen und könne auch niemals anders sein.

Er war, in dieser seltsamen Verwirrung befangen, regungslos stehen geblieben und kam erst wieder zu sich, als Cäcilie jetzt schnell und leise hereintrat und, ihm beide Hände entgegenstreckend, schnell und leise sagte:

„Ich danke Dir, Gotthold! und – ich habe es wohl bemerkt, daß es Dich gekränkt hat; das Mädchen sah uns so verwundert an, sie erzählt Alles wieder, und es muß ja auch sein, aber einmal – zum letzten Mal wollte ich noch in der alten Weise zu Dir sprechen, da Du nun einmal hier bist.“

„Das klingt, Cäcilie, als hättest Du nicht gewünscht, daß ich käme?“

Sie hatte ihm nun doch die Hände, die er bis jetzt festgehalten, entzogen und sich am Fenster in den Stuhl geworfen, den Kopf in die Hand gestützt. Er trat zu ihr.

„Cäcilie, Du hast nicht gewünscht, daß ich käme?“

„Doch, doch!“ murmelte sie, „ich habe sehr, sehr gewünscht, Dich wiederzusehen – seit Jahren – immer; aber Du hättest nicht kommen sollen, nein, nicht kommen sollen!“

„So gehe ich wieder, Cäcilie!“

„Nein, nein!“ rief sie, schnell den Kopf emporrichtend, „so meine ich es nicht. Du bist ja da – es ist ja geschehen. Und nun kannst Du bleiben – nun mußt Du bleiben, bis –“

Sie schwieg plötzlich; Gotthold, der ihrem Blick durch das offne Fenster folgte, sah im Hintergrund des Hofes Karl Brandow, der mit Hinrich Scheel sprach und jetzt eilig auf das Haus zukam.

„Er ist schon zurück,“ murmelte sie, „was willst Du ihm sagen?“

„Ich verstehe Dich nicht, Cäcilie!“

„Er haßt Dich!“

„Dann weiß ich nicht, weshalb er mich aufgesucht und mich so dringend in sein Haus geladen hat, das ich wahrlich nie zu betreten die Absicht hatte.“

„Er Dich aufgesucht – Dich eingeladen – das ist unmöglich!“

„Dann hätte er mich – dann hätte er uns – aber das ist nicht minder unmöglich.“

Sie sah ihn mit starren Augen an.

„Unmöglich!“ sagte sie, „unmöglich!“

Ein wirres, unheimliches Lächeln flog über ihr bleiches Gesicht.

„Dann kann es ja bleiben, wie es war,“ sagte sie, „dann ist es ja nur in der Ordnung.“

„Holla!“ rief Brandow, der die Beiden am Fenster gesehen hatte, und er beschleunigte noch seine raschen Schritte, indem er eifrig mit der Hand winkte.

Er trat alsbald ins Zimmer, noch in der Thür rufend: „Nun, da hast Du sie ja schon gefunden. Das heißt eine Ueberraschung, wie? was bekomme ich dafür? Ja, schlau muß man sein! kein Wort zu der Frau gesagt, die denn doch nur alle möglichen gutgemeinten Einwendungen macht, von alter Feindschaft und anderen längst vergessenen Kindereien; und dem Freunde gesagt: sie steht auf Kohlen, bis ich Dich bringe. So fängt man seine Vögel!“

Und er lachte laut.

„Du wirst Gretchen aufwecken,“ sagte Cäcilie.

„Ja, was ist es denn mit ihr?“ fragte Brandow, seine Stimme senkend. „Hoffentlich nichts, wie mit dem Brownlock, blinder Lärm, oder – wo willst Du hin, Cäcilie?“

Sie war aufgestanden und in die Schlafstube gegangen, deren Thür sie hinter sich zuzog. Gotthold theilte Karl mit, wie er das Kind gefunden und was er für den Augenblick gethan habe.

„Aber da wollen wir doch gleich nach dem Doctor schicken,“ sagte Brandow.

„Ich halte es nicht für unbedingt nöthig,“ erwiderte Gotthold, „aber wenn Du im mindesten ängstlich bist –“

„Ich ängstlich? Gott soll mich bewahren! es wäre das erste Mal in meinem Leben. Ich überlasse das ganz meiner Frau, die, wenn es sich um das Kind handelt – ach, da bist Du ja! Gotthold sagt, wir brauchen nicht zu Lauterbach zu schicken, und es würde auch schwerlich etwas helfen, er ist des Sonntags nie zu finden. Ueberdies muß ich morgen früh hineinfahren, da kann ich ihn denn gleich mitbringen. Meint Ihr nicht?“

„Willst Du Dir Gretchen noch einmal ansehen?“ sagte Cäcilie.

Sie hatte es, ohne ihren Gatten anzublicken, zu Gotthold gesagt, der ihr folgte und die Thür hinter sich aufließ, in der Erwartung, daß Brandow mit ihnen gehen würde; aber Brandow war auf halbem Wege stehen geblieben. Die Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt, blickte er durch die offne Thür auf die Beiden, die sich jetzt zu gleicher Zeit von beiden Seiten über das freistehende Bettchen des Kindes beugten, so daß ihre Gesichter in dem Halbdunkel sich zu berühren schienen. Flüsterten sie nicht etwas? ‚er hat uns belogen,‘ oder dergleichen? Nein, es war die Rike, die etwas gesagt hatte. „Die Dirne soll mir gut aufpassen. Vorläufig ist Alles besser abgelaufen, als ich denken konnte.“

Und er ging langsam in das Schlafgemach; auf der Schwelle, die er lange nicht überschritten, unwillkürlich einen Moment zögernd und dann zusammenzuckend vor einem bläulichen Licht, das plötzlich den fast dunklen Raum erfüllte. Aber es war nichts – nur der erste Blitz eines Gewitters, das der heiße Tag heraufbeschworen. Ein ferner Donner grollte hinterdrein, die Bäume im Garten schüttelten sich und einzelne schwere Tropfen tickten an die Fensterscheiben.

Das schwere Gewitter hatte längst ausgerast und die Nacht war schon weit vorgerückt, als Gotthold, leise auftretend und das Licht sorgsam mit der Hand schützend, über den weiten bodenartigen und mit allerlei Sachen angefüllten oberen Raum des einstöckigen Hauses nach der Giebelstube schritt, die ihm zum Schlafraum bestimmt war. Brandow, mit dem er unten in dem Zimmer rechts vom Flure, das von jeher das des Hausherrn gewesen, so lange bei der Flasche gesessen, hatte ihn begleiten wollen; aber er hatte es abgelehnt: er werde den Weg noch von altersher zu finden wissen, und vier Männerstiefel machten mehr Geräusch als zwei, und oben, erinnere er sich, hallten die Tritte in der Nacht unheimlich laut. „Na, dann geh’ allein, Du für alle Welt Besorgter,“ hatte Brandow lachend gesagt, „und hörst Du, verschlafe mir den Gedanken, morgen wieder abzureisen; daraus wird ein für alle Mal nichts. Dem Jochen Prebrow sage ich Bescheid, wenn ich morgen früh an der Schmiede vorüberkomme; der Kerl kann sich auch zu meinem Fritz auf den Bock setzen, und Deine Sachen bringe ich Dir aus dem Fürstenhof mit. Unter acht Tagen lasse ich Dich nicht wieder fort, und wenn es nach mir ginge, bliebest Du immer hier. Aber Du wirst Dich wohl hüten; für einen Weltmann, wie Du, wäre ein solches Leben unerträglich. Nun, ich habe Dir heute schon mehr, als schicklich ist, vorgeklagt; aber einem Manne Deines Schlages gegenüber wird man zu schmerzlich daran erinnert, was vielleicht selbst aus unser Einem hätte werden können und was nun schließlich geworden ist. Gute Nacht, alter Kerl, laß Dir was Angenehmes träumen!“

Und da stand nun Gotthold in der alten trauten Giebelstube am offenen Fenster. Aber wie gierig er auch die Nachtluft einsog, die feucht und kühl durch die noch vom Gewitterregen tropfenden Bäume strich, es wollte ihm nicht leichter um’s Herz werden, das dumpf und schwer in der keuchenden Brust schlug,

[601]

Gerstäcker’s Arbeitszimmer.
Originalzeichnung von Herbert König.

[602] wie einem Schlafenden, dem ein beängstigender Traum das Hirn umnebelt. War denn dies Alles nicht wie ein toller Traum, daß er in Dollan auf der Giebelstube stand und in den matten Lichtschimmer starrte, der aus dem Fenster gerade unter ihm auf die dunklen Büsche fiel? aus dem Fenster der Stube, in der sie einst als Mädchen geschlafen und in der sie jetzt an dem Bettchen ihres Kindes wachte, ihres und seines –

Gotthold sank an dem Fenster auf einen Sessel und preßte die heiße Stirn in die Hände.

Ein Windstoß, der durch die raschelnden Bäume sauste, weckte ihn aus seinem schmerzlichen Brüten. Er richtete sich schauernd in die Höhe. Seine Glieder flogen wie im Fieber. Er schloß das Fenster und warf sich im Dunkeln – das Licht, das er mitgebracht, war längst erloschen – auf das Bett. Es war dasselbe noch, in welchem er als Knabe und Jüngling so oft geschlafen, und es stand noch auf demselben Platz. Er hatte es, als er vorhin in das Zimmer trat, wohl bemerkt. Jetzt dachte er wieder daran und daß, wie er zum letzten Mal hier gelegen – vor zehn Jahren in der Morgenfrühe der Nacht, deren erste Hälfte er im Strandhause bei Vetter Boslaf zugebracht, und ein paar Stunden später, wenn sie unten wach waren, wollte er hinabgehen und Lebewohl sagen – für immer – ja, da hatte er auch seine brennende Stirn hierhin und dorthin gewandt auf dem Kissen und hatte keine Ruhe finden können.

„Nach so langem Umherschweifen in der weiten Welt zurückgewirbelt zu derselben Stelle, in dieselbe enge Kammer, derselbe, der ich damals war! Nein, nicht derselbe! ärmer, so viel ärmer!

Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
War die Welt mir voll so sehr,
Als ich wieder kam, als ich wieder kam,
War Alles leer!

Leer, Alles leer!“ murmelte er, als ob er mit den brennenden überwachten Augen die trostlosen Worte abläse von der weißen Wand ihm gegenüber, auf deren leerer Fläche mit dem Dunkel der Nacht das erste Grauen des Morgens unheimlich spielte.


(Fortsetzung folgt.)




Die deutsche Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung.


Wer erinnerte sich nicht der Geschichte jenes Scipio, der auf den Trümmern Carthagos weinend der Zukunft des eignen römischen Vaterlands gedachte? Und wahrlich! der Held hatte Recht mit dieser Wehmuth. Sie stammte aus der richtigen Erkenntniß, daß keine Macht groß genug ist, eine einmal errungene Stufe länger zu behaupten, als die innere Tüchtigkeit dauert, die sie dorthin erhoben.

Betrachtungen solcher Art drängten sich denkenden deutschen Vaterlandsfreunden auf, als das napoleonische Kaiserthum durch den Schlag von Sedan plötzlich zerschmettert und durch den Pariser Straßenauflauf vom 4. September spurlos hinweggeblasen worden war. Wo war jetzt das Urtheil jener sieben Millionen Stimmen, die dasselbe noch vor Kurzem bejaht hatten? Mußte man sich nicht sagen: was ist das Urtheil der Menge, wenn nicht jedem Einzelnen in ihr gesunder Menschenverstand und Einsicht innewohnt? Und ferner: war nicht an dem Tage, wo Deutschland jener frevelhafte Krieg erklärt worden war, durch die Verkündigung der Unfehlbarkeitslehre ein gleich frevelhafter Angriff vom römischen Papste gegen die menschliche Vernunft gemacht worden? Und wie hatte hierauf das Urtheil der großen Menge in Deutschland gelautet? Mit Ehrfurcht und Unterwerfung hatte die Masse der katholischen Priester und Laien diese Verkündigung hingenommen, und als sie zu den politischen Wahlen gerufen wurden, sandten sie eine verstärkte Anzahl der Anhänger dieser geschichts- und vernunftwidrigen Lehre in den preußischen Landtag und in den deutschen Reichstag! Andererseits predigte die Geschichte dieses Krieges laut, wie auch die der jüngst vergangenen Zeit, daß der Erfolg der Waffen wesentlich von der geistigen und sittlichen Bildung der Gesammtheit des Volkes abhängt, das sie führt.

So wandte sich der Blick jener Vaterlandsfreunde, ungeblendet durch die gleichzeitigen glänzenden Siege, schon damals den heimischen Bildungszuständen zu. Wie viel war da zu thun, wie wenig Grund zur Ueberhebung war da vorhanden! In Preußen Herr v. Mühler und um ihn die Wiese, Stiehl, Bormann etc., alle dauerhaft wie er und in der Wolle gefärbt, das höhere Schulwesen verknöchert, die Volksschule im Unkraute der Regulative erstickt, die Lehrerbildung in jesuitisch geleitete Seminarien verwiesen, viele Tausende von Lehrerstellen unbesetzt, noch mehr Tausende, wo die bittere Noth aus allen Ecken schrie, die aus freier Strebekraft des Volkes entstandenen Bildungsvereine endlich mit wenigen Ausnahmen verkümmert und oft genug von einer beschränkten Bureaukratie gehudelt, geächtet und ihrer meist abhängigen Lehrkräfte durch Einschüchterung beraubt. Und wie sah es ferner in Altbaiern, Mecklenburg und einigen anderen Mittel- und Kleinstaaten aus! Hieß es nicht die Früchte der herrlichen, kostbar erkauften Siege schon jetzt verkümmern lassen, wenn hier nicht Abhülfe geschafft wurde?

Dazu kommen die Umtriebe verschiedener socialdemokratischer Parteien, die offen den blutigsten Classenhaß auf ihre Fahnen geschrieben hatten und die Tausende von urtheilslosen Arbeitern zu Spielbällen in der Hand ehrgeiziger und zum großen Theil arbeitsscheuer Agitatoren machten.

Den Siegern über den äußern Feind stand also im Innern ein viel mächtigerer und schwerer zu überwindender Feind gegenüber: die Unwissenheit, ja man durfte stellenweise sagen: die geistige Umnachtung der Massen. Auf diese gestützt, schürten die clericalen und socialdemokratischen Volksverführer einen Haß, der ihnen zur Vernichtung der gesammten modernen Cultur, der Wissenschaft, des Rechtes und des Besitzes verhelfen sollte, um auf ihren Trümmern die alleinige Despotie der Kirche oder die große Maschine des Wirthschaftsstaates zu errichten.

Was helfen gegen den Fanatismus Bajonnete! Aufklärung, Belehrung, dauernde geistige Entwickelung that hier Noth. Da lenkten sich die Blicke einiger rheinischer Männer auf das Volksbildungswesen. In einer Leipziger Wochenschrift erschien im Januar 1871 ein Aufsatz über „den gegenwärtigen Zustand des freiwilligen Bildungswesens in Deutschland“. Er legte die falsche Politik, welche Behörden und Regierungen besonders in Preußen gegen die Bildungsvereine bisher verfolgt hatten, in ihrer Thorheit und Verderblichkeit bloß und deutete die ersten Grundzüge zu einer Reform der freien Volksbildungspflege an. Während sich um die hier aufgestellten Grundzüge eine Anzahl von Männern sammelte, traten in Paris die Schrecken der Commune ein und zeigten die chaotische Auflösung einer Gesellschaft, die völlig vergessen hatte, daß der Mensch nicht vom Brode allein lebt.

Vom Rhein her wurde die Bewegung für das Volksbildungswesen nach Berlin getragen. Ein von hier aus im März verbreiteter Aufruf sprach den Satz aus: „Seit der Einführung des allgemeinen und directen Stimmrechts ist die Freiheitsfrage zu einer Frage der Bildung der Massen geworden.“ Dieser Aufruf forderte mit besonders dringender Mahnung an die großen Arbeitgeber und die Besitzenden überhaupt zur Bildung einer „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“ auf, die sich folgende Ziele stecken sollte: 1) Gründung von Bildungsvereinen in allen städtischen und ländlichen Orten, die deren noch nicht besitzen; 2) Herstellung einer Verbindung zwischen den bereits bestehenden Vereinen dieser Art; 3) Gründung eines Blattes, welches ausschließlich den Interessen des freiwilligen Bildungswesens gewidmet ist; 4) Aussendung von Wanderlehrern; 5) Abfassung und Verbreitung guter Volksschriften. Die Unterzeichner, unter denen sich Brehm, Franz Duncker, v. Holtzendorff, Friedrich Kapp, Julius Knorr, Löwe, E. Rittershaus, Schulze-Delitzsch, Ed. Pfeiffer u. a. m. befanden, gehörten allen Schattirungen des freisinnigen Deutschlands an.

Bezeichnend ist, daß die kirchlichen und conservativen Parteien gegen diese auf Hebung der Volksbildung gerichtete Bewegung von Anfang an eine feindselige Stellung einnahmen. Die „Nordd. Allg. Zeitung“ verhöhnte geradezu in einem ihrer Leitartikel das [603] von den obengenannten Männern aufgestellte und unterzeichnete Programm. Dieser Umstand hinderte indessen nicht, daß dasselbe in ganz Deutschland einen begeisterten Widerhall fand, auch die „Deutschen Blätter“ begrüßten es als „eine frohe Botschaft zu Pfingsten“ und mitten unter den Vorbereitungen zu der glänzenden Siegesheimkehr fand zu Berlin am 14. Juni die constituirende Generalversammlung statt. Diese berief Schulze-Delitzsch, den Vater des deutschen Genossenschaftswesens, an die Spitze der Gesellschaft: gewiß eine sehr glückliche Wahl, da offenbar gerade dieser wie Wenige kampf- und schafferüstige Mann in der Neuzeit mehr als alle Regierungen, Philosophen und Staatsmänner zusammen für die praktische Lösung der socialen Frage gethan hat.

Im Sommer 1871 breitete die Bewegung sich weiter über Deutschland aus. Während Schulze-Delitzsch auf dem Nürnberger Verbandstage die deutschen Genossenschaften für sie gewann, trug Dr. Max Hirsch dieselbe in die Kreise der deutschen Gewerkvereine und führte letztere dadurch in eine Bahn edelsten Strebens, welche ihre englischen Vorbilder niemals gekannt hatten, mit welchen sie Unwissenheit und Böswilligkeit noch allzuhäufig unterschiedslos zusammenwirft. Dem Verfasser dieses Abrisses wird stets unvergeßlich bleiben, mit welcher Begeisterung die Vertreter der deutschen Gewerkvereine auf ihrem ersten Verbandstage im Herbst 1871 zu Berlin seine Aufforderung zum Beitritt zur „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“ aufnahmen. Hätten doch allerwärts die deutschen Fabrikanten und Kaufleute denselben Eifer für die Sache der Volksbildung bewiesen, wieviel nachdrücklicher würde dann heute schon die Gesellschaft den Kampf gegen den Aberglauben, die Denkfaulheit und die systematische Verdummungssucht führen können!

Die erste ordentliche Generalversammlung, welche am 28. und 29. October zu Berlin gehalten wurde, versammelte bereits Vertreter von Zweigvereinen aus dem Norden und Süden Deutschlands auf dem classischen Boden des großen Berliner Gewerkvereins, wo bei dieser Gelegenheit Dr. Löwe in ergreifender Rede die „Bedeutung der Gesellschaft für die nationale Entwickelung“ beleuchtete. Nachdem auf dieser Versammlung das Statut der Gesellschaft seinen Abschluß erhalten hatte und die Wahl des Centralausschusses vollzogen worden war, trat die Gesellschaft in regelmäßige Thätigkeit. So groß und erfreulich, so kräftig und hoffnungsreich diese auch ist, so würde es sich schlecht für den mitten Darinstehenden ziemen, davon breit oder mit Ruhmredigkeit zu sprechen. Nehmen Sie also mit folgenden knappen sachlichen Andeutungen hier vorlieb.

Das Organ der Gesellschaft und der mit ihr in Verbindung stehenden Vereine, „der Bildungsverein“, begleitet rathend und organisirend die Entwickelung des gesammten freien Fortbildungswesens; ihre Commissionen beschäftigen sich mit den einzelnen Zweigen desselben: den Fortbildungsanstalten, den Volksbibliotheken (durch Herstellung eines Musterkatalogs), den Wanderlehrern, die trotz des Widerstands der Jesuiten bereits am ganzen Rhein und in der Mark Brandenburg thätig sind, und mit der Herausgabe eines Kalenders für 1873. Ihre Zweigvereine in Frankfurt am Main und Hamburg haben diesen Winter bereits öffentliche Vorlesungen veranstaltet; in Bonn und Würzburg sind unter der Führung der Universitätsprofessoren Volksbildungsvereine entstanden, ebenso in München, Biebrich, Schleiz, Luckau und anderen Orten.

In anderen Städten sind durch die Einwirkung der Gesellschaft Fortbildungsanstalten gegründet worden, zum Beispiel in Gießen, Biebrich etc. Außer den Vorträgen der Wanderlehrer, von denen sich Herr Julius Schulze am Mittelrhein besonders auszeichnete, wurden durch Mitglieder des Ausschusses (Schulze-Delitzsch, Franz Duncker, Friedr. Kapp u. A.) auswärts Vorträge gehalten und am 19. Februar in Berlin ein besonderer Cyklus eröffnet, der bestimmt ist, für die Absichten der Gesellschaft in den gebildeten und besitzenden Kreisen Berlins noch größere Theilnahme zu wecken. Ferner verbreitet die Gesellschaft gute Volksschriften zu billigen Preisen, zum Beispiel den Arbeiterkatechismus zu neun Pfennigen, andere giebt sie unentgeltlich aus, alle deutschen Werke aber liefert sie zur Unterstützung der Volksbibliotheken unter dem Ladenpreise und bei größeren Bestellungen außerdem franco. Es würde zu weit führen, wollten wir hier in alle einzelne Zweige ihrer nützlichen Thätigkeit eingehen; kurz, hier ist eine Vereinigung geschaffen, in die Niemand einzutreten versäumen sollte, dem die Ausbreitung der Aufklärung, der Bildung und der gesetzlichen Freiheit am Herzen liegt. Unter den Namen der Ausschußmitglieder begegnen wir den hervorragendsten Vertretern auf allen Gebieten des geistigen und gewerblichen Lebens. Den Vorstand bilden die Herren: Schulze-Delitzsch (als Vorsitzender), Reichstagsabgeordneter Miquél und Rechtsanwalt Makower (als Stellvertreter), Franz Duncker (als Schatzmeister), und Dr. Franz Leibing (als Secretär). Das Bureau der Gesellschaft befindet sich Köthener Straße Nr. 39, Berlin, wo Anmeldungen entgegengenommen und Programme, Auskunft etc. ertheilt werden.

Mit ihrer zweiten ordentlichen Generalversammlung, die in den Tagen vom 6. bis 8. Juli dieses Jahres in Darmstadt abgehalten wurde, pflanzte die Gesellschaft ihr Banner in Süddeutschland auf, wo ihr bereits wackere Freunde den Boden bereitet hatten. Hierher zählen namentlich die Leiter der Vereine zu Frankfurt, Darmstadt, Würzburg und einzelne tüchtige Männer der Rheinpfalz. Es war ein Zeichen der Zeit und fürwahr ein höchst erfreuliches, daß sich wohl zum ersten Male in Deutschland eine große Anzahl von Männern, denen man sonst nur auf politischem und socialem Gebiete begegnete, hier auf dem Felde der Volkserziehung zusammenfand und mit Fachmännern, die vom Volksschul- bis zum Hochschullehrer vertreten waren, in Berathung trat. Für das Großherzogthum Hessen-Darmstadt aber konnte es als gute Vorbedeutung gelten, daß der Protector des Darmstädter Zweigvereins, Erbprinz Ludwig, Gemahl der geistvollen und aufgeklärten Prinzeß Alice, mit mehreren Ministern von Anfang bis zu Ende an den Verhandlungen thätigen Antheil nahm. Das Ergebniß derselben waren drei wichtige Beschlüsse: erstens die Einführung methodischen Zeichenunterrichts in die Volksschule zur Hebung des deutschen Kunstgewerbes; zweitens die Herstellung von Volksbibliotheken in Stadt und Land, und drittens endlich die Einrichtung von Gemeinde-Fortbildungsschulen mit obligatorischem Besuch. Namentlich mit letzterem Gegenstande wird ein Culturfortschritt angebahnt, der nur mit dem allgemeinen Schulzwange verglichen werden kann, dessen Segnungen heut zu Tage in allen Ländern und von allen Parteien mit Ausnahme der pfäffischen Finsterlinge, anerkannt werden. Es ist deshalb die Absicht der Gesellschaft, schon in der nächsten Session des preußischen Landtags und des deutschen Reichstags dafür Sorge zu tragen, daß der „Gemeinde-Fortbildungsschule mit obligatorischem Besuch“ ein gesetzlicher Boden und derselbe Staatszuschuß verliehen werde, welchen in Preußen bis jetzt allein die Provinz Hannover genießt.

Man klagt so oft über die Versumpfung des geistigen Lebens in kleineren Orten. Wohlan denn, schließt euch dieser mächtigen, frischen, gesunden geistigen Bewegung an! Legt aber vorher euren engherzigen Kastengeist und Standeshochmuth ab. Gründet Vereine, in denen sich Alles zusammenfinde, was Sinn für geistige Interessen besitzt, der Vortheil wird bei Gelehrten und Ungelehrten, bei Reich und Arm gleich groß sein, Alle werden geben, Alle empfangen und Alle sich fortbilden. Glaube doch Keiner, er habe das nicht mehr nöthig, er könne das in solchen Kreisen nicht! Hier lernt selbst der Gelehrte erst wahrhaft seine Wissenschaft beherrschen, bringt sie sich selbst erst zur höchsten Klarheit, wenn er sie, ohne etwas Anderes als gesunden Menschenverstand voraussetzen zu dürfen, in unseren Volksbildungsvereinen vortragen soll. Und welche geistige Gymnastik liegt in den dann folgenden Discussionen! Eine Stadt ohne Bildungsverein, an den sich Vorträge, Lesecirkel, geschichtliche, technische und naturwissenschaftliche Sammlungen, gewerbliche Ausstellungen, Bibliotheken, Sängerchöre und gemeinsame Ausflüge anschließen, muß bald eine so unerhörte Erscheinung werden, wie ein Dorf ohne Schule. Und wollt ihr wissen, wie man dies zu Wege bringt, so fragt bei der Gesellschaft an, sie wird euch bereitwillig mit Rath und That beistehen.

Franz Leibing.




[604]
Eine Schwindel-Industrie.


Vor einigen Monaten wurde mir in einer Familie, mit der ich schon seit Jahren eng befreundet bin, ein älterer, vielleicht fünfzig Jahre zählender Herr vorgestellt, der, angeblich ein Amerikaner von Geburt, seit einigen Wochen erst in der Schweiz lebte und sich auf drei oder vier Monate zu seiner Erholung aufzuhalten gedachte. Man hatte die Bekanntschaft dieses der Familie wie mir früher gänzlich unbekannten Gastes bei einer kleinen Vergnügungsreise gemacht, wo er sich der Gesellschaft anfänglich gesprächsweise genähert und schließlich die Bitte geäußert, Theilnehmer an der Partie sein zu dürfen. In einer Gegend, die im Sommer von Reisenden förmlich überfluthet ist, hat ein solcher Wunsch nichts Außergewöhnliches an sich, und man war hier um so bereitwilliger darauf eingegangen, da der Fremde nach seiner Aussage völlig unbekannt mit Land und Leuten war und sich in seinem ganzen Benehmen als ein Mann von Bildung gezeigt hatte. Während der Reise hatte ihn die Familie außerdem noch als sehr unterhaltend und erfahren kennen gelernt und schließlich eben eingeladen, sie doch recht bald einmal mit seinem Besuche zu erfreuen. Da er nun in der gleichen Stadt wohnte und wegen Mangel an Freunden oder Bekannten jedenfalls sehr an Langeweile litt, machte er schon am nächsten Tage seine Aufwartung, bei welcher Gelegenheit auch ich denn, wie oben erwähnt, ihn sah.

Seiner Kleidung, wie überhaupt seinem ganzen Aeußeren nach, hätte man den Fremden für einen in sehr bescheidenen Verhältnissen lebenden Mann halten können, und doch mußte dem nicht so sein. Er logirte nicht allein in dem größten Gasthause der Stadt, sondern besuchte auch ausnahmsweise nur die feineren Vergnügungslocale, miethete sich fast täglich ein Reitpferd und rauchte Cigarren, wie sie wohl nur in den größeren Tabaksläden zu hohen Preisen zu haben sind. In seinem Auftreten war er die Artigkeit und Zuvorkommenheit selbst (Tugenden, die bei dem echten Amerikaner selten zu treffen sind!) und verstand es auch, durch die Entfaltung seiner großen Unterhaltungsgabe sich so recht zum Mittelpunkt einer Gesellschaft zu machen und dadurch das zehnfach wieder zu ersetzen, was ihm an Eleganz der Erscheinung und sonstigen äußeren Reizen abging. Als schön hatte er wohl niemals gegolten und war es jetzt erst recht nicht. Der ziemlich große, fast kugelrunde und sehr spärlich mit röthlich-blondem Haare besetzte Kopf, das aufgedunsene, pfäffisch kahle Gesicht, in welchem die Augenbrauen sich nur mit Mühe erkennen ließen und um das sich ein sogenannter Schusterbart von einem Ohre hinab, unter dem Kinn fort, bis zum anderen Ohre hinauf zog, hätten wohl schwerlich eine Sympathie für ihn erweckt, wenn nicht jene anderen Vorzüge vermittelnd hinzugekommen wären.

Da ich ihn bei meinen zeitweiligen Besuchen wiederholt antraf, bot sich auch mir Gelegenheit ihn näher kennen zu lernen und nach und nach einige Einblicke in sein Wesen und seine Verhältnisse zu thun. Er war gesprächig, erzählte vorzugsweise sehr gern von den Zuständen in seiner Heimath, und Alles, was man von ihm hörte, trug offenbar den Stempel der Glaubwürdigkeit und Wahrheit. Er übertrieb und prahlte nie und vermied es namentlich, über sich selbst und seine Verhältnisse genauere Andeutungen zu geben. Diese Verschwiegenheit wurde mir nach und nach doch etwas auffällig und ich versuchte wiederholt absichtlich das Gespräch auf das Geschäft, das er in Amerika trieb, hinzulenken. Er wich mir aus, und als ich gelegentlich meine Nachfrage ziemlich direct stellte, erklärte er wie beiläufig, daß er Fabrikant sei, mehrere Glasfabriken, Drechsler und Buchbinder beschäftige. In was das Fabrikat eigentlich bestand, zu dem diese drei Geschäfte nöthig wären, verrieth er nicht. Wie begreiflich, reizte mich diese Zurückhaltung immer mehr und ich beschloß nicht eher zu ruhen, bis ich der Sache auf den Grund sei. Bei einer weiteren Unterredung brachte ich so viel heraus, daß ich erfuhr, der Artikel, den er verkaufe, gehe eben nur in Amerika gut; trotzdem er wisse, daß in Europa wohl kein Concurrent sei, habe er doch nie den Versuch gemacht, seine Waare über’s Meer zu schicken – übrigens sei auch der Absatz drüben so stark, daß er schon auf überseeische Geschäftsverbindungen verzichten könne etc.

Ich war mit diesen Erklärungen in meinem Wissen nicht viel weiter gekommen und nahm mir jetzt vor, mich ihm näher anzuschließen; lud ihn deshalb häufig zu Spaziergängen ein und wurde bei diesen so vertraut mit ihm, daß ich einmal ziemlich offen mit der Bitte herausrückte, er möge mir doch endlich offen gestehen, was das für Fabrikate seien, die er verkaufe – ein Geheimniß könne ja doch nicht dabei sein und sicher werde er auch von mir, als Gelehrten, nicht erwarten, daß ich nach Amerika käme, um ihm Concurrenz zu machen. Er lächelte anfangs und erklärte dann nach einigem Zögern, daß er Maschinen fertigen lasse, sprach dann in sehr dunkler Weise von Gesellschaften, die dieselben zu Hunderten bestellten etc. – Seltsam! Maschinen, wozu blos Glaser, Drechsler und Buchbinder nöthig, die zu Hunderten bestellt werden und nur in Amerika zu verkaufen sind? Ich forschte weiter, bekam aber nichts weiter aus dem Geheimnißvollen heraus und mußte, wenn ich auch um so neugieriger geworden war, endlich meine Nachfragen einstellen, erhielt dagegen aber die Einladung, ihn doch einmal in seinem Hôtel zu besuchen.

Selbstverständlich ließ ich mich nicht zweimal bitten, sondern fand mich, und zwar schon am nächsten Tage, bei ihm ein, da ich zuversichtlich endlich eine befriedigende Erklärung hoffte. Er empfing mich äußerst freundlich und hieß mich ihm gegenüber an einem Tische Platz nehmen, bestellte Wein und knüpfte gleich darauf ein Gespräch über politische Dinge an, das mich, der ich immer nur das Eine im Auge hatte, eigentlich wenig interessirte. Bei einem Blick auf den Tisch, der ziemlich dicht mit englischen und amerikanischen Journalen belegt war, sah ich, daß die meisten Blätter Exemplare des „Religio-Philosophical Journal“ waren, das auf dem Titelblatt auf einer Erdkugel die Worte trägt: „Devoted to Spiritual Philosophy“. Bekanntlich ist dieses Blatt das Centralorgan der Spiritualisten (Geisterseher) im Staate Ohio und erscheint zu Chicago. Unter und neben diesen lagen dann noch mehrere die Interessen der gleichen Schwindlergesellschaft in anderen Staaten vertretende Blätter, wie das „Banner des Lichts“, das in Boston erscheint, und verschiedene Broschüren, deren Inhalt nach dem Titel das gleiche Thema bearbeiten mußte. Da der Amerikaner merkte, daß sich meine Aufmerksamkeit den Blättern zuwandte, brachte er sofort das Gespräch auf dieselben und verfiel nach und nach in eine wahre Lobeshymne auf die Spiritualisten, als deren Anhänger oder Mitglied er sich hierbei ganz unumwunden bekannte. Die Unterhaltung ging weiter und hierbei stießen wir in unseren Ansichten ziemlich hart aufeinander, denn nach seiner Ansicht war unter der Sonne nichts unmöglich – was mit Menschenhänden nicht zu erreichen war, konnte erreicht werden, indem man eben die Geister zu Hülfe rief oder doch wenigstens ihren Rath einholte.

„Glauben Sie denn,“ rief er mir unter Anderem zu, „daß die vielen Tausende, die sich in Amerika zu unserem Glauben und unseren Ansichten bekennen, so treu an der Sache bis heutigen Tages festgehalten haben würden, wenn das Ganze nicht eine wirkliche Grundlage hätte? Fast in jeder nur einigermaßen großen Stadt der verschiedenen Staaten werden Sie Gesellschaften finden, die allwöchentlich einige Abende zusammenkommen, und sich ihre neuen Erlebnisse und Entdeckungen über den Verkehr mit Geistern mitzutheilen und zu ergänzen. Sie werden demnach auch nicht an die Schreibmaschine glauben, und dennoch kann ich Ihnen selbst ganz erstaunliche Proben dieses geheimen Instrumentes vorlegen.“

Ich rückte mit allen nur möglichen Vernunftgründen in’s Feld, aber der Mann war nicht von seinem Irrthum abzubringen, und als ich schließlich den Wunsch äußerte, doch einmal eine solche Schreibmaschine zu sehen und zu untersuchen, rief er:

„Diesen Wunsch will ich Ihnen sogleich erfüllen, ich habe eine bei mir. Freilich werden Sie nichts daran entdecken, was einem Geheimniß ähnlich sieht,“ fügte er dann hinzu. „aber die Maschine selbst ist auch Nebensache; sie ist nur das irdische Werkzeug, das der Geist nöthig hat, um seine Enthüllungen auf eine für den Menschen verständliche Art klar zu machen. – Hier ist eine –“ damit stellte er das Ding vor mich hin auf den Tisch.

Als ich das Ding in die Hand nahm und mir näher betrachtete, konnte ich mich kaum eines Lächelns erwehren, denn wie unwillkürlich mußte ich an die Maschine denken, die der gute Mann seiner Angabe nach mit Hülfe des Glasfabrikanten, [605] Drechslers und Buchbinders herstellen ließ, und lasse zum bessern Verständniß hier eine kurze Beschreibung des ganzen Apparates folgen. Das Ganze besteht aus einer flachen, schildförmigen, aus halbstarkem Pappdeckel gefertigten Platte (Figur 1), die auf beiden Seiten mit gewöhnlichem farbigen Glanzpapier überzogen ist. Von c nach d mißt die Platte ungefähr zehn Zoll, von a nach b vielleicht sechs Zoll. Da die Geister jedenfalls auch Verzierungen lieben, so ist der Rand auf der Oberseite mit einer schmalen Borde von gepreßtem Goldpapier überklebt. An den drei Ecken a b c befinden sich die Löcher, in welche die zwei Zoll hohen Füße, auf welchen die Platte wagerecht ruht, eingesetzt werden. Bei a und b ist der Fuß, der einfach aus Holz gedrechselt ist, ungefähr wie Figur 2 zeigt, beschaffen. Unten ist im Innern des Fußes eine runde Höhlung, in welcher eine einfache Glaskugel zur größeren Hälfte steckt, die sich frei darin herumbewegen kann. Da das Einsetzen der Kugel so nicht gut möglich wäre, wird der Fuß in zwei gleiche Hälften zersägt, und nachdem die unten hervorsehende Kugel eingelegt worden, wieder

Amerikanische Schreibmaschine für Geisterseher.

zusammengeleimt. Figur 3 zeigt den Durchschnitt ohne Kugel. In das Loch bei c wird der dritte Fuß eingesetzt, der unten an der Spitze mit einem Bleistift versehen ist. Die Platte steht also ganz einfach in den drei in ihr vermittelst einfacher Kupferschrauben befestigten Füßen und läßt sich, wenn man die Hand mit den Fingerspitzen nach c gerichtet auflegt, durch die sich in den zwei Löchern leicht und frei bewegenden Kugeln nach allen Richtungen bequem hin- und herschieben.

Eine andere Vorrichtung oder geheime Arbeit ist an dem ganzen Apparat nicht. Wenn der Schwindel losgehen, das heißt der beorderte Geist schreiben soll, so wird das Ding nun auf folgende Weise in Bewegung gesetzt. Der, welcher vom Geiste etwas wissen will, legt einfach seine flache Hand auf die Pappplatte und hält dieselbe dort eine Viertel- oder halbe Stunde still. Durch die Abspannung der Nerven kommt die Hand nun selbstverständlich nach und nach in’s Zittern und der Apparat rutscht auf dem unter ihm liegenden Stück Papier hin und her, wobei die wunderlichsten Krikelkrakel zu Tage kommen, die dann gedeutet werden. Wenn der Schwindel speculativ getrieben werden soll, zu welchem Zwecke ohne Zweifel auch die Maschine erfunden wurde, kann der die Hand Auflegende natürlich das Ding schon bequem so dirigiren, daß auch Zeichen, die der wirklichen Schrift nahe kommen, erscheinen.

Mein lehrbegieriger Amerikaner legte mir eine ganze Mappe voll solcher Geisterschriften vor. Als ich sie durchsah, fiel mir ein Blatt auf, welches nachstehende Verse und die Unterschrift „Byron“ trug:

„O tell me na o’ wind and rain;
Upbraid na me wi’ cauld disdain;
Gae back the gate ye cam again,
I winna let you in, jo.“

Ich mußte unwillkürlich auflachen und bemerkte dem guten Manne, daß diese Verse ja gar nicht von Byron seien, sondern den Anfang eines Gedichtes von Robert Burns bildeten, das, wenn ich mich recht erinnerte, die Ueberschrift „Her Answer“ trüge. Er bestritt Dieses ganz energisch und schien weit eher anzunehmen, daß sich der große Britte Byron mit fremden Federn habe schmücken wollen, als daß der ganze Geisterkram Larifari sei. Auf einem andern Blatte, „Franklin“ unterzeichnet, stand folgender deutsche Kernspruch: „Der rechte Mann kann Eichen biegen“. Ob der Geist des großen Staatsmannes hierbei vielleicht an seine Landsleute, die Spiritualisten, gedacht haben mag? – Schwerlich.

Nach der Versicherung des Geisterschriftenbesitzers schreiben die beschworenen Seelen der Abgestorbenen nicht blos, wenn ihnen gewisse Fragen vorgelegt werden, sondern auch wenn sie einmal gerade Lust bekommen, ihr poetisches oder philosophisches Talent sprudeln zu lassen, und zeigen ihr Verlangen dann durch Klopfen an, worauf natürlich sofort die Schreibmaschine herbeigeholt werden muß; auch lieben sie es nicht, daß ihnen, wenn sie schreiben sollen, barsch befohlen wird. Hier wie überall heißt es jetzt „immer nur höflich“, denn

„Die Cultur, die alle Welt beleckt,
Hat auch auf Geister sich erstreckt.“

Nachdem ich die Raritäten mir alle durchgesehen, nahm ich die Schreibmaschine noch einmal in die Hand und sagte zu ihrem Besitzer: „Nun, jetzt weiß ich doch auch endlich, welcher Art die Maschinen sind, die Sie in Ihrem Etablissement in Amerika verfertigen lassen. Gestehen Sie es offen, daß es solche sind. Die Glaskugeln liefert der Glasfabrikant, die Füße der Drechsler und die Platte natürlich der Buchbinder.“

Er lächelte und sagte nach einiger Zeit: „Da Sie es doch getroffen haben, so will ich es nur zugestehen, denn das thut der Richtigkeit meiner Behauptung über die Geisterschrift ja keinen Abbruch. Ich kann Sie dabei auch versichern, daß ich durch die Maschinen mein Glück gemacht habe. Ein anderes Mal will ich Ihnen das erzählen.“

Bei einer nächsten Zusammenkunft erinnerte ich ihn an sein Versprechen und erfuhr nun Folgendes: Der Mann war kein Amerikaner von Geburt, sondern ein Mecklenburger und seines Handwerkes eigentlich Schneider. Da er jedenfalls geglaubt, daß in Amerika die gebratenen Tauben nur auf ihn warteten, um sich fangen zu lassen, war er ausgewandert, hatte aber wohl bald eingesehen, daß, wenn man keine rechte Lust zum Arbeiten hat, es sich dort wie hier gleich schwer mit der Nadel gegen den Mangel ankämpfen läßt. Er versicherte mich nämlich, er habe nicht vorwärts kommen können und deshalb bald alle Freude an seinem Schneiderhandwerke verloren. Längere Zeit hierauf hatte er dann alle möglichen Geschäfte getrieben, es aber auch zu nichts gebracht.

Während dieser Zeit war nun die Geisterklopferei durch die Schwestern Fox zu Hydesville im Staate New-York das Tagesgespräch geworden, und wie bei jedem neuerfundenen Schwindel gleich eine Menge speculativer Köpfe aufstehen, um die Sache nach dieser oder jener Seite auszubeuten, so war es auch hier der Fall gewesen. Neben vielen anderen albernen Dingen war auch die Schreibmaschine erdacht worden. Der ehemalige Schneider war durch einen Spiritualisten (wenn ich nicht irre, hieß dieser Mann Dr. Ackley) mit dem Treiben der Geisterbeschwörer bekannt geworden, hatte Lust, Liebe und Glauben an dem Dinge gefunden und sich, wie selbstverständlich, einen solchen Apparat angeschafft. Bei genauer Besichtigung der Maschine hatte er da entdeckt, daß dieselbe sich sehr billig herstellen lasse, und da dergleichen gesucht und theuer gekauft wurde, war ihm sofort der Gedanke gekommen, Schreibmaschinenfabrikant zu werden. Das Geschäft war eingeschlagen und die Dinge gingen zu Hunderten ab, so daß der gute Mann schließlich gar nicht genug liefern konnte und sich genöthigt sah, mehrere Drechsler und Buchbinder ausschließlich allein für seine Zwecke zu beschäftigen. Die Zusammensetzung hatte er selbst besorgt; da indessen seine Kraft bei dem außerordentlich großen Absatze nicht mehr zugereicht, hatte er Arbeiter annehmen müssen und die Sache fabrikmäßig betrieben, wie er sie eben heute noch betreibt. Bedenkt man, daß die Herstellungskosten einer solchen Schreibmaschine, wenn das Ding nämlich im Großen betrieben wird, höchstens einige Groschen betragen und daß in der ersten Zeit, wo der Absatz rasend war, das Stück zu einem Dollar verkauft wurde, so läßt sich leicht ermessen, welch eine Einnahme der Mann durch Aufnahme dieser Schwindel-Industrie gehabt haben muß.

Genug, der ehemalige Schneider ist eben jetzt ein reicher Mann und betreibt sein Geschäft noch, denn trotz allen Predigens und aller Aufklärungsversuche blüht die Dummheit unter den Spiritualisten im Geheimen fort und zählt namentlich im Staate Ohio, wo der Schneider sein Californien entdeckte und noch heute [606] seine zweite Heimath hat, Anhänger in Hülle und Fülle. Aber auch die übrigen Staaten bleiben nicht zurück, wie dieses namentlich die Organe der Spiritualisten und die zahllosen Broschüren und Werke, in welchen der Blödsinn dieser Tausendkünstler plausibel gemacht wird, beweisen. Das Broschürenschreiben, wobei bald Dieser, bald Jener seine Erlebnisse und Conferenzen mit den Geistern mittheilt, scheint dort zu einer wahren Seuche geworden zu sein, und wenn man diese Schreibereien, von denen mir mehrere vorliegen, die ich als Geschenk von dem Herrn Fabrikanten erhalten, durchliest, könnte man leicht auf die Meinung geführt werden, daß das liebe Amerika einen ungeheuren Mangel an Irrenhäusern haben müsse, da man so viele hirnverrückte Sauertöpfe frei herumlaufen läßt. So werden in einer von einem gewissen Samuel H. Paist in Philadelphia herausgegebenen siebenundvierzig Seiten starken Broschüre Geschichten über den Geisterverkehr aufgetischt, bei welchen man nicht weiß, ob man die Bornirtheit oder die Frechheit, mit welcher sie als pure Wahrheit und Selbsterlebtes vorerzählt werden, mehr bewundern soll. Unser Erstaunen muß sich noch steigern, wenn wir vernehmen, daß die Mitglieder dieser Geisterklopfer- und Geisterschreibergesellschaften zum größern Theile aus Leuten bestehen, bei denen man etwas Bildung und Scharfsinn voraussetzen könnte. Wir finden da Doctoren und Professoren der Medicin, Geologen, Geistliche, Mathematiker, Schriftsteller und ähnliche Gelehrte vertreten, so daß es fast scheint, als habe das Sprüchwort „Je gelehrter, je verkehrter“ seine eigentliche Heimath in Amerika.

Wie weit übrigens die Dummheit geht, mag schon daraus erhellen daß z. B. der Schreibmaschinenfabrikant, trotzdem er ja die Apparate fertigt, fest und treu an den wirklichen Verkehr mit den Geistern glaubt und sich durch nichts auch nur ein Haar breit von seinem Glauben abbringen läßt. Freilich giebt er zu, daß die Maschine an sich nichts Uebernatürliches habe, sondern nur das Werkzeug sei, womit sich eben der Geist dem Menschen begreiflich machen könne, und muß dieses sogar thun, denn es wäre doch wahrlich etwas zu viel zugemuthet, wenn man von den Leuten verlangen würde, zu glauben, daß dieser ehemalige Schneidergeselle durch irgend ein überirdisches Vermögen seinen Fabrikaten ein Selbstbewußtsein einpflanze. Aber nehme man die Sache so gelind, wie man wolle, so ist dieselbe doch immer mehr oder weniger ein Betrug, und es ist geradezu unbegreiflich, wie in der letzten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts dergleichen noch möglich sein kann. Wie mir der Fabrikant ganz offen selbst mittheilte, hatte er anfänglich die ganze Geisterbannerei auch nicht so recht glauben können. Die Gesellschaft indessen, in welche er durch seinen Lehrer Dr. Ackley eingeführt wurde, hatte ihm eines Abends den Glauben beigebracht, der von dieser Zeit an dann fest saß. Er erzählte nämlich, eines Abends habe man erklärt, daß Tische und Stühle, ohne daß sie ein Mensch berühre, herumspazieren könnten, sobald nämlich der dazu gehörige Geist gefunden und Diejenigen beisammen wären, die an ihn glaubten. Er habe zu diesen Erklärungen die Achsel gezuckt und scherzweise geäußert, ein wahrer Geist werde doch wahrlich nicht in Tische und Stühle fahren – und siehe da, kaum eine Minute später habe ein Tisch gerückt und sei dann wirklich in der Stube herum- und auf ihn zugegangen; er habe sich dann in eine Ecke gedrückt und der Tisch sich schließlich fest vor ihn hin gestellt. Nach einiger Zeit sei derselbe dann wieder in Bewegung gekommen und an seinen alten Platz hin spaziert. Seit jener Zeit vermöge ihm nun kein Mensch den Glauben an ein Hereinragen überirdischer Mächte streitig zu machen, was seine Augen gesehen, glaube sein Herz, etc. Uebrigens habe er auch später einige Male sich den Tisch genauer betrachtet und nichts davon wahrgenommen, was etwa auf Taschenspielerei oder Täuschung hindeuten könne. – In was der Hokuspokus eigentlich bestand, den man dem Fabrikanten vorgezeigt, wollen wir nicht untersuchen, ebensowenig, ob die Gesellschaft, die ihn überführte (?), aus überspannten Selbstbetrügern oder Betrogenen zusammengesetzt war.

Um nun auf meinen Amerikaner zurückzukommen, so habe ich schließlich nur mitzutheilen, daß, wie ich schon erwähnte, sein Geschäft noch blüht. Der Mann beschäftigt eine große Anzahl Menschen mit der Zusammensetzung der famosen Maschinen, und obgleich dieselben im Verlaufe der Zeit im Preise gefallen sind, macht er doch immer noch eine gute Einnahme damit. Die Dummen werden nicht alle!

v. G.




Eine Stätte des Entsetzens.


Man sollte meinen, daß die Natur veredelnd auf die Menschen einwirke, die täglich den Genuß dieses großen Theaters, das rings um sie aufgebaut ist, vor Augen haben. – Ich bin auf meinen Reisen fast immer das Gegentheil gewahr worden.

In Constantinopel widersprechen sich Natur und Menschen wie Tag und Nacht, doch hier in Neapel, dieser paradiesisch schönen Stadt, erscheint der Gegensatz noch stärker. – Erlauben Sie mir, einen Beweis für die Wahrheit meiner Behauptung zu bringen.

Die Neapolitaner haben zwei Kirchhöfe, das Campo santo nuovo und das Campo santo vecchio (den neuen und den alten Friedhof), beide an der nordöstlichen Seite der Stadt, nicht weit von einander entfernt. Das Campo santo nuovo liegt auf der Höhe unter Poggio reale in der Richtung nach Nola zu mit herrlichem Blick auf die Stadt, das Meer und die Berge. Ich möchte es mit einem Garten vergleichen, voll der schattigsten Bäume und Blüthen, die mit ihrem narkotisch süßen Duft die Luft erfüllen, voll Oleander, Amaranten, Tulpenbäumen, Hortensien, blühenden Myrthen allüberall. Hier stehen die Grabmonumente, meistens von der Form sehr zierlicher Säulentempel, die bisweilen ganze Straßen bilden, da sie auf beiden Seiten sich aneinanderreihen. Andere stehen in Gruppen vereint, oder schließen sich zu einer kleinen Todtenstadt zusammen. Auf den Giebelseiten der einzelnen Grabmonumente liest man die Namen der Brüderschaften Neapels; diese bilden gegen zweihundert Vereine, welche die Besitzer der Grabmäler und Veranstalter der Begräbnisse und gleichzeitig treffliche sociale Gemeinschaften sind, da sie auch Kranke und Nothleidende pflegen. Andere Monumente sind Familiengräber, über ihnen befindet sich eine kleine Capelle, welche durch eine Gitterthür verschlossen ist und einen Einblick in das Innere gewährt. Ein kleiner Altar, ein Madonnenbild, die ewige Lampe, Bilder und Büsten der Todten bilden die innere Ausstattung derselben. In ihnen halten die Zurückgebliebenen ihre Andacht ab in dem tröstenden Gedanken, daß die geliebten Todten nicht weit von ihnen weilen. Auf der Höhe des Hügels erhebt sich eine Säulenhalle und eine Kirche, in welcher Todtenmessen gehalten werden; zwölf Capucinermönche wohnen in der Nähe dieser Kirche in einem zierlichen kleinen Kloster, wo sie ihren Gottesdienst halten.

Die Grabmonumente erinnern mit ihren heitern und sinnreichen, angenehmen und graciösen Formen an die der Alten; ja viele sind sogar nach pompejanischer Weise mit Farben geschmückt; und nun diese entzückende Lage inmitten der erhabenen Natur! Muß dies nicht dem klagenden Auge des Zurückgebliebenen wie ein Trost und eine Versöhnung mit seinem Schicksale erscheinen? Dort dehnt sich das gesegnete Campanien, das azurblaue Meer, die fernen Küsten von Sorrento und Castellamare und der weite Gürtel des Vesuv mit unzähligen Ortschaften zu seinen Füßen; das Alles winkt uns wie aus einer andern Sphäre des Raumes und des Lichtes beruhigend entgegen, und da zieht wohl unwillkürlich der Wunsch auch in unser Gemüth, einst so gebettet zu liegen wie diese Todten hier. – Man sieht, die Neapolitaner haben für die ehrende Bestattung ein tiefes Verständniß, aber um so befremdender und verletzender, ja ich möchte sagen, empörender erscheint es, zu welcher Rohheit und Uncultur sie sich bei denjenigen Verstorbenen herabwürdigen, die ohne Besitzthum von dieser Welt scheiden.

Auf dem Campo santo nuovo giebt es drei Classen von Begräbnissen, die je nach dem Preise mit größerem oder geringerem Luxus ausgestattet werden. Die dritte Classe für die Armen besteht in der einfachen Beisetzung des Todten in einem Sarge und ist für zwanzig Franken zu erschwingen. Wer diese aber nicht zurückläßt, dem ist das Campo santo nuovo überhaupt nicht zugänglich und er kommt dann auf das Campo santo vecchio. Das ist der große Armenkirchhof Neapels; wer jedoch nur einem einzigen [607] der dort üblichen Begräbnisse beigewohnt hat, der wird diesen Armenkirchhof nicht mit einem heiligen Acker, sondern mit einer großen Kehrichtgrube vergleichen, in welche man die ehemaligen Menschen wie Schutt und Moder achtungslos aufeinander wirft. Und diese Art von Begräbniß wird geleitet von der Stadtbehörde, sie widerspiegelt also den Willen der gesammten Bürgerschaft Neapels.

Eines Abends, als die Tagesgluth der Sonne nachzulassen und die Säume der Berge und Wolken sich zu vergolden anfingen, begab ich mich durch das Gewühl der von Lebensfluth strömenden Stadt hinaus auf dieses Feld des Todes.

Ich hatte mich auf Erschreckliches vorbereitet, denn viel hatte ich von dieser Unsitte gehört, aber meine Befürchtungen wurden noch weit übertroffen durch das, was ich mit ansehen mußte. – Schon die Gassen, die man passirt, sobald man durch die Porta Capuana die Stadt verläßt, um sich von da nordostwärts nach der Strada del Camposanto zu begeben, entsprechen dem Bilde, das unser wartet. Hohe, schmale, halbverfallene Häuser, mit Fenstern, schmutzig und verklebt, bilden die ziemlich geräumige Straße; Menschen der untersten Classen, halbnackt, verwahrlost, verkommen und jeder bessern Regung baar, blicken aus den Fenstern oder sitzen vor den Thüren oder liegen in unschönen Gruppen auf der Straße und verhindern den Fremden an der freien Benutzung derselben.

Ich fuhr in einem Fiaker, mein Kutscher schlug das Verdeck des Wagens auf, um nicht, wie er sagte, die Verantwortung auf sich zu nehmen, wenn Jemand hinterwärts unberufene Anstalten machen wollte, sich des Wagens zu bemächtigen. Nun fing es an öde und einsam zu werden; hin und wieder tauchte ein Haus, das Bild der Armuth und der Verkommenheit, aus der sonst menschenleeren Ebene hervor. Noch wenige Straßen durch Mauern eingefaßt, hinter denen hervorragende Obst-, Citronen- und Granatenbäume mich wieder daran erinnerten, daß ich mich trotz alledem noch in den Gefilden der Campania felix befand. Der Kutscher hielt an, wir waren an unserm Ziele; ich stieg hinaus und ging bergaufwärts einen schmalen Weg, auf der einen Seite durch eine Mauer, auf der andern durch ein verfallenes, langgestrecktes Gebäude eingezwängt, aus dessen Gewölbe Gerüche von Moder und Verwesung zu mir heraufstiegen. Es war das Todtenhaus, in welchem diejenigen Leichname, die nicht mehr des Abends bestattet werden können, bis zum nächsten Morgen niedergesetzt werden. In der Mitte dieses Hauses befindet sich ein Thor; durch dieses mußte ich gehen, um zu einem großen weiten Platze zu gelangen, und dieser ist endlich das vielbesprochene Campo santo vecchio.

Der Platz ist von quadratischer Form und von allen Seiten mit hohen Wänden eingefaßt, deren Monotonie durch schwach heraustretende Wandpfeiler in bestimmten Zwischenräumen leidlich unterbrochen ist. Die Pfeiler sind oben durch Bögen verbunden, so daß eine Art von Arcadenrelief den Schmuck der sonst verfallenen, von Wind und Wetter geschwärzten Mauer bildet. Dem Eingange gegenüber, in der Mitte der Wand, befindet sich ein Heiligenbild, mit geschmackloser und bizarrer Phantasie flach aus dem Brett geschnitten, wie man sie hier auf Plätzen und an Straßenecken vielfach findet. Dies war das Einzige, was hier an das Christenthum erinnerte.

Der Gesammteindruck ist der des Nackten, Todten, Kalten; ebenso erscheint der Fußboden. Glatt liegen die einzelnen großen Quadersteine in schräger Richtung nebeneinander, von Zeit zu Zeit abwechselnd mit einzelnen quadratischen Steinen, die in gleichen Zwischenräumen von einander den Wänden parallel laufende Reihen bilden. Jeder dieser Steine verdeckt die Oeffnung zu einer Todtenkammer, und da für jeden Tag im Jahre eine solche besteht, so sind im Ganzen dreihundertfünfundsechszig und einige drüber auf der Ebene ausgebreitet. Unter diesen laufen die Mauern, die sich rechtwinklig schneiden und die einzelnen Todtenkammern begrenzen; jeder Stein liegt dann gerade auf der Mitte derselben. – Das ist die Einrichtung dieses Campo santo.

Kein Leben blüht auf dieser Stätte der Einsamkeit; hart wie das Gestein, das dich umgiebt, gefühllos, nackt, still, freudelos und leer ist diese öde Todtenfläche. Da grünt kein Baum, kein Strauch, keine Cypresse; da blüht keine Myrthe, kein Oleander, kein Thymian; nicht ein Grashalm sprießt aus den Fugen der Steine neu hervor; nichts bewegt sich, nur der Todtengräber, ein großer brauner Käfer, wühlt sich aus den einzelnen Fugen und Löchern hervor, läuft mit Windeseile über die Todtenfläche hin und schlüpft wieder hinein, von wo er gekommen. Das ist alles Leben, was du erblickst, gleichsam um dich zu mahnen, daß auch im Tode Leben weilet. Kein Ton ist hörbar; das Einzige, was hier die Luft erfüllt, ist Modergeruch, Leichenfäulniß, höchstens schallen aus der Welt des Lebens die matten Töne ersterbenden Glockengeläutes bis hierher. Du glaubst dich aus der Welt herausverirrt, farbelos, freudelos ist Alles, was dich umgiebt. Doch schau! die Sonne taucht hinab, auch das Licht erstirbt über dieser Stätte, wo Alles todt ist; da bringt man schwarze hölzerne Kasten, aus vier Brettern gezimmert; Männer sind es, die sie auf dem Kopfe tragen, halbverkrüppelt, zerlumpt, vom nagenden Hunger, von bittrer Armuth abgezehrt, gleichgültig auch gegen dieses Gewerbe. Vielleicht noch wenige Monate, und wie sie jetzt tragen, so werden sie von Anderen getragen. Um einen Stein setzen sie die Kästen nieder. – Nun erscheint der Priester, selbst ein Bild des Elends, der Verkommenheit, ein Hohn der Kirche, die uns mahnet: „Du sollst die Todten ehren!“

Ohne jede Spur von Regsamkeit des Herzens segnet er die Leichen ein, sein ganzes Gebet dauert vielleicht eine Minute, dann geht er fort; mit einem Hebel wird der Stein gewaltsam aus seiner Vermauerung gelöst und die Kästen werden geöffnet. – Männer, Frauen, Kinder, ganz entkleidet, entstellt, schmutzig, noch die Spuren ihrer jüngsten Leiden mit sich tragend, liegen darin – dieselben Mäner, die die Todten brachten, zerren nun mit dem Ausdruck völliger Erstorbenheit, niedrigster Gleichgültigkeit die Leichen heraus und werfen sie wie Schmutz und Unrath in die Grube hinab.

Mein Auge wandte sich ab vor Entsetzen, doch das Fürchterlichste war der Ton, der im nächsten Augenblicke an mein Ohr drang.

Die Gruben sind etwa 25–30 Fuß tief; 110 Jahre werden sie gebraucht und jedes Jahr wiederholt man die Barbarei auf derselben Stelle. – Dreißig Leichname werden durchschnittlich an einem Tage hinabgeworfen, so daß in jeder Gruft zuletzt die Reste von 3300 Menschen liegen. – Und wie sie fallen, so läßt man sie auch liegen, bis sie der Zahn der Zeit der Erde gleich gemacht hat.

Die letzten Jahrgänge, noch halb Knochen, halb Fleisch, bilden eine weiche, fürchterliche Masse, auf diese werfen sie die Todten, und wie wenn Jemand von oben herab einen flachen Gegenstand auf eine Wasserfläche schleudert, so hört es sich hier an, wenn in dieser ausgemauerten, dunkeln, feuchten, weiten und tiefen Gruft die Leichen auf den Boden fallen.

Dieser Ton, das ist der Inbegriff des Fürchterlichsten, das sich hier vor uns abspielt!

Ekel, Schauder erfaßt die Brust; wer diesen Ton gehört, dem verhallet er nie wieder!

Man vergleiche die Grabmäler der Aegypter, Perser, Griechen, Römer, Byzantiner; man schaue auf den Prunk, mit dem die Indianer und die Eingebornen Afrikas und Australiens ihre Todten ehren, und man wird zu dem Ausspruch kommen: so roh, so unmenschlich, so widersträubend gegen alles Gefühl von Sittlichkeit wie dieses Volk verfährt kein anderes auf der ganzen Erde! –

Außer den Todtenträgern und dem Pförtner erwies Niemand den Verstorbenen die letzte Ehre.

Wer von den Angehörigen und Freunden möchte es auch über sich gewinnen, dieses Bild des Schreckens an dem zu sehen, der ihm im Leben lieb und werth gewesen! Wenn der Sterbende die Augen geschlossen hat und die Nachkommen besitzen nicht so viel Geld, um wenigstens die dritte Classe der Bestattung zu bezahlen, so müssen sie sich eben an jene Todtengräber wenden. Diese kommen, messen die Größe, holen ihre schwarzen Leichenkasten, die zu derselben passen, legen das nackte Todte hinein und tragen es fort an diese Pforte der Unsterblichkeit.

Nur einen Mann erblickte ich, den ich für den Vater eines todten Knaben hielt. – Der Mann war schwarz und feierlich gekleidet; das Kind hatte ebenfalls an seinem Körper einige armselige Kleider. – Ein Paar zerrissener Schuhe bedeckte die kleinen Füße, ein Hemdchen den abgemagerten Leib, selbst eine Mütze den Kopf. – Um die Brust war ein weißes Tuch gebunden, an [608] diesem ließ der Mann das Kind sanft und leise hinab, dann gab er ihm einen kleinen Schwung nach der Seite und warf es so weit als möglich von den anderen Todten fort, damit sein Kind wenigstens allein ein Plätzchen für sich bekomme. Nun noch ein Blick des Schmerzes, des Entsetzens, der Verzweiflung, noch ein Händegruß nach dem eignen Fleisch und Blut, und mit Eile wankte der Mann über die Stätte der Leere hinaus.

Auch mich trieb es hinaus, ein fürchterliches Grauen erfaßte mich, ich hörte und sah nichts mehr, mir ward unendlich wehe, in einen solchen Spalt der Schöpfung hinunterzusehen. Ich eilte an das Freie, Ekel hatte mich ganz gepackt, und ich schöpfte erst wieder Athem am Molo, als mein Auge auf diese ewig reine, klare, heilig große Natur fiel. – Der Mond war eben aufgangen, er stand über dem Vesuv, diesen in ernster, ruhiger Plastik aus der Landschaft hervorhebend. Magisch ergoß sich das Licht des Mondes über Berge, Meer und Stadt, den ganzen Golf mit einem breiten Lichtstrom wunderbar durchfluthend. Der schwarze Mastenwald erschien in einem weißen Silberdunst, der schlanke Leuchtthurm funkelte matter, tausend Barken glitten traumhaft wie schwarze Schatten über die Lichtfläche, tauchten auf und verschwanden, am Horizont stieg der schöne Fels von Capri aus der Nacht märchenhaft empor und wie phantasmagorische Schattenbilder glitzerten drüben Somma, der Vesuv und die silberhellen Berge von Castellamare und Sorrento. Dies Alles lag vor mir, klar, friedlich in zauberhafter Ruhe und führte auch mich allmählich wieder zu mir selbst zurück.

Noch lange blickte ich hinein in dieses Bild feenhafter Schönheit, aber noch oft wiederholte ich mir selbst die Worte: Nein, das Volk ist nicht wie sie, nicht wie die Natur, die es umgiebt; würde es sonst im Anblicke dieses Meeres, dieser Berge, dieses Himmels so gefühllos und so herzlos gegen seine todten Brüder verfahren können? –




Ein Orangenzweig.


Von A. Godin.


(Fortsetzung.)


In den Kronen des Laubwaldes flüsterte leise bewegender Windhauch, tiefe Ruhe, durch einzelne Vogelstimmen mehr begleitet als unterbrochen, webte sich über all das Grün, welches dichter und dichter den Pfad begrenzte. Einzelne Bäume berührten sich und schlangen die weitausgestreckten Zweige zur hohen Laube ineinander, als wollten sie den engen Waldpfad von Himmel und Erde abgrenzen; dennoch drängte sich von Zeit zu Zeit ein seltsam blendendes Leben durch die sanften Farbentöne der Buchen und Eichen. Goldene Punkte funkelten, glühten durch die Wipfel – auftauchend, wieder verschwindend, plötzlich vergrößert – bald eine Kugel, bald Pfeil oder Ring – als trieben schwebende Luftgeister ein seltsames Spiel mit unirdischen Kleinodien, leuchtender als Sterne, feuriger als Sonnenstrahlen. Und doch war es nur die Sonne, welche all dies blitzende Spielzeug schuf, während ihre Abendgluthen die Goldkuppeln der vom Walde verhüllten griechischen Capelle küßten.

Eugeniens Augen hingen mit eigenthümlichen Glanze an dem magischen Gefunkel. Nach minutenlangem Schweigen wandte sie sich mit tiefem Athemzuge ihrem Begleiter zu: „Ist es wahr, was wir heute gehört? Erwartet Ihr Armeecorps Marschordre?“

„Stündlich,“ antwortete Eckhardt, „Alles ist zum Aufbruch gerüstet und der Befehl zum Ausrücken wird höchstens noch Tage auf sich warten lassen – vielleicht hängt er an Stunden. Dies meine Entschuldigung dafür, daß ich Ihnen heute meine Gesellschaft aufgedrungen, Fräulein Wallmoden. Es ist sehr möglich, daß ich nicht zurückkehre – bitte, mich nicht mißzuverstehen,“ fuhr er mit kaltem Lächeln fort, als sie eine Bewegung machte, ihn zu unterbrechen, „ich wollte nur andeuten, daß die Garnisonen nach einem Feldzuge meistens zu wechseln pflegen, und möchte deshalb Ihre Erlaubniß erbitten, ein lange unterdrücktes Wort aussprechen zu dürfen.“

Eugenie sah ihn an. In den ernsten, fast strengen Zügen des jungen Mannes lag nichts, was eine unerwünschte Deutung seiner letzten Worte als möglich erscheinen ließ.

„Sprechen Sie frei!“ sagte sie, den Kopf leise neigend, mit sanfter Stimme.

Eine schwache Röthe huschte über Eckhardt’s Wange. „Wäre mir früher das Glück geworden, so freundlichen Ton von Ihnen zu hören, Fräulein Eugenie, so würde ich nicht in der immerhin peinlichen Lage sein, auf Vorfälle zurückzugreifen, deren Berührung Ihnen kaum erwünscht sein kann. Doch bin ich mir selbst schuldig, dieselben nicht für immer unerörtert zu lassen. Es wäre längst geschehen, wenn Ihre Haltung mir nicht jedes Recht entzogen hätte, mich Ihnen zu nähern.“

Eugenie erglühte bis unter die Haare. „Ich verstehe Sie nicht – was hätte ich Ihnen vorzuwerfen? von welcher Rechtfertigung sprechen Sie –?

Eckhardt blieb stehen und blickte ihr mit großem Ernst fest in die Augen. „Mich nicht verstehen zu wollen, wäre ein Mangel an Achtung, den ich nicht verdiene, mein Fräulein. Zu rechtfertigen giebt es für mich nichts; daß Sie mir aber viel vorzuwerfen haben, beweist mir seit langen Monden jeder Blick, jeder Ton. Vielleicht ist es Ihnen selbst nicht ganz bewußt, wie sehr, – vielleicht ist die Abneigung nur unwillkürlich, dann aber um so bezeichnender, welche Ihnen gebot, sich abzuwenden von dem – Denuncianten.“

Es war heraus. Beide erblaßten.

„Welch ein Wort!“ rief Eugenie erregt.

„Sollte es schärfer klingen, als Ihr Urtheil?“ fragte er finster. – „Ich wähnte früher einmal, von Ihnen mehr gekannt zu sein, als von der Masse – es war nicht also. Daß Sie unmittelbar nach jenem Vorfalle jede Berührung mit mir zu vermeiden wünschten, mußte ich begreiflich finden; auch darauf war ich gefaßt, daß der Unwille beleidigten Zartgefühls sich von der Botschaft auf den Boten miterstrecken würde. Doch vertraute ich fest darauf, daß eine Zeit kommen würde, wo Sie Dem, der im Dienste der Wahrheit und Gerechtigkeit gehandelt, auch Gerechtigkeit widerfahren lassen würden! Ich täuschte mich – diese Zeit kam niemals. So oft ich in Ihren Bereich trat – und dies geschah bis zum heutigen Tage stets unfreiwillig –, hatte ich immer auf’s Neue ein Abwenden zu empfinden, das in seiner Dauer fast der – Geringschätzung gleich kam. Sie stehen zu hoch in Aller Urtheil, Fräulein Wallmoden, als daß ich wagen dürfte, Sie einer Unbilligkeit zu zeihen; darum bleibt mir nur die Annahme, daß Sie meine Motive unrichtig aufgefaßt. Was ich je gethan und gesprochen, geschah immer mit offenem Visir! Daß ich damals einen Mittelsmann mit der Eröffnung betraute, gebot mir das einfachste Zartgefühl. Ich war auf jede Erklärung gefaßt, zu jeder Genugthuung bereit. Sie wurde mir von dem Manne, der es gewagt, Sie zu beleidigen, nicht abgefordert, von Ihnen nicht einmal gestattet. Auf Ihre Beachtung, mein Fräulein, habe ich nie Anspruch erheben können – wohl aber will und muß ich es auf Ihre Achtung, und deshalb frage ich, ehe ich aus Ihrem Gesichtskreis scheide: womit verdiente ich, in dieser Weise von Ihnen behandelt zu werden?“

Eugenie athmete rasch; tief betroffen schien sie nach Worten zu suchen, die sich endlich mit seltsam vibrirendem Tone losrangen: „Sie haben mich mißverstanden, ganz, völlig mißverstanden! Wie hätte ich je daran denken können, Ihnen etwas an den Tag zu legen, das der Geringschätzung gliche – Ihnen, dem ich – – dem ich Dank schulde! Und doch – doch darf ich Ihnen nicht widersprechen, denn es ist wahr, ich scheute jede Berührung mit Ihnen, floh Sie sogar! Aber nicht, um Sie zu kränken, Sie gar strafen zu wollen, nein, Eckhardt, nein! Es war nur – – ich kann diese Erinnerung nicht ertragen!“

„Sie haben ihn also nicht vergessen?“ loderte es gleich einer Flamme aus Eckhardt’s Brust hervor.

Es war einer jener sturmwindartigen Momente, wo jede Beherrschung aufhört. Eugenie wußte plötzlich, was sie bisher nur zuweilen geahnt, daß hier ein zermalmtes Herz zu ihren Füßen zitterte! Sie stand wie eingewurzelt, die Spitze ihres Sonnenschirms

[609]

Denkmal für die Volkskämpfer von 1849 auf dem Friedhof zu Kirchheimbolanden.
Nach einem Entwurf von Professor Schieß in Wiesbaden.

[610] bohrte sich zwischen die Flechten des Bodens, dann hob sie das tiefe Auge und richtete es mit wunderbarem, wie aus weiter Ferne zurückkehrendem Ausdruck auf Eckhardt. „Vergeben Sie mir!“ sagte sie leise, indem sie ihm die Hand entgegenbot. „Innerlich einwilligen, ist ja wohl die große Lehre des Lebens – ich glaube, wir Beide haben sie schon geübt. Vergessen ist schwer. Gott sei mit Ihnen!“

Eckhardt empfand den leisen Druck der Hand, die sich aus der seinigen löste; er verstand ihn als Abschied. Noch einmal blickte er in die unvergeßlichen Augen, dann verneigte er sich schweigend und schlug den Pfad abwärts ein.

In Sinnen tief verloren, folgte Eugenie langsam der übrigen, bereits auf dem Gipfel angelangten Gesellschaft. Daß sie allein erschien, setzte nur wenig in Verwunderung, da Eckhardt bereits, als er sich den Spaziergängern anschloß, geäußert hatte, der ganzen Garnison sei bedeutet, sich an den näheren Umkreis der Stadt zu binden. Als sie sich den im Säulentempel Versammelten anschloß, ruhten alle Blicke gefesselt auf der wundervollen Fernsicht, deren Linien der klare Sommerabend in voller Reinheit zeichnete. Das goldene Mainz schien so nahe gerückt, daß man glaubte, die Häuser zählen zu können, Darmstadts Thürme hoben sich schlank und deutlich vom blauen Himmel ab und die untergehende Sonne goß glühende Verklärung über das schöne Thal und Nassaus malerische Hauptstadt. Bläulich grüßten die Bergketten des Taunus und des Odenwaldes zum Rhein hernieder, der, ein Silberstreif, die gesegneten Fluren und Weingelände durchschnitt. Es war ein Bild lachenden Friedens; um so schneidender wirkte das Bewußtsein des Gegensatzes zwischen der heute noch so schönheitserfüllten Gegenwart und der in kurzen Wochen, vielleicht schon in Tagen hereindrohenden Zukunft. Mit dunkler Schwinge konnte sich Tod und Verwüstung nur zu bald über diese in Sonnenglanz gebadete Landschaft niedersenken – –! Walte Gott! – Die durch die Mittheilungen des jungen Officiers neuaufgeregte Empfindung der bedrückenden Weltlage breitete sich gleich einer schweren Wolke über die Stimmung Aller; selbst das jüngste, sorgloseste Mädchenherz schlug banger im Gedanken an den Bruder, den Verwandten, den Freund des Hauses, der mit der Waffe in der Hand vielleicht schon morgen, übermorgen ausziehen sollte, der Kugel des Feindes zu begegnen. Und bald wurden die Gedanken zu Worten! Unruhe, die keinen Genuß an beschaulicher Rast vergönnte, ergriff in steigendem Unbehagen den kleinen Kreis und veranlaßte schon nach einer Stunde zum Aufbruch.

Je näher die Heimkehrenden kamen, desto mehr fiel ihnen im Umkreise der Stadt eine eigenthümlich wogende Bewegung auf. Ein Trupp Studenten zog des Weges, ihre glühenden Gesichter voll Erregung; im Chorgesang ließen die frischen Stimmen begeistert jene Worte ertönen, die sich nach wenigen Wochen als voller Klang der Leier überall dem deutschen Schwert gesellen sollten: „Lieb’ Vaterland, kannst ruhig sein!“ In der Stadt flutheten Menschen jedes Alters und Standes durch die Straßen. Die Worte des Telegramms zu unterscheiden, welches an den Eckplätzen angeschlagen und von dichtgedrängten Massen umgeben war, blieb den Frauen unmöglich, doch drangen aus den lebhaft sprechenden Gruppen, an denen ihr Weg sie wieder und wieder vorüberführte, einzelne schlagende Worte an ihre Ohren. Hier mit knirschendem Laut: „brusquez le roi!“ Dort mit gewichtigem Klang: „Das kostet ihnen Elsaß!“

Mit eiligeren Schritten drängten die Frauen vorwärts, an den gefüllten Colonnaden vorüber, durch die ungewöhnlich belebte Platanenallee, dem Curhausplatze zu, wo der Staatsrath seine Tochter in Empfang zu nehmen versprochen. Dort schien die steigende Woge der Bewegung auf ihren Gipfelpunkt gelangt zu sein; Säle, Veranda und Park waren voll ruheloser Gruppen, welche sich beständig lösten und immer von Neuem wieder bildeten, bald den Träger einer Uniform, bald den Vorleser eines Druckblattes, eines Briefes zum Mittelpunkte wählend. Aus einer dieser Gruppen trat die hohe Gestalt Wallmoden’s den Frauen entgegen und begrüßte sie mit den Worten: „Das Heer ist mobil!“




Die Saat geht auf.


Der Staatsrath hatte mit seiner Tochter die stets vollständig eingerichtete Stadtwohnung bezogen, um dem Mittelpunkte der vielfältigen Bewegung näher zu sein, als dies in der Villa geboten war. Das entfesselte patriotische Leben fluthete höher und höher. Seit der Bürgermeister auf offenem Markte, unter freiem Himmelsgewölbe die Einmüthigkeit aller Mitbürger für die deutsche Sache angerufen und seine Worte bei den um ihn geschaarten Tausenden freudigen Widerhall gefunden, hatte sich ein Bedürfniß opferwilliger Thätigkeit jedes Einzelnen bemächtigt. Vereine bildeten sich; in den Familien, wie an den Sammelpunkten öffentlichen Wirkens pulsirte thatkräftiges Leben und Treiben. Statt der entwichenen Curgäste und Fremden, aus deren Zahl zumeist nur solche zurückgeblieben waren, die sich aus Gesundheits- oder Privatrücksichten für mehrmonatliches Verweilen seßhaft eingerichtet, füllten sich Straßen und Plätze mit der Menge der Einberufenen. Alles drängte sich zur Fahne, Niemand blieb zurück, bei Alt und Jung derselbe Sturm der Begeisterung, dieselbe brennende Empfindung für die frevelhaft angetastete Ehre des Königs und der Nation, derselbe Schwur, nicht zu ruhen und zu rasten, bis Genugthuung gewonnen sei! Aus weiter Ferne flog die deutsche Jugend zum Dienste des Vaterlandes herbei. Hunderte von Familienvätern, die ungerufen erschienen, um die gewohnte Hand begierig nach der Waffe auszustrecken, mußten auf spätere Zeit verwiesen werden, da die Schaaren in unglaublich kurzer Frist vollzählig bereit standen. Mit erschüttertem Herzen, aber klarem Blick drückte der Mann Weib und Kind an die Brust, vielleicht auf Nimmerwiedersehen, und brach auch die Kraft der Mütter in Thränen, so begehrte selbst die Wittwe nicht, den Sohn zu halten – willig ließ das zuckende Herz den Liebling ziehen.

Das auf Kriegsstärke gebrachte achtzigste Regiment zog in der ersten Morgenfrühe von dannen. Als die Bataillone mit klingendem Spiel durch die Stadt nach dem Bahnhofe marschirten, lehnte Eugenie an der Seite ihres Vaters am Fenster. Die ganze Straße entlang waren Fenster und Thüren besetzt, weiße Tücher flatterten, hier und dort fiel aus zitternder Hand eine Blüthe, ein Zweig nieder, nachdem ein letzter, verhängnißvoller Gruß getauscht worden. Manche jugendliche Gestalt beugte sich beim Nahen der Truppen weit über die Brüstung und verschwand, vom geheimen Schmerz überwältigt, vom Fenster, ehe noch der Eine, dem ein Abschiedswinken gelten sollte, nahe genug kam, es zu empfangen. Manches todtblasse Frauengesicht blickte thränenlos und starr dem im Dufte des Morgens verschwindenden Sohne, dem Gatten nach, manche kalte Hand preßte das heiße, gequälte Herz. Auf den Straßen aber, zur Rechten und Linken der scheidenden Truppen, drängte sich Kopf an Kopf – die Heimbleibenden, die Verlassenen gaben ihnen das Geleite! Harmonisch stimmte der Jubelruf, das Hurrah der Männer zu den Cymbeln und Pauken an der Spitze des Zuges, und doch übertönte der muthige Kampfes- und Siegesklang das trostlose Schluchzen der Frauen und Kinder nicht, die neben dem fortziehenden Schützer und Ernährer liefen, aus strömenden Augen immer wieder nach der kräftigen Gestalt blickend, die heute statt der Pflugschaar, des Handwerksgeräths Wehr und Waffen führte – nach dem treuen Auge, das umsonst mit festem Mannesmuth die den Verlassenen gegenüber immer neuaufsteigende Zähre zerdrückte. – Das heißt Scheiden!

Eugeniens feuchter Blick suchte und fand Eckhardt um so leichter, da er als Adjutant zur Seite des Regiments-Commandeurs ritt. Dem Hause nahe gelangt, hob er den edlen, ernsten Kopf und senkte langsam grüßend den Degen. Der Staatsrath bog sich über die Brüstung und rief kräftig hinab: „Gott befohlen!“ Eugenie neigte das Haupt, ihre Wange wurde von unaufhaltsamen Thränen überströmt; während Rudolph’s Auge noch auf sie geheftet war, winkte sie mit der Hand und trat dann, ihrer Bewegung nicht mehr mächtig, vom Fenster zurück.

Trostlos schluchzend begrub sie ihr Gesicht in den Kissen des Sophas. Ihr war, als ging ein nie zu heilender Riß durch ihre Seele, die dunkle Pforte des Todes that sich vor ihrem Geiste auf, schauernd betrat sie die Brücke zur Ewigkeit! Wer würde heimkehren von Allen, die von dannen zogen, hier – und anderwärts! Sie erbebte – in diesem Augenblick heftete sich ihr die schwere Frage nur an zwei Gestalten! Der Eine hatte sie versöhnt verlassen – der Andere –?

Ihr Herz drohte still zu stehen.

Der letzte Sang und Klang verhallte; gleich Wogen, die nach dem Sturme in immer schwächerem Anprall gegen den Strand [611] schlagen, verlief sich die Menge auf den Straßen. Wallmoden schloß das Fenster, und gesellte sich zu seiner Tochter. „Du bist sehr bewegt, Eugenie,“ sagte er, indem er ihre Hand erfaßte. „Willst Du Dich nicht doch entschließen, Wiesbaden zu verlassen? Noch bleibt mir Zeit, Dich aus der Provinz an sichere Stätte zu bringen, Du magst selbst bestimmen, zu welchem unserer entfernten Verwandten oder Freunde; an Anerbietungen hat es ja nicht gefehlt. Daß Deutschland in diesem nationalen Kampfe siegen wird, steht mir außer Frage, aber wie beim Beginn des Krieges die Würfel fallen, läßt sich nicht voraussehen. Viele sind überzeugt, daß der Feind in wenig Tagen über unserer Grenze, noch vor Ende des Monats vielleicht in Frankfurt und Mainz sein wird – Das bedenke!“

Eugenie sah ihn mit den gerötheten, aber wieder klar blickenden Augen voll Ernst an: „Und Du willst hier bleiben, Vater?“

„Das ist meine Pflicht,“ sagte der Staatsrath.

„Und die meine!“ fiel Eugenie lebhaft ein. „Hältst Du es für möglich, daß das einfach hohe Wort der Königin unverstanden vor mir verhallt ist? Was ein Krieg an Elend und Aufgaben im Gefolge bringt, ist für uns kein bloßer Begriff, lieber Vater! Wir haben es erlebt, wir haben es geschaut – in unvergessener, kaum verklungener Zeit!“

„Wohl!“ sagte Wallmoden in schwerem Ton.

„Und damals, Vater, durfte, konnte ich Nichts thun für alle die Armen, die Leidenden! Damals hielt mich heiligere Pflicht, hielt mich die Liebe am Krankenbett der Mutter, aber so jung ich war, lieber Vater, so unerfahren und egoistisch traurig, vergessen habe ich es doch nie, was ich in jener Zeit erfuhr von den Opfern und Leiden des Krieges. Wie könnte ich Ruhe finden in der Ferne, im feigen Sicherheitsgefühl, wenn in der Heimath alle Hände, alle Herzen thätig sind! Nicht wahr, Du gönnst dies auch mir?“

Mit einem leuchtenden Strahl des mächtigen, meist so düsteren Auges legte Wallmoden leise den Arm um ihre Schultern. „Du wählst, wie es Dir ziemt,“ sagte er ruhig, „ich dachte Dich auch nicht abzumahnen, nur Dir Freiheit des Entschlusses zu wahren. Wirke, hilf und tröste denn in Gottes Namen, so weit Deine Kraft reicht. Daß es, so viel als möglich, innerhalb der Grenzen unseres Hauses geschieht, wird, denke ich, Dein Wunsch sein, wie der meine; es soll Dir ein so großes Feld bieten, als Du begehrst, und daß Du frei über unsere Mittel verfügen kannst, bedarf wohl keines Wortes. Sobald die ersten Schlachten geschlagen, wird es hier an Verwundeten nicht fehlen; schon wird vielfach vorgesorgt. Die Turnhalle, Schule und Caserne, auch das Paulinenstift sollen zu Lazarethen eingerichtet werden; für Leichtverwundete wird auf Privatpflege gerechnet. Ich stelle Dir anheim, zu diesem Zwecke in der Villa Vorbereitungen zu treffen. Hier im Hause ist für Einquartierung weiter zu sorgen, wie bisher, der jungen Hausfrau wird also ein weites Feld der Wirksamkeit eröffnet. Ich stehe natürlich mit Rath und That zu Deiner Disposition, soweit der Dienst es mir erlaubt.“

„Der Dienst?“ fragte Eugenie überrascht.

„Ich habe mich dem Regierungspräsidenten zur Verfügung gestellt, und meine Wirksamkeit ist angenommen worden,“ sagte Wallmoden gelassen, indem er das freudige Umfangen seiner Tochter fast abweisend hinnahm; „woher Dein Erstaunen über Selbstverständliches, Eugenie? Herzog Adolph hat sich und die Seinen dem Kriegsherrn des deutschen Heeres zur Verfügung anheim gegeben, mit derselben Würde, die ihn stets im Ertragen seines herben Geschickes geleitet. Ich habe es nie verhehlt, daß mir der depossedirte Fürst mein Fürst geblieben, und ehre ihn heute mehr denn je als deutschen Herzog, deutschen Mann, dessen Wege seine alten Diener allzeit einschlagen dürfen, denn sie sind von Würde und Edelmuth vorgezeichnet.“

Eugenie hob das schöne Angesicht mit strahlendem Ausdruck zu ihm empor und flüsterte, indem sie ihre heiße Wange an seine Schulter lehnte: „Ja, Friede, schöner Gottesfriede muß das Ende dieses heiligen Kampfes werden, denn Friede ist schon sein Anfang!“


(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Daheim in der Fremde. (Mit Abbildung. S. 601.) Von unserem Gerstäcker konnte, trotz seines treuen deutschen Herzens, der Ausspruch gelten, daß er „in der Fremde daheim“ und, wie sein Arbeitszimmer nun unwiderleglich darthut, „daheim in der Fremde“ war. Wohin sein Auge sich richtete, grüßte ihn von jeder Wand eine Erinnerung an die Völker der Ferne, bei denen er geweilt, und an die Abenteuer und Gefahren, die er in seinem langen Wanderleben bestanden. Gar manch Thier, das ihn mit dem Tode bedroht hatte, schaute hier als geduldiges Skelet seiner Beschäftigung zu, und manches Werkzeug hätte ihm Augenblicke des Gruselns bereiten können, wenn seine Haut dazu eingerichtet gewesen wäre. Da lehnt z. B. linker Hand das Ruder, mit dessen Hülfe er auf manchem amerikanischen Wasser, am tollkühnsten auf dem Mississippi herumgeschwommen; und dort sehen wir den Sattel, der uns an die kecken Ritte durch die Pampas und über die Prairien gemahnt, und die Lassos zum Pferdefang und die Hängematten zu oft recht unbeneidenswerther Nachtruhe zwischen all dem fliegenden und kriechenden Gethier des Urwaldes. Wie wohl mußte da oft ihm zu Muthe sein, der so Vieles glücklich überstanden hatte; und wie gewissenhaft er diese Erinnerungen gehegt und ausgebeutet, dafür zeugt eine lange Reihe seiner Schriften. Sogar der Arbeitsstuhl und der Fuß des Arbeitenden ruht auf einer Jagdbeute, und damit wir keinen Augenblick vergessen, daß es Gerstäcker ist, der vor uns am Schreibtisch sitzt, liegt der Reisekoffer fix und fertig gepackt auf dem Boden. Uns ist’s, als brauchten wir gar nicht mehr lange zu warten, so werde der Schreibende sein „Rast’ ich, so rost’ ich“ auf den Brief drücken, den er soeben vollendet, und er werde den Koffer schließen und den Hut schwenken zu einem neuen Lebewohl! – Das Lebewohl ist gesprochen, die „letzte Reise“ vollendet. – Wäre es nicht zu beklagen, wenn der von solcher Hand und aus solchen Fernen zusammengebrachte, ebenso seltsame als werthvolle Schmuck von Gerstäcker’s Arbeitszimmer durch den Verkauf verzettelt werden müßte? Sollte sich kein Freund solcher culturhistorischen Schätze finden, der sie insgesammt an sich nehmen könnte? Ein derartiger Erwerb bringt nicht blos die Waare, sondern auch Ehre mit in’s Haus.




Aus San Francisco empfangen wir mit Bezug auf den Artikel „Der fünfundsechszig Millionen Dollarschatz“ in Nr. 24 folgende ergänzende Zuschrift:

„Ich habe Ihnen, lieber Herr Keil, die Mittheilung zu machen, daß die Brigg ‚Laura‘ am 29. Juli von der Cocosinsel zurückgekommen ist, aber leider ohne die fünfundsechszig Millionen mitzubringen. Das Schiff legte die Reise von hier nach der Insel schnell zurück, Wind und Wetter waren der Fahrt günstig und in einunddreißig Tagen befand man sich zur Stelle. Der berühmte Capitain Welsh zeigte nach einigem Hin- undherspüren den Schatzsuchern die Höhle, worin die Millionen verborgen liegen sollten, und da der Eingang verschüttet war, so machten sich diese mit lobenswerthem Eifer an die Arbeit, die Höhle auszugraben. Nach achttägiger, unter Furcht und Hoffen verbrachter anstrengender Arbeit hatte man einen achtzig Fuß langen Tunnel in den Berg gebohrt, ohne bis jetzt die Spur von einem Schatze entdeckt zu haben. Die getäuschten Schatzgräber proponirten nun, den alten Welsh nebst seiner holden Eliza, welche sie so zum Besten gehabt, an einer Cocospalme aufzuhängen, aber diese bestanden darauf, daß der Schatz im Berge stecke; man solle nur munter weiter graben, man werde ihn schon finden etc.! – Auf diese Versicherung hin gruben die Schatzgräber während der nächsten zwölf Tage noch zweihundert Fuß weiter in den Berg hinein, bis die Höhle ganz ein Ende hatte. Jeder von der Gesellschaft überzeugte sich davon, daß die fünfundsechzig Millionen Dollars – Gold, Silber und Juwelen – nicht in dieser Höhle steckten und auch nie darin gewesen sein konnten. Jetzt sollte Lynchrecht gehalten und Welsh und Eliza dennoch summarisch aufgeknüpft werden. Hierzu kam es jedoch nicht, weil Mehrere noch an das Vorhandensein des Piratenschatzes glaubten, und auch auf der unbewohnten Insel wurde das Ehepaar, wie einige Schatzsucher beabsichtigten, nicht zurückgelassen, da es zu gewagt schien, sie mit den unermeßlichen Reichthümern, die möglicherweise doch noch auf der Cocosinsel stecken konnten, allein zu lassen. Die Actionäre des Piratenschatzes ließen sich zuletzt durch die jammervollen Bitten von Welsh und Eliza erweichen, dieselben nach Punta Arenas mitzunehmen, wo man sie an’s Land setzte und laufen ließ. Die Brigg ‚Laura‘ kehrte dann ohne das Abenteurerpaar nach San Francisco zurück.

Hier wurden die Schatzsucher durch die freudige Botschaft überrascht, daß man während ihrer Argonautenfahrt eine alte dem früheren Seeräubercapitain gehörende Karte von der Cocosinsel gefunden habe, auf welcher der Ort, an dem der Schatz vergraben liege, genau verzeichnet stände. Es hat sich in San Francisco bereits eine neue Compagnie von Schatzsuchern gebildet, die baldigst nach der Cocosinsel fahren und diesmal die Millionen sicher heben wird. Mehrere von der letzten Gesellschaft sind wieder dabei; aber Welsh und Eliza wird man nicht mitnehmen und dieselben sollen, weil sie den falschen Platz angaben, auch nichts von den Millionen abhaben. Daß der Piratenschatz auf der Cocosinsel wirklich existirt, gilt den Actionären der neuen Compagnie als eine ausgemachte Thatsache. Die in San Francisco während der letzten Tage von hiesigen magnetischen Mediums citirten und zu Rathe gezogenen Geister der Piraten haben Alle erklärt, daß die Karte ‚all right‘ sei; es wäre lächerlich, unter so bewandten Umständen an der Echtheit derselben zu zweifeln! – Ich hoffe, es hat seine Richtigkeit damit, und ich werde noch Gelegenheit finden, die ungeheuren Schätze auf der Cocosinsel nach ihrer glücklichen Ankunft in San Francisco den Lesern der Gartenlaube genau zu beschreiben, – was zu besonderem Vergnügen gereichen würde Ihrem

San Francisco, 1. August 1872.

Theodor Kirchhoff.“


[612] Denkmal für Volkskämpfer. Mit Abbildung. S. 609.) Zu Kirchheimbolanden in der Rheinpfalz wurde am 16. Juni d. J. ein Denkmal feierlich eingeweiht, das die Treue der Kampfgenossen und der Dank des heutigen Geschlechts siebenzehn rheinhessischen Männern und Jünglingen, die im pfälzisch-badischen Revolutionskriege hier den Tod im Kampfe gefunden, auf dem dortigen Friedhofe errichtet hat. – Bei der Aufstellung des Sockels des Denkmals, am fünfundzwanzigsten Mai, wurde vor dem Aufsetzen des Capitälchens in eine Vertiefung des letzten Würfels eine auf Pergament geschriebene Urkunde in einem gläsernen Cylinder eingelegt, welche kurz und bündig die Veranlassung dazu mit folgenden Worten darstellt:

„Im Jahre 1848–1849 hat die vom deutschen Volke gewählte deutsche Reichsversammlung in Frankfurt a. M. eine deutsche Reichsverfassung auf gesetzlichem Wege berathen und festgestellt, deren Ein- und Durchführung sich jedoch verschiedene deutsche Fürsten gegen den Wunsch und das Wohl des Volkes widersetzten. Die Bevölkerung der bairischen Pfalz und von Baden trat für ihr gutes Recht ein, ihre dafür streitende Volkswehr aber wurde von der Uebermacht der von den Fürsten gegen sie aufgebotenen Heere besiegt und die Hoffnung auf die Schaffung eines einigen, freien deutschen Reichs in damals unabsehbare Ferne hinausgerückt. An diesem Kampfe für sein gutes Recht wurde das pfälzische Volk von vaterlands- und freiheitsbegeisterten Männern und Jünglingen aus der rheinhessischen Nachbarprovinz unterstützt, welche eine Freischaar bildeten, die am vierzehnten Juni 1849 den ersten Kampf gegen eine in die Pfalz einrückende preußische Heeresabtheilung hier in Kirchheimbolanden zu bestehen hatte, wobei die nachstehend Aufgeführten (folgen die Namen) den Heldentod für Freiheit und Vaterland starben und auf diesem Friedhofe ihre letzte Ruhestätte fanden.“

Das Denkmal mag eine Gesammthöhe von vierzehn bis fünfzehn Fuß haben und stellt eine Germania dar, welche die Linke auf den deutschen Reichsschild stützt, in der Rechten den Kranz des Kämpfers emporhält und auf einem Sockel steht, dessen unterster, auf den Platten der Doppelstufen ruhender Würfel fünfundachtzig Centner wiegt; der zweite wiegt achtundvierzig, der dritte sechszig und das ihn krönende Capitälchen zehn Centner. Entwurf nebst Modell ist von Professor Schieß in Wiesbaden, der Guß von A. Kastner in Berlin, Unterbau nebst Sockel vom Bildhauer Schuler in Kirchheimbolanden; Alle haben sich zur Ehre gearbeitet, denn das Denkmal gehört in der That zu den schönsten in Deutschland.

Stadt und Bürgermeister haben das Würdigste zur Enthüllungsfeier beigetragen. Das „Nordpfälzische Wochenblatt“ in Kirchheimbolanden erzählt: Alle Straßen waren mit dem Grün des Waldes verziert, von den Häusern wehten Fahnen in den Farben, welche der Erhebung vor zwanzig Jahren vorangeleuchtet, dem theuren „Schwarz-Roth-Gold“, den Farben, welche das neugestaltete deutsche Vaterland die seinigen nennt, „Schwarz-Weiß-Roth“, sowie in den Farben unseres engeren Vaterlandes Baiern, „Blau-Weiß“. Und so herzerhebend wie dieser Anblick, war der der Menge des Volkes, das von nah und fern herbeiströmte – vor Allem aber das Denkmal selbst! Wohl den Meister will ich loben! Germania in Trauer mit dem Lorbeerkranze für die Gefallenen! Jedes Glied an ihr ein Meisterwerk; die Falten des Mantels, das göttergleiche Haupt – kurz das ganze Denkmal ist über jedes Lob erhaben und wird mit seinem schönen Hintergrunde eine Zierde unseres Friedhofs bleiben für alle kommenden Zeiten.

Wir aber begrüßen die Enthüllung eines solchen Denkmals als ein Zeugniß für die dermalen im Reiche herrschende Macht, daß sie in den einst von ihr als Rebellen Bekämpften nun ihre Vorkämpfer anerkannt, die dasselbe gewollt haben, was jetzt am hellen Tag und vor aller Welt wie vom gesammten Volke auch von der herrschenden Macht auf den Thronen erstrebt wird: des deutschen Reiches Heil!




Paul Dietze’s letztes Schicksal. Wir haben in Nr. 33 die Notiz gebracht, daß wir dem vermißten Zwerg aus Neudorf bei Dresden auf der Fährte seien. Darauf hin erhielten wir gleichzeitig aus Königsberg i. Pr. und Danzig die Nachricht, daß der Menageriebesitzer Kaufmann, der Sohn jenes Panoramenbesitzers, in dessen Dienst Paul Dietze als Zwerg gegangen, sich soeben auf dem Danziger Dominikmarkt befinde. Während wir nun eben auf die Antwort der Danziger Polizeibehörde warteten, die wir um Nachforschung bei dem etc. Kaufmann ersucht, überrascht uns ein Schreiben aus dem „Auswärtigen Amt“ in Berlin, in welchem „im Auftrage des Reichskanzlers“ uns Folgendes mitgetheilt wird:

Berlin, den 23. August 1872.     

Die in Nr. 22 des laufenden Jahrganges der ‚Gartenlaube‘ unter der Rubrik ‚Wer kann Auskunft geben?‘ enthaltene Notiz über Paul Dietze, Sohn einer Wittwe in Sachsen, hat dem kaiserlichen Consulat zu Constantinopel Anlaß gegeben, über den Verbleib des Genannten Erkundigung einzuziehen.

Bereits bei einer früheren Gelegenheit, vor etwa zwei Jahren, war dem kaiserlichen Consulat von dem zu Pera wohnenden Commis Michael Salomonowitsch mündlich zur Anzeige gebracht worden, daß ein österreichischer Unterthan Namens Jehiel Stern dem Serail einen Zwerg, der Paul Dietze heiße, verkaufen wolle. Dies Geschäft ist angeblich aus dem Grunde damals nicht zu Stande gekommen, weil Dietze durch das Consulat gewarnt worden ist und er sich auch nicht entschließen wollte, zum Islam überzutreten. In Erinnerung dieses Umstandes hat das kaiserliche Consulat den etc. Salomonowitsch neuerdings über die ferneren Schicksale des Paul Dietze vernommen. Salomonowitsch erklärte: Der etc. Dietze sei von Pera nach Adrianopel, von da nach Larsa in Rumelien gereist und dort gestorben. Diese Nachricht wollte Salomonowitsch durch den türkischen Unterthanen Salomon Fortuna erhalten haben, der mit dem vorgenannten Jehiel Stern beim Tode des Dietze zugegen gewesen sei. Es ist demgemäß auch der Salomon Fortuna vernommen worden und hat erklärt: er habe bis vor einem Jahre das Casino zu Larsa bewirthschaftet. Im Herbste des Jahres 1870 sei der jüdische Handelsmann Stern in Begleitung eines aus Preußen gebürtigen Zwerges Namens Karl Dietze nach Larsa gekommen, um dort im Casino Vorstellungen zu geben. In Larsa sei Dietze plötzlich in Folge eines Nervenfiebers gestorben und auf dem griechischen Kirchhofe beerdigt worden. Sämmtliche im Nachlaß des etc. Dietze vorgefundenen Papiere und alle sonstigen zum Nachlaß desselben gehörigen Effecten will Salomon Fortuna den Beamten des kaiserlich russischen Consulates zu Larsa übergeben haben, da dasselbe es übernommen hatte, wegen Auslieferung des Nachlasses an das angeblich zunächst gelegene deutsche Consulat zu Salonik Sorge zu tragen.

Der Redaction gebe ich die weitere entsprechende Veranlassung mit dem Bemerken anheim, daß ich bereit bin, auf Wunsch der Mutter des verstorbenen Karl Dietze Schritte zur Erlangung des Nachlasses desselben einzuleiten.

Der Reichskanzler.
Im Auftrage:
v. Bülow I.

Von dem leider so schmerzlichen Inhalt dieses Schreibens haben wir der armen alten Mutter des Paul Dietze sofort Kunde gegeben. Das Schreiben des „Auswärtigen Amts“ selbst aber hat für uns seinen besondere Werth als ein Zeugniß aus dem „neuen deutschen Reiche“, daß der einst im Ausland so schutz- und hülflose und darum verachtete Deutsche nun der Würde des Reichs angemessen vertreten ist und selbst der Aermste draußen fühlen muß, daß Deutschland wieder eine Fahne und ein Schwert hat, das ein starker Arm führt.




Friedrich Rückert’s Hainbund-Feier. Unter Glas und Rahmen hängt auf der Kneipe der Burschenschaft „Germania“ in Göttingen ein noch ungedrucktes Gedicht Rückert’s. Der Inhalt läßt uns vermuthen, daß es zu jenen Dankesäußerungen gehörte, mit welchen der Dichter so Manche erfreute, die, der Anregung der Gartenlaube folgend, ihm Glückwünsche und Ehrengaben zu seinem fünfundsiebenzigsten Geburtstage (am 16. Mai 1863) dargebracht hatten. Da der Inhalt des Gedichts zugleich den „Hainbund“ feiert, dessen hundertjähriges Stiftungsfest am zwölften September in Göttingen begangen worden ist, so erkennen wir es um so mehr als unsere Pflicht, dasselbe als eine nachträgliche Beisteuer zu dieser Feier hier mitzutheilen.

Dort, wo einst Hölty’s Jugend vorgekündet
Den leisen Ton zu Goethe’s vollem Chore,
Und Bürger mit der Todtenbraut Lenore
Weimars Balladenwettkampf hat entzündet;

Ihr dort, zu höherm Hainbund nun verbündet,
Habt herrlich meines Alters jüngste Hore
Begrüßt mit Worten, schmeichelhaft dem Ohre,
Und deren Sinn mir fest in’s Herz sich gründet.

Heil euch, ihr Musenzöglinge der Leine,
Heil ruf’ ich euch in allen Facultäten,
Wo euch des Wissens Quelle tränkt, die reine,

Auf daß ihr, mit des Geistes Kampfgeräthen
Gerüstet, mögt als rüstige Gemeine
Der Zukunft in den Kampf des Lebens treten!

 Fr. Rückert.




Journalisten-Lehrstühle. „Wissen Sie schon,“ schreibt uns ein alter Mitarbeiter der Gartenlaube aus Amerika, „daß in einzelnen unserer Colleges (höhere Lehranstalten) nun eigene Lehrcourse zur Ausbildung von Journalisten eröffnet wurden? Das könnte auch drüben in Europa nichts schaden, aber ich fürchte, man macht der Presse dort keine solche Concession, wie der Theologie, Juristerei etc.“




Nachträgliches. In Nr. 16 der „Gartenlaube“ (Seite 258) geschieht in dem Artikel „des Kaisers Tusculum“ eines Straußes von künstlichen Kornblumen Erwähnung und heißt es gleichzeitig, derselbe sei ein Geschenk einer „armen Wittwe“. Es geht uns nun in Bezug hierauf die Berichtigung zu, daß die Spenderin der Blumen die Frau Majorin v. Mosch, Wittwe des Adjutanten Schill’s, ist und das Beiwort „arme“ in keiner Weise auf diese Dame Anwendung finden kann. Möge es der „Gartenlaube“ stets so leicht gemacht werden, die Armuth zu beseitigen, wie in diesem Falle!




Kleiner Briefkasten.

A. M. in K. Ihrem Wunsche gemäß theilen wir Ihnen hierdurch mit, daß der Verfasser des in Nr. 23 der „Gartenlaube“ enthaltenen Artikels „Der Held des Chicagoer Brandes“ Herr E. Schläger in Innsbruck ist. Zu einer eingehenderen Unterrichtung über den Gegenstand jenes Artikels empfehlen wir Ihnen das von demselben Autor in Gemeinschaft mit Herrn E. Seeger verfaßte Buch „Der Brand von Chicago“.

K. in Lpz. Der Name des Zeichners der in Nr. 32 d. Bl. abgebildeten Ansicht des Vestibule im neuen Johannis-Hospital zu Leipzig ist nicht Lochmann, sondern Lachmann. Herr Lachmann war der von Seiten des Rathes mit der speciellen Ausführung des Baues beauftragte Bauführer.




Berichtigung. In einem kleinen Theile der Auflage von Nr. 34 ist durch ein Correcturversehen in dem Feuilletonartikel „Die Kölner Kaiserglocke“ das Gewicht der Glocke anstatt mit 500 mit nur 50 Centner angegeben. Wir bitten die Besitzer der ersten Abdrücke das Versehen zu entschuldigen und das Gewicht in die richtige Zahl abzuändern.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.