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Die Gartenlaube (1874)/Heft 12

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1874
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[187]

No. 12.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die zweite Frau.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


Jetzt flog sie auf ihn zu und griff nach dem Briefblatte; aber er streckte den linken Arm kräftig abwehrend nach ihr aus, und den Kopf fast gegen die Scheiben gedrückt, las er weiter: „Ulrike, Mainau ist ein schöner Mann; er ist verschwenderisch ausgestattet mit jenem Esprit, der in der Conversation funkelt und blendet, der, mit seiner unnachahmlichen Nonchalance, gleichsam hingeworfen, wohl ein Frauenherz zu umstricken vermag – aber wie sinkt diese prächtige Salonerscheinung kläglich zusammen neben unserm stillen Denker in der Rudisdorfer Studirstube, neben Magnus, der in seinem schwachen, ungeschmückten Körper einen rastlos arbeitenden Geist birgt, hinter dessen ernster Stirn das komödienhafte ‚was wirst du wohl für Effect machen?‘ niemals Raum gefunden hat! … Siehst Du, in dieser einen Frage wurzeln alle Tollheiten, die man Mainau nachsagt, seine Duellgeschichten, Liebesabenteuer, selbst seine belehrenden Reisen, aus denen er da und dort wie ein Märchenprinz phantastisch emportaucht und von Allem nur das Auffallende, Blendende wegnascht. Niemand betont seine vielen Fehler mehr als er – gleichwohl möchte er um Alles nicht einen einzigen einbüßen, weil sie cavaliermäßige Unarten sind und von der oberflächlichen vornehmen Welt als originell cajolirt werden. … Mit mehr Ernst und Strenge gegen sich selbst und weniger umschmeichelt von verlorenen Frauenseelen, hätte er ein ganzer Mann werden können, aber“ – hier hatte sie vorhin die Feder weggeworfen.

„Es ist wahr, verbittert bist Du nicht, Juliane,“ sagte er, unter einem ironischen, aber eigenthümlich heisern Auflachen den Brief auf den Tisch legend. „Verbitterung läßt keine solche objective, leidenschaftslose Beurtheilung zu, mit der Du mein ganzes Sein und Wesen wie einen angespießten unglücklichen Schmetterling unter die Loupe genommen hast. … Du hast ferner vollkommen Recht, wenn Du Dich bei dieser Auffassung meines Charakters um jeden Preis von mir loszumachen suchst. – Das wird Dir nach Dem, was heute vorgefallen, nicht mehr schwer werden – selbst im unerbittlichen Rom wird man nicht umhin können, den einen Scheidungsgrund zu berücksichtigen – ich habe Dich ja geschlagen.“

„Mainau!“ schrie sie auf – der Ton, in welchem er sprach, ging ihr durch und durch.

Er schritt, ohne sie anzusehen, an ihr vorüber, in den Salon – dort ging er einige Male auf und ab, dann trat er an die Glasthür und starrte finster schweigend hinaus in die Abenddämmerung. … Wie würde Freund Rüdiger in sich hineingelacht haben bei einem Einblicke in die Appartements der jungen Frau! … Sie stand zwischen den weißen Azaleenbäumen im blauen Boudoir. Mit dem ganzen Schimmer des gefeierten deutschen Loreleihaares rieselten die gelösten, vielgeschmähten roten Flechten, „die ‚er‘ wohl bei seiner Frau, niemals aber an einer Geliebten“ sehen wollte, zwischen dem blüthenbeschneiten zarten Geäste der Azaleen hinab, und die mitleidig belächelten „blassen Veilchenaugen à la Lavallière“ sahen mit dem Ausdrucke eiserner Entschlossenheit vor sich hin. Und Mainau? Noch vor Kurzem hatte er die Briefe, die er von ihr erhalten werde, „als steife Stilübungen einer ernsthaften Pensionärin mit Wirthschaftsberichten als Vorwurf“ prophetisch bezeichnet – jetzt hatte er einen Brief von ihr gelesen – der Aufruhr, der sichtlich hinter dieser düster gefurchten Stirn wogte, das unbewußte nervöse Spiel der Finger auf den leise klingenden Scheiben ließen nicht auf jene „keine schlaflose Nacht“ bringende Gemüthsruhe schließen, die er vorausgesetzt.




17.


Es war so still geworden nach dem Schreckensrufe der jungen Frau. In der Volière des anstoßenden großen Empfangssalons regten sich noch einige Male aufflatternd die kleinen Vögel, ehe sie zur Nachtruhe die Köpfchen unter die Flügel steckten, und draußen auf der hallenden Steinmosaik des langen Säulenganges klang manchmal der flüchtige Fuß eines vorübereilenden Lakaien; aus dem blauen Boudoir aber, das mit seinen hellglänzenden Wänden unter der Portière hervor einen bleichen Schein in den dunkelnden Salon warf, kam auch nicht das leiseste Geräusch – sollte die junge Frau das Zimmer verlassen haben? – Bei diesem Gedanken fuhr Mainau mit dem Schrecken einer plötzlich erlittenen Beleidigung empor – hatte er erwartet, sie werde ihm nachkommen, weil seine Stimme, was ihn in jenem Augenblicke selbst überrascht, sie erschüttert und bewegt hatte, wie alle, ja alle anderen Frauen auch? Hatte er gemeint, dieser unbestechliche, starke Geist habe doch unbewußt jene Saite des schwachen Weibes in sich, die unter den verführerischen Lauten von Männerlippen wiederhallt und ihn schließlich doch zu den Füßen des Siegers zwingt? … Rasch, aber unhörbar über den teppichbelegten Boden schreitend, trat er unter die Portière.

Die junge Frau war nicht hinausgegangen – die linke [188] Hand auf den Sims gestützt, das liebliche Profil ihm zugewendet, stand sie in sich gekehrt noch im Fenster; die zartgeschwellten Lippen lagen leicht aufeinander, und bei dem Geräusch, das Mainau’s Eintreten verursachte, wandte sie langsam den Kopf, und die großen, tiefen Augen sahen ihn ruhig ernst an. Hier war kein Kampf gekämpft worden – sie war ja längst mit sich fertig.

„Leo wird mir das Leben schwer machen, wenn er wieder in sein altes Quartier umsiedeln muß,“ warf er hin, ihren Blick mit einer Art von starrer Kälte erwidernd.

Ein tiefer Seufzer glitt über die Lippen der jungen Frau; ihre Augen füllten sich mit Thränen. „Du wirst Das nicht lange mit ansehen müssen – Du gehst ja fort,“ sagte sie leise, auf den Boden sehend.

„Ja wohl, ich gehe, und diesmal werde ich mich dem Leben stürmischer als je in die Arme werfen – wer will mir Das verargen? Hinter mir die Eisregion des Tugendstolzes, des kalt zersetzenden Verstandes, und vor mir der bunte Reigen des Genusses – draußen ein umjubelter ‚Märchenprinz‘, und hier ein gemaßregelter, mit geringschätzendem Seitenblicke kalt gemusterter Mann.“

Er schritt nach der Ausgangsthür. „Hast Du noch etwas zu sagen, Juliane?“ fragte er, sich halb umwendend, über die Schulter zurück.

Sie schüttelte verneinend den Kopf, und doch preßte sie die Hand auf das Herz, als unterdrücke sie gewaltsam ein aufwallendes Verlangen.

„Wir sind heute zum letzten Male allein zusammen,“ betonte er, ihre Bewegung mit scharfem Blicke verfolgend.

Rasch entschlossen, näherte sie sich ihm. „Ich habe Dir vorhin viel Bitteres gesagt – ohne es zu wollen; es thut mir leid, und doch – bin ich noch nicht zu Ende. … Du hast mich selbst aufgefordert – willst Du mich anhören?“

Er bejahte, blieb aber, die Hand auf das Thürschloß gelegt, unbeweglich stehen.

„Ich habe Dich wiederholt sagen hören, daß Dir für das nächste halbe Jahr nicht eine einzige Aufgabe in der Heimath zu erfüllen bliebe. … Mainau – sollte wirklich ein Vater – sei seine Lebensstellung, welche sie wolle – berechtigt sein, sich von seinen Pflichten dergestalt loszusagen, daß ihm die Erziehung seines Kindes keine Aufgabe ist? … Weiter: In welchen Händen lässest Du Dein einziges Kind zurück? … Du sprichst selbst mit Nichtachtung von dem starren, unhaltbaren Dogmenwerke, das Deine Kirche neuerdings predigt, und das, bis in das Reich des finstersten Aberglaubens hinein, vom Hofprediger und Deinem Onkel streng aufrecht erhalten wird, und doch überlässest Du ihrer Führung sorglos den jungen Kopf Deines Kindes, noch mehr, Du schweigst gegen Deine Ueberzeugung –“

„Ach, Das ist die Strafe dafür, daß ich Dir heute bei dem unerquicklichen Streite um des Teufels Existenz nicht secundirt habe! Bah – wer wird sich herablassen, gegen solchen Widersinn auch nur ein Wort zu verlieren – er geht an sich selbst zu Grunde. … Leo ist auch geistig mein Sohn – er wird den Ballast abschütteln, sobald er selbstständig zu denken anfängt.“

„So bequem denken Viele, die handeln müßten, und nur so ist es zu erklären, daß die wahnsinnigste Vermessenheit des Menschengehirns, die der alte Mann in Rom proclamirt, in unserm Jahrhundert auch nur aufzutauchen vermochte. … Bist Du wirklich sicher, daß Leo die innere Wandlung so leicht überstehen wird wie Du? Ich weiß, daß die ersten religiösen Zweifel und Kämpfe Wunden in der Seele zurücklassen – weshalb sie muthwillig und unvermeidlich heraufbeschwören und mit ihnen vielleicht das gesammte religiöse Bewußtsein für immer erschüttern? … Wie wir auch eine Kindesseele bewachen und studiren mögen, sie bleibt dennoch ein Geheimniß in sich und für uns, die wir auch bei einem geschlossenen Blumenkelche nicht sagen können, ob er nicht doch plötzlich verkrüppelte Blätter entfalten wird – so viel weiß ich nun schon, seit ich mit Leo zusammenlebe und ihn unausgesetzt beobachte. Ich bitte Dich dringend, lasse ihn nicht in den Händen des Hofpredigers!“

Er schwieg, aber seine Finger glitten vom Thürschlosse.

„Gut,“ sagte er, wie nach einem augenblicklichen Ueberlegen, „ich will diese Bitte als eine Art letzten Willens vor Deinem Scheiden respectiren – ist Dir’s recht so?“

„Ich danke Dir!“ rief sie herzlich und bot ihm die Linke.

„Nein, mir liegt nichts an solch einem Händedrucke; wir haben ja aufgehört – gute Cameraden zu sein,“ sagte er sich abwendend. „Uebrigens“ – ein unbeschreibliches Gemisch von Satire und frivolem Spotte flog um seinen Mund – „bist Du nicht sehr dankbar. Dein sehr guter Freund, der Herr Hofprediger, bricht, wo er kann, in schrankenloser Selbstverleugnung eine Lanze für Dich – und Du intriguirst gegen ihn?“

„Er weiß am besten, daß ich diese Ritterdienste nicht wünsche,“ erwiderte sie gelassen. „Am ersten Abende meines Hierseins hat er sich mir bereits genähert – ich bin aber nicht gesonnen, mich auf diesem schlauen, indirecten Wege bekehren zu lassen.“

„Bekehren?“ lachte Mainau schallend auf. „Sieh mich an, Juliane!“ – er ergriff ihre Linke und preßte sie heftig – „meinst Du das wirklich? Bekehren – zum Katholicismus bekehren? – Ich will die Wahrheit wissen! – Hat er seine berühmte Predigerstimme schmeichelnd gemißbraucht, der wundersame Gottesmann? Juliane, sei ehrlich – wenn er je gewagt hat, Dich auch nur mit seinem Athem zu berühren –“

„Was ficht Dich an?“ zürnte sie, mit stolzer Geberde ihre Hand aus der seinen ringend. „Ich verstehe Dich nicht. Es fällt mir nicht ein, irgend etwas vor Dir zu verheimlichen, das auf Deinem Grunde und Boden ausgesprochen worden ist, sobald Du mich danach befragst – und so antworte ich Dir: Er hat mir gesagt, Schönwerth sei ein heißer Boden für Frauenfüße, gleichviel, ob sie aus Indien, oder aus einem deutschen Grafenhause kämen – zugleich versuchte er, mich auf unausbleibliche schlimme Augenblicke vorzubereiten.“

„Prächtig eingefädelt! … Das muß man ihm lassen, er hat Geist, der Mann. Er sieht auf den ersten Blick das, was blöde Augen erst dann erkennen, wenn es für sie verloren ist. … Ja, siehst Du, Juliane – Valerie war ein vortreffliches Beichtkind, und er hat ja Recht, wenn er wünscht, daß auch die neue Herrin von Schönwerth in das alte Geleise einlenke, um – des religiösen Friedens im Hause willen – so ist’s gemeint, nicht wahr?“

„Ich denke – oder vielmehr, daran zweifle ich keinen Augenblick,“ erwiderte sie und sah ihn mit den großaufgeschlagenen Augen ehrlich und fest an. „Deshalb verwahre ich mich ja eben, wie ich Dir bereits erklärt, stets entschieden gegen seine Einmischung.“

„Stählern genug mag Dein Wille sein; er wird es ja wohl auch bleiben. … Juliane, ich wollte, ich hätte nicht so tief in den Abgrund der Gesellschaft geblickt, dann würde ich auf diese Schrift hier“ – er neigte den Kopf gegen ihr Gesicht – „wie auf das Evangelium schwören; aber“ – er lachte bitter auf. „Ja, ja – dieser Kopf da mit der prachtvollen Goldfluth, er würde nicht übel in die Engelschöre der katholischen Kirche passen – ich glaub’s dem frommen Bekehrer gern, und es ist auch süß, als Engel verherrlicht zu werden – Du weißt’s nur noch nicht, Juliane! – Nun, ich werde selbst energisch Mittel und Wege gegen diese Bekehrung ergreifen –“

„Wozu dies Alles?“ fiel die junge Frau ein. „Du gehst ja fort, und ich –“

„Ich sollte meinen, das hättest Du nun oft genug ausgesprochen!“ rief er zornig und stampfte mit dem Fuße auf. „Du wirst wohl die Gnade haben müssen, mir zuzugeben, daß ich einzig und allein zu bestimmen habe, ob und wann ich reisen will.“

Sie schwieg – zu welcher Verkehrtheit ließ sich dieser Mann durch sein unberechenbares Temperament hinreißen! – Als ob nicht er selbst bis zu dem heutigen Tage mit dem Vorgefühl des höchsten Genusses von dieser Reise unablässig gesprochen hätte!

„Gestehe es nur, Juliane, bei jener Vorbereitung auf die schlimmen Augenblicke hat der liebenswürdig indiscrete, fromme Mann auch mein Privatleben nicht geschont,“ sagte er leichthin, während er eine der Elfenbeingestalten vom Sockel herablangte, um sie aufmerksam zu betrachten.

„Das setzt ein ruhiges Anhören meinerseits voraus,“ antwortete sie verletzt. „So viel Pflichtgefühl wirst Du mir zutrauen, daß ich eine Verunglimpfung Deiner Person nie geduldet haben würde, selbst wenn das fremde Urtheil meiner eigenen Ueberzeugung entsprochen hätte. Der muß eine Frau [189] schon tief verachten, der ihr Nachtheiliges über ihren Mann mitzutheilen wagt.“

„Wenn abgeschiedenen Seelen das Gefühl der Scham verbleibt, wie muß dann Valerie in diesem Augenblick aussehen!“ rief er, die elfenbeinerne Ariadne auf das Postament zurückstoßend. „So beruht Deine ungünstige Meinung von mir einzig auf Deiner eigenen Beobachtung?“

Sie wandte sich schweigend ab.

„Wie? – Dann haben Andere in Deiner Gegenwart über mich gesprochen – der Onkel?“ – wie stümperhaft spielte er in dem Moment den Gleichgültigen!

„Ja, Mainau. Er klagte neulich dem Hofprediger – Dein ewiges Reisen erfüllte ihn mit Besorgniß – Leo’s wegen. Du streiftest durch die Welt, um der Langeweile zu entgehen, und doch gäbe es daheim für Dich, auf Jahre hinaus, mehr als genug zu thun. Allerdings seien Deine Besitzungen wahre Goldgruben – sie würden aber von treulosen Händen ebenso rücksichtslos ausgebeutet, wie von Dir selbst. Das Wirrsal in der Verwaltung spotte aller Beschreibung – er schaudere stets, wenn ihm auch nur ein flüchtiger Blick hinein vergönnt werde.“

Mainau hatte ihr erbleichend den Rücken gewendet und sah angelegentlich zum Fenster hinaus. Sie sprach mit hörbarer Befangenheit – das war allerdings eine Angelegenheit, in die sie sich nicht mischen durfte, am allerwenigsten jetzt noch, wo sie schon halb und halb die geschiedene Frau war; aber sie sprach für Leo’s Zukunft – was sie in diesen kurz zugemessenen Minuten des letzten Alleinseins noch für ihn erreichen konnte, das mußte sofort geschehen.

„Bah – Du kennst ja den Onkel mit seiner fieberhaften Angst vor einer möglichen Verringerung des Mainau’schen Besitzthums – sein gieriges Zusammenraffen wird nachgerade unerträglich; er übertreibt haarsträubend, der alte Mann,“ sprach er, ohne ihr das Gesicht zuzuwenden. „Ich sage Dir, in wenigen Wochen ist der ganze Plunder geordnet, und die Sache läuft von selbst wieder am Schnürchen – was dann? … Soll ich zur Abwechselung selbst hinter dem Pfluge hergehen, oder vielleicht, weil ich keinen Funken Musik in mir habe, Hoftheaterintendant werden? Oder soll ich mich zu irgend einem vacanten Ministerposten melden? Ich habe hie und da, in Berlin und Bonn an der Jurisprudenz genascht, vor Allem aber zwei Feldzüge mitgemacht, dazu mein guter Adel – was braucht es mehr?“ – Er schüttelte sich. – „Nie und nimmer! … Nun rathe mir, weise Sphinx, wie soll ich mir die Zeit in Schönwerth vertreiben, wenn auch meine zweite Frau mich verlassen haben wird?“

„Ist Dir nie die Lust gekommen, zu schreiben?“

Er fuhr herum und sah sie sprachlos an. „Willst Du mich unter die Schriftsteller stecken?“ fragte er endlich mit einem ungläubigen Lächeln.

„Wenn Du denkst wie Mama und der Hofmarschall, dann freilich darfst Du meine Andeutung nicht dahin auffassen, als gelte es – das ‚Gedrucktwerden‘,“ antwortete sie mit einem heiteren Anflug in der Stimme. „Du erzählst interessant und fließend – ich bin überzeugt, Du hast einen vortrefflichen Stil; Du wirst noch effectvoller schreiben, als Du sprichst“ – seltsam, der eitle, durch die lockeren Sitten und üppigen Schmeicheleien der Halbwelt verdorbene Mann, er schlug die Augen nieder und erröthete scheu wie ein zartes Mädchen bei dem kargen Lob der ernsten jungen Frau. „Ich hätte Dir manchmal Abends beim Thee nachschreiben mögen,“ setzte sie hinzu.

„Ah – da hat also die scharfe Kritik verkappt und geräuschlos neben mir gesessen, während ich mich manchmal versucht fühlte, zu fragen, wie viel Nadelstiche wohl zu einem Blumenblatt in dem unvermeidlichen Teppich gehören möchten. … Juliane, es war nicht edel, mich diese tölpelhafte Rolle spielen zu lassen – nein, schweige!“ rief er, als sie unter einem stolzen Heben des Kopfes die Lippen zu einer herben Erwiderung öffnete – „die Strafe war nur allzu gerecht! … Ich muß Dir gestehen,“ sagte er zögernd, „daß es mir in der That oft in den Fingern gezuckt hat, zum Beispiel meine Reiseeindrücke niederzuschreiben; aber der erste schüchterne Versuch in Briefform, den ich von London aus in die Heimath schickte, hat ein so eclatantes Fiasco gemacht, daß ich die Feder für immer entmuthigt hingeworfen habe. Der Onkel schrieb mir ganz empört über ‚diese langathmigen Saalbadereien, diese tactlosen, indiscreten Mittheilungen‘ hinsichtlich verschiedener Höfe, bei denen ich doch ‚so unverdient gnädig‘ aufgenommen worden sei, und verbat sich ernstlich die Fortsetzung, da ein solcher Brief leicht in falsche Hände kommen und ihn wie mich selber compromittiren könne, und bei Valerie fand ich, heimgekehrt, das Fragment einer solchen ‚langweiligen Epistel‘ – wie sie lachend versicherte – um einen Flaconstöpsel gewickelt.“

Leo kam in diesem Augenblicke hereingestürmt – der Doctor sei beim Großpapa, und da habe man ihm erlaubt, nach der Mama zu sehen. Er starrte seinen Papa mit großen Augen erstaunt an – wie kam er denn auf einmal hierher, wo ihn der Kleine noch nie gesehen?

„Je, Papa, was thust Du denn da im blauen Zimmer?“ fragte er mit dem ganzen Befremden, aber auch mit der Eifersucht des bisherigen Alleinherrschers in den Wohnräumen der Mama.

Mainau erröthete flüchtig und schob den Knaben sanft an den Schultern zur jungen Frau hin. „Geh’, mein Junge, lege einmal Deine Arme um den Hals der Mama – sieh, ich darf nicht um eine Linie weiter vorgehen, als sie erlaubt – und bitte, sie möge noch ein klein wenig Geduld mit Dir und auch – mit mir haben, bis wir von einander gehen!“

„Ach, ich gehe ja mit, Papa!“ rief der Kleine und schlang seine Arme um die Hüften der jungen Frau. „Die Mama hat mir Abends beim Schlafengehen immer versprochen, daß sie mich mitnimmt zu Onkel Magnus und Tante Ulrike, wenn sie einmal nach Rudisdorf reist.“

„Wie! Woher weißt Du denn schon, daß die Mama nach Rudisdorf geht?“ fragte Mainau überrascht.

„Der Herr Hofprediger und dem Erbprinzen seine Mama haben am Jägerhäuschen davon gesprochen – ganz heimlich – wir haben’s aber doch gehört, der Erbprinz und ich. … Gelt, Mama, Du nimmst mich mit?“

„Du mußt den Papa herzlich bitten, daß er Dir manchmal einen Besuch gestattet,“ entgegnete sie mit tiefgesenkten Lidern, aber fester Stimme und ließ ihre schönen, schlanken Finger durch die Locken des Kindes gleiten.

„Wir wollen sehen,“ sagte Mainau kurz und rauh. „Sieh da, Juliane, Deine allerliebste Erklärung von heute Nachmittag scheint die Wirkung des elektrischen Funkens zu haben – morgen werden sich die Spatzen auf den Dächern unserer guten Residenz erzählen, daß Seine Heiligkeit in Rom alle Hände voll zu thun habe, um mit Umgehung des eisernen Gesetzes zwei Menschen von einander zu trennen, die sich schlechterdings nicht in einander finden können. … Hm – selbstverständlich wirst Du nicht vor meiner Abreise gehen?“

„Ich füge mich darin ganz und gar Deinen Anordnungen – ist es Dir recht, dann verlasse ich Schönwerth erst, wenn eine Tagereise hinter Dir liegt.“

Er nickte leicht mit dem Kopfe, dabei trat er rasch an den Tisch, bog den Brief an Ulrike zusammen und steckte ihn in seine Brusttasche. „Noch habe ich das Recht, zu confisciren – der Brief gehört mir!“ Er verbeugte sich ironisch tief und feierlich, als habe er Audienz bei einer Fürstin gehabt, vor der überraschten jungen Frau und verließ das Zimmer. … Leo aber brach plötzlich in ein leidenschaftliches Weinen aus – das Kind fühlte, daß es seinen Schutzengel verlieren sollte.




18.


In der Schönwerther Schloßküche, dem Stelldichein der Domestiken, machte das Gerücht, daß die Frau Baronin während der Abwesenheit des jungen Herrn „auf Besuch“ nach Rudisdorf gehen werde, durchaus keinen sensationellen Eindruck. Die Lakaien versicherten, sie hätten diesen „Besuch“ schon im ersten Augenblick prophezeit, wo der gnädige Herr beim Aussteigen wirklich nicht gewußt habe, ob er die Braut anrühren solle oder nicht – zuletzt habe sie doch allein aus dem Wagen steigen müssen – die Kammerjungfer, die gerade einen Bügelstahl aus dem Küchenfeuer nahm, sagte gelassen, sie sei froh darüber, es gehe ihr wider die Natur, eine Dame zu bedienen, die ihr Mann nicht estimire, und die immer nur „Muslinfähnchen“ trage, und das Küchenmädchen mit den brandrothen Flechten seufzte schwermüthig beim Tellerabtrocknen und meinte, der gnädige Herr sei [190] nun einmal ein geschworener Feind der „Blondinen“, alle Damen, die droben in seinem Zimmer hingen, hätten braune oder schwarze Locken – die erste Frau auch – er müsse die zweite geradezu „unbesehen“ genommen haben. … In der höheren Region des Schlosses aber herrschte förmlicher Sonnenschein – das Parquet hatte Ruhe vor dem Krückstock des alten Herrn; Leo bekam einen Marstall voll prächtig aufgezäumter Pferde, der Kammerdiener einen Frack, der noch gar nicht sehr abgenutzt war – dabei kamen auch die sehr geläufigen Titel „Dummkopf“ und „Tölpel“ in Wegfall; er avancirte, für einige Tage wenigstens, zum „lieben Freund“ und „guten, alten Kerl“ – und das Alles, weil „die Gnädigste in der That das Genick gebrochen hatte“.

Mit seinem Neffen hatte der Hofmarschall noch nicht darüber gesprochen – es war auch gar nicht nöthig. Mainau hatte die protestantische, vermögenslose Frau in das Haus gebracht, ohne die Einwürfe, die inständigen Bitten und Vorstellungen des Onkels auch nur im Mindesten zu berücksichtigen; nun kamen die prophezeiten Folgen des unüberlegten, abenteuerlichen Schrittes, und das war Buße und Demüthigung genug, wenn er auch in Folge seines sprüchwörtlichen Glückes kaum mit einem blauen Auge aus der Affaire hervorging. … Es verlief Alles so hübsch glatt und anständig. Die junge Frau präsidirte nach wie vor als Hausfrau; sie bereitete Abends den Thee und unterrichtete Leo, ganz als sei nichts vorgefallen – nur vermied sie fast angstvoll, mit dem Hofmarschall allein zu sein; er bemerkte das und lachte ihr diabolisch in’s Gesicht, als sie einmal bei Ueberreichen der Theetasse seine Hand berührend, wie von einer Viper gestochen, zurückfuhr – ja freilich, er war aber auch ein schlimmer Prophet gewesen, er hatte ihr ja mit wenigen schneidenden Worten den Moment markirt, wo sie „unmöglich geworden“.

Die Abreise des jungen Herrn war allerdings vorläufig verschoben worden und zwar, weil er drüben auf seinem Gute Wolkershausen gewesen und bei einem zufälligen Einblicke in die Verwaltungsbücher eine beispiellose Unordnung vorgefunden hatte. Solche Dinge dürfe man doch nicht im Rücken lassen, wenn man eine so weite Reise antrete, wie er beabsichtige, hatte er zum Hofmarschall gesagt, der vor Erstaunen über diesen plötzlichen energischen Eingriff in das abwärts rollende Rad der Liederlichkeit und Verwahrlosung fast vom Stuhle gefallen wäre. … Die neuen Koffer von Juchtenleder hatten einstweilen in eine luftige Bodenkammer gestellt werden müssen, weil sie noch gar so betäubend stark rochen, und das glänzende Abschiedsdiner, das Mainau den Mitgliedern des Clubs im ersten Hôtel der Residenz geben wollte, war vorläufig vertagt worden. … Im Uebrigen geschah Alles, um dem Gerede in der Residenz die Spitze abzubrechen – die Herzogin bot selbst in ihrer unerschöpflichen Huld die Hand dazu; sie wußte ja am besten, wie die Sachen standen, und konnte deshalb ungefährdet den Wunsch aussprechen, die junge Frau noch vor ihrer „Besuchsreise in die alte Heimath“ bei Hofe vorgestellt zu sehen. Liane hatte sich nicht geweigert – es sollte ja das erste und letzte Mal sein –, und so war „die hochblonde Trachenbergerin im unvermeidlichen blauseidenen Kleide“, wie die Hofdame sarkastisch bemerkte, auf eine halbe Stunde bei Hofe erschienen, um wenigstens „eine glänzende Erinnerung in die Rudisdorfer Einsamkeit mitzunehmen“.

Das Kistchen mit dem Schmucketui und den getrockneten Pflanzen war nun nicht abgeschickt worden – Liane kam ja selbst; auch war sie nicht mehr im Besitze des Bildes, dessen Erlös das Badegeld für die Gräfin Trachenberg vervollständigen sollte. Mainau hatte es ebenfalls confiscirt, „weil man allerdings nicht wünschen könne, daß unliebsame Momente des Hauses Mainau auf diese Weise abermals in die Oeffentlichkeit drängen“. … Sehr viel abwesend und mit den Reformen auf seinen Gütern dringend beschäftigt, machte er es aber doch fast immer möglich, Abends beim Thee zu erscheinen, und da schlug er genau den Ton von früher an. Er unterhielt sich mit dem Onkel und dem Hofprediger und bemerkte es nicht, daß der Letztere Schönwerth fast gar nicht mehr verließ – die Herzogin hatte ihn für einige Wochen halb und halb beurlaubt, um seine angegriffenen Nerven in der Schönwerther Landluft zu stärken – nur als er eines Abends den Vorschlag machte, die Religionsstunden aus dem Salon des Hofmarschalls lieber hinunter in die Kinderstube zu verlegen, da er bemerke, daß das monotone Hersagen des Kindes den alten Herrn nervös mache, da zuckte es einen Augenblick sehr bedenklich über Mainau’s Gesicht, und mit einer Stimme, die so gepreßt klang, als werde ihm die Kehle zugeschnürt, gab er dem besorgten Geistlichen zu bedenken, daß man seiner protestantischen Gemahlin eine solche Zumuthung nicht wohl machen dürfe.

Nun war seine mehrtägige unausgesetzte Anwesenheit in Wolkershausen dringend nöthig geworden. Er ritt eines Nachmittags fort; oben am Fenster erschien der Hofprediger neben dem Onkel; Beide sahen zu, wie er das Pferd bestieg, während die junge Frau, die eben mit Leo in den Garten gehen wollte, herantrat, um das Kind vom Papa Abschied nehmen zu lassen. Er reichte Leo die Hand vom Pferde herab – seiner Frau nicht. Sein Gesicht, auf welchem die vier Augen droben angelegentlich ruhten, blieb vollkommen unbewegt; den Hals des Pferdes klopfend, bog er sich nieder, und jetzt sah Liane in ein Paar finsterdrohende Augen. „Ich hoffe, Dich gut protestantisch wiederzufinden, Juliane,“ sagte er mit gedämpfter Stimme. Sie wandte sich erzürnt ab, und er sprengte mit einem flüchtigen Gruße nach oben aus dem Schloßhofe.

Jeden Morgen kam ein reitender Bote aus Wolkershausen mit einem Zettel von Mainau’s Hand, der hauptsächlich Nachrichten über Leo’s Ergehen verlangte. Der Hofmarschall lachte hell auf über diese neue Marotte des launenhaften Sonderlings, der früher nach Weib und Kind oft monatelang nicht gefragt habe, und sich nun mit einem Male auf die Rolle der zärtlich besorgten Affenmutter capricire. Er schrieb die Antwort stets eigenhändig unter die Nachfrage, die an Niemand speciell gerichtet war. Eines Morgens aber erschien der Bote, nach Abgabe des officiellen Zettels in der Bel-Etage, drunten bei der jungen Frau und brachte ihr einen versiegelten Brief. Beim Oeffnen fielen ihr eine Menge beschriebener Blätter entgegen – auf einer beiliegenden Visitenkarte bezeichnete Mainau dieselben als den Anfang eines Manuscripts, an welchem er nach den Anfechtungen und Sorgen des Tages in späten Nachtstunden zu seiner Erholung schreibe; er unterbreite diesen Anfang ihrem Urtheile.

Mit einem wunderlichen Gemische von froher Ueberraschung und beklemmender Scheu hielt sie die Blätter einen Augenblick unentschlossen in der Hand – diese neue, durch sie selbst heraufbeschworene Beziehung zu dem Manne, den sie binnen Kurzem auf immer verlassen wollte, machte sie stutzig, wie man plötzlich den Fuß zurückzieht auf unbewußt betretenem fremdem Gebiete – dann aber antwortete sie ihm in flüchtigen Zügen, sie bringe jetzt die Nachmittagsstunden mit Leo stets im Forsthause zu – dort, in der Stille des Waldes, wolle sie das Manuscript lesen.

Sie hatte ihm ja selbst gesagt, daß sie ein bedeutendes schriftstellerisches Talent in ihm vermuthe – und doch, als sie sich in diese an „Juliane“ gerichteten Reisebriefe aus Norwegen vertiefte, da stockte ihr der Athem vor Ueberraschung. Diese kräftigen Schriftzüge waren, wie es schien, nicht einmal in’s Stocken gerathen. Unaufhaltsam, wie vom Gewittersturm getragen, flogen und stürzten diese in langer Haft gehaltenen glänzenden Bilder und Schilderungen vor ihr vorüber. Die junge Frau dachte nicht mehr daran, wer sie geschrieben – der capriciöse Salonheld mit dem rücksichtslosen Spottpfeile auf den Lippen und der gemachten Blasirtheit in jeder Bewegung war abgefallen von dem einsamen Manne, der von hoher, sturmgepeitschter Klippe sinnend auf das winzige und doch so hochmüthige Treiben der Menschheit herabsah. Der ganze Plunder der höfischen Umgangsformen war abgestreift von dem Jäger, der mit fieberhaft siedendem Blute den Bären verfolgte und weite Schneewüsten verirrt durchkreuzte, um dann wochenlang in den tief in die Einöde versprengten Gehöften zu rasten, hingerissen durch die seiner innersten Natur verwandte altgermanische Kraft, ja Wildheit der Bewohner, durch ihre reinen Sitten, durch die Züchtigkeit der Frauen. Ganz besonders diesen Charakterschilderungen gegenüber gedachte Liane stillbeschämt ihres harten Vorwurfes, daß er überall nur das Auffallende und Blendende wegnasche.


(Fortsetzung folgt.)




[191]
An der Küste Hinterpommerns.


Bei dem Ueberschreiten einer der großen Moorflächen, welche die Küste Hinterpommerns theilweise umsäumen und die nur durch einen Dünenstreifen von der Ostsee geschieden sind, wurde meine Aufmerksamkeit auf eine Schaar Krähen gelenkt. Das

Der Kampf um die Eier.
Originalzeichnung von Guido Hammer.

eigenthümliche Gebahren dieser stets beutegierigen Vögel hatte mich in jüngster Zeit bald hier bald dort auf den Mooren schon oft angespornt, ihr Treiben zu belauschen; immer aber war trotz der größten Vorsicht mein Nahen von ihnen bemerkt worden, und eilig hatten sie dann, augenscheinlich erbittert über die Störung, die Flucht ergriffen. Heute jedoch erlangte ich endlich die Gewißheit, daß meine Vermuthung, es handele sich hier um irgend einen Raubzug, vollständig begründet sei.

Eine offene Wasserlache breitete sich vor mir aus, bedeckt mit zahlreichen runden Erhöhungen, in einigen Gegenden Kampen genannt, deren Spitzen, mit kurzem Grase bewachsen, aus dem Wasser hervorlugten. Der Ort meiner Beobachtung wurde durch einige Weidenbüsche gedeckt, deren Zweige ich vorsichtig auseinanderbog, um so, ganz geschützt, dennoch Alles wahrnehmen zu können. Die Krähen hatten auf den eben erwähnten Kampen in der Weise Platz genommen, daß sie eine inmitten des Tümpels befindliche größere Fläche vollständig umzingelt hielten, und diese wiederum bildete den Punkt, auf welchen sie die heftigsten Angriffe richteten. Bald erhob sich die eine, bald die andere der Krähen, bald flatterten mehrere gemeinschaftlich auf, um mit lautem Gekrächze, das von den übrigen lebhaft unterstützt wurde, über die Fläche hinzufliegen und besonders die Mitte derselben mit heftigen Stößen nach unten heimzusuchen. Diese Mitte wurde von dem Neste eines Kranichpaares eingenommen, welches von [192] mir bei den häufigen Wanderungen über das Moor, die den Zweck hatten, das Leben und Treiben der zahlreichen Sumpf- und Wasservögel zu beobachten, bereits früher entdeckt worden war.

Den brütenden Kranich beunruhigten die Angriffe der Krähen auf das Aeußerste. Jedesmal bei dem Nahen eines Feindes erhob er sich blitzschnell, um mit kräftigen Schnabelstößen den Zudringlichen zu verscheuchen; immer aber entzog sich dieser den gefährlichen Hieben durch eilige Flucht. Da plötzlich wurde die ganze Krähenschaar mobil. Mit überlautem Krächzen näherte sie sich mehr und mehr dem belagerten Orte und besetzte auch die letzten der ganz nahe an der Fläche befindlichen Kampen. Jetzt, nicht mehr fliegend, sondern halb hüpfend, halb laufend, eröffneten die Muthigsten der großen Gesellschaft sogleich einen neuen heftigen Angriffskampf, bis endlich die eine der Krähen ihren Platz auf der Fläche selbst einnahm und gerade in dem Augenblicke, als von anderer Seite her der Kranich hart bedrängt wurde, sich mit Hast auf das Nest stürzte. Doch die Strafe ereilte die Habgierige. Der Kranich wandte sich um, und ehe ihr Zeit blieb, dem wüthenden Gegner zu entfliehen, trug sie einen so kräftigen Hieb mit dem scharfen, spitzen Schnabel davon, daß sie rücklings in das Wasser taumelte.

Immer heftiger entbrannte der Kampf. Der Kranich stand hochaufgerichtet inmitten des Nestes. Die Flügel schüttelnd und ein scharfes Zischen ausstoßend, wendete er die stets bereite Waffe, den von den Feinden mit vollem Recht gefürchteten Schnabel, den Krähen mit einer Schnelle entgegen, daß es diesen nicht möglich ward, auch nur den geringsten Vortheil zu gewinnen. Und wieder erhob sich die ganze Schaar. In heftiger Erregung schossen die Krähen immer und immer von Neuem auf das Nest herab, bis der Kranich, in die höchste Wuth versetzt, mit weit geöffnetem Schnabel pfauchend und zischend eine Krähe weit über die nächsten Kampen hinaus verfolgte. – Ein Siegesgekrächze ertönte. Mit Gier stürzte das Raubgesindel dem Neste zu und nach einem Augenblick des heißesten Ringens trugen einige Glückliche die Eier als Preis davon. Der erbitterte Kampf wurde nun in der Luft noch einige Zeit hindurch fortgesetzt, indem die eine Krähe der andern die leckere Speise zu entreißen suchte, bis endlich, immer noch lärmend und kämpfend, die ganze Schaar meinen Blicken entschwand. Etwas später fand ich eine bedeutende Strecke vom Neste entfernt im weichen Grase eine noch ganz frische, also eben geraubte Eierschale. Nur das stumpfe Ende derselben zeigte eine kleine, runde Oeffnung; auch nicht die geringste Verletzung war außerdem bemerkbar. Die Krähe hatte den ganzen Inhalt durch dieses eine Loch heraus gesogen. Auf welche Weise aber die Räuberin des wahrlich nicht kleinen Eies dieses hatte an sich reißen, trotz harter Bedrängniß festhalten und bis hierher schaffen können, ist mir immer ein Räthsel geblieben.

Ich wandte den Blick wieder dem Neste zu. Der Kranich stand trauernd am Rande desselben. Prüfend steckte er den Schnabel in die Mitte des Nestes, und so oft er sich überzeugt, daß keines der tapfer, wenn auch in Folge des überhand nehmenden Wuthausbruches ungeschickt vertheidigten Eier mehr darin sei, warf er den langen Hals gerade nach oben und stieß einen lauten, kläglich klingenden Schrei aus. Da ertönte ein Rauschen in der Lust. Pfeilschnell kam der zweite Kranich daher geflogen. Wie sein Gefährte setzte auch er sich auf den Rand des Nestes, dasselbe ebenfalls auf das Genaueste untersuchend. Dann stellten beide mit gesenkten Flügeln und eingezogenem Halse sich einander gegenüber, bis sie sich endlich nach längerer Zeit lautlos erhoben und der brausenden See entgegenflogen.

Fr. W. Paul.




Ein finsterer Winkel im deutschen Reiche.


Im Jahre 1836 war in Eisleben und Umgegend der „Hallische Courier“ von Schwetschke fast die einzige politische Zeitung, und die Schöngeister der Luther-Stadt nährten sich damals nur von den belletristischen Journalen „Karlsruher Unterhaltungsblatt“, „Abendzeitung“, „Planeten“, „Der Freimüthige“, „Weißenseer Unterhaltungsblatt“ u. a. m. Als nun der „Hallische Courier“ in jenem Jahre die Erzählung von der Hexenprobe zu Ceynowa brachte, waren wir Eisleber in unserem friedlich stillen Thale erstarrt ob solchen Mittelalters; am meisten aber erstarrte ich, als am andern Morgen der Professor R. die Zeitungsnummer mit in die Secunda brachte, den betreffenden Artikel vorlas und dann mich, einen notorisch schlechten Lateiner, aufforderte, diese Geschichte lateinisch wiederzugeben. Der Schmerz ist zwar längst verwunden; aber als ich 1867 in amtlicher Stellung in die Nähe des Ortes kam, wo die Tragödie gespielt hatte, da lebte jene Stunde wieder in mir auf, wo ich auf der Schulbank ähnliche Angst ausgestanden hatte, wie die Frau in den Fluthen des baltischen Meeres.

Doch bevor ich den Hergang jener Hexenprobe erzähle, erlaube mir der geneigte Leser, ihm die Oertlichkeit zu beschreiben; denn es möchte bei dem Namen „Ceynowa“ Manchem so gehen wie mir, der ich mich damals auf den Landkarten halb todt nach ihm gesucht habe.

An der Grenzscheide zwischen Pommern und Westpreußen läuft von Norden nach Süden eine zwölf Stunden lange und fünf Fuß über dem Meeresspiegel erhabene Landzunge, Hela genannt, in die Ostsee. Man hat sie als Halbinsel bezeichnet, obschon sie stellenweise kaum tausend Schritte breit ist, so daß bei großen Stürmen die Wasser der Ostsee über das Land wandern, um auf der andern Seite den Schwestern im Putziger Wieck einen nachbarlichen Besuch abzustatten; die größte Breite hat die keulenförmige Halbinsel an ihrem Ende bei dem Dorfe, von dem sie den Namen empfangen hat; hier ist sie nämlich dreitausend Schritte breit. Ob, wie die Gelehrten sich streiten, die Landzunge gleich mit der Erde erschaffen ist, oder ob Hela anfangs eine Insel war und sich nur im Laufe der Zeit durch Anspülung zu einer Halbinsel verschlechtert hat, das kümmert uns hier nicht; die Halbinsel Hela ist im Selten, Cannabich und Roon angeführt, also ist sie für uns und unser Thema da.

Man kann allerdings die Landzunge zu Wagen bereisen, aber zum Vergnügen hat es noch kein Sterblicher gethan; denn es ist eine Reise mit vielen Hindernissen, und man könnte an den Anfang der Halbinsel Hela (welches Wort von Hel, Hölle, herkommt) ebenso gut eine Warnungstafel hinstellen, wie Dante sie über seine „Hölle“ gestellt hat: „Wer hier eintritt, lasse die Hoffnung zurück!“ Ja, ich möchte noch hinzufügen: und nehme sich Essen und Trinken mit! denn die Reise geht nur durch arme Fischerdörfer, als Großendorf, Ceynowa, Kußfeldt, Heisternest und Hela. Hier aber hört das Weiterreisen auf und das Meer ruft uns zu:

„Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo,
Rückwärts, rückwärts, edler Cid!“

Die Einwohner der genannten Dörfer sind alle kassubisch-slavischen Stammes, das heißt polnisch und katholisch, mit Ausnahme des Fischerstädtchens Hela mit seinen vierhundert Einwohnern, die alle deutschen Geblütes und evangelischer Confession sind und sich in Bezug auf Aufklärung, Frömmigkeit und Reinlichkeit vortheilhaft von den katholischen Collegen unterscheiden.

Sonst muß man der Halbinsel eine gesunde Luft nachrühmen, und Meer und Wald, Wind und Sand, Abgeschlossenheit von den Genüssen der Welt und Hunger, das mögen wohl die Factoren sein, welche die Halbinsel zu einem klimatischen Curorte machen könnten; denn man bleibt hier gesund ohne Arzt, wird krank ohne Arzt und stirbt auch endlich ohne Hülfe des Arztes.

So viel zur Orientirung.

Am 7. Juli 1836 war in Ceynowa der Bock herumgegangen, d. h. der Schulze hatte ein fetischartiges Stückchen Holz zu seinem Nachbar geschickt; der gab es wieder dem Nachbar, und so ging es durch’s ganze Dorf, bis es der Letzte an den Schulze zurückgab; dadurch waren die Ceynowaer Hausväter für den Nachmittag zu einer Versammlung im Schulzenhause geladen; dorthin zogen sie denn durch den tiefen, mahlenden Sand der Dorfstraße, die sich an die Dünen des sogenannten großen Strandes lehnte, wo auf einer mit Strandhafer, Salzkraut und [193] Meerastern bewachsenen Anhöhe der preußische Adler an einer halb zerfallenen Hütte prangte, die sich nur durch dieses preußische Wappen von den übrigen Wohnungen des Dorfes unterschied. Hinter dem Hause, fünfzig Schritte vom Meere, standen die einzigen Bäume des Ortes, zwölf Föhrenbäume, die wahrscheinlich noch aus der Zeit stammten, wo die ganze Landzunge mit Wald bewachsen war, während jetzt nur noch die Strecke von Hela bis Heisternest mit Wald bestanden ist. Diese letzten Zwölf von dem Regimente, das früher die Halbinsel vor dem Versanden geschützt hatte, neigten sich alle gegen Sonnenaufgang, denn die gewaltigen, oft wehenden Westwinde lassen keinen ungeschützt dastehenden Baum gerade aufwachsen. Ja, die fast immer wehenden Winde, die sich oft zum Sturme, mehrmals im Jahre auch zum Orcane steigern, sind eine Eigenthümlichkeit der Halbinsel. Ich getraue mir zu behaupten, daß alle Windmüller des deutschen Reiches auf mehrere Jahre versorgt wären, wenn unter sie der Helaer Wind Eines Jahres vertheilt würde; ja, ich spreche aus Erfahrung, man weiß wirklich nicht, wie man sich benehmen soll, wenn einmal ein windstiller Tag über Hela angebrochen ist, und wie Ossian von einem Tura der Winde spricht, so könnte ein späterer Ossianide mit vollem Rechte von einem Hela der Winde sprechen.

Unter diesen Bäumen hingen die Fischernetze, standen die Wiemen (Gerüste zum Trocknen der Fische), und hier versammelten sich auch die Väter von Hela, um ihr Thing zu halten, weil da mehr Raum und Kühle war, als in dem Wohn-, Schlaf-, Handwerks- und Viehzimmer des Schulzen. Auch die Weiber waren mitgekommen, denn es ist eine weitere Eigenthümlichkeit der Stranddörfer, daß das schwache Geschlecht (das aber trotzdem sehr oft die härteste Arbeit beim Fischfange oder bei den Meerfahrten nach Danzig auf seine Schultern nimmt) dem starken Geschlechte in solchen Versammlungen zur Seite steht.

Solche Schulzenversammlungen waren wohl schon manchmal stürmisch gewesen; manchmal schon waren die Leute (Geister kann man nicht sagen) aufeinandergeplatzt und hatten polnische Reichstage im Kleinen in Scene gesetzt; – aber heute sollte es schlimmer kommen und tragischer enden. In Ceynowa wohnte nämlich ein Quacksalber, Namens Kaminsky, der im Dorfe selbst als ein Hochgelehrter galt, weil er lesen und schreiben konnte, der aber auch für die übrigen Dörfer der Landzunge ein medicinisches Orakel war, weil er einige Schwindelcuren gethan und bei den Kranken stets mit lateinischen Brocken um sich warf, die er bei dem täglichen Besuche des katholischen Meßgottesdienstes aufgeschnappt hatte und nun in seine Reden einflocht.

Wenn auf der Halbinsel Jemand krank war, so ging man nicht zu dem ordentlichen Arzte nach Putzig, wie’s die Leute hätten thun sollen nach Sirach, Cap. 38, sondern man sagte: „Laßt uns gehen zu dem Wunderdoctor nach Ceynowa!“ gerade wie man zu Samuel’s Zeiten sprach: „Kommt, laßt uns gehen zu dem Seher gen Ramath!“

Besagter Aesculap, der Herr „Doctor“ (wie ihn seine Gläubigen nannten), hatte damals einen Kranken im Dorfe, bei dem seit langer Zeit die verordneten Arzneien und die gesprochenen lateinischen Floskeln nicht anschlagen wollten, der aber in Folge seiner kräftigen Constitution trotz der Curen und Mixturen des Katzendoctors (wie ihn die aufgeklärten Putziger nannten) ebensowenig sterben wollte. Damit nun sein Ruf als Arzt nicht leide und damit das Vertrauen in seine Geschicklichkeit nicht erschüttert werde, erklärte Kaminsky mit an die Nase emporgehobenem Rohrstocke einigen Ceynowensern, daß hier weder er, noch Hufeland oder Schönlein zu helfen vermöge, da der Kranke offenbar behext sei; ja, er vertraute ihnen auch noch unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, daß die Frau, welche morgen zuerst die Schulzenversammlung verlassen würde, unbestritten die Uebelthäterin sei.

Als nun eine Fischerfrau, die sonderbarer und ominöser Weise den Namen „Zeinowa“ führte, als die Erste aus der obenerwähnten Versammlung aufbrach, um ihr zu Hause gelassenes Kind zu säugen, wurde sie von den Vertrauten des Kaminsky gepackt und der ganzen Ortschaft als die Hexe vorgestellt, die seit längerer Zeit alles Unheil über Ceynowa gebracht habe. Freunde und Verwandte der Frau mochten doch wohl noch nicht ganz von deren Hexenthum überzeugt sein, und darum tödtete man sie nicht auf der Stelle; sondern beschloß sofort in der Versammlung, die Hexenprobe an ihr zu versuchen. Sank sie im Meere nicht unter, so war sie gewißlich eine Hexe, und man konnte sie also mit gutem Gewissen und mit vollem Rechte erschlagen; sank sie aber unter und ertrank, so war sie doch wahrscheinlich eine Hexe, denn die höhere Gerechtigkeit hatte sie ereilt. Das war die Logik der letzten Hexenrichter Europas, dieser stupiden, entmenschten Peninsulaner, welche, obgleich sie den von Heinrich Krämer, Jakob Sprenger und Johann Gremper 1489 verfaßten Hexenhammer nicht gelesen hatten, doch wußten, daß die Ceynowa’sche eine wirkliche Hexe sei. Man schritt also zum Gottesurtheile, bemannte ein Boot, warf die Unglückliche hinein und stürzte sie auf hoher See über Bord. Die auf der Landzunge üblichen starken, wollenen Weiberröcke erhielten das Schlachtopfer einige Minuten über Wasser; diese Minuten aber genügten, um den Unholden den Beweis zu liefern, daß sie es hier in Wahrheit mit einer Hexe zu thun hätten; unbarmherzig wurde mit Rudern auf sie losgeschlagen, die ihrerseits erbärmlich um Hülfe und Gnade schrie, sich in ihrer sinnverwirrenden Todesangst für schuldig bekannte und dem Kranken bis nächsten Mittag sein Gebreste wieder abzunehmen versprach. Aber mit jedem Angstschrei der Ertrinkenden steigerte sich die Wuth ihrer Henker, verdoppelten sich die Schläge; dabei aber ließen sie mit raffinirter Grausamkeit die dem Tode Geweihete nicht untersinken – da bekanntlich eine Hexe auf dem Meere nicht sterben kann – sondern, um sicher zu sein, daß sie auch wirklich ihre schwarze Seele aushauchte, rissen sie die Frau wieder in’s Boot hinein, fuhren zu Land und schleppten die fast Leblose an den Strand, um sie da für immer unschädlich zu machen.

Die ganze christliche Gemeinde von Ceynowa sah nun zu, wie die vom Teufel Besessene mit Rudern niedergeschlagen, mit Fäusten und den Absätzen der schweren Fischerstiefeln so lange bearbeitet wurde, bis auch die letzte Spur von Leben aus der zerstampften, zuckenden Hülle gewichen war. Ob die Geistlichkeit diese Teufelsaustreibung für eine gottesgefällige That ansah und schwieg, oder diesen Beweis des Glaubens für einen zu schroffen hielt und anzeigte, das habe ich nicht erfahren können; das aber weiß ich, daß das Gericht in Putzig sich der Sache annahm, die Betheiligten verhaften ließ und dieselben je nach dem Maße ihrer Schuld und Betheiligung zu fünf bis zwanzig Jahren Zuchthaus verurtheilte. Das Kind der Zeinowa, das damals die unschuldige Ursache am Tode der Mutter war, lebt jetzt als Arbeitsmann in Putzig und heißt Bernhard Zeinowa. Der zeitige Besitzer von Ceynowa, Herr von Below auf Rutzau, hatte nach den damaligen Gesetzen, wegen Insolvenz der Ceynowaer, sämmtliche Gerichtskosten, sechshundert Thaler, zu bezahlen, und war froh, als er später sein Patronat über diesen ihm so theuer und verabscheut gewordenen Ort durch Verkauf einem Andern übergeben konnte, dem Gutsbesitzer Herrn Schönlein auf Rekau.

Ich könnte hier schließen. Aber nein, die Geschichte ist noch nicht aus. Unter den Mördern der Zeinowa hatte sich einer, Jacob Mrauczeck, durch seine Rohheit und Wildheit bei dem Lynchen besonders hervorgethan. Er war es gewesen, welcher dem armen Weibe den Brustkasten zertreten und damit ihr den Todesstoß gegeben hatte. Er hatte einen ungemessenen Ehrgeiz; wie den Themistocles der Ruhm des Miltiades nicht schlafen ließ, so trachtete er nach dem höchsten Amte in seinem Heimathsdorfe. Durch eine kühne oder außerordentliche That hoffte er eher an das Ziel zu gelangen und sich wie ein zweiter Herostratus zu verewigen, und bei der Hexenprobe bot sich ihm eine günstige Gelegenheit. Aber ich meine, wenn sich Einer mit aller Gewalt verewigen will, da ist es denn doch noch besser, wenn er seinen Namen wie Kiselack an die Gletscher des Montblanc und Monte Rosa schreibt; noch besser freilich ist es, wenn Einer ein geistlich Lied dichtet und in den Anfangsbuchstaben oder -Wörtern der einzelnen Verse seinen Namen hinstellt, wie z. B. Heinrich Müller in dem Passionsliede: Hilf Gott, laß mir’s gelingen etc. oder Herberger in dem Sterbeliede: Valet will ich dir geben etc. oder endlich Casimir, Markgraf zu Brandenburg, in dem Dankliede: Capitan, Herr Gott, Vater mein etc. Die beste Art jedoch sich zu verewigen scheint mir zu sein, daß man recht und schlecht lebt wie Hiob, der Mitwelt nach Kräften nützt, seine Stelle im Leben ausfüllt, einen guten Nachruf hat, und der Nachwelt etwas hinterläßt, von dem sie noch zehren kann.

[194] Zu diesen zwei Fehlern des Jacob Mrauczeck kam noch ein dritter hinzu: er war eine jähzornige, gewaltthätige Natur, und wenn seine Zornadern an Stirn und Schläfen anschwollen, gingen ihm Alle gern aus dem Wege, denn dann stürzte er sich wie ein malayischer Mockläufer auf den Ersten, Besten. Nur Ein Wesen im Dorfe hatte Gewalt über ihn bei solchen Wuthanfällen und Ausschreitungen, so daß das Thierische zurücktrat und dem Menschlichen Platz machte. Vor den Blicken verstummte der tobende Sturm in seiner Seele; vor der Stimme beugte sich sein sonst unbeugsamer Trotz, und dieses Wesen war – doch dazu müssen wir achtzehn Jahre zurückgreifen.

In einer Novembernacht des Jahres 1818 hatte ein Nordweststurm ein schwedisches Barkschiff zwischen Rixhöft und Ceynowa auf eine Sandbank geworfen und zerschellt, und als die Ceynowenser am frühen Morgen an den Strand kamen, um nach gescheiterten Schiffen zu spähen und nach deren Ladung, sahen sie unter den Planken und Fässern, die auf den Wogen trieben, einen Korb mit Betten hin- und herschaukeln, und als sie ihn mit ihren Haken an das Land gezogen hatten, fanden sie ein halberstarrtes, ungefähr anderthalbjähriges Kind darin. Der Strandinspector Husen, der kurz vorher in Putzig angestellt war und hier sich seine ersten Sporen verdiente, kam gerade herbei, wickelte das Würmchen in seinen Mantel und trug es zu einem kinderlosen Ehepaare in’s Dorf. Alle Nachforschungen in Schweden blieben fruchtlos, und das Kind ward nun von Staatswegen den Leuten in die Pflege gegeben; es erhielt den Namen seiner Pflegemutter: Esther Strzellin. Hier in der Fischerhütte wuchs das Nordlandskind auf und wurde ein stilles, blondes, blauäugiges, zartgebautes Mädchen, das unter den übrigen Kindern Ceynowa’s dasselbe Schicksal hatte, wie der junge Schwan unter den Enten in Andersen’s Märchen. Jacob Mrauczeck, ihr vier Jahre älteres Nachbarskind, wußte entweder nichts von Galanterie und Ritterlichkeit gegen das schöne Geschlecht, oder er war noch nicht bis zur vierten Bitte gekommen, in der es heißt: „Getreue Nachbarn und desgleichen“, denn er führte die jugendliche Rotte Korah fast allemal an, wenn dem fremden Mädchen ein Streich gespielt oder eine Kränkung zugefügt werden sollte.

So waren neun Jahre vergangen seit jener Novembernacht 1818, in der Esther wie Moses aus dem Wasser gezogen war, als sie wieder einmal, wie sie oft that, auf der Düne saß und ihre Blicke träumerisch auf dem Meere ruhen ließ, dem großen und tiefen Grabe ihrer Eltern. Sie hört es nicht, daß Mädchen und Knaben die Rückseite der Düne erklimmen, um mit ihren Käschern nach der See zu gehen und da am flachen Strande aus dem schwimmenden Seetange Bernstein zu fischen; erst als rohe Fäuste sie fassen, springt sie auf und flieht vor ihren Quälgeistern wie ein gescheuchtes Reh. Aber vergebens.

„Werft sie in’s Meer, wo sie hergekommen ist!“ ruft Eine, und die Kinder zerren sie an den Strand und schicken sich wirklich an, ein Vorspiel zu dem neun Jahre späteren Trauerspiel aufzuführen: da giebt die Angst und der Zorn dem zarten Schwedenmädchen wunderbare Kraft, so daß sie den einen Knaben rücklings in die See stößt und dann ein Mädchen fest umklammert. Jacob reißt sie los und schleudert sie auf den Strand, aber so unglücklich, daß sie mit der Stirn in die Spitze eines Ankers fällt und aus der klaffenden Wunde das strömende Blut den Sand färbt. Als Jacob, der in Angst vor der Anklage Esther’s und vor der Strafe seines strengen Vaters zwei schreckliche Tage verlebt hatte, nach Verlauf dieser Zeit merkte, daß Esther nicht seine Anklägerin geworden war, ging eine merkwürdige Wandlung mit ihm vor; die feurigen Kohlen brannten auf seinem Haupte lichterloh; solche Großmuth brach seinen feindlichen Sinn, und aus dem Beleidiger ward ein Vertheidiger und Beschützer.

Das Meer, die ewige Thalatta, brandete weiter an Helas Küste, wie seit Jahrtausenden; aber die Jahre verrannen und die beiden Kinder wuchsen heran und hatten einander liebgewonnen; das Zarte hatte sich geeint mit dem Strengen. Die schönsten Muscheln, welche die See auswarf; das beste Stück Bernstein, das Jacob fand; die größte Steinbutte, die er fing – das Alles trug er als Tribut seiner Liebe in Esther’s Hütte, ihr Erbe nach dem Tode der Pflegeeltern. Und als er nachher als Matrose seine Fahrten auf einem Danziger Kauffahrteischiffe der Link’schen Rhederei nach England machte, brachte er in jedem Herbste dem Häuschen und dessen Herrin einen neuen Schmuck mit in bunten englischen Töpfen, Kannen, Tassen (wie man’s häufig findet in den Hausfluren der Fischerhütten der Stranddörfer) oder seidenen Tüchern. Und als er, vierundzwanzig Jahre alt, als „befahrener Mann“ für immer nach Ceynowa zurückkehrte, wanderte Esther auch nicht mehr allein zu ihrem Meersitze und die Strahlen der untergehenden Sonne färbten nicht nur die See purpurn, sondern gossen auch ihren goldenen Schein über Esther’s feingeschnittenes, rosiges Antlitz und über die wettergebräunten Züge ihres Begleiters, der zu ihren Füßen saß und in das liebe Angesicht schaute, und es war dann, als ob Freiligrath jene köstlichen Stanzen eigens für ihn und über ihn geschrieben hätte:

„So laß mich sitzen ohne Ende,
So laß mich sitzen für und für!
Leg’ Deine beiden frommen Hände
Auf die erhitzte Stirne mir.

So bin ich fromm, so bin ich stille,
So bin ich sanft, so bin ich gut!
Ich habe Dich – das ist die Fülle!
Ich habe Dich – mein Wünschen ruht!“ –

So kam das Jahr 1836; es hatte den einzelnen Fischercompagnien im Mai große Lachszüge und im Juni reichlichen Häringsfang gebracht, und so getrauten sich die Liebenden wohl einen eigenen Hausstand zu gründen, und um die Mitte des Juni sollte sie der Propst von Schwarczau zusammengeben. Darum machte sich Esther einige Tage vor dem Unglückstage von Ceynowa auf zu ihrer Freundin, der Tochter des Bliesenwärters in Rixhöft, um sie als Kranzjungfer zu werben. Mit der Braut aber war des Bräutigams guter Geist weggezogen; und als sie, von einer unerklärlichen Angst getrieben, nach dem Dorfe zurückkehrt, ist die finstere That eben geschehen. Wohl sieht sie das Kainsmal an der Stirn ihres Verlobten, wohl schaudert sie über die That; aber ihre Liebe zu dem Thäter will wenigstens das Letzte noch thun, ihn retten und dann – zu vergessen suchen. Sie hatte beim Rixhöfter Leuchtthurm ein Schiff ankern sehen, das die beim Auslaufen aus dem Danziger Hafen erlittene Havarie ausbessern ließ durch Karwenbrucher Zimmerleute. Dorthin bringt sie den Flüchtling, der dem Capitain ein willkommener Zuwachs zu seiner spärlichen Schiffsbemannung auf der Fahrt nach Amerika ist. Von dem Felsen, auf welchem der Leuchtthurm steht, war eine Bohle auf das nahe anliegende Schiff zum Ein- und Ausgehen gelegt; hier, zwischen Himmel und Meer, wird ein herzlicher Abschied genommen; Jacob springt in das Schiff, Esther aber, geistig und körperlich abgemattet, kommt über die schmale Brücke nicht mehr an’s Land; es dunkelt ihr vor den Augen, noch ein Schrei – und die gierigen Fluthen der Ostsee verschlingen wieder ein Opfer.

Noch an demselben Abend zog das Schiff seine Furchen über das Grab Esther’s; eine frische Brise schwellte seine Segel, und auf den kurzen Wogen tanzend eilte es dem Kattegat zu. Jacob Mrauczeck entging durch die Flucht wohl dem weltlichen Richter, aber er nahm in seinem Herzen einen Wurm mit sich aus der Heimath, der mit der Zeit wuchs und ein so zähes, ach so zähes Leben hatte, ja zuletzt so unerträglich ward, daß Jacob selbst Hand an sich legte. Und dieser Wurm, der nicht stirbt, war das erwachte Gewissen mit den Gedanken, die sich unter einander verklagen oder entschuldigen; das war das hispanische Hündlein, wie Josephson in seinen „Brosamen“ (einem wahrhaften Volksbuche) das Gewissen in einigen Erzählungen nennt und schildert; das waren die Schlangenzähne der Reue. Er fing Manches an in der neuen Welt, aber wenn er so weit war, daß er sagen konnte: hier ist gut sein, hier will ich Hütten bauen, dann erwachte der Wurm wieder, der nicht stirbt, und trieb ihn weiter; „das Laster treibt ihn hin und her, und läßt ihm keine Ruh’.“

Das Gewissen offenbarte sich hier wieder als jene furchtbare geistige Macht, die schon die Alten kannten und in dem Schreckbild der Furien so ergreifend ausdrückten; es offenbarte sich wieder als ein Bote, der zu Allen gesandt wird, auch zu denen, die ihn fürchten, den die Blinden sehen und die Tauben hören, der oft Jahre lang schläft, dann aber um so stärker aufwacht, wovon die Brüder Joseph’s ein Lied singen können, die nach vielen Jahren sagten: das haben wir an [195] unserm Bruder Joseph verschuldet, da wir sahen die Angst seiner Seele und er uns flehete.

Es war zu Anfang des Jahres 1850, als ein Flüchtling aus den Dresdner Maitagen (wie er in der Schrift: „Meine Flucht aus Sachsen“ berichtet) auf einer Reise in Kentucky einen Mann am Wege findet, der sich die Ader geöffnet hat und grauenvoll stöhnt. Nachdem er dem Selbstmörder die Wunde schnell verbunden, überläßt er ihn seinem Reisegefährten, einem alten katholischen Priester, der wie ein barmherziger Samariter Oel und Wein in die Seelenwunde des Unglücklichen gießt und ihm endlich ein offenes Geständniß abringt. Aber er reißt den Verband ab und ruft: „Ich will nicht mehr leben! – ich kann nicht mehr leben! – hier, hier nagt es! – die brechenden Augen jener Frau, die ich gemordet habe, sehen mich starr an – ihr Blick verfolgt mich Tag und Nacht – ihr Todesschrei gellt immerfort in meinen Ohren – Barmherzigkeit! Barmherzigkeit!“ – und röchelnd sank er zurück.

Die beiden Wanderer begaben sich nach Lexington, dem Ziel ihrer Reise; der Eine von ihnen hat, wie schon gesagt, uns das Ende jenes Trauerspiels in Amerika geschildert, das seinen Anfang in Ceynowa nahm, diesem finstern Winkel des deutschen Reichs.

Wenn ich vorstehendem Artikel diese Ueberschrift gegeben habe, so rede mir Keiner von einem geschichtlichen Rechenfehler, weil Ceynowa (und mit ihm die ganze Provinz Preußen) 1836 noch nicht zum deutschen Reiche gehört habe; aber so weit ich die Ceynowenser kenne, bin ich fest überzeugt, daß sie noch heute mit Vergnügen eine Hexe ersäufen würden, wenn die Gerichtscommission in Putzig und das Kreisgericht in Neustadt nicht so nahe wären und wenn die preußische Justiz überhaupt nicht solche Abneigung gegen derartige mittelalterlich-mystische Glaubensauswüchse, dagegen mehr Sinn und Verständniß für nasse, trockne und heiße Autodafé’s hätte – mit Einem Worte, wenn ihr mit Eisen und Blut geschriebener Strafcodex solche fromme Uebungen nicht als Glaubensthaten, sondern als Verbrechen behandelte.




Aus dem Innern des viceköniglichen Palastes.


In meiner nächsten Zuschrift hoffe ich Ihnen eingehende Schilderungen mohammedanischer Feste, namentlich der Todten- und Auferstehungsfeier, einsenden zu können. Als Einleitung mögen Sie vorläufig den nachfolgenden Artikel genehmigen, der durch die Ereignisse der neulichen Hochzeiten ein besonderes Zeitinteresse erhalten haben dürfte.

Der ägyptische Hof hat zu viele Europäer an sich gezogen, europäische Sitten haben sich daselbst zu sehr eingebürgert, als daß hier Neues, Charakteristisches zu finden wäre. Des Vicekönigs Salons sind mit Pariser Möbeln ausgestattet; er selbst, sammt seinem Hofe, kleidet sich auf europäische Art. Der einzige Unterschied zwischen einem Empfange am viceköniglichen Hofe und dem eines europäischen Souverains sind die rothen Tarbuschs.

Weit interessanter sind die Festtage in den Harems, obgleich auch hier ein Theil der Originalität verloren gegangen ist, da die Damen nicht mehr die orientalische Tracht tragen, sondern sich nach der neuesten europäischen Mode kleiden. Ich, als Mann, habe selbstverständlich keinen Besuch im Harem abgestattet, allein ich bin durch meine kleine Emissärin in der Lage, Ihnen einen solchen genau zu schildern und auch die Wahrhaftigkeit dieser Schilderung verbürgen zu können.

„Es war schon etwas spät,“ berichtete mir mein weiblicher Gewährsmann, „als ich neulich durch das Portal des Palastes fuhr, welchen Prinzessin Fatma, die zweite Tochter des Vicekönigs, bewohnt, die sich im vorigen Jahre mit Tussun-Pascha, dem Sohne Said-Pascha’s, des letzten Vicekönigs, vermählte. Beim dumpfen Lärme, den die Wagenräder unterm Portale hervorriefen, fing die im Garten des Palastes aufgestellte Musik zu spielen an, nicht etwa zu Ehren meiner geringen Persönlichkeit, sondern weilt es Sitte ist, daß jeder Besuch beim Kommen und Gehen mit Musik begrüßt werde.

Die Gartenanlagen der Vorderseite des Palais sind sorgfältig, nur zu sorgfältig gepflegt; dem Eingangsthore gegenüber befindet sich eine Grotte, groß und schön, wenn eine künstliche Grotte je schön sein kann. Unter dem Glasportale des Palastes stehen acht bis zehn Eunuchen, sämmtlich ganz jung und deshalb noch nicht so verunstaltet wie die alten. Sie empfingen mich auf’s Freundlichste und führten mich die Stufen hinauf zu den Sclavinnen hinein, die im Halbkreise unter dem Eingangsthore der Vorhalle standen, sämmtlich in Atlas und Seide von den lebhaftesten Farben gekleidet. Die Vorhalle ist ein unermeßlich großer Saal, mit weichen Teppichen belegt, mit purpur- und goldatlassenen Divans ausgestattet, an deren rechter und linker Seite sich andere Säle befinden. Faltenreiche, purpurne Vorhänge und Spitzen vor den hohen Fenstern hüllen diesen fürstlichen Raum in angenehmes Halbdunkel. Eine der Sclavinnen nahm mich beim Arme und führte mich zu der am andern Ende des Saales gelegenen Treppe, einem wahren Meisterstück mit bronzenem Geländer und persischen Teppichen, an deren Fuße uns die Gesellschaftsdame der Prinzessin, eine kleine Italienerin, empfing. Oben sahen wir einen fast gleichen Saal wie unten, nur daß dieser reicher, schöner ist als jener, wenngleich dies unmöglich scheint. Ich wurde links in ein reizendes, nach europäischer Art möblirtes, lichtblaues Boudoir mit drei riesigen Fenstern, welche auf die schöne ägyptische Landschaft schauen, geführt.

Prinzessin Fatma saß in einem rosa seidenen Kleide, welches den Anforderungen der neuesten Mode entsprach und mit einer übermäßig langen Schleppe ausgestattet war, auf dem Sopha. Wegen des vielen diamantenen Geschmeides, das sie auf dem Haare, um den Hals, die Arme, den Gürtel, auf der Brust und an den Fingern trug, glich sie fast einer Sonne. Sie war natürlich entschleiert. Fatma ist kaum zwanzig Jahre alt, und ihr hübsches Gesicht trägt einen mehr nordischen als orientalischen Typus. Ihr schönes Goldhaar ist nach europäischer Art frisirt.

Es waren noch mehrere Damen zugegen, alle in gehöriger Entfernung sitzend. Nachdem mir die Sclavinnen auf den Befehl der Prinzessin einen Stuhl gebracht hatten, wurde dieser gemeldet, daß die dritte Gemahlin des Vicekönigs sogleich bei ihr erscheinen werde. Die Etiquette verlangte, daß Prinzessin Fatma dem hohen Besuche entgegenging. So erhob sie sich denn und ging hinaus – keine so leichte Sache mit solcher Riesenschleppe. Nach einigen Minuten, während welcher mir eine lange, mit Brillanten geschmückte Pfeife gereicht wurde, traten die beiden Damen wieder ein. Der hohe Besuch nahm auf der rechten, die Prinzessin Fatma auf der linken Seite des Sophas Platz.

Die dritte Frau des Khedives ist zwar nicht schön, aber eine ungemein sympathische Erscheinung und hat eine bei den orientalischen Damen höchst seltene Eigenschaft, nämlich viel Geist. Wer sie sah, reden und lachen hörte, wird diesen Ausspruch bestätigt finden. Es ist denn auch diejenige der Frauen Ismail-Pascha’s, welche er am meisten liebt. Sie trug ein ganz einfaches, dunkelblaues, kurzes Popelinkleid, eine schwarzsammetne Kasacke und ein Hütchen von demselben Stoffe. Hut und Aermel waren mit großen Solitairs geschmückt; den Saum des Kleides zierten drei Reihen solcher Brillantenknöpfe.

Die Sclavinnen, welche die ganze Zeit stehen müssen und zwar in ehrfurchtsvoller Haltung, reichten jetzt Kaffee, der Dame vom Hause in einer einfachen Schale, dem Besuche hingegen in goldenen Bechern, die mit prächtigen Brillanten bespickt waren.

Es wurde viel von den stattgefundenen Pferderennen, der neuesten Mode, den nächsten Hochzeiten und ähnlichen Dingen geplaudert. Nach einiger Zeit ward das niedliche Kindchen der Prinzessin Mansur, der ältesten Tochter des Vicekönigs, hereingebracht, das nun zum Mittelpunkte der Gesellschaft wurde, wie es in allen Ländern, unter jedem Himmelsstriche beim Erscheinen eines lieben Kindes geht.

Ich verabschiedete mich von den Prinzessinnen, indem ich deren Hände an Lippen und Stirn führte, wie es hier Sitte ist. Unten wurde mir in einem silbernen Kelche Subia gereicht, jenes Festgetränk, welches aus gegohrenem Reis, Zucker, [196] Zimmet und Anderem gemacht ist und ähnlich wie Chocolade schmeckt. Vorschriftsgemäß trocknete ich, nachdem ich getrunken hatte, meine Lippen mit dem von der Sclavin dargereichten, mit Goldstickereien geschmückten Handtuch; es hieße wider alle Regeln der Höflichkeit handeln, wenn man sich des eigenen Taschentuches zu diesem Zwecke bedienen wollte. Und somit war mein Besuch im Harem zu Ende!“

So weit meine Berichterstatterin. Und nun zu den Hochzeiten!

Auf den Einladungskarten, welche bei dieser Gelegenheit ausgetheilt wurden, ward der Name der Braut nicht genannt; denn die Einladung lautete sehr geheimnißvoll etwa so: „Gala-Diner oder Soirée, gegeben zu Ehren der Vermählung der Prinzessin, Tochter des Khedive, mit Ibrahim-Pascha.“ Diese geheimnißvolle Art ist hier, wo man von den schönen Bewohnerinnen der Harems so viel wie Nichts wissen darf, ganz am Platze. Indeß will ich die Indiscretion begehen, Alles haarklein erzählen.

Die ungenannte Prinzessin ist Zenab, die Tochter des Vicekönigs, eine Jungfrau von vierzehn Jahren, die schon seit einem Jahre mit dem jungen Ibrahim-Pascha, dem Sohne Achmed-Paschas, des verstorbenen Bruders des Vicekönigs, verlobt ist. Faika-Hanem, das Adoptivtöchterchen der dritten Frau Ismail-Paschas, von welcher oben die Rede war, wurde mit Mustapha-Bey, dem Sohne des Finanzministers, verlobt, und diese beiden Damen haben in der letzten Woche Hochzeit gehalten. Die mohammedanische Heirath wird immer am Vorabende des Freitags oder des Montags vollzogen, und so wurden denn auch die beiden Bräute am vergangenen Donnerstag und gestern (Sonntag) in den Palast ihrer respectiven Bräutigame geführt, nachdem sie einige Tage im Palaste der Königin-Mutter verbracht hatten, wie es der Brauch heischt.

Man kann sich keinen Begriff von dem Gepränge machen, mit welchem die königliche Braut zu ihrem künftigen Gatten geführt wurde. Infanterie und Cavallerie, begleitet von rauschender Musik, eröffneten den Zug; hinterdrein kam eine lange Reihe von vierspännigen Equipagen, in welchen die zahlreiche Verwandtschaft der Braut verschleiert saß. Die Wagen waren von seltener Pracht und mit Gold- und Silberbeschlägen ausgestattet; das funkelnde Geschirr der Pferde zeigte die feinste Arbeit. Die Sais liefen in schöner, malerischer Tracht vor dem Wagen her; die grotesken Eunuchen ritten hinterher und Alles rief: „Lob dem Propheten!“ Die Braut selbst fuhr in einer sechsspännigen Equipage, welche natürlich alle anderen an Pracht übertraf. Die rothseidenen Gardinen der Wagenfenster waren ganz heruntergezogen. Es lag hierin etwas Geheimnißvolles, das mich ungemein angenehm berührte. Kein Sterblicher, außer ihm, darf die Braut gewahren.

Es hat während dieser Zeit Feste die Fülle gegeben, worüber viel Schönes zu sagen wäre. Die Beleuchtung des unermeßlichen Planes vor Kasr el Aali, dem Palaste der Königin-Mutter, die Feuerwerke, die leuchtenden Triumphbogen, die Tänzerinnen und die charakteristische arabische Musik, all das will ich ungeschildert lassen, da die orientalischen Illuminationen schon tausendmal beschrieben, wohl hunderttausendmal mit „Tausend und einer Nacht“ verglichen und doch niemals veranschaulicht worden sind, weil das geradezu unmöglich ist. Eher will ich eine der Abendgesellschaften im Harem von Kasr el Aali schildern. Gerne räume ich wieder meiner Emissärin das Feld.

„In der Ferne glänzt und funkelt es wie in einem Zauberlande,“ so erzählt sie mir, „goldene Ungeheuer schießen himmelan und werden unter Krachen und Donnern zu schönen Sternen; hohe Fontainen sprühen Feuer. Und doch war es kein Zauberland; je mehr man sich nahte, desto reizender wurde der Anblick. Wagen an Wagen rollen unter den leuchtenden Arcaden, inmitten der wimmelnden Menge durch das hohe Portal von Kasr el Aali zu dem Eingange des Harems. Damen in duftigen Gewändern springen leicht vom Wagen und eilen zwischen Reihen von schönen Pflanzen den unabsehbaren Säulengang hinab. Man muß schnell gehen, denn der Gang ist lang und es ist eisig kalt, wenn man gleich im Orient ist. Eunuchen führen die Damen in den ersten Saal, wo ihnen von Sclavinnen die Shawls abgenommen werden, und die Ceremonienmeisterinnen führen sie bei den Prinzessinnen ein.

Die Räume sind alle glänzend erleuchtet; außer dem mehr langen als breiten, sehr geräumigen Vorsaal, in welchem es von Sclavinnen wimmelt, außer diesem Saal, der in seinem untersten Ende eine Art Käfig aus goldenem Gitterwerk zeigt, aus welchem die Stimmen der Sängerinnen herausklingen und der einen orientalischen Anstrich hat, sind die Räume nach europäischem Muster möblirt. Auch das Diner wird auf europäische Weise servirt. Nach Tische setzen sich die Prinzessinnen in eine Ecke des hintersten Salons. Zunächst Prinzessin Fatma, neben ihr die Frauen Hussein und Hassan Paschas, dann die dritte Gemahlin des Vicekönigs, die Prinzessin Said und die Mutter des Erbprinzen, welche zwar eine Sclavin war, aber doch zur legitimen Frau wurde, weil die mohammedanische Sitte haben will, daß die Königin-Mutter nach dem König die Wichtigste sei, daß dereinst, wenn der Kronprinz König sein wird, die Königin-Mutter keine Sclavin sein dürfe.

Gegen neun Uhr traten mehrere Damen ein. Sie wurden von den Ceremonienmeisterinnen den Prinzessinnen vorgeführt. Eine Jede mußte die Hände der obengenanten Damen, der Reihe nach, je nach dem Rang, den sie in der viceköniglichen Familie einnehmen, an Mund und Stirne führen. Die Eingeladenen saßen Alle rings um den Saal. Im Hintergrunde standen die Sclavinnen, welche dann und wann zu den Prinzessinnen traten, um ihnen eine Cigarrette mit der silbernen Aschenschale zu reichen, denn diese Damen rauchen Alle.

In der Mitte des Gemaches tanzten die berühmten Bajaderen. Die Musik, zu welcher sie sich bewegten, hat einen wundersamen Reiz, wenn dieselbe wehmüthig ist. Es liegt in diesen Melodien, in den Stimmen, welche dazu singen, etwas tief Trauriges, das zum Herzen dringt.

Und die Bajaderen? Ja! die Bajaderen sind verführerisch, wenn sie, katzengleich sich beugend, mit den hübschen Füßchen den Boden schleifen; anmuthig ist es, wenn sie die Köpfchen drehen, so daß das offene Haar im Kreis herumfliegt; aber die ihnen eigene Bewegung, nämlich das Zittern der Beine, indem der Oberkörper vollkommen regungslos bleibt, ist für unsere Augen im höchsten Grade unschön. Sie erschienen nicht wie früher mit offenem Busen, sondern trugen kurze Sammetkleider, mit goldenen Fransen und prächtigen Goldstickereien ausgestattet: sie waren vom Hals bis zu den Füßen und bis an die Hände bedeckt. Die erste Tänzerschaar trug blaue, die zweite violette Kleider. Sie sind alle von derselben Größe und haben sämmtlich Haar von gleicher Farbe, welches sie – natürlich ist es gefärbt – offen tragen.

Prinzessin Said, der melancholischen Weise müde, ertheilte jetzt den Befehl, dieselbe zu ändern. Kaum war das Wort gesprochen, so wurde der wehmüthige Ton zur schwindelnden Tanzmelodie; die Bajaderen faßten sich bei den Händen, rasten in tollen Kreisen herum, bückten sich und schrieen Juch! .... Nein, das war nicht schön. Nun frug man die Damen, ob sie es vorzögen, den Tänzen länger zuzuschauen oder hinunter in’s Theater zu gehen. Die Mehrzahl war für’s Theater. Und dennoch war dies nichts weniger als interessant. Sämmtliche Logen sind mit Gittern aus Silberdraht versehen, auf denen aus Silberpapier ausgeschnittene Blumen kleben. So sind hier zu Lande alle Logen der Harems-Damen eingerichtet, damit diese von den Schauspielern und Musikanten nicht gesehen werden.

Die Welt sieht hinter solchem Silberdraht noch trauriger aus, als sie so wie so schon ist. Ein Pianist – natürlich mit langen Haaren, die immer in’s Gesicht fallen; sonst wäre es ja kein ganzer Pianist – trug uns ein gräßlich langes Potpourri des ‚Rigoletto‘ mit obligaten Variationen vor; es folgte ein Ballet mit Tänzerinnen in Tricot und dummen Schwänken eines Pulcinellas. Man wird mich nicht eine böse Zunge nennen, wenn ich sage, daß dies uns in dem Maße langweilig war, wie es für die türkischen Damen amüsant sein mußte, weil diesen Solches ganz neu ist. Leider greift die Manie, europäische Sitten und Gebräuche nachzuahmen, immer mehr um sich, und es sieht ganz danach aus, als ob die Damen der Harems mit all den alten, charakteristischen Gewohnheiten brechen wollten, außer mit der des bloßen Vegetirens.

Zum Schluß noch einige Worte über die Hochzeit.

Donnerstag Abends begleiteten sie den Bräutigam in die Moschee; Alles war dabei, Paschas, Reiche und Arme. Flackernde [197] Fackelbeleuchtung erhöhte die Feierlichkeit der Ceremonie. Zwei Stunden verbrachten sie betend in der Moschee; hierauf ging’s feierlichen Schrittes, wie man gekommen war, wieder nach Hause.

Im Hofe des Palastes angekommen, bleibt Alles vor der Haremsthüre stehen. Es verlautet die erste Sure (der Abschnitt) des Korans: ‚Lob und Preis dem Weltenherrn, dem Allerbarmer!‘ Beim letzten Worte wird der Bräutigam in die besagte Thür hineingeschoben, und er betritt zum ersten Male die Schwelle des Harems. Oben harrt die Braut seiner im herrlichen Gemach, ihr zur Seite die Mutter; auf den Teppich, der vor der Verschleierten liegt, fällt er hin und murmelt wiederum: ‚Lob und Preis dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrschet am Tage des Gerichts! Dir wollen wir dienen und zu Dir wollen wir stehen, auf daß Du uns führest den rechten Weg, den Weg Derer, die Deiner Gnade sich freuen, und nicht den Weg Derer, über welche Du zürnest, und nicht den Weg der Irrenden.‘ Jetzt steht er auf und entschleiert seine Braut ‚im Namen Gottes des Allbarmherzigen, Allgnädigen.‘ Einen Kuß auf seine Hand, einen Kuß auf ihre Stirne – und die Trauung ist vollzogen.“

Hier wollen wir den Vorhang fallen lassen.

Kairo, 15. Februar 1874.

D. N.




Aus den Zeiten der schweren Noth.
Nach der Schlacht von Jena.

In allen Tiefen des welligen Hügellandes, welches von der bekannten Inschrift am Dome zu Erfurt als das glückliche Thüringen bezeichnet wird, hatte am frühen Morgen des 14. October 1806 ein bleigrauer, undurchdringlicher Herbstnebel gelegen. Seine schweren Massen waren dann unheimlich träge an den Abhängen der Hainleite wie des Steigers, des Hainichs wie des Unstrutgebirges emporgekrochen und hatten sie endlich überfluthet. Aber die höher und höher emporsteigende Sonne wurde ihrer dennoch Meister. Der finstere Gesell war in den Mittagsstunden schon völlig verschwunden, man wußte nicht wohin, und über unser schönes Land breitete sich nun überall die goldene Herrlichkeit eines sonnenklaren Herbsttages, der am weiten Himmel kaum ein einziges Wölkchen erblicken ließ. Und dennoch wollte es den Schaaren der Landleute, die an diesem Tage, mit ihren Einkäufen vom Jahrmarkte des Schwarzburgischen Fleckens Schernberg heimkehrend, hoch oben am Rande der Hainleite dahin schritten, fast bedünken, als ob es da drüben nach Südost hin donnere. Namentlich an der Schernberger Holzecke, wo man frei über die Tiefen bis zum Thüringer Walde hinüber blicken kann, bildeten sich dichte Gruppen von Landleuten, die mit verwundertem Kopfschütteln dort hinüber in die Ferne sahen, wo der Ettersberg bei Weimar sich mit seinem langgezogenen Rücken hoch über das Hügelland erhebt. Etwa von dort herüber kam in kurzen Pausen jener seltsame dumpfe Ton, jetzt in einzelnen Stößen und dann wieder lang hinrollend, der das Staunen unserer wetterkundigsten Bauern erregte. Wunderbar, daß an solchem Tage sich ein Gewitter in so mächtigen Schlägen entladen konnte! Wohl war es ein furchtbares Wetter, das an jenem unheimlichen Nebelmorgen an den Bergen von Jena und Auerstädt begonnen hatte und jetzt dort drüben bei Capellendorf zu Ende ging, ein Wetter, unter dessen gewaltigen Streichen ein ganzes mächtiges Königreich, von Friedrich dem Großen aufgebaut, und von ganz Europa gefürchtet, in Trümmer geschlagen wurde. Auch jene ahnungslosen Landleute sollten bald genug zu ihrem jähen Schrecken den Sturm, der jenem Völkergewitter auf dem Fuße nachfolgte, über ihre eigenen unglücklichen Häupter dahin brausen, ihr bescheidenes Glück in seinen Grundfesten erschüttern sehen.

Die unglückliche Schlacht von Auerstädt war geschlagen worden, und unser Fürstenthum gerieth in die traurige Lage, eine besiegte und aufgelöste preußische Armee und die verfolgenden übermüthigen und rücksichtslosen Feinde durch seine Fluren rücken zu sehen.

Der König ritt die ganze Nacht hindurch querfeldein bis Sömmerda, wo er Mittwochs am 15. October gegen 7 Uhr Morgens anlangte und im Pfarrhause abstieg. Nach allen überstandenen persönlichen Gefahren durfte er jetzt mit Recht sich und Blücher Glück wünschen, daß sie so durchgekommen seien. Erst hier gönnte der erschöpfte Herrscher sich und seinen Truppen eine kurze Rast. Von hier aus schrieb er auch an Napoleon die Antwort auf dessen Brief, der ihm noch am 12. October von Gera aus den Frieden geboten hatte, unglücklicher Weise aber zu spät nach schon begonnener Schlacht in die Hände des Königs gelangt war.

Schon Mittwochs, am 15. October, hatten einzelne besonders schnellfüßige Flüchtlinge der geschlagenen Armee Greußen, die südlichste Stadt in der Unterherrschaft des Fürstenthums Schwarzburg-Sondershausen, erreicht. Bald häuften sich ihre Schaaren, und endlich strömten sie unaufhörlich und in dichten Massen die Nacht hindurch und während des ganzen folgenden Morgens durch die Straßen der kleinen Stadt. Aber die Verfolger waren ihnen auch schon dicht genug auf den Fersen. Denn an demselben Vormittage schon sprengten plötzlich zehn französische Husaren, die sich offenbar von ihrem Regimente verirrt hatten, zum Thore herein. Obwohl noch in vielen Häusern in und um Greußen herum Preußen in großer Zahl lagen, wagten es jene kecken Reiter doch, vor dem Rathhause zu halten und von der erschreckten Stadt eine Brandschatzung von hundert Carolin zu erheben. Dann ritten sie im Galopp wieder davon, und sehr zur rechten Stunde, denn gleich nach ihnen traf eine ganze wohlgeordnete Schwadron preußischer Dragoner vom Regimente Königin Louise ein, die mit den frechen Patronen wohl übel umgesprungen wären, wenn sie nur einige Momente früher in dem Orte eingetroffen wären. Einige unschädliche Schüsse, die zwischen diesen Husaren und einzelnen muthigen Preußen gewechselt wurden, gaben übrigens Veranlassung zu einer ebenso komischen wie wohlverbürgten Scene. Die alte, aber noch sehr resolute Frau Messerschmidt, die nicht blos in ihrem Hauswesen, sondern auch in der Stadt auf Ordnung sah, trat bei dem Knallen der Gewehre mit zornig in die Seite gestemmten Händen in die Hausthür und schalt die Fechtenden im besten Greußener Dialect aus. Sie nannte die Kämpfenden „gonz und gor nich geschüt“ und hielt ihnen alles Ernstes vor, daß es polizeilich verboten sei, in der Stadt zu schießen.

Am Mittag desselben Tages, also Donnerstag, den 16. October, traf endlich die Nachhut des preußischen Heeres unter der Führung des Generallieutenant von Kalkreuth, der schon von Auerstädt an den Rückzug gedeckt hatte, in Greußen ein. Bei diesen Truppen befanden sich auch die Reste der königlichen Garde, welche hinter der nahegelegenen Steinfurthsmühle auf Zeit rasteten.

Wenn Sternickel, der Chronist von Greußen, behauptet, daß auch der König selbst bei dieser Truppe gewesen sei, so beruht dies auf einem Irrthum und einer Verwechselung mit dem Prinzen August von Preußen. Friedrich Wilhelm der Dritte war allerdings an diesem Tage von Sömmerda her durch Weißensee gekommen, allein eine Stunde früher, als die Franzosen dort anlangten, während Prinz August, Kalkreuth und Blücher sehr unangenehm überrascht waren, bei ihrer Ankunft Weißensee schon von den Franzosen besetzt zu finden. Als Kalkreuth bei Greußen gegen Blücher wiederholt von Capitulation sprach, gedachte er nur der Verantwortung für die Garden und den königlichen Prinzen und nicht des Königs. Letzterer, der zwei Stunden voraus hatte und über raschere Transportmittel verfügte, war sicher früher in Sondershausen, als seine Nachhut nach Greußen gelangte, und dies wird mir in Wahrheit durch einen Augenzeugen, den fürstlichen Mundschenk Kobert, bestätigt.

Die Verfolgung der hierher fliehenden preußischen Truppen lag dem Marschall Soult ob. Zu seinem Corps gehörten die französischen Generale Lasalle und Klein, welche Weißensee schon vor der Ankunft Kalkreuth’s besetzt hatten und sich von Blücher und Massenbach vielleicht recht gern durch die Vorspiegelung eines Waffenstillstandes täuschen ließen, da sie allein ohne Soult den Preußen nicht gewachsen waren.

[198] Auch der Generallieutenant von Kalkreuth versuchte bei Greußen zunächst dieselbe Kriegslist anzuwenden, um den Feind aufzuhalten und die Flucht des Königs möglichst zu sichern. Da aber Soult bei einer Unterredung auf dem Hengstberge, etwa eine halbe Wegstunde von Greußen, an welcher auch Blücher theilnahm, klugerweise nicht an einen Waffenstillstand glauben mochte, sondern schroff Streckung der Waffen verlangte, während Blücher durchaus nichts von Capitulation hören mochte, so traf Kalkreuth alsbald Maßnahmen, die leicht hätten zur völligen Verwüstung der Stadt führen können.

Greußen liegt in einer von Westen nach Osten gestreckten, aber schmalen Ebene, welche von mehreren Armen der Helbe durchströmt wird. Südlich von


Die lustigen Weiber von Windsor.
Illustrations-Probe aus der Grote’schen Shakespeare-Ausgabe.
Von H. Lossow.


Greußen, dicht hinter der nach Weißensee hinabfließenden sogenannten sächsischen Helbe steigt eine leichte wellenförmige Anhöhe, welche dicht bei Greußen der Warthügel genannt wird, etwas über fünfzig Fuß hoch empor. Von dort her nahte der Feind, und hier stellte der preußische General am Wasser entlang, rings von Weidenbäumen und Dämmen gedeckt, die braven Weimarschen Jäger auf, um den ersten Anprall des Feindes aufzuhalten.

Auf der nördlichen Seite, dicht hinter der erwähnten Steinfurthsmühle, grenzt jene Ebene dagegen an den äußersten Fuß der Hainleite, die sich im Possen bei Sondershausen gegen neunhundert Fuß über das Pflaster von Greußen erhebt, um dann wieder stark zum Wipperthale hinabzufallen. Dorthin über die meilenlange, allmählich aufsteigende Höhe, durch die Dörfer Ober- und Niedertopfstedt, Westerengel, Kirchengel und Oberspier nach Sondershausen hin mußte der Rückzug dieser Nachhut genommen werden. Auf dem Abhange dieses Berges stellte Kalkreuth die rasch noch einmal gesammelte Hauptmenge seiner Truppen in einer langen Linie auf, welche von Greußen bis Grüningen reichte und dort namentlich den von Ottenhausen her anrückenden Franzosen gegenüber durch eine halbe reitende Batterie gedeckt wurde. Greußen selbst lag hiernach zwischen den Verfolgten.

Nachmittags halb vier Uhr begann das mit Kleingewehr und Geschütz geführte Gefecht und endete erst Abends halb acht Uhr mit dem Rückzuge der vor der gewaltigen Uebermacht weichenden Preußen. Dieser vierstündige Aufenthalt hatte genügt, um den schon vorausgeeilten König vor seinen Verfolgern in volle Sicherheit zu bringen.

Den Bewohnern von Greußen standen die schwersten Drangsale bevor. Der Flucht der letzten Preußen war eine kurze, bange Stille gefolgt, dann aber rückte der Feind ein, und, wie der Chronist Sternickel mehr kühn, als correct sagt, „es ertönte nun aus mehreren tausend Kehlen das furchtbare Einrücken der Franzosen“. Die zuchtlosen Kriegsvölker wälzten sich wie eine Sturmfluth fluchend und brüllend durch die Straßen. Sie begannen sofort die Thüren einzuschlagen, strömten in die Häuser, mißhandelten in der abscheulichsten Weise Männer und vor Allem Frauen und Mädchen, erbrachen in Stube und Kammer, im Keller wie auf dem Boden alle Schränke, Kisten und Kasten und raubten, was ihnen nur irgend von Werth schien.

Da die Soldaten hierbei mit brennenden Lichtern in der Hand, vom Weine und Branntweine trunken, auch in gefüllte Scheuern und Ställe drangen, so entstand gegen Mitternacht in der Altstadt Feuer, das beim Mangel rettender und helfender Hände bis gegen Mittag des folgenden Tages fortwüthete und eine Reihe von Häusern in Asche legte. Dabei aber dauerten die Gewaltthaten und Räubereien selbst in den kleinsten und ärmsten Häusern ungestört fort.

Auch in dem Dorf Wasserthaleben, das, wie Greußen, an der Helbe und nur etwa eine Stunde weiter nach Westen und thalaufwärts liegt, erschienen Beute machende Franzosen. Pastor Zahn glaubte zu jener Zeit noch an den unter allen Umständen höflichen Charakter der Franzosen. Er trat ihnen mit einigen bewillkommnenden Redensarten entgegen, wurde aber auch sofort über seinen Irrthum belehrt. Denn statt seine Höflichkeit zu erwidern, packten sie den würdigen Mann am Halse, drängten ihn in die Stube und nöthigten ihn dann unter schweren Drohungen, alles irgend Wertvolle herauszugeben. Auch hier standen den Plünderern vor Allem Geld, Schmucksachen und Kleider an, aber sie nahmen auch die im Hause verwahrten Altargeräthe an Kelchen und Hostienbehältern an sich und waren eben im besten Suchen nach weiteren Schätzen begriffen, als es dem Pastor glücklich gelang, ihnen zu entwischen und durch ein Fenster in das Freie zu entkommen. Er lief sogleich zum Amtsverwalter Böttcher, dem dortigen Domänenpächter, und theilte ihm seine Bedrängniß mit. Dieser, ein riesenstarker und beherzter Mann, war sofort zur Hülfe bereit. Er rief schleunig seine Knechte und Schäfer zusammen und stürmte mit ihnen in das Pfarrhaus hinüber, während zugleich der Flurschütze, durch das Dorf eilend, sein „Mannschaften heraus!“ vor jedem Hause schrie.

Die plündernde Rotte war bald genug entwaffnet und mit einigen derben Püffen und Knuffen aus dem Dorfe gejagt. Die Geflüchteten ließen aber die Schmach nicht auf sich sitzen, sondern riefen rasch ganze Schaaren ihrer vorbeiziehenden Cameraden zur Hülfe herbei, und jetzt wandte sich plötzlich das Blatt. Die Franzosen zogen unter unaufhörlichem Feuern in das Dorf; alle männlichen Einwohner mußten flüchten, und nichts Werthvolles wurde verschmäht.

Der König war, wie oben erwähnt wurde, der Nachhut seines Heeres um mehrere Stunden vorangeeilt und an jenem 16. October schon Vormittags, also früher nach Sondershausen gelangt, als jene nach Greußen kam. Er ließ auf dem Marktplatze halten und stieg aus, aber nicht, um auf das Schloß des Fürsten zu gehen, da dies die dringliche Eile nicht gestattete. Er begab sich vielmehr sofort in das Bertram’sche Haus am Markte und erbat sich hier von der Frau des Oekonomen Tölle Wasser zum Waschen und ein Hemd. Während er noch mit der Toilette beschäftigt war, kam Fürst Günther Friedrich Karl der Erste von Schwarzburg-Sondershausen vom [199] Schlosse herab, um den flüchtigen Gast zu begrüßen. Den hochherzigen Fürsten schreckte die Gefahr, in die er sich hierdurch den rachsüchtigen Franzosen gegenüber begab, durchaus nicht. Jedenfalls empfand er wohl, daß ihn die Neutralität seines Fürstenthums nicht der nationalen Pflichten gegen den König des mächtigsten deutschen Staates überhob. An Stelle der müden Pferde, welche den König hierher gebracht hatten, ließ der Fürst sofort und ohne Bedenken sechs feurige Rosse aus seinem Marstalle spannen, und dann fuhr Friedrich Wilke, ein gewandter Vorreiter, voraus, beim jetzigen Palais und darauf beim Fischerhause vorüber zur Stadt hinaus und in der Richtung nach Nordhausen weiter. Jener ungewöhnliche Weg mußte gewählt werden, weil alle Straßen


Der Sommernachtstraum.
Illustrations-Probe aus der Grote’schen Shakespeare-Ausgabe.
Von P. Thumann.


durch flüchtige Soldaten und Wagen überfüllt waren. Eine Rettung des Königs im engsten Sinne des Wortes lag allerdings in der Handlung des Fürsten von Sondershausen nicht, denn das todmüde Armeecorps des Marschalls Soult blieb an diesem Abende nach dem bestandenen Gefechte bei Greußen liegen. Aber immerhin gebot die allgemeine Unsicherheit der Wege, welche schon durch jene versprengten Husaren in Greußen deutlich bekundet ward, die möglichste Eile, und gewiß entsprang die rasch entschlossene Hülfe aus einem edlen, muthigen und uneigennützigen Herzen.

Es ist für jene Zeiten charakteristisch, daß sich die Bürger von Sondershausen trotz alledem vor den Franzosen selbst sicher glaubten. „Sie können nicht durch das ‚Geschling‘,“ sagte man sich allgemein zum Troste. Und warum nicht? Weil in jenem Thale, durch welches jetzt die Chaussee und Eisenbahn nach Greußen und Erfurt führt, damals die Wege meist so grundlos waren, daß mancher Reisende Bedenken trug, dort hindurch zu fahren. Die Sondershausener hielten sich also, da sich die Neutralität nicht bewährt hatte, wenigstens durch jenen Schmutz für völlig gesichert. Am späten Abende des 16. Octobers langten auch die Flüchtlinge von Greußen in der Umgegend von Sondershausen an. Die Reste der Garde bekamen ihr Quartier in der Stadt und füllten alle Häuser. Sie mochten weder essen noch trinken, sondern nur schlafen, schlafen. Aber nach höchstens zwei Stunden wurden sie von der Alarmtrommel schon wieder geweckt, und schlaftrunken und vor Uebermüdung taumelnd mußten sie zum Abmarsche antreten.

Am folgenden Morgen, Freitag den 17. October, waren die letzten hundert Preußen, welche sich in der Neustadt oberhalb der Karngasse nothdürftig geordnet hatten, kaum abgezogen, als einige in die Stadt sprengende feindliche Chasseurs den Sondershausenern bereits die sichere Kunde brachten, daß der bewußte Schmutz im ‚Geschling‘ die Franzosen nicht vom Kommen abgehalten habe.

Gleich darauf quollen die zügellosen Schaaren, die von Greußen mit dem ersten Tagesgrauen aufgebrochen waren, von allen Enden zugleich in die friedliche Hauptstadt des neutralen Fürstenthums, und nun begannen hier dieselben Scenen, die ich schon oben geschildert habe. Mein Urgroßvater, der als Religionsschriftsteller bekannte Kirchenrath Cannabich, der Vater des Geographen, dachte gleichfalls das höflichste Volk der Welt durch einen freundlichen Empfang bezähmen zu können, mußte aber, gleich dem Pastor Zahn in Wasserthaleben, erfahren, wie es mit jener Höflichkeit bestellt sei. In einem Augenblicke seiner Uhr und, wenn ich nicht irre, auch seiner silbernen Schuhschnallen beraubt, flüchtete er eilig in seine Studirstube zurück. Eine kleine Summe in Geld rettete mein Großvater glücklich im Tintefaß. Aehnlich ging es in allen Häusern zu. Plünderung und Gewaltthat herrschten überall und nur Wenige entgingen der völligen Beraubung. Zu ihnen gehörte mein anderer Großvater, der wohlbedacht selbst alle Thüren seiner Wohnung und die Kästen aller Schränke weit öffnete und so bewirkte, daß die Plünderer nach einem flüchtigen Blicke in die Räume weiter eilten. Die Noth in der Stadt war übrigens schon gegen Mittag so groß, daß der erste Beamte des Fürstenthums, Geheimrath von Weise, zu dem meine Großmutter mit vielen anderen Frauen geflüchtet war, meinem damals fünfjährige Vater nicht einmal ein kleines Stück Brod für den ärgsten Hunger zu geben vermochte. Da nun Nachmittags noch die Schreckensnachricht auftauchte, die Stadt solle angezündet werden, so flohen viele Einwohner mit Weib und Kind in der Richtung nach Frankenhausen, kehrten aber sehr rasch wieder um, da sie auf Flüchtlinge aus allen östlich gelegenen Dörfern stießen und von ihnen erfuhren, daß es dort, wenn möglich, noch schlimmer hergehe, als in Sondershausen.

Der Marschall Soult selbst stieg auf dem Schlosse ab und wurde dort vom Fürsten so höflich empfangen und so gastlich bewirthet, daß er beim Abschiede den Fürsten recht dankbar und gerührt umarmte. Das hinderte aber den Marschall nicht, gleich nach seinem Abschiede sämmtliche achtzig Pferde des Fürsten, fast durchweg von edler Race, und unter ihnen die sechs Renner, die am Tage vorher den König gefahren hatten, aus dem Marstalle herausziehen zu lassen und mit sich zu nehmen, um so den freigebigen Wirth für seine edle Handlung noch recht empfindlich zu strafen.

Diese Scenen dauerten in Sondershausen, da den abziehenden Truppen immer neue beutegierige Schaaren folgten, bis Sonntag, den neunzehnten October, und ließen die kleine und arme Stadt völlig ausgeraubt. Erfahrene behaupten, daß sich unter den Dieben auch verrätherische Einwohner der Stadt befunden haben, von denen leider nur Einer auf dem hiesigen Vorwerk von einem Acte der Lynchjustiz ereilt wurde. Ich würde die Leser zu ermüden fürchten, wenn ich ihnen noch speciell erzählen wollte, daß an demselben Freitag, an welchem die Franzosen in Sondershausen anlangten, noch ein Gefecht mit der über Nordhausen abrückenden preußischen Nachhut bei letzterer Stadt stattfand, in welchem die Franzosen noch viele Gefangene machten und dem dann in Nordhausen dieselben Gräuelscenen folgten, die ich schon zur Genüge beschrieben habe.

Es leben jetzt nur noch wenige Augenzeugen jener Tage in Sondershausen und ihnen verdanke ich diese durchweg glaubhaften [200] Mittheilungen. Mögen diese Darstellungen wenigstens den Nutzen haben, selbstsüchtige Seelen, die im Hinblick auf einen künftigen Revanchekrieg mit Frankreich vielleicht schon jetzt an eine erbärmliche, vaterlandslose Neutralität denken, darüber zu belehren, daß im Jahre des Unheils 1806 dieselbe Neutralität unserem Fürstenthum ebenso wenig genützt hat, wie durch dasselbe Mittel genau drei Wochen nach dem Unglückstage von Greußen, am sechsten November, die freie Hansestadt Lübeck der Besetzung durch Blücher und allen Gräueln der Erstürmung durch die Franzosen entging.

Sieben schwere Jahre voll von Kriegsdrangsalen und kaum erschwinglichen Contributionen folgten der Schlacht von Jena nach. So lange brauchte damals der deutsche Michel, bis er warm wurde und mit seinen kräftigen Armen die Feinde vor sich niederschlug, und dieses Warmmachen haben die Franzosen glücklicher Weise zu allen Zeiten redlich verstanden. Welches Volk hätte auf die Dauer Zustände ertragen können, bei denen zum Beispiel meinem Großvater bei seinem damaligen Einkommen von fünfhundert Thalern in einem einzigen Jahre die Einquartierung achthundert Thaler kostete?

Aber endlich im Jahre 1813 schlug die Stunde der Erlösung. Damals erst durfte es ein Bürger unserer Stadt, den seine Zeitgenossen unter dem seltsamen Namen „Keck Meister Eberhardt“ kannten und der nicht zehn Worte zu sprechen vermochte, ohne einmal zu sagen: „Ich setze den Fall“, wagen, die auf unserem Batzenhäuschen zechenden Franzosen mit den Worten von der Bank zu schieben: „Platz da! Ich setze den Fall, Ihr geltet nichts mehr.“

Uns Sondershausenern aber verblieben noch auf lange Jahre zwei Andenken an jene schwere Zeit. Das Eine war der wackere Lecharby in Jechaburg, der sein Regiment, die französischen Chasseurs à cheval, aus irgend welchen Gründen verlassen hatte, um sich hier eine friedliche Heimath zu gründen, und der als Sergeant der fürstlichen Grenadiergarde bis zum Tode des verstorbenen Fürsten seine „Schuldigkeit“ that. Das Andere ist ein prächtiger Schimmel von bester Race, den Friedrich Wilhelm der Dritte seinem Retter nach den Befreiungskriegen schenkte. Dieser ist noch jetzt ausgestopft auf dem fürstlichen Naturaliencabinet als ein stillberedtes Erinnerungszeichen fürstlicher Hochherzigkeit und königlichen Dankes zu sehen.[1]


K. Chop.




Ehrenrettung für einen Todten.


Im Begriffe, den Jahrgang 1873 der Gartenlaube der stattlichen Reihe seiner älteren Brüder anzureihen, stoße ich bei nochmaliger Durchsicht desselben auf eine in einem fremden Artikel enthaltene, mir früher entgangene Stelle, die zur Ehrenrettung für den Angegriffenen eine Berichtigung dringend erheischt, und zwar um so mehr, als der unverdiente Angriff in einem Weltblatte, wie die Gartenlaube, und am Grabe des Angegriffenen erfolgt ist. Ich meine die in dem interessanten Aufsatze von Moritz Müller „Eine Wanderung durch die Friedhöfe Weimars“ enthaltene, auf Riemer bezügliche Stelle.

Ich kann schon dem dortigen Tadel der Riemer’schen Dichtungen als „Goethe ängstlich nachgedrechselter kalter Verse“ nicht beipflichten. Riemer, der seine erste Gedichtsammlung unter dem Titel „Blumen und Blätter von Silvio Romano“, seine späteren Dichtungen unter eigenem Namen edirte, besaß entschiedenes poetisches Talent, war Meister im sinnigen Sonett, im schwungvollen Festgedichte, im witzigen Epigramm und hat auf diesen Gebieten Vorzügliches und in so gediegener Form geleistet, daß er sich schon dadurch einen geachteten Namen in der deutschen Literatur gesichert hat. Graf Reinhard, Goethe’s Freund, sagte gewiß nicht zu viel, als er die Riemer’schen Dichtungen „talentvolle Durchführung der Eigenthümlichkeiten einer geistreichen und erheiternden Manier“ nannte. Eben dies, und in noch höherem Maße, gilt auch von den noch ungedruckten, in meinem Besitze befindlichen späteren Dichtungen Riemer’s.

Wenn aber jener Artikel über Riemer ferner sagt, daß der Letztere zu den strenggläubigsten Goethe-Anbetern gehört habe und sich sogar zu der Behauptung habe fortreißen lassen: alles Gute, was Schiller gehabt, habe er seinem Freunde Goethe listig abgeschwatzt oder gestohlen, – so muß das Andenken eines so vielfach hochverdienten Mannes, wie Riemer, gegen diese ungerechte Beschuldigung geschützt werden. Es richtet sich jene Anschuldigung gegen Riemer’s Werk „Mittheilungen über Goethe“ (1841). Ich bin weit entfernt davon, dies wahrhaft classische Werk von dem längst erhobenen Vorwurfe, daß es die Lichtseiten Goethe’s behandele und darstelle, ohne seiner Schattenseiten, seiner Mängel in gleicher Weise zu gedenken, freizusprechen; aber man darf bei dieser Beurtheilung die Veranlassung und den Zweck des Ganzen nicht außer Acht lassen.

Nachdem Riemer (geboren zu Glatz 1774) als Erzieher in der Familie Wilhelm’s von Humboldt dieselbe 1802 nach Italien begleitet hatte und von dort 1803 mit Fernow in die Heimath zurückgekehrt war, wurde er von Goethe als Lehrer und Erzieher seines Sohnes August in sein Haus aufgenommen. Er blieb in dieser Stellung, wie nachher als Lehrer am Gymnasium zu Weimar und als Oberbibliothekar fast dreißig Jahre der Freund, der Vertraute Goethe’s. Er ist von der literarischen Thätigkeit Goethe’s durchgängig Zeuge, Mitgehülfe, gelegentlich auch Begutachter, zum wenigsten Monent, Corrector und Revisor der Manuscripte gewesen. Aber dem Menschen Goethe, dem „Menschen voll allgemeinen und besonderen Wohlwollens gegen seine Mitbrüder, dem liebreichen Vater, dem zärtlichen Gatten (? D. Red.), dem theilnehmenden Freunde, dem heitern Gesellschafter, dem patriarchalischen Greise im Kreise seiner Enkel, dem freundlichen und gütigen Herrn gegen Diener und Untergebene, dem leutseligen ansprächigen Manne gegen Niedere und Unglückliche“, hat er als vertrauter Freund nahe gestanden.

Als nun nach dem Tode des Dichters die einseitige Darstellung Falk’s über ihn erschienen war, als die Fälschungen Bettina’s („Briefwechsel Goethe’s mit einem Kinde“) das Bild des Verewigten verunstalteten und überdies die Originalität seiner schönsten Dichtungen aus der späteren Zeit, der Sonette und des Divan, zu schmälern suchten, als es in der deutschen Literatur von allerlei wirrem Getöse gegen Goethe erbrauste, und Frömmler, Dichter, Philosophen und allerlei deutsche Publicisten in bunter Reihe die heftigsten Angriffe gegen ihn richteten, da hielt es Riemer, welchem die Person, der Charakter und die schriftstellerische Thätigkeit des Dichters vor Allen bekannt und vertraut war, für seine Pflicht, wahrhaftes Zeugniß über ihn abzulegen, und in diesem Sinne, „als eine Apologie des vielverkannten und vielfach verunglimpften Mannes“, schrieb er sein Buch über Goethe, in dem er über dessen Leben und Schriften, zumal aus der früheren weimarischen, noch wenig bekannten Epoche, die interessantesten Aufschlüsse mittheilte. Dasselbe machte das allgemeinste und größte Aufsehen. Kanzler von Müller, welcher, wie der Moritz Müller’sche Artikel selbst bemerkt, für die Erscheinungen in der Literatur ein seltenes Verständniß besaß, war laut eines mir vorliegenden, noch ungedruckten [201] Briefes „über den stupenden Reichthum des Inhalts, wie über die ausdauernde, gewissenhafte Richtung und die bis in’s kleinste Detail sorgliche und treffliche Ausführung“ erstaunt; er möchte es ein heiliges Zornbuch nennen; die Indignation über Goethe’s Gegner habe brennendes Feuer, nicht griechisches auf die Federspitze gelegt und gleichsam congrevische Raketen werfen lassen.

Wenn in diesem Buche Riemer bei Vergleichung Goethe’s und Schillers „aufrichtig gestand, daß er auf allen Seiten ein Uebergewicht Goethes zu finden glaube“, so war das zu weit gegangen, doch einer Aeußerung über Schiller, wie der von obigem Artikel ihm schuld gegebenen, hat er sich nicht schuldig gemacht. Es können damit nur die Bemerkungen Riemer’s über den Tell gemeint sein. Insofern ist es aber in der That Goethe gewesen, dem zuerst der Gedanke poetischer Bearbeitung der Tell-Sage kam. Von Stäfa aus, am 14. October 1797, theilte er seinem Freunde Schiller mit: „Was werden Sie nun aber sagen, wenn ich Ihnen vertraue, daß sich auch ein poetischer Stoff hervorgethan hat, der mir viel Zutrauen einflößt. Ich bin überzeugt, daß die Fabel vom Tell sich werde episch behandeln lassen, und es würde dabei, wenn es mir, wie ich vorhabe, gelingt, der sonderbare Fall eintreten, daß das Märchen durch die Poesie erst zu seiner vollkommenen Wahrheit gelangte, anstatt daß man sonst, um etwas zu leisten, die Geschichte zur Fabel machen muß. Das beschränkte, höchst bedeutende Local, worauf die Begebenheit spielt, habe ich mir wieder recht genau vergegenwärtigt, sowie ich die Charaktere, Sitten und Gebräuche der Menschen in diesen Gegenden, so gut als in der kurzen Zeit möglich, betrachtet habe, und es kommt nun auf gut Glück an, ob aus diesem Unternehmen etwas werden kann.“ Am 30. October 1797 erwiderte ihm Schiller: „Die Idee von dem Wilhelm Tell ist sehr glücklich, und genau überlegt könnten Sie, nach dem Meister und nach dem Hermann, nur einen solchen, völlig local-charakteristischen Stoff mit der gehörigen Originalität Ihres Geistes und der Frischheit der Stimmung behandeln. Aus der bedeutenden Enge des gegebenen Stoffes wird da alles geistreiche Leben hervorgehen. Es wird darin liegen, daß man durch die Macht des Poeten recht sehr beschränkt und in dieser Beschränkung innig und intensiv gerührt und beschäftigt wird. Zugleich öffnet sich aus diesem schönen Stoffe wieder ein Blick in eine gewisse Weite des Menschengeschlechtes, wie zwischen hohen Bergen eine Durchsicht in freie Fernen sich aufthut.“ Im Jahre 1798 war Goethe die nähere Motivirung der ersten Gesänge des Tell gelungen, doch zur Vollendung kam sein episches Gedicht nicht, während Schiller hingegen denselben Stoff auffaßte und zu seinem unsterblichen dramatischen Meisterwerke verarbeitete, in dessen wunderbar naturtreuen Schilderungen von Land und Volk, wie sie eben nur nach eigner Anschauung des Vierwaldstättersees möglich (Schiller hat die Schweizer Alpen nie gesehen), die Mittheilungen oder Winke des Freundes Goethe sich leicht erkennen lassen.

Den geistigen Einfluß Schiller’s auf Goethe hat Riemer nicht geleugnet und dabei offen bekannt, als moralisch günstiger Einfluß sei anzuschlagen die gemüthliche Theilnahme Schiller’s an Allem, was Goethe interessirte, also an allen Natur- und Kunststudien, die Förderung seiner Zwecke durch williges Entgegenkommen, wohlmeinenden Rath, treulichen Beistand, einsichtigen Beifall, nebst liebevoller, nicht schulmeisterlicher Ermunterung von Seiten eines selbst reich und eigens begabten Kunstgenossen, da sein Gemüth nur durch freies Wohlwollen aufgeschlossen und durch wahre Theilnahme zur Hingebung angeregt sein wollte; dieses Alles sei allerdings als ein besonderes Glück anzusehen, um so mehr, als Goethe einen solchen Antheil nicht von seinen übrigen älteren Freunden, weder von Herder noch von Knebel, hoffen und erwarten konnte.

Wenn Riemer hiernach den im oben citirten Artikel ihm gemachten Vorwurf nicht verdient hat, so hat er und sein Grab dagegen neben andern Ruhestätten des Weimarischen Friedhofs eine Würdigung verdient, welche jener Artikel ihm versagt hat. Er war es, der dem großen Dichter, seinem Leben und Wirken drei Decennien hindurch nahe gestanden, der bei fast allen literarischen Arbeiten desselben seit 1803 mitgewirkt, der im Auftrage Goethe’s dessen so bedeutsamen und hochwichtigen Briefwechsel mit Zelter herausgegeben, der an der letzten Ausgabe von Goethe’s Werken thätigsten Anteil genommen hat. Er war es, der durch seine „Mittheilungen über Goethe“, aus seiner eigenen Kenntniß und Erinnerung und aus ungedruckten, Andern unzugänglichen Quellen der Goethe-Literatur die interessantesten Aufschlüsse, die reichen thatsächlichen Materialien geliefert hat, nach denen ein vollständiges und treues Lebensbild unseres Dichters erst möglich geworden. Er war es endlich, der noch kurz vor seinem am 19. December 1845 erfolgten Tode jene wichtigen „Briefe von und an Goethe“ druckfertig ordnete, welche im Jahre 1846 erschienen.

Im Leben vielfach angefeindet, nannte er den Trost, daß die Zeit auch ihm Gerechtigkeit werde widerfahren lassen, einen niederträchtigen Trost, denn unterdeß habe man doch gelitten und ausgestanden, gewöhnlich sei es dann erst, wenn man selbst nicht mehr sei: er machte in seinem Vorworte zu den „Mittheilungen“ die bezeichnende Bemerkung: „Das Provociren auf die Nachwelt gewährt keinen Trost. Die Nachwelt urtheilt nicht besser als die Mitwelt. Die jetzt Lebenden sind ja auch die Nachwelt einer Vorwelt, und nun frage sich ein Jeder, wie er sich gegen diese verhalte, wie viel, oder vielmehr wie wenig er von ihr weiß, wie richtig oder wie falsch er von ihr urtheilt? Und so wird es ihm bei der Nachwelt auch ergehen. Lebe nur Jeder so fort, wie er kann, um das Gerede der Mit- und Nachwelt gleich unbekümmert; er wird es keiner zu Recht und zu Dank machen.“ Aber er irrte: die Nachwelt feiert den von ihm verehrten Goethe in seiner unsterblichen Größe; sie hat auch die hohen Verdienste Riemer’s um die alte und neue Literatur anerkannt, sie wird dieselben noch höher schätzen müssen, wenn erst seine geheimen Aufzeichnungen der Oeffentlichkeit übergeben sein werden. Die von ihm genau geführten Tagebücher aus den Jahren 1807 bis 1845, welche bis vor wenigen Jahren auf der Bibliothek in Weimar versiegelt deponirt waren, sind mit seinen reichhaltigen Collectaneen und Manuscripten in meinen Besitz zu Bearbeitung und Edition übergegangen. Während Eckermann’s berühmte „Gespräche mit Goethe“ nur den letzten Jahren von dessen Leben, 1823 bis 1832, entstammen, bieten jene Aufzeichnungen über ein dreißigjähriges Zusammenleben mit Goethe das lebhafteste und treueste Bild von dem Leben und Wirken des großen Dichters seit dem Jahre 1807 und von dem Verhältnisse Riemer’s zu ihm im interessantesten Detail.

Liebreiches, ehrenvolles Andenken ist nach Goethe’s wahrem Ausspruche Alles, was wir den Todten zu geben vermögen; – möge es auch seinem Freunde und Vertrauten Riemer erhalten bleiben!

Robert Keil.




Blätter und Blüthen.


Ein „Berliner Straßenbild“ ohne Bild. Unter den Linden in Berlin bewegte sich in buntem Durcheinander die feine Welt. Glänzende Toiletten und vergnügte Gesichter, elegante, elastische Erscheinungen und Jugend und Reichthum, alles flog in schnellem Wechsel an mir vorüber, ein Bild des Glückes und des Frohsinns, der Lebensfülle und des Ueberflusses, und über dem Ganzen lag der Sonnenschein eines heiteren Frühlingstages. Ohne es zu wollen, gerieth ich in den Strom der Spaziergänger hinein, und langsam und willenlos ließ ich mich von ihm treiben, ein Fröhlicher unter den Fröhlichen. Um so schärfer war der Contrast, als plötzlich an einem Seitenwege hinter einer starken Rüster hervor ein todtenbleiches Weib auf mich zutrat, ein kleines Mädchen auf dem Arm, ein etwas größeres an der Hand, und mit zitternder Stimme sagte: „Erbarmen, Herr! eine kranke Frau, eine unglückliche Mutter, die kein Brod für ihre Kinder hat!“ – Es durchzuckte schmerzlich mein Herz; ich sah, daß es kein gewöhnliches Bettelweib war, das zu mir sprach; ich fühlte, daß ich es nicht mit einem auswendig gelernten Spruch zu thun hatte. Es war ein Nothschrei, den der Augenblick der Armen erpreßte. Sie war noch nicht an der äußersten Grenze des Elends angekommen; eine ärmliche Sauberkeit war noch an ihr bemerkbar. Aber sie war krank; das Fieber schüttelte sie sichtbar, und auch das kleinere Mädchen schmiegte sich fröstelnd an ihre mit einem dünnen Tuch bedeckte Schulter. Sie war für einen Augenblick heftig erröthet, als sie ihre Bitte nicht langsam stotternd, sondern schnell wie einen halb unterdrückten Schrei herausgestoßen hatte. Sie bettelte noch nicht lange, das leuchtete aus Allem hervor, und so griff ich schnell entschlossen in meine Tasche und holte ein größeres Geldstück hervor, das ungefähr den Umständen entsprechen und sie ein paar Tage vor der äußersten Noth schützen mochte. Wie leuchteten ihre Augen, als ich es ihr in die kalte, magere Hand legte, – ihre bleichen Lippen zitterten ein paar Worte des Dankes hervor.

Da ertönte plötzlich eine barsche Stimme hinter uns, bei welcher wir [202] Beide gleichmäßig erschraken. Ein Schutzmann war unbemerkt herangetreten und sagte grollend: „Wie können Sie sich unterstehen, Frau, hier auf offener Promenade, zu betteln! – Sie werden mir nach der Wache folgen!“ – und er drängte sie augenblicklich in den Seitenweg hinein, in der klaren Absicht, den geheiligten Boden von ihr zu befreien. Die Frau zitterte noch stärker als zuvor, während er sie vor sich herschob, und ich hörte sie deutlich schluchzen. Ich entschloß mich schnell, ihnen nachzugehen, und bald war ich nahe genug, um zu hören, wie das arme Weib sagte: „Haben Sie Erbarmen, Herr Schutzmann! Ich bin keine Bettlerin; es ist das erste Mal, Gott weiß es! Mein Mann starb vor vier Wochen; ich bin krank und von Allem entblößt, und die Kinder haben Hunger. Ich war in ein Haus gegangen, wo ich früher gewaschen, um mir dort Arbeit zu suchen. Sie hatten eine andere Frau angenommen, und da sah ich auf dem Rückwege all die feinen Herrschaften und dachte, wenn du ein oder zwei darunter findest, die ein Herz für den Armen haben, so ist dir geholfen, und so kam es auch. Haben Sie Erbarmen, Herr Schutzmann, lassen Sie mich gehen!“

„Sie müssen mit zur Wache, Frau – ich kann Ihnen nicht helfen. Da wollen wir weiter sehen,“ antwortete er in seinem harten Tone.

„Ach!“ jammerte die Arme, „nehmen Sie’s nicht übel, aber mit einem Schutzmanne durch die Straßen – es ist mein Tod!“ – Die Kinder schrieen dazwischen, daß es mir das Herz zusammenschnürte.

„Nun, nun, liebe Frau,“ sagte der Schutzmann begütigend, „es sind schon andere Leute mit uns über die Straße gegangen, ohne zu sterben.“

„Mein Gott, die Menschen werden denken, ich habe gestohlen, und ich besitze nichts mehr, nichts, als meinen – guten Namen.“

Ich hielt es nicht länger aus; ich beschleunigte meinen Schritt, um ihnen an die Seite zu kommen, und sagte dann zu dem Manne des Gesetzes:

„Drücken Sie ein Auge zu, Wachtmeister! Die Frau ist krank und sie bettelte nicht eigentlich; sie sah so elend aus, daß ich ihr – meine Gabe aufdrängte.“

„Drücken Sie ein Auge zu, Herr Wachtmeister!“ jammerte die Kranke dazwischen.

„Ich kann es nicht, Herr,“ antwortete der Beamte noch immer in demselben Tone; „ich hätte sie vielleicht nicht bemerkt, denn ich – sehe manchmal schlecht. Aber mein Lieutenant ritt vorüber und zeigte auf die Frau, und da hilft es nichts; ich muß meine Pflicht thun. Er hat mich so schon auf dem Striche, weil ich ihm ‚nicht forsch genug d’raufgehe‘, wie er sagt. Wenn er nach Hause kommt und findet die Frau nicht auf dem Rapporte, so komme ich in Teufels Küche.“

Wir waren jetzt weit von der feinen Promenade entfernt in einer der Queralleen des Thiergartens, und die Kinder schrieen noch immer, und die Arrestantin jammerte ununterbrochen:

„Drücken Sie ein Auge zu, Herr Wachtmeister – drücken Sie ein Auge zu – haben Sie Erbarmen!“

Auch ich machte noch einen Versuch, ihn zu erweichen, da stand der Mann des Gesetzes still und sagte mit dem imponirendsten Tone, der ihm zu Gebote stand:

„Bitte, mein Herr, verlassen Sie uns jetzt! Ich muß Sie dazu auffordern.“

Ich konnte nichts mehr thun; ich blieb hinter ihnen zurück und bog in einen anderen Weg ein, während ich darüber nachdachte, was eigentlich in den Zügen des Mannes lag, das nicht zu seinem Betragen paßte. Unwillkürlich folgten meine Blicke, das noch durchsichtige Unterholz durchdringend, der sich immer weiter von mir entfernenden Gruppe. Ich bemerkte, wie der Schutzmann seinen Schritt mäßigte und sich ein paar Mal forschend umsah. Dann blieb er stehen und fuhr mit der Hand unter den kleinen Schirm seines Helmes. Darauf faßte er, noch immer stillstehend, suchend in seine Tasche und wahrhaftig, jetzt drückte er der Frau die Hand, als ob er von einer alten Bekannten Abschied nähme. Im nächsten Augenblick lief die Frau mit eiligen Schritten davon, und der Schutzmann ihr nach, aber nach der anderen Seite hin, als ob er Furcht hätte, daß sie ihn wieder einholen könne. Ich folgte ihrem Beispiele und steuerte eilig der dritten Himmelsrichtung zu, als ob auch hinter mir Jemand her wäre. War es ein Zufall, daß diese Richtung mich zurückführte auf die feine Promenade? – Das bunte Treiben herrschte noch immer dort, aber es gefiel mir nicht mehr, so sehr hängen die Eindrücke von unseren Stimmungen ab. Gleichgültig und mit langen Schritten ging ich bei den glänzendsten Erscheinungen vorüber in eine Conditorei, wo ich eine Tasse Kaffee trank. Als ich nach einer halben Stunde zurückkam, war die feine Welt verschwunden; die letzten Equipagen rollten davon. Es war Zeit, Toilette zum Diner zu machen. Fast einsam lag die Promenade da. Man sah nur einige Spaziergänger, die wirklich ausgegangen waren, um frische Luft zu schöpfen. – An der Stelle, wo das arme Weib gestanden, ging der Schutzmann wieder mit ruhigem Schritt auf und ab, als gälte es, noch immer den geheiligten Boden zu bewachen. Ich trat an ihn heran, ein Streichholz für meine Cigarre erbittend; er reichte es mir galant, schon in Brand gesetzt, und ich tauschte eine Regalia mit ihm aus.

„Sie sind ein braver Mann,“ sagte ich dabei zu ihm. „Sie haben der Frau …“

„Inwiefern brav?“ fiel er mir in’s Wort, und dann, indem er mich erkannte, fügte er, verlegen auf seine Stiefelspitzen sehend, ruhig hinzu: „Ach so, Sie meinen die Frau! – Ich werde meinen Rüffel bekommen, aber ich kann’s nicht ändern. Das Teufelsweib lief davon, so schnell, daß ich sie nicht wieder einholen konnte. Und ich – ich bin selbst – vor Kurzem – krank gewesen.“

Max Alt.




Ein deutscher Shakespeare mit Illustrationen – was wäre berechtigter? Shakespeare ist unter den großen Dichtern des Auslandes ohne Frage derjenige, welcher dem deutschen Naturell am verwandtesten ist – daher die vielen Verdeutschungen des genialen Briten. Shakespeare ist aber auch in der Zahl der hervorragendsten Vertreter der Weltliteratur unbedingt der phantasie- und gestaltenreichste, und seine dichterischen Schöpfungen eröffnen dem Maler eine nahezu unerschöpfliche Fundgrube. Darum ist es ein dankenswerthes Unternehmen, daß uns die Grote’sche Verlagshandlung in Berlin den deutschen Shakespeare in einer illustrirten Gesammtausgabe bietet, ein um so dankenswertheres, als diese Ausgabe eine in Wort und Bild classische ist. Es ist die anerkanntermaßen beste Verdeutschung Shakespeares, die Schlegel-Tieck’sche, welche uns hier mit circa sechshundertfünfzig Illustrationen von den bedeutendsten Künstlern, wie Gabriel Max, Eduard Grützner, Karl von Piloty, Adolf Menzel, Alexander Wagner, Heinrich Lossow, Paul Thumann, Adolf Schmitz, P. Grot Johann, Ernst Roeber, Eugen Klimbach, Alexander Zick, H. Knackfuß, Woldemar Friedrich, Fritz Roeber u. A. in trefflichen Holzschnitten geboten wird. Die Verlagshandlung hat den Schlegel-Tieck’schen Text rechtskräftig erworben und jedem Bande des Werkes eine Einleitung aus den kundigen Federn von Professor Dr. Gosche und Dr. Tschischwitz vorangeschickt, das Ganze aber durch eine Biographie Shakespeare’s, ebenfalls von den genannten Gelehrten verfaßt, eingeleitet. Außerdem sind dem Texte zahlreiche orientirende Anmerkungen beigegeben worden. Bis jetzt erschienen zwei Lieferungen dieses deutschen Shakespeare, welcher binnen Jahresfrist vollendet vorliegen soll. Neben seinen sonstigen Vorzügen hat das Werk noch den, daß es als das Erzeugniß ausschließlich deutscher Künstler und Gelehrten die deutsche Auffassung Shakespeare’s repräsentirt und somit dem deutschen Kunstgeschmacke am meisten entsprechen wird.

Wir können uns nicht versagen, den Lesern unseres Blattes in unserer heutigen Nummer zwei der ausgezeichneten Illustrationen dieses Werkes vorzuführen, Thumann’s sinnreiche Zeichnung zum Sommernachtstraume und Lossow’s humorvolle Wiedergabe der berühmten Korbscene aus den „Lustigen Weibern von Windsor“, zeichnerische Nachdichtungen des großen Dramatikers, welche uns durch die frappante Kraft der Darstellung jedes erklärenden Wortes überheben und als die beste Empfehlung des Grote’schen Unternehmens dienen dürfen.




Heinrich Freiherr von Maltzan. Bresche auf Bresche schießt der Tod in die Reihen der Gartenlauben-Kämpfer. Am 22. Februar hat Heinrich von Maltzan zu Pisa seinem thatenreichen Wanderleben ein frei gewähltes Ziel gesetzt und das müde Haupt, über dem so oft die Sonne der heißen Zone aufgegangen, auf das kühle Todtenkissen gelegt. Eine jahrelang tapfer ertragene heftige Neuralgie, welche dem Kranken wahrhaft folternde Magenkrämpfe verursachte, muß als die einzige Ursache dieses Verzweiflungsactes angesehen werden. Maltzan’s letzte Lebenstage bewährten den festen Mannesmuth, welcher den kühnen Reisenden von jeher ausgezeichnet hat.

Die Wissenschaft verliert in ihm einen tüchtigen Ethnographen und Geographen, einen hervorragenden Linguisten und Kenner arabischer und ägyptischer Zustände und Sitten. Die Journalistik, in erster Linie die Gartenlaube, betrauert in ihm einen frischen und stets anregenden Erzähler, der es in seltenem Grade verstanden hat, durch seine ebenso lehrreichen wie fesselnden Schilderungen dem Abendlande das Verständniß des Orients zu vermitteln. Wir bewahren dem zu früh Dahingegangenen – er starb im achtundvierzigsten Jahre seines Lebens – die Gefühle warmen Dankes über’s Grab hinaus. Die Leser unseres Blattes aber werden dem geistvollen Schriftsteller, den sie seit etwa fünf Jahren aus seinen zahlreichen Arbeiten kennen, ein ehrenvolles, freundliches Gedenken gewiß nicht versagen.




Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das erste Quartal. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.




In Folge einer Verordnung der kaiserlichen Post werden die nach Erscheinen der ersten Quartalnummer aufgegebenen Bestellungen nur gegen Portovergütung von 1 Sgr. ausgeführt. Wir ersuchen also unsere Post-Abonnenten, zur Ersparung dieser überflüssigen Ausgabe, ihre Bestellungen

vor Erscheinen der ersten Nummer des nächsten Quartals

aufzugeben, bei späteren Bestellungen aber den von der Postbehörde octroyirten Groschen zu zahlen und jedenfalls die bereits erschienenen Nummern des Quartals zu reclamiren. Jede Postbehörde hat die Verpflichtung, das Quartal vollständig zu liefern.

Die Verlagshandlung.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Der in Sondershausen bis auf die neueste Zeit hier und da verbreitete Glaube, daß der König hier übernachtet habe und dann vom Fürsten selbst weiter gefahren worden sei, beruht nicht auf Wahrheit. Zunächst lag für den flüchtigen Monarchen wahrlich kein Motiv vor, nach einer Fahrt von höchstens acht Wegstunden schon wieder ein Nachtquartier zu machen; im Gegentheile drängte die ganze Sachlage und die gefährliche Nähe der Franzosen zur möglichsten Eile. Die wirklichen Zeitgenossen, wie Mundschenk Kobert hier und Herr Schulter in Nordhausen, wissen auch nichts von diesem Uebernachten, sondern behaupten, der König sei am 16. October gleich nach seiner Ankunft weitergefahren. Wie hätte der König, bei den damaligen Wegen über den Harz etc., schon am achtzehnten von Magdeburg abreisen können (Förster’s Geschichte, Band 1, Seite 789), wenn er erst am siebenzehnten von Sondershausen aufgebrochen wäre? Gelangte der Herrscher doch erst in der Nacht vom zwanzigsten auf weit bequemeren Wegen von Magdeburg nach Berlin und am einundzwanzigsten nach dem nahen Küstrin. Weshalb hätte ferner Fürst Hohenlohe am siebenzehnten von Nordhausen über die Ansammlung der Truppen brieflich berichten sollen (Förster, S. 797) wenn der König selbst am gleichen Tage durch Nordhausen gekommen wäre? Der Leibkutscher und spätere Stallinspector Schwendt, welcher den König fuhr, bedauerte übrigens später nach Wegführung der Pferde dem etc. Kobert gegenüber, daß er den König nicht bis Magdeburg weiter gefahren habe, da hierdurch seine Pferde vielleicht gerettet worden wären.