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Die Gartenlaube (1876)/Heft 41

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 41.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.


Kein Herz.
(Fortsetzung.)


Ein Regentag, nun gar ein Regensonntag auf dem Lande, hat eine ganz andere Physiognomie, als ein gleicher in der Stadt. Schon Morgens, beim Oeffnen der Läden, erscheinen im Rahmen der Fenster Portraits, die sich von den bei Sonnenschein zu erschauenden bedeutend unterscheiden. Mißfälligen Blickes wird das Grau in Grau schattirte Landschaftsbild gemustert. Alle Sonntagspläne sind umgestoßen; keine Programmänderung ist erreichbar. Ergebung in das Unabänderliche wird zum Begriffe höchster Tugend. Jede Spur der Berge ist verschwunden, als wären sie aus der Welt fortescamotirt; der aschfarbige Himmel hat sich mit dem bleifarbenen See in nasse Verbindung gesetzt – nirgend ein noch so kleines Fleckchen, dessen hellere Färbung hoffnungsvolle Gemüther nahendes Himmelblau wittern lassen könnte. Wäre es noch ein interessantes schlechtes Wetter mit Gewittersturm und brandender Welle, wo jagende, farbenwechselnde Wolken Wald und Gebirge an den Horizont malen, dann fänden wenigstens Künstler und Poeten ihre Rechnung. Aber nein! mit nie endendem Geplätscher zieht sich der Regen in dicken, schrägen Strichen nieder, wie auf einer Illustration; im Rinngusse brodelt, auf den Dächern rasselt es ohne Aufhören.

Das Geläute der Glocken hallt melancholisch vom grauen Thurme; unter aufgespannten Regenschirmen ziehen ländliche und städtische Gestalten in die alte Kirche; die Frommen, um zu beten, die Unfrommen, um dem süßen Gesange der Klosterfrauen zu lauschen, welcher vom hohen Chore niedertönt, hold und unsichtbar, als sängen die leibhaftigen lieben Engelein. Nach dieser Stunde begiebt sich nichts mehr. Am Sonntage hat der Landpostbote Feiertag: weder Brief noch Zeitung ist zu erhoffen. Zwar erscheint das Dampfschiff pünktlich zu den gewöhnlichen Stunden, aber Niemand schaut nach ihm aus, weder Wirthin noch Gäste. Man weiß, es bringt nichts, trotz seines schrill locomotivenhaften Pfeifens. Es zeigt eine unheimliche Verwandtschaft mit dem fliegenden Holländer: Niemand ist darauf zu schauen, als Capitain und Steuermann.

Die Gäste bleiben in ihren Zimmern. Briefe von sehr altem Datum, welche mit frischen Vorsätzen zur That aus der Stadt mitgenommen worden und langen Frieden genossen haben, werden beantwortet. Die vereinzelten glücklichen Besitzer irgend eines Buches fallen darüber her und lesen das bereits früher Genossene so scharf durch, als sei es ihnen eben vom Himmel gefallen. Von Zeit zu Zeit tritt ein arbeitslustiger Claude Lorrain aus dem Hause auf die Terrasse, späht in das Aschgrau und kehrt achselzuckend in seine Klause zurück. Die Mittagsstunde ist gekommen, zu Lob und Preis. Heute giebt es Gebratenes und Gebackenes, nicht blos weil Sonntag ist, sondern auch weil Enten und Hühner, theilweise auf Dampfschiffgäste berechnet, nun den Einheimischen zu Gute kommen. Nach Tische geht Jedermann zur Siesta; den Kindern wird eingeschärft, sie müßten heute einen Nachmittagsschlaf von dreistündiger Dauer leisten, und die Gäste thun desgleichen. Hiermit ist der Regentag besiegt, denn mit Herannahen des Abends heben sich die Lebensgeister. Sobald die Lampen des Eßzimmers entzündet werden, weiß Jeder, was er soll und was er muß. Der ländlich ausgestattete Raum füllt sich nicht nur früher, sondern auch mehr als gewöhnlich. Obgleich es noch immer niederrieselt, finden sich, mit Schirmen und Laternen bewaffnet, sämmtliche Insassen der Privatwohnungen ein, um nach dem langweiligen Tage auch ihr Theil abendlicher Geselligkeit zu genießen. Lust und Leben schäumen auf wie Perlen in lange verkorktem Wein. Während die „Herrschen“ im Speisezimmer lachen und plaudern, sitzen Ackerbürger und Handwerker im Gange bei ihrem Maße Bier, und zwischen ihnen concertirt das aus Violine, Cither und Guitarre bestehende Orchester der Tafel.

Die Gesellschaftsspiele der Jugend waren bei diesen verlockenden Tönen heute in ein Tänzchen übergegangen, und die nun einmal in Zug gerathenen jüngen Künstler und Professoren gaben diese Lust keineswegs auf, nachdem sich ihre Damen zur Ruhe zurückgezogen hatten, sondern wählten sich neue Partnerinnen, unter welchen Monika offenbar die Gesuchteste war. Ohne Zweifel mußte es ein Vergnügen sein, mit ihr zu tanzen; sie nur tanzen zu sehen, war eine Augenweide. Das mochte wohl auch „Herr Wilhelm“ finden, denn obgleich sein Gesicht den gleichgültigsten Ausdruck zeigte, folgten seine Augen doch beständig dem gleichen Ziele, während er in kerzengerader Haltung unter der Zimmerthür stand.

Monika kam mit ihrem Tänzer neben ihm zu stehen; trotz des unermüdlichen Walzens war sie nicht athemlos; die Bewegung schien ihr so natürlich, wie dem Vogel der Flug. Sie schien ihren Nachbar nicht bemerkt zu haben; plötzlich drehte sie den Kopf nach ihm und sagte in ihrer frischem Weise:

„Warum tanzen Sie denn gar nicht, Herr Wilhelm?“

Er machte eine etwas linkische Bewegung. „Ich kann nicht tanzen, Fräulein Monika.“

„Hier bei uns giebt es keine Fräuleins,“ lachte das Mädchen. „Ich bin Monika ohne Zubehör – das müssen Sie [680] sich einmal merken. Sie können nicht tanzen? Schöne Ausrede! Jeder kann tanzen, der gesunde Füße hat und Lust und Musik dazu. Wollen wir nachher einmal?“

„Wahrhaftig, ich kann nicht,“ betheuerte er, „ich würde Ihnen nur auf die Füße treten, und dann werden Sie böse. Wenn Sie aber statt dessen –“

Er stockte.

„Wenn ich aber –?“

Er richtete die ehrlichen Augen klar auf ihr Gesicht. „Wenn Sie mir statt dem Tanzen die Ehre anthun und zu einem Schoppen mit mir niedersitzen mögen, dann würde ich Ihnen das viel höher anrechnen, Monika,“ sagte er treuherzig. „Ich weiß freilich nicht, ob Sie dazu Lust haben. Bei mir daheim ist so der Brauch; meinen Sie vielleicht, daß es hierorts auffällig wäre, dann will ich nichts gesagt haben – Sie thäten mir aber einen großen Gefallen.“

„Alles, was mit Ehren geschieht, ist überall der Brauch,“ sagte das Mädchen freundlich; „ich tanze nur gerade noch einmal herum, dann komme ich hinein und bringe Ihnen selbst den Schoppen, Herr Wilhelm.“

Sie saßen einander gegenüber, des Tisches Breite zwischen sich. Nur wenige vereinzelte Gäste waren im Zimmer zurückgeblieben. Die Wirthin schlief auf einem Stuhle und nickte wie im Tact mit dem Kopfe. Ohne die vom Gange hereintönende Musik wäre es drinnen ganz stille gewesen. Auch das junge Paar verhielt sich schweigsam.

Monika, hatte, nachdem sie das Bier herbeigebracht und sich niedergesetzt, eine muntere Rede begonnen, war aber mitten im Satze stecken geblieben, als sie dem stillen Blick begegnete, womit ihr Gegenüber sie ansah. Ihr wurde plötzlich zu Muthe, als striche eine weiche Hand über ihr Haar. Sie mußte an ihre todte Mutter denken, und doch war ihr so vogelleicht um das Herz, als könnte sie geradezu in den Himmel fliegen. Sie verstummte und sah vor sich hin. Zum ersten Mal in ihrem Leben wagte sie es nicht, ihr offenes Auge zu dem eines Anderen zu erheben.

„Monika!“

„Herr Wilhelm?“

„Haben Sie gehört, daß wir übermorgen oder spätestens am Mittwoch abreisen?“

Sie machte eine rasche Bewegung und schlug plötzlich die Augen zu ihm auf. Der lachende Schelm, welcher meist darin blitzte, war weit entwichen; ein dringender, feuriger Blick schien ihre Antwort auf seine Frage zu sein. Sie schüttelte den Kopf, ohne ein Wort zu erwidern.

„Der Herr General will nach Hause, und früher hatte ich mich auf die Zeit gefreut, weil ich dann loskomme. Jetzt freue ich mich aber nicht. Wissen Sie, warum?“

„Wie könnte ich das wissen, Herr Wilhelm?“ antwortete sie zögernd, während ihr ein verrätherisches Feuer heiß auf den Wangen brannte.

„Ich glaube doch, Sie wissen es, Monika,“ sagte er beherzter und beugte sich über den Tisch hinweg ihr näher zu. „Monika, ich habe Sie gern. Eigentlich wollte ich fort und nichts sagen, denn was kann ein armer Schlucker meiner Art Ihnen anbieten? Aber, Gott weiß, wie es zugeht – Sie haben es mir angethan; es muß heraus. Mit einem Wort, Monika, mein Hab’ und Gut ist nur gering, aber mir gehören wenigstens ein paar gesunde Arme und eigenes Dach und Fach, und möchten Sie mit dem einfachen Haus und dem einfachen Mann vorlieb nehmen – dann, Monika, wär’ ich glücklicher als alle Kaiser und Könige auf der ganzen Welt.“

Er streckte ihr seine Hand entgegen. Sie saß einige Augenblicke wie verzaubert, ohne sich zu rühren, und schien immer noch zuzuhorchen, als er schon eine ganze Weile aufgehört hatte zu sprechen. Als er mit einem schweren Seufzer seine Hand zurückziehen wollte, kam aber Leben in des Mädchens Gestalt. Sie schlug mit ihrer Rechten ein, und legte, wie zur Bekräftigung, noch ihre Linke auf die festverschlungenen Hände.

„Du willst –“ rief er mir gedämpftem Freudenlaut, dessen warmer Klang Monika bis in das Herz traf.

Ein sonniges Lächeln ging in ihrem jungen Gesicht auf; ihre Augen blitzten durch große Thränen, und die sonst so muthwilligen, heute so stummen Lippen öffneten sich endlich zu einem Worte: „Wilhelm – Wilhelm, ich hab’ Dich lebensgern.“

Da schlug es an der großen Wanduhr Elf. Wie mit einem Ruck wachte die Wirthin auf, rieb sich die Augen, zählte die Schläge und erhob ihre füllreiche Gestalt. Mit kräftiger, wenn auch durch das Schlummerstündchen etwas belegter Stimme rief sie zur Thür hinaus: „Basta! Trollt Euch Alle heim – es ist Schlafenszeit.“


Dem regnerischen Sonntage folgte ein klarer Morgen. Es wurde um die Mittagszeit sehr heiß. Monika war beschäftigt, mit Lisi die Eßtische im Freien zu decken; letztere drehte alle Augenblicke den Kopf nach ihr um; sie kannte doch die Monika, seit Beide mit einander in die Schule gelaufen waren, so wie heute hatte sie aber das Mädel nie gesehen. Sie sprang wie ein Reh zwischen Haus und Terrasse hin und wieder und war dabei wunderlich ungeschickt; erst ließ sie die Bestecke aus den Händen fallen, dann gar einen Teller, was ihr noch nie passirt war. Wundern konnte man sich darüber freilich nicht, denn statt vor sich hinzuschauen, wandte sie die Augen immerfort nach links, dem Wege in’s Dorf zu.

„Was ist denn heut’ mit Dir?“ sagte Lisi neugierig, als Beide im Wirthszimmer neuen Vorrath von Geschirr holten und Monika wie ein steinernes Bild am Schenktische stehen blieb und zum Fenster hinausspähte. „Du bist ja wie verhext.“

Monika fuhr herum und lachte. Auf einmal stellte sie ihren Stoß von Tellern nieder, fiel ihrer Camerädin um den Hals und fing an zu schluchzen.

„Um Gotteswillen, was ist denn?“

„Lisi, es drückt mir das Herz ab, wenn ich es nicht sagen darf. Ich und der Wilhelm, der Herr Wilhelm, wir sind seit gestern Abend ein Paar.“

„Was?!“ rief Lisi verblüfft. „Das ist doch nur Spaß, Mädel. Den steifen Ladstecken hast Du Dir ausgesucht, nachdem Dir allfort Keiner recht war? Geh weg – das kann nicht sein. Wie? Ist’s am Ende doch wahr? Jetzt sag’ ich aber nichts mehr – da hätt’ ich doch eher gemeint, der Himmel fällt ein. Was Dir an Dem gefallen kann, das find’ ich nicht aus.“

„Er hat so gute Augen,“ sagte Monika und lächelte in sich hinein; „ich hab’ ihn gern.“

„Sieh nur zu, daß er Dich auch gern hat,“ meinte Lisi. „Gute Augen? Na, dann hat er Dich besonders angeschaut. Ich weiß freilich nichts davon, denn wenn er nicht seinen Herrgott, den General anguckt – und auch das thut er, als wär’ er dazu commandirt – dann weiß man nie recht, wo er hinschaut. Er macht ja immerfort dasselbige Gesicht, als wär’ ihm Alles einerlei, und will man ein Bischen Spaß mit ihm machen, dann steht er da, wie eine geschnitzte Figur. Den möcht’ ich nicht geschenkt.“

„Er Dich auch nicht,“ sagte Monika, roth vor Verdruß; „und jetzt sei still! Ich hab’ ihn einmal gern, und er wird mein Mann, ob es Dir recht ist oder nicht.“

„Aergere Dich nicht, Monika!“ sagte Lisi gutmüthig; „es ist ja nicht bös gemeint, ich wundere mich nur. Aber jetzt sag’, hat er denn etwas, worauf Ihr heirathen könnt?“

„Freilich; er hat ein Häusle und ein Stückel Feld, ganz schuldenfrei, d’rin im Oberland. Jetzt weißt Du’s und jetzt laß mich in Ruh, und halt’ vorläufig reinen Mund, denn ich hab’ noch nicht einmal mit meinen Leuten davon geredet. Der Wilhelm ist gerad’ jetzt bei meinem Vater und setzt dem die Sach’ auseinander. Nachmittag, wenn Zeit ist, geh’ ich selbst hinunter. Bis dahin darf Keiner was erfahren –“ sie brach ab und trat hastig vom Fenster zurück. Draußen war hinter den Scheiben Wilhelm Huber’s stattliche Figur sichtbar geworden. Er nickte herein; im nächsten Augenblicke war Monika aus dem Zimmer verschwunden. Lisi sah die Beiden eifrig mit einander reden. „Curios!“ sagte sie vor sich hin und schüttelte den Kopf.

Sobald abgegessen war, lief Monika zu ihrem Vater. Des Wendelfischers Haus stand hart am Strande; es war niedrig, seiner Tiefe nach aber ziemlich geräumig. Das graue Schindeldach war mit großen Steinen beschwert; neben der Hausthür lehnte ein in Ruhestand versetzter Heiliger von Stein, dem die Nase abhanden gekommen war und der es sich gefallen lassen mußte, daß sein segnend ausgestreckter Arm jetzt als Träger von [681] Körben diente, während ein feuchtes Netz über seine kolossale Figur niederhing. Das junge Mädchen schlüpfte behende durch die Thür, doch wurde ihr Schritt langsamer, als sie die Stube betrat und dort den Vater sitzen sah. Der Wendelfischer, ein sehniger, schmal gebauter Mann mit scharfem Vogelgesichte, sah ihr mit so eigenthümlichen Ausdrucke entgegen, daß sie verwirrt an der Schwelle stehen blieb, ohne ein Wort herauszubringen.

„Das sind mir Sachen!“ sagte der Vater, indem er die Pfeife aus den Munde nahm. „Ist das neumodisch, daß man von so was daheim kein Schnauferle thut und schickt ohne Weiteres den Hochzeiter in’s Haus? Ist’s wirklich Dein Ernst, Monika?“

„Freilich, Vater! Und was war da im Voraus zu reden? Ich hab’s selber erst gestern erfahren, daß mich der Wilhelm gern hat.“

„Wenn doch einmal geheirathet sein muß, warum nimmst Du nicht lieber den Hafner in Chieming? Der hat ein gutes Geschäft, das brav Geld einträgt. Dem Huber sein Anwesen ist gering und Du mußt Dein Lebtag auf dem Dorfe hocken bleiben.“

„Das ist meine Sache,“ antwortete das Mädchen. „Wenn Ihr nichts weiter einzuwenden habt, dann ist’s abgemacht.“

„Einzuwendenden hätt’ ich gerade nichts. Der Huber hat mir seine Militärpapiere gezeigt, und ich war vorhin droben und hab’ mit dem General geredet; der ist ein zuverlässiger Mann und hat dem Wilhelm zu Gunsten gesprochen. Daß Du nicht ewig daheim bleibst, weiß ich auch. Wie Ihr Zwei miteinander auskommen werdet, geht Euch selber an. Soll mich wundern! Du hast immer den Schnabel in Bewegung, und der Huber redet so sparsam, als kostete jedes Wort einen Batzen. Du geräthst so leicht in Brand wie ein Pulverfaß, und der sieht so einerlei aus, als könnt’ die Welt in Stücke gehen, ohne daß er nur den Kopf herumdreht. Wie Ihr nur aufeinander verfallen seid? – Basta! Wann soll denn Hochzeit sein? Habt Ihr das auch schon ausgemacht?“

„Soll auf der Stelle ausgemacht werden,“ rief eine kräftige Stimme, und als Monika erschrocken herumfuhr, stand Wilhelm auf der Schwelle der Zimmerthür. Er mußte sich bücken, um eintreten zu können; zwei Schritte, und er stand neben Monika und drückte ihr einen herzhaften Kuß auf die Lippen.

Im nächsten Momente ließ er sie los. Stramm aufgerichtet stand er vor dem Wendelfischer und sagte in seiner knappen Weise: „Mit Verlaub könnte ich in ein paar Wochen wieder herkommen und die Monika holen, wenn es Ihnen recht ist. Meine Dienstzeit ist am ersten October um, der Herr General entläßt mich aber gleich, wenn er wieder daheim ist – das hat er mir versprochen. Ich komme also nächste Woche schon in meinen Ort und kann nach den Rechten sehen. Hauseinrichtung ist da, so viel wir vorerst nöthig haben. Wir brauchen also nicht zu warten. Blos ein Umstand ist’s, der mir Gedanken macht. Kann aber nicht geändert werden.“

„Was denn?“ sagte das junge Mädchen heiteren Auges.

„Du hältst so viel vom Wasser, Monika,“ sagte er bedenklich. „Daheim bei mir giebt’s keins, als im Brunnen.“

„Schadet nichts,“ rief Monika mit frischem Lächeln; „dafür giebt’s sonst Allerlei. Ich hab’ mir lange gewünscht, einmal was Anderes zu sehen und zu hören, als unsere Insel, die ich auswendig weiß. Jetzt setz’ Dich aber! Ich koch’ uns einen Kaffee.“

„Kann nicht sein; ich muß gleich wieder hinauf. Der Herr General will im Rollstuhle fahren. Ich hab’ mich nur gerade fortgemacht, während er seine Mittagsruhe hält. Das dauert aber nie lange.“

„Laß ihn halt ein Bissel warten!“ schmeichelte Monika. „Heut’ wird er’s schon nicht so genau nehmen. Lange darf ich ja auch nicht dableiben. Bis die Herrschaften ihren Kaffee verlangen, muß ich wieder droben sein. Das halbe Stündchen dürfen wir uns doch gönnen?“

Er schüttelte den Kopf. „Es geht nicht, Monika; meine Schuldigkeit muß gethan werden. Heut’ Abend, wenn der Herr im Bett ist, können wir beisammen bleiben; jetzt muß ich fort.“

Sie schmollte. „Morgen gehst Du fort und willst mir heute nicht den kleinen Gefallen thun? Giebt’s auch ein Bissel Verdruß, den Kopf wird’s nicht kosten. Na, sieh nicht gar so ernsthaft drein, Wilhelm! Ich bin schon still – geh’ nur! Ich red’ mit der Wirthin, daß sie mich heut’ Abend frühzeitig fort läßt, dann kommen wir alle Zwei herunter – gelt? Nun sag aber einmal – Du hast vom General geredet – weiß denn das Fräulein auch schon, wie es mit uns steht? Nicht? O, dann sag ich’s ihr selber, und gleich. Grüß Gott!“

Auf dem sonnigen Gesichte lag noch ein wenig von dem Schatten, der eben darauf gefallen, während sie an Wilhelm vorbei aus dem Zimmer und Hause schlüpfte und eilig hügel-aufwärts sprang, als wollte sie sich nicht einholen lassen. Als sie die Höhe erreicht hatte, wo uralte Linden einen kreisförmigen Grasplatz umgeben und inmitten des rührigen Lebens ringsum eine Stätte grüner, wunderbarer Einsamkeit schaffen, stand sie vor einem der mächtigen Stämme still. Dort war ein Madonnenbild in die Rinde eingelassen, dessen Angesicht auf die Häuser am Strande niederlächelte, welche im Sonnenglanze ruhten. Monika faltete die Hände. Der zwischen Empfindlichkeit und Schelmerei gemischte Ausdruck ihrer Züge wandelte sich in Ernst. Ihre Gedanken bekamen Flügel; sie murmelte leise Worte, ohne selbst recht zu wissen, was sie sprach. Sie gab ihr neues Glück der Muttergottes zum Aufheben.

Als ihre Augen sich senkten, sah sie zu Füßen der schattenreichsten Linde Valentine Wittstein im Grase ruhen; den Kopf leicht an der Stamm gelehnt, war dieselbe in ein Buch vertieft. Im nächsten Augenblicke stand Monika vor ihr. „Fräulein – Fräulein! Ich muß Ihnen etwas sagen. Fräulein, denken Sie doch – ich heirathe den Wilhelm.“


Der Vollmond war in seiner ganzen Pracht aufgetaucht und hob sich langsam über den See. Valentine saß auf ihrem Lieblingsplatze, den breiten Stufen, welche den Endpunkt des Dampfschiffsteges erhöhten, und genoß das Schweigen. Der leise Ruf der Unken vom Ufersaum störte nicht, sondern erhöhte noch den Eindruck der Stille. Das Mondlicht lag wie eine Brücke von Silber und Perlen über dem ruhigen Wasser, und die Wasserfäden, welche ihre feinen Ranken hinab in die Tiefe spannen, schienen es durstig einzutrinken. Schilf und Binsen schillerten bläulich; an den Aesten der Uferbäume blinkte silbernes Licht. Das geistliche Haus drüben im Klosterbering, das seine freie Ostseite dem See zuwendet, war gleichsam gebadet im weißen Schimmer; jedes einzelne Blatt des Obstspaliers, das es bis unter den Dachgiebel umflicht, ließ sich zählen. Jenseits hielten die Berge geisterhafte Wacht, umwogt von Nebeldünsten, die sich auf und niederbewegten wie riesige Phantome. Einzelne Gipfel hoben sich in voller Klarheit gegen den Sternenhimmel ab, bis ihnen die aufsteigenden Nebelschemen den Schleier über das Haupt warfen und sie vergingen. Der wallende Brodem verhüllte, was er umfing, und erschien doch schimmernd und durchsichtig, wie ein silbergewirktes Gewebe.

Valentinens Auge war von dem glänzenden Wasser abgewandt; es hing an den dunstigen Höhen. Sie war so tief in Gedanken, daß sie das Nahen eines Schrittes überhörte und zusammenfuhr, als Bernardin sie begrüßte.

„Störe ich Sie, Fräulein Valentine? Dann gehe ich wieder.“

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, ohne die Thränen zu entfernen, welche schwer in den Wimpern hingen. „Sie stören mich nie, lieber Freund,“ sagte sie ruhig. „Im Gegentheil bin ich dem Zufall oder dem freundlichen Willen, der Sie hergeführt recht dankbar, denn ich befinde mich heute nicht in zuträglicher Gesellschaft, wenn ich allein bleibe.“

„Ich sah Ihnen den ganzen Tag über an, daß Sie in irgend einer Weise leiden, deshalb kam ich Ihnen nach,“ entgegnete er einfach. „Ich weiß, daß Sie offen sein würden, wenn Sie lieber allein bleiben möchten. In bedrückter Stimmung ist das aber nur ein süßes Gift, und es freut mich, daß Sie sich dies selbst zugeben. Es ist sonst nicht der Frauen Art, noch weniger die der Jugend. Erst wenn man viel Leben hinter sich hat, fürchtet man die Schmerzen und weicht ihnen aus.“

„Hätten Sie eine Vorstellung, wie alt ich mich fühle, Bernardin, dann wüßten Sie auch, daß ich mit der Art der Jugend überhaupt nichts mehr gemein habe. Weit weniger als Sie – glauben Sie mir das?“

Er lächelte. „Nein, Fräulein, ich glaube das nicht. Sehen [682] Sie, ich besaß mit vierzig Jahren noch dieselbe körperliche und geistige Frische wie mit zwanzig, doch sagte ich mir: Jetzt ist es Zeit, allem Aeußerlichen den Rücken zu wenden um nur dem Ernste zu leben, und that so. In dem, was den inneren Menschen jung erhält, fühlen und sehen wir Beide gleich: es gilt da nur Kraft zum Erfassen des Guten und Schönen. Das ist die Poesie, also Jugend.“

Sie blickte warm zu ihm auf.

„Sie, lieber Freund, haben mich erst ein Wort begreifen gelehrt, das ich vor Zeiten irgendwo las: daß die Größe jedes Künstlers von der Größe seines Herzens abhängt. Ihr Schaffen ist Eins mit Ihrem Empfinden. Ihnen begegnet zu sein, erschien mir von Anfang an als eine große Gabe des Lebens, und ich frage mich nur immer wieder, wie es zugeht, daß Sie einem engbegrenzten Wesen gleich mir so viel Anteil zugewendet, daß Sie sich für mich irgendwie interessiren konnten.“

„Seltsam, wie wenig sich die Menschen selbst kennen!“ sagte Bernardin. „Frauen sind im Allgemeinen schon interessanter als wir Männer, weil sie meist auch alles Geistige aus dem Gemüthe schöpfen, und deshalb im Verkehr, namentlich im täglichen und häuslichen, immer neu bleiben. Dem geistvollsten, kenntnißreichsten Manne gebe ich allenfalls etliche Jahre, in welchen er Andern Neues zu bieten vermag. Dann wird er sich wiederholen, wie jeder Mittelmäßige auch. Wie aber das Meer in seinen Farben und Lichtern beständig wechselt, und man nicht müde wird, es in dem steten Wandel zu beobachten, so ist es mit dem Herzensleben der Frau und dessen Aeußerungen. Heute kann der Barometer heiteres Wetter zeigen, und die Beleuchtung ist so – morgen zeigt er dasselbe an, und doch ist die Beleuchtung eine ganz neue, weil sich vielleicht der Wind kaum merklich gewendet hat. Wollen Sie aber wissen, weshalb Sie mich von der ersten Stunde an besonders interessirt haben, Valentine, so kann ich Ihnen darauf antworten. Sie sind einfach, und Sie schätzen die Wahrheit.“

„Das Erste ist kein Verdienst – das Andere natürlich.“

„Einfachheit ist bei jedem Menschen ein Verdienst, bei Frauen mehr als das – eine Eigenschaft. Stets ergreift mich Bedauern, wenn ich eine Frau über Politik, Philosophie und abstracte Dinge reden höre. Die Geistvollste wird über solche Themata stundenlang sprechen ohne mir etwas zu sagen, das ich nicht bereits gehört oder gelesen hätte. Und die Wahrheit zu schätzen, halten Sie für etwas Natürliches? O, liebe Freundin! Diese Göttin sitzt nackt in einer reinen Quelle. Wird sie von dem Einen oder Andern herausgeführt in die Welt, dann sieht er ein, daß er sie doch nicht so in ihrer heiligen Blöße präsentiren darf, und hängt ihr etwas um – der Eine nur einen Flor, der Andere einen dichten Mantel. Dann ist sie recht anständig, aber es ist nicht mehr die freie Wahrheit, wie Gott sie erschaffen, wie der Mensch ihrer bedarf, soll er an ihrer Hand bis in den Himmel gehen. Und nur an dieser Hand läßt sich das Höchste erreichen, im Leben wie in der Kunst. Nichts Anderes aber muß man wollen und bedürfen, als das Höchste. Wenn sich auch unser Dasein verzehrt, ohne das Ziel zu erreichen – nur nicht vorlieb nehmen, nicht von Almosen leben, die man von Andern nimmt, oder sich selber giebt!“

Valentine hatte sich während seiner Worte erhoben und stand nun neben ihm, den Blick auf sein wie von verborgenem Feuer durchglühtes Gesicht geheftet. „Ich danke Ihnen,“ sagte sie tief ernst, indem sie ihre Hand leicht auf die seinige legte. „Ihr Wort giebt mir die Kraft zurück, welche mir in einer schwachen Stunde abhanden zu kommen drohte. Sie wissen nicht, welche Saiten es berührt hat – ich glaubte sie gerissen, und fand heute mit Schrecken, daß sie noch tönen, in Dissonanzen tönen, denn junges Glück hat mich, statt mir das Herz zu erquicken, in egoistische Schmerzen zurückgestürzt.“

„Sie haben Schweres erlebt?“ sagte Bernardin und heftete sein schwermüthiges Auge voll Innigkeit auf ihre bewegten Züge.

„Meine Geschichte ist nur alltäglich,“ entgegnete Valentine. „Sie hat sich ganz im Stillen abgespielt; es giebt Wenige, die sie kennen. Erzählt habe ich sie noch Keinem.“

Sie schwieg einen Augenblick, dann sagte sie ruhiger: „Begleiten Sie mich auf die Terrasse! Wir wollen dort auf- und abgehen, und Sie sollen erfahren, was hinter mir liegt.“

Er bot ihr schweigend seinen Arm. Ohne ein Wort zu tauschen, überschritten Beide den Steg und gingen dem Kloster entlang den Linden zu. Wie ein grauer Schwan sich zu glänzendem Weiß entwickelt, so schimmerte heute das graue Gemäuer silberhell im vollen Licht des Mondes; der Thurm ragte so licht empor, als sei er aus Marmor gemeißelt. Auf der Terrasse war es still und leer.

„Vor einigen Jahren,“ sagte Valentine, „verlobte ich mich mit einem Manne, von dessen Charakter ich die höchste Meinung hatte. Ich lernte ihn im Hause meiner Freundin kennen und sah ihn längere Zeit nur dort, da er die Kreise der großen Welt mied. Sein Name hatte Klang in den ernsten Wissenschaften, welche er als Universitätslehrer vertrat; ich lernte ihn zuerst von einer anderen Seite kennen, denn ehe ich mit ihm selbst zusammentraf, war mir ein Band seiner früher veröffentlichten Gedichte zur Hand gekommen und hatte mich für ihn interessirt. Wir liebten uns – so schien es wenigstens – und er warb um meine Hand. Damals war der Gesundheitszustand meiner lieben Mutter schon so erschüttert, daß sie nicht ohne sorgliche Umgebung und Pflege bleiben durfte; deshalb sollte unsere Hochzeit bis zum künftigen Jahre verschoben bleiben, wo meine jüngere Schwester aus dem Pensionate heimkehrte und meine Stelle vertreten konnte. Es war mein eigener Wunsch, unsere Verlobung vorerst noch nicht zu veröffentlichen. Wir lebten in Kreisen, die meinem Bräutigam äußerst unsympathisch waren und denen ich mich, der Kränklichkeit meiner Mutter wegen, bei der Stellung des Vaters um so weniger ganz entziehen durfte, als dieser auf Repräsentation seines Hauses stets Werth legte. Mein Verlobter dankte mir die äußere Freiheit, welche ihm auf diese Weise bewahrt blieb, und wir konnten uns im Stillen daheim, wie bei meiner Freundin, oft und ungehindert sehen. Meine Mutter hatte ihn lieb; dem Vater war er weniger angenehm.

Einst, als er mich bei seinen Gedichten traf, fragte ich ihn nach der Bedeutung eines Abschnittes derselben, der mir schon viel zu denken gegeben. Er bekannte freimüthig, daß diese Lieder einer Periode seines Lebens angehörten, die ihn außer sich selbst geführt. Es waren glühende Strophen; sie feierten eine Frau, und ich erfuhr nun, daß ich dieselbe kannte. Es war eine Dame aus der vornehmen Gesellschaft; während ihres Aufenthaltes in unserem Wohnorte war viel von ihr gesprochen worden; seit ein paar Jahren lebte sie, wie es hieß, in Italien. Mein Verlobter gestand, daß sie einen verhängnißvollen Einfluß auf ihn geübt, ihm sehr nahe gestanden und ihn während dieser Zeit häufiger gequält als beglückt habe.

Nach einer jener stürmischen Scenen riß er sich endlich los und fühlte sich, wie er lebhaft versicherte, durch die wiedergewonnene Freiheit wie begnadigt. Während er mir dies Alles beichtete, schwur er, erst jetzt erfahren zu haben, was echte Liebe sei. Trotzdem hatte ich damals innerlich viel zu überwinden. Ich glaube nicht, daß ein Mann nachfühlen kann, was Eifersucht auf die Vergangenheit für eine Frau bedeutet. Doch verbarg ich ihm ängstlich die egoistischen, überflüssigen Schmerzen.“

(Fortsetzung folgt.)




Landschafter, Bildhauer und Zoologe zugleich.


Wenn man die bescheidene Stadt Wolfenbüttel besucht, wird einem unter den bekanntesten Sehenswürdigkeiten derselben eine naturwissenschaftlich-künstlerische Sammlung genannt, welche wohl in ihrer Art als ein Unicum bezeichnet werden muß. Dieselbe hat ihren Sitz in dem mittleren Stocke eines geräumigen, aber keineswegs modernen Hauses. Mächtige Glaskasten, selbst kleinen Gemächern an Umfang ähnelnd, schließen Thiergruppen allerlei Art ein, natürlich ausgestopfte, aber in allen möglichen Stellungen, nicht etwa in lebloser Ruhe, sondern voll des bezeichnendsten Lebens, in jeder Art von Bewegung, die ihrer Species eigenthümlich.

[683]

Der Harzer Wildkater.
Aus der Sammlung des Rath Scholz in Wolfenbüttel.

[684] Der Verfertiger dieser Gruppen, Rath Scholz, ist Landschafter, Thiermaler, Bildhauer und Zoologe zugleich, der den Thieren des Waldes, den vierfüßigen Bewohnern des Feldes, den Seglern der Lüfte das Geheimniß ihrer Eigenart abgelauscht hat. Die Art ihres Beisammenseins, ihrer Bewegungen und Affecte, die Weise, wie sie ihrer Nahrung nachgehen, ihr Leben und Weben in Busch und Schilf stellt er lebenswahr dar und weiß damit Naturbilder zu schaffen, die als Kunstwerke einzig in ihrer Art dastehen. Als Virtuos in einer Kunst, für welche keine Ateliers und Akademien zur Heranbildung existieren, hat Scholz sich selbst, seinem eigenen Nachdenken, seiner unerschöpflichen Geduld im Beobachten und Nachbilden und einem allerdings außerordentlichen Talente, das die Natur ihm gespendet, es zu danken, daß er es zu dieser künstlerischen Vollendung, die unsere Bewunderung erregen muß, gebracht hat.

Schon bei den Knaben war der Trieb zur Beschäftigung mit der Thierwelt ein sehr lebhafter, und da das väterliche Haus und die liebevolle Nachsicht der Eltern ihm darin viel Vorschub und Spielraum gewährten, so konnte es nicht fehlen, daß die Neigung dazu immer mehr in ihn wuchs. So entwickelte sich in ihm später in den Universitätszeiten zugleich die Lust, das Andenken der erbeuteten zoologischen Schätze länger, als die blos culinarische Verwendung dies gestattete, aufzubewahren. Zu diesem Zwecke begann der inzwischen in die Rechtslaufbahn eingetretene junge Mann die erlegten Thiere, besonders das Wildgeflügel, abzuhäuten und die Bälge auszustopfen.

Auf diese Weise entstand bald eine ganz hübsche Sammlung von Raub- und Wassergeflügel. Da nun Scholz eifrig bemüht war, nicht allein die Bälge gut zu präpariren, sondern auch die Körperformen so zu studiren und nachzuahmen, daß der todten Hülle Leben innezuwohnen schien, so hatte er es bald zu solcher Vollkommenheit im Ausstopfen und in der Darstellung gebracht, daß seine Arbeitern sich vortheilhaft vor vielen anderen auszeichneten und ihm selbst Anerbietungen von Conservatorstellen an naturhistorischen Cabineten gemacht wurden, die er allerdings, da er inzwischen längst in ein juristisches Amt eingerückt war, abzulehnen für gut fand.

Nun kam der harte Kampf mit dem Leben; vermehrte Amtsgeschäfte und Familiensorgen unterbrachen eine lange Reihe von Jahren die eingehendere Beschäftigung unseres Scholz mit der früheren Liebhaberei, obwohl sein Augenmerk stets mit Interesse darauf gerichtet blieb, und erst die Ruhe der reifern Mannesjahre ließ den alten Trieb recht lebendig wieder erwachen. Jetzt aber prägte sich seiner neubegonnenen Thätigkeit der Stempel des Strebens nach wissenschaftlicher und künstlerischer Vollendung auf. Das reife Sinnen des Mannes entwickelte eine bewunderungswürdige Klarheit im Durchschauen des Thierlebens. Dem Studium kam eine fast an’s Unglaubliche grenzende Geduld im Beobachten und Ausarbeiten zu Hülfe. Da der Plan einmal gefaßt war, die Thiere gleichsam lebend, im Verfolgen ihrer Gewohnheiten, in der Geselligkeit und beim Raube, im Schlafe und auf der Lauer, im Schnee des Winters, im reifen Aehrenfelde, im Edelweiß der unzugänglichen Berghalde, im frischen Laube des Eichengestrüpps oder im Röhricht des Sumpfes darzustellen, so mag man ermessen, wie weit die Forschung gehen mußte, um solche Darstellungen zu ermöglichen, solche Naturbilder zu schaffen. Nicht allein mußte das Thier in seiner natürlichen Haltung, im vollen Muskelspiele, ob schreitend, ob springend, ob lauschend, ob ruhend, dargestellt, es mußte ihm, wenn der Eindruck ein vollständiger sein sollte, gleichsam das Bewußtsein der Situation eingehaucht werden, in die Physiognomie das Wilde, Raubgierige oder Spielende, Aengstliche, Unbefangene, das Hungrige beim Raube, das Gesättigte in der Ruhe hineingezaubert werden; der Künstler mußte all dies in der Thierseele durchleben um es zum Ausdruck zu bringen. Wir begegnen hier in Scholz dem wirklichen Künstler, gewiß einzig in seiner Art; denn er versteht es, dem naturgetreuen Abbilde, der Copie der Natur, die Seele zu verleihen, die, wie der Geist das Menschenantlitz, so das Thier durchleuchtet. Bis zur Entwickelung dieses Bestrebens konnten wir Scholz einen äußerst tüchtigen Techniker nennen; seitdem nennen wir ihn einen Künstler, und zwar einen bedeutenden. Indeß, was hätte es geholfen, wenn er das Thierportrait auch noch so getreu vollendet! Mit dem geistig unvollkommenen Thiere ist es anders als mit dem Menschenantlitz. Bei jenem bedarf es der Naturstaffage, um ein gefälliges und deutliches Bild von seinem Leben und seinem Treiben zu geben; während das Menschenantlitz an und für sich künstlerischer Vorwurf ist, muß die Umgebung dem Thiere zu Hülfe kommen, um den Kunstzweck zu erfüllen. Hier hatte der Künstler eine wahrhafte Herculesarbeit, nicht an Kraft, aber an Geduld und Ausdauer zu leisten. Wie er dieser Herr geworden, mag unser Bild verdeutlichen.

Der mächtige Wildkater (in den Harzbergen erlegt) kommt aus düsterm Tannendickicht hervor; den Boden bedeckt Moos und abgestorbenes oder absterbendes Gras, trockenes Laub, Disteln; er macht sich zum Sprunge bereit; das gierige Auge schießt Blitze auf den sicheren Raub, auf eine Waldschnepfe, die mit ängstlichem Blicke in das Mooslager gebannt scheint, entlaubte Sträucher verschiedener Arten vor und über sich. Ein grauer Spätherbsthimmel hängt über dem Ganzen. Wie war es dem Photographen, der unserer heutigen Abbildung die Unterlage geschaffen hat, möglich, diesen Vorwurf zu einem so vollendeten naturwahren Bilde umzuschaffen? Das Blatt, der Grashalm, die Tannennadel ist nicht, wie man glauben sollte, der Natur selbst entnommen; all’ diese Naturproducte würden bald dem Zahne der Zeit verfallen. Sie müssen aus haltbarem Stoffe nachgebildet werden, damit Form und Farbe nicht wechsele. So hat der Künstler sich denn eine förmliche Naturwerkstatt eingerichtet. Wie er den Thieren des Waldes und Feldes ihr eigenstes, innerliches Leben abgelauscht, wie er, um der Körperform das naturgleiche Ansehen zu geben, Muskel und Knochen, kurz den Gliederbau, durch selbstbearbeitete Holzstücke nachahmte, da es nimmermehr gelungen sein würde, solche durch das weiche Stoffmaterial herzustellen, so hat er die Formen der Vegetation studirt und nach dem natürlichen Modelle aus Papier, allerhand Woll- und Baumwollstoffen, aus Seide sich Blätter, Blumen Gras etc. geschaffen. Man kann sich eine Vorstellung von der Mühseligkeit solcher Arbeit machen, wenn man an die unendliche Mannigfaltigkeit der Natur denkt. Die äußerste Gewissenhaftigkeit hat bei dieser Detailarbeit den Vorsitz geführt, denn auch in der Staffage wollte der Künstler sich nicht die geringste Abweichung vom Naturwahren gestatten. Der Zoologe und der Botaniker sollten beim Anschauen seiner Naturbilder gleiche Befriedigung empfinden. So stimmt die Vegetation des Sommers, des Herbstes, des Winters zu dem Pelze, dem Gefieder der Thiere, jede Pflanze zu dem Himmelsstriche, in dem dasselbe gewohnheitsgemäß lebt. Und wie täuschend ist neben der Form die Farbe getroffen! Nicht genug aber, daß hier die äußerste Naturtreue walten mußte; es kam ferner darauf an, den Thieren und Thiergruppen in der Enge des Raumes eine Perspective zu schaffen, die das Ganze erst zu einem künstlerisch vollendeten Bilde machen konnte.

Der helle Vordergrund tont sich harmonisch vom Mittel- und dunkleren Hintergrunde ab; das kann wiederum nur durch die harmonische Anordnung in den Farben erreicht werden, da ja hier das Licht der freien Himmelsluft fehlt. – Und dieses Alles mußte in eines Mannes Kopfe ausgedacht und durch seine eigene Hand gestaltet werden. Scholz hat, mit Ausnahme geringer mechanischer Hülfe, Alles selbst geschaffen. Bis auf die aus weiter Ferne gekommenen häutete er die Thiere alle selbst ab; es sind ihm sogar einige mächtige Luchse aus den tiefen Wäldern Livlands mit Fleisch und Bein zur Bearbeitung zugesandt worden; er schnitzte das Holzgerüst für den Körper; er malte meist die krystallenen Augen selbst, um auch hier die minutiöseste Naturwahrheit herzurstellen. Zunge, Zähne, Gaumen wurden aus Leder, Elfenbein etc. gefertigt und täuschend gemalt; in Metall wurden die Formen zu den Blättern gegossen, Eichen-, Buchen-, Ahornblätter, wie die Natur die Darstellung nöthig machte; mit feinfühlendem Pinsel wurde der belebende Hauch des Frühlings und die Dürre des Winters der Vegetation aufgeprägt.

Gehen wir in den Räumen, die dieser künstlerischen Naturwerkstatt dienen, umher, so sehen wir reizende Gruppen von Land- und Wassergeflügel, Trappen im reifen Aehrenfelde, das unter der Gluth des Sommers zu schmachten scheint, prachtvolle Wildenten in üppigen Grün des Uferschilfes am blendenden Wasserspiegel, eine Kette Rebhühner, im Schneewetter unter dem Schutze des Waldrandes sich duckend, Biber und Ottern inmitten [685] der saftigen Vegetation des Flußufers, Wildkatzen und Füchse, sichernd auf der Waldblöße oder auf Beute stoßend im tiefen Tannendickicht.

Ein begüterter Mäcen und großer Jagdliebhaber, dem Scholz’ Kunst seit vielen Jahren bekannt ist, hat durch den hoch angesehenen Zoologen und Reisenden Professor G. Rodde in Tiflis die Bälge der Jagdthiere des Kaukasus Scholz übermachen lassen, um sie nach dessen unübertroffener Art wieder zum Leben zu erwecken. Da sehen wir auf unzugänglicher Felsenspitze den gewaltigen Steinbock mit seinem Weibe, den riesigen Lämmergeier, das wilde Schaf des Kaukasus. Doch wir fänden kein Ende, wollten wir die immer neu hervortretenden Kunstwerke beschreiben. Wir wünschten nur, daß sie alle durch die Photographie dem großen Publicum zugänglicher würden, da die Originale sich begreiflicher Weise nur in den Händen einzelner reicher Jagd- und Naturfreunde befinden. Es würden dadurch Naturbilder geschaffen, die alles bis dahin Gesehene an Treue der Darstellung überträfen. Aus den wenigen, etwa zwanzig, die davon existiren, kann man abnehmen, ein wie großer Fortschritt in der Darstellung für die Naturgeschichte davon zu erwarten sein würde, zumal wenn man selbst die besten Kupferwerke sich so weit von der Natur entfernen sieht, daß sie neben Scholz’ Naturbildern nur als schwache Plagiate erscheinen.

Leider ist unsere Zeit, die rasch lebende und ungeduldig strebende, nicht dazu angethan, diesem Meister Nachfolger erstehen zu lassen, wie er denn auch keinen Schüler gefunden hat, er, der zwar noch rüstig und gesund ist, doch längst auf der absteigenden Linie des Lebens steht. Mit Wehmuth erfüllt es uns, den Künstler einsam in seinem Atelier in einer Kunst wirken zu sehen, die neben dem Schönen fast mehr, als irgend eine andere, das Nützliche zum Endziel hat. Möge wenigstens ihm es noch lange vergönnt sein, ein Feld zu bearbeiten, das unter seiner Pflege so vorzügliche Früchte getragen!




Götter, Helden und Wagner.
Ein Brief post festum.


     Ihr redet, wie Leute einer andern Welt,
eine Sprache, deren Worte ich vernehme,
deren Sinn ich nicht fasse. …
     So genieße Deines Ruhms unter den
Deinigen und laß uns in Ruh’!

Aus „Götter, Helden und Wieland“ von Goethe.


Verehrtester Freund!

Von Bayreuth aus während der Festtage selbst war die Aufgabe der Berichterstattung nicht anders zu lösen als in „Tagebuchblättern“, welche den frisch empfangenen Eindruck in der durch die Verhältnisse bedingten Hast wiedergaben – wie dies Wilhelm Marr in diesem Blatte gethan hat. Von ein Uhr Nachmittags gehörte man nicht mehr sich selbst, sondern nur dem Wagner-Feste. Vor Mitternacht kam man selten vom Schauspielhause nach Bayreuth zurück, wo sich dann die aufgeregte Gesellschaft in und vor der Schenke von Angermann zusammenfand, bei dem immer schlechter werdenden Biere bis tief in die Nacht hinein, oft bis zum Morgengrauen sich ereiferte und begeisterte, wo die Geister – und bisweilen auch ganz andere Dinge – aufeinanderplatzten.

Es war ein munteres, lustiges Treiben, wie es in unserm vom Klima nicht gerade bevorzugten Vaterlande selten gesehen worden ist. Wenn man die mitten in der Nacht, bei spärlicher Beleuchtung, im Freien lagernden Massen erblickte, so gehörte nicht viel Phantasie dazu, um sich ein Stück süd-italienschen Straßenlebens vorzuspiegeln. Kam man aber näher und gewahrte man, wie Damen in eleganter Toilette in Ermangelung von Stühlen auf umgestürzten Fässern Platz genommen hatten, wie der in zweifelhaftem Wasser abgespülte Steinkrug voll braunen Bieres ohne Zimperlichkeit von einem Munde zum andern wanderte, so konnte man nicht daran zweifeln, daß es genügsame Deutsche waren, da sich hier vergnügten.

So blieben inmitten dieser zeitraubenden Anstrengungen dem Zeitungsschreiber, der sich zur Berichterstattung verpflichtet hatte, nur die wenigen Morgenstunden übrig, um in aller Eile über das, was er gesehen, gehört und empfunden hatte, Buch zu führen.

Auch heute, da seit den Bayreuther Festspielen ein voller Monat über’s Land gegangen ist, kann von einem abschließenden Urtheile nicht die Rede sein. Werden doch für einen competenten Richter über das Wagner’sche Kunstwerk eine Anzahl von Eigenschaften verlangt, die nicht zu besitzen ich ehrlich zugeben muß. Der befugte Kritiker ad hoc muß, wie man allgemein versichert, ein vollkommener Musiker, ein perfecter Schriftsteller, etwas Maler und Archäologe, nebenbei Regisseur, Architekt, Maschinist, Beleuchtungskünstler und noch manches Andere sein. Aber selbst, wenn er diese Vorbedingungen erfüllt, muß er das Werk noch unbedingt loben; sonst wird jener Musterkritiker noch immer dem Vorwurfe nicht entgehen, von den Vorurtheilen unserer kleinlichen Zeit bestrickt zu sein. Es ist also außerdem noch nöthig, daß der Wagner’s würdige Kritiker erst in einigen Decennien geboren werde. Sintemalen ich diesen Anforderungen zu entsprechen mich außer Stande fühle, begnüge ich mich jetzt, da sich das Chaos der Bayreuther Eindrücke allmählich gelichtet hat und da ich meinen Empfindungen objektiver gegenüberstehe, mit der weit bescheideneren Aufgabe, die Bilanz der Festabende, wie sich dieselbe meiner individuellen Auffassung darstellt, zu ziehen, – mit Freimuth, aber ohne alle Voreingenommenheit, ohne blinde Liebedienerei, aber mit der bewußtvollen Bewunderung der ganz ungewöhnlichen Thatkraft und des erstaunlichen künstlerischen Wollens und Vermögens, die in dem merkwürdigen Manne vereinigt sind.

In Richard Wagner steckt eine Summe von Künstlern, von denen jeder einzelne ein eingehendes Studium erfordert. Sie werden es ganz begreiflich finden, daß ich den Musiker am flüchtigsten und discretesten behandle, mich dagegen mit den anderen Factoren dieser Künstlersumme etwas eingehender beschäftige.

Daß Bayreuth dem musikalischen Drama, das da bestimmt sein soll, unsere gute, alte, biedere Oper abzulösen, schon einen definitiven Sieg verschafft habe, werden wohl selbst die entschiedensten Anhänger Richard Wagner’s nicht behaupten wollen. Von einem Siege hätte ja überhaupt nur die Rede sein können, wenn der Gegner zur Stelle gewesen wäre und gegenüber gestanden hätte. In Bayreuth aber hielt das musikalische Drama einen ungewöhnlich langen Monolog und behielt sich selbst gegenüber natürlich Recht. Man wird sich doch nicht etwa auf den Beifall berufen wollen, der nach dem jedesmaligen Schließen des Vorhangs erscholl? Der Beifall bewies gar nichts, da das weitaus stärkste Contingent des Publicums aus Leuten bestand, die mit der ausgesprochenen Absicht nach Bayreuth gekommen waren, Beifall zu klatschen. Denn man darf nicht vergessen, daß das Bayreuther Bühnenfestspielhaus durch die Bemühungen der Freunde der Richard Wagner’schen Kunst errichtet worden ist, daß diese Freunde für die Summe, die sie gezahlt, Billets erhalten haben und nun diese Billets benutzten. Man war also eigentlich ganz unter sich. Dieser compacten Majorität von entschiedenen Freunden gegenüber bildete die Unbefangenen, die gar nichts dagegen einzuwenden hatten, auch schließlich zu den Freunden zu gehören, sich jedoch das Recht vorbehielten, eventuell auf diese Intimität zu verzichten, schon eine sehr bescheidene Minderheit. Der Natur der Sache nach mußten die principiellen Gegner in der Masse nun gar verschwinden; denn erstens wußten sie, daß sie sich in dieser Umgebung nicht sehr wohl fühlen würden, und zweitens pflegt man auch für das Vergnügen, etwas Unangenehmes zu hören, recht bedeutende Opfer an Geld und Zeit zu bringen. Es ist daher ebenso wenig zu verwundern, daß nach jedem Acte, ich möchte beinahe sagen: pflichtschuldig, geklatscht wurde, wie es erstaunlich ist, wenn nach der feurigen Rede eines entschiedenen Socialdemokraten in einer von Socialdemokraten berufenen Versammlung der unausbleibliche Jubel ausbricht.

[686] Gleichwohl konnte man, selbst ohne ein besonders fein organisirtes Ohr zu besitzen, in den verschiedenen Beifallssalven verschiedene Stärkegrade deutlich wahrnehmen. Der Beifall war bald laut, bald lauter, bald am lautesten. Der einfach laute Beifall rührte wahrscheinlich von den Wagnerianern allein her; an dem stärkeren Beifall betheiligte sich auch ein Theil der Unbefangenen, und an dem stärksten beteiligten sich Alle. Es läßt sich daher selbst in Bayreuth die Verschiedenartigkeit der Aufnahme von Einzelheiten feststellen und, wenn man den bedingungslosen Beifall der Vollblut-Wagnerianer von vorn herein abzieht, so kann man sogar von Ablehnung, von mittlerem Erfolge und von durchschlagendem Erfolge sprechen.

Die Wirkung des musikalischen Theils läßt sich, wie ich glaube, so resumiren: Alles, was sich der bisherigen Oper mehr oder minder genähert, was ungefähr den Bau einer Arie, etwas Melodienähnliches, den Zuschnitt eines Duetts oder den Charakter des vielstimmigen Gesanges hatte, – alles das hat unmittelbar und allgemein gezündet. Der melodienlose, gesanglich-dramatische Vortrag mit seiner wichtigen, stimmunggebenden orchestralen Begleitung aber hat mit seinen unendlichen Längen nur die Wagner’schen Parteigänger zu entzücken vermocht, die andern dagegen abgespannt, gepeinigt, ja – ich bedauere den Ausdruck gebrauchen zu müssen – gründlich gelangweilt. Man kann also sagen: Wagner hat mit seiner musikalischen Schöpfung bei seinen Freunden einen vollständigen internen Erfolg errungen, der jedesmal, wenn der Componist aus seinem System herausgetreten ist und dem Alten sich zugewandt, zu einem allgemeinen Erfolge sich erweitert hat.

Mit dem Musiker Wagner unlösbar verbunden ist der Dichter. Die dichterische Begabung wird ihm zwar von seinen Gegnern, unter denen sich einige unsrer bedeutendsten Schriftsteller befinden, abgesprochen, aber sehr mit Unrecht, wie ich meine. In der Composition: in der Vorbereitung der Handlung, in der Steigerung derselben und in deren Abschluß zeigt sich Wagner als ein Dramatiker von ganz hervorragendem Geschicke, in der Ausführung aber läßt er allerdings die den Dramatiker bezeichnende Concectration und Knappheit gänzlich vermissen. Es kommt noch dazu, daß die Ausführung durch Eigensinn, Extravaganzen und Unklarheiten im Einzelnen oft ganz bedenklich gefährdet wird. Die Weitschweifigkeit in den Zwiegesprächen, die beständigen Wiederholungen des schon Bekannten, die ermattende Schwatzhaftigkeit aller seiner Geschöpfe lassen sich aus nichts Anderem erklären, als aus dem Eigensinn des Dichters.

Auf denselben Ursprung mögen vielleicht auch die Extravaganzen und Unklarheiten in den Textstellen zurückzuführen sein. Es werden uns in dieser Dichtung Dinge zugemuthet, für die uns bis jetzt noch das Verständniß völlig abgeht.

Wir sind noch nicht entwickelt genug, um Siegfrieds läppische Frage an Mime: „Du machtest wohl gar ohne Mutter mich?“ als kindliche Naivetät aufzufassen, nicht entwickelt genug, um in Alberich’s Widerwärtigkeiten:

„Die schlanken Arme
schlinge um mich,
daß ich den Nacken
dir neckend betaste,
mit schmeichelnder Brunst
an die schwellende Brust mich dir schmiege“

lediglich den angenehmen Ausdruck einer fröhlichen Sinnlichkeit zu erblicken. Wir haben keinen rechten Sinn für die anmuthigen Scherze Siegfried’s, wenn er z. B. zu Mime sagt: „Deinen Sudel sauf’ allein!“, oder wenn er den Lindwurm ankost:

„Eine zierliche Fresse
zeigst Du mir da,
lachende Zähne
im Leckermaul.“

Die Hehrheit der unglaublich simpeln Antithesen, welche Wotan, als er Brünhild zur Rechenschaft zieht, mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit anwendet, macht auf uns gar keinen feierlichen Eindruck:

„Wunsch-Maid warst du mir,
gegen mich doch hast du gewünscht;
Loos-Kieserin warst du mir,
gegen mich doch kiestest du Loose;
Helden-Reizerin warst du mir,
gegen mich doch reiztest du Helden.“

Wir sind nicht entwickelt genug, um die holde Einfachheit in Siegfried’s Ausdruck zu verstehen, wenn dieser den König Gunther herbeiruft, der die in Ohnmacht fallende Brünnhild in seinen Armen auffangen soll: „Gunther, deinem Weib ist übel.“ Alle diese Dinge erscheinen uns einfach als wüste Geschmacklosigkeiten.

Vor vielen Einzelheiten stehen wir wie vor ungelösten Räthseln. Was ist ein „freisliches“ Weib, ein „freislicher“ Streit, ein „freislicher“ Schlund? Was ist der „Huie“? Was heißt das: „Glühender Glanz entgleißt weihlich im Wag“? Was bedeutet es, wenn uns Brünhild bezeichnet wird als „Wotan’s Willens blind wählende Kür“? Und wie verhält es sich mit dem einen Auge, das Wotan nicht besitzt? Im „Siegfried“ macht der alte Herr, der uns genug gelangweilt hat, um sich auch einmal einen Scherz erlauben zu dürfen, folgendes Späßchen; er sagt zu Siegfried:

„Mit dem Auge,
das als andres mir fehlt,
erblickst du selber das eine,
das mir zum Sehen verblieb.“

Ein ganz verzwickter Scherz!

Was heißt es, wenn Brünnhild gar behauptet: „Göttliche Ruhe rast mir in Wogen“? Ich glaubte, daß, wenn die Ruhe einmal anfängt zu rasen, sie nothwendigerweise aufhören müsse, Ruhe zu sein, und daß „ruhen“ und „rasen“ sich gegenseitig ausschließen. Aber der Stabreim ist untadelhaft, und darin finden wir vielleicht auch eine Erklärung für manche Unklarheit.

Diesem unglücklichen Stabreime haben wir es gewiß zuzuschreiben, wenn wir so oft durch barocke, ungewöhnliche, unverständliche Wendungen befremdet und abgestoßen werden. Wäre der Stabreim nicht, hätte Wagner schwerlich Wendungen wie die folgenden gewählt:

„Knechte erknete ich mir.“
„Flickst du mit Flausen den festen Stahl?“
„Der That enttagte des Helden Ruhm.“
„Der Erde holdeste Frauen friedeten längst ihn schon.“
„Schweigt Eures Jammers jauchzenden Schwall.“
„Mit Bappe back’ ich kein Schwert.“

Mit „Bappe“? Ei Herrcheses, Herr Wagner, sein Sie nicht aus Leipzig?

Neben diesen Absonderlichkeiten, die uns als Unarten erscheinen, finden sich, gerade wie in Wagner’s Musik, lichte, einfache Schönheiten von rührender Frische und mächtiger Gewalt. Siegmund’s Liebeslied ist von bezaubernder Innigkeit und Siegfrieds Träumerei im Walde, während er seiner Mutter gedenkt, so wahr, so tief empfunden und dabei von einer so ungekünstelten Einfachheit, daß es der anspruchsloseste Dichter nicht schöner hätte dichten können. Und wie herrlich ist der Ausdruck der innigen Liebe Brünnhild’s für Siegfried und ihrer Verzweiflung zugleich beim Anblicke der Leiche!

Wagner sollte kein Dichter sein? Er, der Charaktere hinzustellen weiß, gewaltig und wahr, wie diese Brünnhild, wie dieser Siegfried, sollte kein Dichter sein? Aber es ist richtig: neben den mächtigen, ergreifenden Charakteren besitzt Wagner auch eine Specialität für Jämmerlichkeiten wie kein anderer Dichter. Ein langweiligerer Gott als dieser Wotan ist nie zur Erde herabgestiegen, und niemals hat ein traurigerer König gethront, als dieser Jammerknabe Gunther in der „Götterdämmerung“, der würdige Bruder und Vetter Seiner Majestät Marke in „Tristan und Isolde“.

Ein Dichter ist Wagner, aber man kann ihm nicht gerade nachrühmen, daß er mit einfachen Mitteln arbeitet. Alle Anforderungen, welche die gesammten Dramatiker alter Zeiten in Betreff außergewöhnlicher Leistungen an die Bühne gestellt haben, zusammen genommen sind geringer, als die, welche Wagner zur Ausführung des einen Gesammtwerkes „Der Ring der Nibelungen“ stellt.

An „außergewöhnlichen Wesen“ braucht er folgendes Personal: Zwei Riesen, zwei Zwerge, vier Götter, drei Göttinnen, drei schwimmende Mädchen, drei Nornen, acht Walküren. Außerdem einen Marstall von neun Pferden: Graue für Brünnhild und acht Pferde für die Walküren. Ferner einen ziemlich completen zoologischen Garten, nämlich: eine Riesenschlange, eine Kröte, zwei Widder, einen Lindwurm, der singt, einen Waldvogel, der spricht, zwei Raben und einen Bären. [687] Dieser Bär wurde von einem Schullehrer Namens Meyer dargestellt, jedenfalls um den Wortwitz „Meyerbeer“ zu ermöglichen.

An ungewöhnlichen Bühneneffekten verlangt Wagner Folgendes: Seine Götter, die sich in Folge des Genusses von „jüngendem Obste“ in einer respectabeln Verfassung erhalten – es scheinen also Vegetarianer zu sein – müssen, sobald ihnen diese Kost abgeschnitten wird, vor den Augen des Publicums sichtbar altern. Der Tarnhelm wird zu allerhand Bosco-Kunststückchen verwerthet. Alberich, der mit dem Besitze desselben renommirt, zaubert seinem Bruder Mime und dann den Göttern etwas vor; vor dem Ersteren vernebelt er sich und prügelt als Nebel den sichtbaren Mime, der sich unter den Schlägen, die man natürlich nicht fallen sieht, winden und krümmen muß. Vor den Göttern verwandelt er sich in eine Schlange und dann in die Kröte. Später bedient sich Siegfried des Tarnhelms, um vor den Augen des Publicums als Gunther zu erscheinen; er muß „seine Stimme verstellen“, damit Brünnhild und mit ihr das Publicum auch glaube, daß er wirklich Gunther sei. Wir sehen ferner im „Rheingold“, wie die alt gewordenen Götter sich sichtbar wieder verjüngen; wir wohnen der Fabrikation eines Gewitters bei, sehen, wie sich die Nebel zu einer dichten Wolke zusammenballen und wie bei dem Hammerschlage des Gottes Donar der Blitz niederzuckt. Wir sehen endlich eine Regenbogenbrücke und wohnen der Luftdurchschreitung der Götter nach der Wolkenburg bei.

In der „Walküre“ soll Brünnhild „jauchzend von Fels zu Fels springen“ – man denke sich das auf der Bühne! Brünnhild soll auch „schweben“; sie soll Sieglinde auf ihr Roß heben und mit ihr durch die Luft davonsausen; wir sehen ferner eine ganze Schaar von Walküren zu Roß durch die Luft reiten; „über jedem Sattel hängt ein erschlagener Krieger“.

Im „Siegfried“ wälzt sich der Lindwurm hervor und gähnt – man kann sich vorstellen, wie das klingt – er droht mit dem Schweife, sprüht mit den Nüstern, klappt mit den Augen; Siegfried springt über ihn; der Wurm brüllt. Mime’s Leichnam wird an den Haaren über die Bühne gezerrt und in die Höhle geworfen – es ist natürlich eine Puppe – dann wird die Leiche des Wurmes von Siegfried vor die Höhle gewälzt.

In der „Götterdämmerung“ muß das Publicum die unmittelbare Wirkung des Vergessenstrankes sehen, und Siegfried hat die allerdings nicht leicht zu erfüllende Aufgabe, durch eine „schweigende Geberde“ auszudrücken, daß er Brünnhild, die er eben noch genannt hat, sofort vergessen. Ferner jagt Wahltraute auf einem Luftrosse durch die Wolken zu dem Felsen der Brünnhild und braust zu Roß durch die Wolken wieder davon. Auf demselben Felsen sehen wir die Bändigung der Brünnhild durch Siegfried: ehrliches Raufen zwischen einem erwachsenen Manne und einer höchst entwickelten Jungfrau, kein Kinderspiel! Brünnhild windet sich los; Siegfried springt ihr nach, packt sie und wirft sie zu Boden. Wir erblicken ferner die Rheinmädchen, die wir im „Rheingold“ in der Tiefe des Stromes haben herumplätschern sehen, jetzt auf der Wasserfläche schwimmend; wir sehen endlich, wie Siegfried’s Leiche auf den Scheiterhaufen geworfen wird, wie Brünnhild diesen Scheiterhaufen ansteckt und die Leiche verbrennt – beruhigen Sie sich: es ist wieder eine Puppe. Dann soll zuguterletzt Brünnhild sich auf das Roß schwingen und mit einem Satze in den brennenden Haufen sprengen. Sie that es aber nicht; sie führte das Roß gemüthlich in die Coulisse und wird wohl auch da geblieben sein; man konnte nicht mehr viel sehen, da die rothen Dämpfe Alles verhüllten.

Die rothen Dämpfe! Sie bilden ein wesentliches Moment der Wagner’schen Bühnenwirkung. Kein Dichter vor ihm hat so viel Wolken, Nebel und Dämpfe gebraucht, wie er.

Gleich in der ersten Scene des „Rheingold“ verlangt Wagner, daß sich die Fluthen nach der Tiefe zu in einen „immer feineren Nebel“ auflösen; auf Seite 19 des Textbuches verliert sich die Finsterniß in einen „feinen Nebel“; auf S. 37 ist wieder „fahler Nebel“ erforderlich; auf S. 39 verbreitet sich „Schwefeldampf“ über die Bühne; S. 41 verdüstert er sich zu „ganz schwarzem Gewölk“; S. 42 wird Alberich selbst eine „Nebelsäule“; S. 54 wird die freie Gegend in „fahlen Nebelschleier“ verhüllt; S. 62 ziehen sich die „Nebel“ zurück.

In der „Walküre“ senken sich S. 54 „schwere Gewitterwolken“ herab. „Wettergewölk“ ruht auf dem Joche; S. 57 theilt sich das „Gewölk“ in der Mitte; „Wolkenzüge“ jagen am Felsensaume vorbei; S. 66 bricht wieder „ein furchtbares Gewitter“ los; S. 69 sehen wir denn auch die „schwarzen Gewitterwolken“ im furchtbaren Sturme; S. 74 verziehen sich die „Wolken“; S. 84 sehen wir die „wabernde Lohe“, welche die ganze Bühne einnehmen soll und die ebenfalls durch roth beleuchtete Dämpfe dargestellt wird.

Nicht minder wichtig ist der Wechsel in der Beleuchtung, die Wagner ganz genau vorschreibt. So sehen wir im „Rheingold“ die „grünliche Dämmerung nach oben zu lichter werden“, S. 1. Auf S. 14 wird sie „immer lichter“; „ein zauberisch goldenes Licht bricht durch das Wasser. S. 18 ist „Nacht“, „dichteste Finsterniß“, die sich auf S. 19 allmählich aufklärt und sich wie in feinen Nebel verliert. Der „hervorbrechende Tag“ beleuchtet mit „wachsendem Glanze“ den Berg; S. 40 dämmert „dunkelrother Schein“ auf. S. 62 wird der Vordergrund erhellt – hinten bleibt es grau. S. 67 dringt aus der Felsenkluft „bläulicher Schein“, der S. 68 wieder „dunkelt“. S. 72 sehen wir das „blendende Leuchten des Regenbogens“.

Die „Walküre“ beginnt bei „völliger Nacht“. Die Hütte Hunding’s wird nur durch das Herdfeuer beleuchtet (S. 15). S. 16 beleuchtet das Feuer nur den Schwertgriff in der Esche und verglimmt, sodaß S. 17 wieder „volle Nacht“ herrscht. Draußen aber ist herrliche Frühlingsnacht und als S. 20 die Thür aufspringt, „leuchtet der Vollmond herein“ und bescheint das Paar. S. 54 „verfinstert“ sich die Bühne allmählich. S. 55 zucken „starke Blitze“; S. 56 erhellt ein Blitz das Joch; der „helle Schein“ blendet die Kämpfer; in dem „lichten Glanze“ erscheint Brünnhild, von links ein „glühend röthlicher Schein“, der bald wieder verschwindet, um der dichten Finsterniß Raum zu machen. S. 69 wird der Tannenwald wieder durch einen „feurigen Schein“ erhellt. S. 74 ist „Abenddämmerung“ und dann „Nacht“. S. 85 sehen wir den „Feuerstrahl“ und das „Feuermeer“.

Im „Siegfried“ erblicken wir S. 28 den „sonnig beleuchteten“ Wald. S. 43 „finstere Nacht“, S. 49 „Morgendämmerung“, S. 69 „Mittag“, S. 73 „Nacht“ mit Blitzen. Auf derselben Seite „erdämmert“ die Höhlengruft; wir sehen einen „bläulichen Lichtschein“ und „glitzernden Schimmer“, S. 78 „Finsterniß“, „Monddämmerung“, S. 84 „wachsende Helle“.

Die „Götterdämmerung“ beginnt wiederum bei „völliger Nacht“, S. 10 bricht der Tag, der „hervorgedämmert“, hell an. S. 34 ist „Abend“, aus der Tiefe „Feuerschein“. S. 35 schlagen die „Feuerflammen“ auf und weichen zurück. S. 38 wirft der Mond ein „grelles Licht“. S. 41 „dämmert“ der Tag vom Rheine her; die Sonne geht auf und spiegelt sich in der Fluth. S. 76 herrscht „Dämmerung“, und S. 77 bricht der Mond durch die Wolken.

Es wäre eine ganz interessante arithmetische Aufgabe, einmal genau zu zählen, wie oft es in dem „Ring der Nibelungen“ tagt, dämmert und nachtet. Außerdem wäre es lehrreich, festzustellen, von wieviel Sonnen die Erde, auf der die Wagner’sche Dichtung spielt, beleuchtet wird. Man sieht bald Sonnen mit rothem, bald mit blauem, bald mit gelbem Lichte. Einige der handelnden Personen, z. B. Wotan und Erda, haben sogar ihre Specialsonne. Sie umflimmert die allwissende Frau beständig mit bläulichem Schein, den einäugigen Gott aber ganz dunkelroth, wohin er auch seine Schritte lenkt.

Sie sehen, Wagner bedarf eines etwas complicirten Materials an lebenden Wesen, leblosen Dingen und Erscheinungen, um sein Werk zur Aufführung zu bringen. Ein gewöhnliches Theater scheint ja auch nach seinen eigenen Auffassungen gar nicht befähigt zu sein, den Anforderungen, die er stellt, zu genügen, und das Bayreuther Festspielhaus hat uns so eine Art von Vorgeschmack des Zukunftstheaters geben sollen. Daß Manches nicht geglückt, daß sogar widerwärtige Störungen vorgekommen sind, daß das scenische Arrangement oft hinter den bescheidensten Anforderungen zurückgeblieben ist, – das Alles wissen Sie längst. Freund und Feind sind darüber längst einig, daß in dieser Beziehung die Aufführung eine kaum mittelmäßige gewesen ist.

Unbillig aber erscheint es mir, jetzt die Schuld auf die ausführenden Organe, namentlich auf den verdienstlichen Brandt in Darmstadt zu wälzen. Der Tadel ist, wie ich meine, lediglich [688] an die Adresse desjenigen zu richten, der den Mitlebenden die unlösbaren Aufgaben gestellt, der, unbekümmert um die Leistungsfähigkeit unserer modernen Bühne und im steten Hinblicke auf die vor keiner Schwierigkeit zurückbebende Vollkommenheit einer Bühne, die da kommen soll, den capriciösen Ausschreitungen seiner despotischen Phantasie willig nachgegeben hat – an die Adresse des Urhebers Richard Wagner.

Und da ich hier von einer zukünftigen Musterbühne spreche, wie sie Wagner für die Aufführung seiner Werke erheischt, fällt mir ein Ausspruch ein, den Wolfgang Goethe gethan hat – ein Schriftsteller, auf den ich mich immer gern berufe. Als diesem von einem jungen genialen Dichter, von Kleist, das Drama „Penthesilea“ zugeschickt wurde, von dem der Verfasser sagte, die Bühne seiner Zeit sei für dasselbe noch nicht reif, aber vielleicht werde eine Zeit kommen, in welcher dieses seltsame Stück doch noch zur vollen Geltung kommen werde – auch dieser Wechsel auf die Zukunft ist bis jetzt noch nicht eingelöst –, da antwortete ihm Goethe am 1. Februar 1808:

„ … Erlauben Sie mir zu sagen (denn wenn man nicht aufrichtig seyn sollte, so wäre es besser, man schwiege gar), daß es mich immer betrübt und bekümmert, wenn ich junge Leute von Geist und Talent sehe, die auf ein Theater warten, welches da kommen soll. Ein Jude, der auf den Messias, ein Christ, der auf’s neue Jerusalem und ein Portugiese, der auf den Don Sebastian wartet, machen mir kein größeres Mißbehagen. Vor jedem Bretergerüste möchte ich dem wahrhaft theatralischen Genie sagen; hic Rhodus, hic salta“ Auf jedem Jahrmarkte getraue ich mir, auf Bolen über Fässer geschichtet, mit Calderon’s Stücken, mutatis mutandis, der gebildeten und ungebildeten Masse das höchste Vergnügen zu machen. Verzeihen Sie mir mein Geradezu: es zeugt von meinem aufrichtigen Wohlwollen.“[1]

Mit diesen Worten lassen Sie mich schließen!

Ihr treu ergebener
Paul Lindau.




Bilder und Skizzen aus Potsdam.
Von Fedor von Köppen.
Mit Originalzeichnungen von Hermann Lüders.

Die Havelbrücke.

3.

Aus Spandau ließen wir unsere accordirten Pferde nach Potsdam abgehen, drei Meilen von Spandau. Selbiges ist wegen des Thiergartens berühmt, welcher sich auf etliche Meilen erstreckt und in dem sich eine große Anzahl Hirsche, Rehe und anderes Wild befindet, wegen des königlichen Schlosses und Gartens, als auch wegen der herrlichen Gegend und sonderlichen Fruchtbarkeit und Wein. Die Gegend um Potsdam ist ungemein angenehm und lustig, weswegen auch der alte Kurfürst Friedrich Wilhelm sich meistentheils allda aufgehalten. Durch Potsdam fließet auch die Havel und worin die Krebse daselbst hinter den Leuten ihren Wohnungen in großer Abundance gefunden werden.“

So lautet ein Auszug aus dem Reiseberichte eines Bremer Patriziers, der als Sohn eines wohlhabenden und angesehenen Raths- und Handelsherrn im Frühjahre 1706 Potsdam besuchte. Anders sind die Eindrücke, welche der Besuchende heutzutage – einhundertundsiebenzig Jahre später – von Potsdam empfängt. Paläste und Casernen, Forste und Lustparks, Hügel und Seen – dies Alles vereinigt sich hier zu einem Gesammtbilde eigener Art. Man vergleicht Potsdam mit einer „großen Caserne“, mit einer „Stadt, aus der die Bewohner vor dem Feinde geflohen und nur die Garnison zurückgeblieben, um sie zu vertheidigen“; man nennt es eine „steinerne Cabinetsordre“, aber auch eine „Oase in der Wüste“, ein „liebliches Idyll im brandenburgischen Sande“. Auch der Vergleich Potsdams mit Versailles liegt nahe, wenngleich in mancher Beziehung die solide Schöpfung der Hohenzollern wieder durchaus gar keine Parallele mit den übermüthigen Prachtbauten des vierzehnten Ludwig bietet. Was der Stadt Potsdam ihren besondern Reiz verleiht, das ist ihre historische Entwickelung, welche mit derjenigen des preußischen Königthums und der preußischen Monarchie gleichen Schritt gehalten hat. Alle Könige von Preußen haben mit Vorliebe an Potsdam gebaut, und die Spuren ihres Wirkens sind in der Physiognomie der Stadt noch so deutlich zu erkennen, daß nur wenig Phantasie dazu gehört, um sich nach ihnen die verschiedenen Epochen in dem Werden und Wachsen des preußischen Staates lebhaft vor die Seele zu rufen.

Man betrachte nur die langen, gleichmäßigen Straßenfronten gewisser Stadtviertel, in denen alle Häuser gleich hoch, gleich gerichtet dastehen, mit zwei Stockwerken und einem spitzen Giebel nach der Straßenseite, der mit seinem vorspringenden Erker der preußischen Grenadiermütze ähnlich sieht, und man wird unwillkürlich an die Wachparade König Friedrich Wilhelm’s des Ersten erinnert. Wir glauben sie im Geiste noch zu erblicken dort auf dem länglichen, ungepflasterten Platze zwischen dem königlichen Residenzschlosse und der Havel, der durch eine Colonnadenreihe von der Straße getrennt ist. Dort steht sie aufgepflanzt in Reih’ und Glied – wie ein zu Fleisch und Blut gewordener kategorischer Imperativ –, jene berühmte Riesenschaar, breitbeinig, kerzengerade, in knappen blauen Uniformen, hellen Westen, engen Kniehosen und Gamaschen. Unter der blanken, spitzen Grenadiermütze hervor schauen an den Schläfen die beiden weißen Puderlöckchen; über den breiten Rücken herab hängt in gemessener Länge der kunstvoll gedrehte Zopf. Keine Miene wird verzogen, keine Wimper zuckt, obschon [689] kein Vorgesetzter das Auge auf sie zu richten scheint; denn der Befehlshaber steht mit ausgestrecktem Esponton vor der Front, das Antlitz dem Schlosse zugewandt. Dort oben aber an einem Fenster des ersten Stockwerkes lüpft sich leise eine Gardine, und ein strenger, prüfender Königsblick gleitet über die Schaar. Einige Minuten später erscheint der König in der etwas abgetragenen Uniform seiner Potsdamer Garde in Begleitung seiner Officiere unten auf dem Paradeplatze und schreitet unter dem Rasseln der Trommeln, die von schwarzen Händen gerührt werden[2] musternd die Glieder entlang.

Das ist die Potsdamer Wachparade; das sind die reckenhaften Vorfahren des heutigen ersten Garde-Regiments zu Fuß,[3] welches seit seiner Stiftung den Hauptbestandtheil der Potsdamer Garnison bildet, und wer heutzutage einem Parademarsche dieses Regiments auf demselben Platze zuschaut, der wird an der stattlichen, sichern Haltung, der geraden Richtung, dem gleichen Schritt und Tritt der Grenadiere noch überlieferte Züge jener Ur-Wachparade erkennen, an deren eigenthümliche Kopftracht auch die bei großen Paraden anstatt der Helme getragene Grenadiermütze erinnert.

Wenn in der Bauart mancher Quartiere sich die seltsame Laune des „Soldatenkönigs“ spiegelt, so sind es zwei große Gebäude in Potsdam, die von seinem frommen Sinne und seiner landesväterlichen Fürsorge zeugen, die Garnisonkirche und das große Militär-Waisenhaus. In dem stattlichen Thurme der Garnisonkirche hängt das berühmte Glockenspiel, welches alle Stunden mit dem Choral (die halben und Viertelstunden mit Präludien und Anklängen) einleitet:

„Ueb’ immer Treu und Redlichkeit
Bis an Dein kühles Grab etc.“

Den Fremden, der aus einer geräuschvollen Großstadt in die fast dörfliche Stille von Potsdam eintritt, werden diese immer wiederkehrenden ernstfeierlichen Klänge vielleicht zur Schwermuth stimmen; der Einheimische möchte sie gewiß ungern missen, und es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß sie für Denjenigen, der sie von Kindheit auf vernommen, eine tiefe Bedeutung für das Leben gewinnen, ist es doch, als ob der Erbauer der Kirche mit jenen Glockenstimmen auch den nachfolgenden Geschlechtern das altpreußische Gefühl für Pflicht und Schuldigkeit in die Seele rufen wollte, das er seinen Unterthanen einzuprägen verstand. –

Während die Bauwerke Friedrich Wilhelm’s des Ersten das Gepräge seines hausväterlichen, auf das Praktische gerichteten Sinnes tragen, erscheinen uns die Schöpfungen seines großen Sohnes noch von dem Glorienscheine seines Genius umgeben. Er war es, der auch hier das Werk seines Vaters fortsetzte und zur Vollendung führte.

Als Friedrich der Zweite zur Regierung kam, schien er unentschieden, wo er seinen Sommersitz wählen solle. Rheinsberg, Neu-Ruppin und Charlottenburg erhoben Ansprüche darauf, die sich gegenseitig die Wage hielten. In der Zeit zwischen dem ersten und zweiten schlesischen Kriege besuchte der König wiederholentlich Potsdam. Die anmuthige Lage des Bornstädter Weinbergs im Westen der Stadt, nahe dem königlichen Küchengarten von Marly, gab endlich den Ausschlag für die Wahl. Mitten im Kriegsgetümmel studirte der König die Baupläne seines Architekten von Knobelsdorff, und von seinem Feldlager in Schlesien aus erließ er die auf den Bau bezüglichen Cabinetsordres und wies die nöthigen Zahlungen an. Am 2. Mai 1747 wurde das neue Sommerpalais eingeweiht und bald darauf bezogen.

Das war die Freistätte des Genius, das „Sanssouci“ des königlichen Weltweisen. Hier suchte König Friedrich im Umgange mit freisinnigen und geistvollen Männern sich über die Wirren und Kämpfe der Zeit, über den Druck der Regierungssorgen hinaus zu der heiteren Geistesfreiheit des Philosophen, Künstlers und Dichters zu erheben; hier veranstaltete er jene Concerte, bei denen er sich selbst als Meister auf der Flöte hören ließ, und hier schrieb er endlich in stiller Zurückgezogenheit die Memoiren zur Geschichte seiner Zeit.

Aber die heiteren Räume veränderten mit der Zeit ihr Aussehen. Das Freundschaftsverhältniß mit Voltaire löste sich frühzeitig; unter den anderen Gefährten der Tafelrunde Friedrich’s räumte der Tod auf. Auch die Flöte lag in seinen letzten Lebensjahren unberührt auf dem Notenpulte, da der Mangel an Zähnen ihm diese Lieblingsbeschäftigung nicht mehr gestattete. Von Schmerzen gequält, ließ der König sich in seinem Sessel hinaustragen auf die obere Terrasse von Sanssouci, sah hinweg über die sprühenden Wasser, die dunkeln Baumgruppen seines Parkes und sandte der untergehenden Sonne seinen Gruß: „Bald werde ich dir näher sein.“ –

Mit ehrfurchtsvoller Scheu betreten wir das Zimmer, in welchem der große König in der Nacht vom 16. zum 17. August 1786 seinen Geist aufgab. Noch ist die Einrichtung fast unverändert erhalten; noch stehen die Zeiger der großen, mit Schildpatt ausgelegten Wanduhr auf demselben Punkte, wo sie im Augenblicke seines Todes (?) stehen blieben (20 Minuten nach 2 Uhr), und es däucht uns selber, als wäre die Sterbestunde soeben erst verronnen und als spürten wir noch das Wehen des Geistes, der ihm bei den Schlußworten seines Testaments die Feder führte:

„Meine letzten Wünsche in dem Augenblicke, wo ich den letzten Hauch von mir gebe, werden für die Glückseligkeit meines Reiches sein. Möge es stets mit Gerechtigkeit, Weisheit und Nachdruck regiert werden, möge es durch die Milde seiner Gesetze der glücklichste, möge es durch ein Heer, das nur nach Ehre und edlem Ruhme strebt, der am tapfersten vertheidigte Staat sein!

O, möge es in höchster Blüthe bis an das Ende der Welt fortdauern!“ –

Beinahe ein Jahrhundert nach der Erbauung des königlichen Lustschlosses Sanssouci schienen die glänzenden Tage seiner ersten Zeit wiederkehren zu wollen. König Friedrich Wilhelm der Vierte, der schon als Kronprinz eine besondere Vorliebe für Sanssouci hatte, beabsichtigte, nach Plänen, die er mit Schinkel, Persius, Hesse und Lenné besprach, hier ein neues Palais im antiken Stil zu erbauen, das durch Großartigkeit und architektonischen Schmuck sich den ersten Bauwerken der Zeit gleichstellen sollte. Er berief Gelehrte und Dichter an seinen Hof, ja, er kaufte ein Haus an dem Ausgange des Parkes nahe dem Obelisken an, um dasselbe zu einem eigenen Dichterpalais einzurichten, in welchem Alexander von Humboldt, Ludwig Tieck, Friedrich Rückert einen heiteren Lebensabend genießen sollten – gleichsam zur Bewahrheitung des classischen Spruches:

„Es soll der Sänger mit dem König gehen;
Sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen.“

Aber die großartigen Baupläne blieben größtentheils unausgeführt in der Mappe des Baumeisters; die idealen Bestrebungen des Königs scheiterten auch hier an dem Widerstande der wirklichen Verhältnisse, und in dem Dichterhause genoß allein Tieck während des letzten Jahrzehnts seines Lebens die Gastfreundschaft seines königlichen Gönners.

In Sanssouci, wo er die ersten sonnenhellen Tage seiner Regierungszeit zugebracht, verlebte Friedrich Wilhelm in freudloser Einsamkeit auch die letzten trüben Jahre seines Lebens. Im Herbste 1857 äußerte er bei einem Besuche des Hofpredigers Strauß, dessen Mutter kurz vorher gestorben war: „Ihr Mütterchen ist hinübergegangen – ach, ich sehne mich auch recht nach der Ruhe.“ Wenige Tage darauf ward er von jenem Schlaganfalle getroffen, von dem er sich nicht mehr erholte. Der Widerspruch zwischen der wirklichen Welt und der Welt, wie sie in seinen Ideen sich spiegelte, machte ihm das Leben zu einem unentwirrbaren Räthsel. In traumähnliches Hinbrüten versenkt, sah er die Tage dahinschwinden, während rings im Lande ein neues, frisches Leben sich regte, dem sein Geist bereits abgestorben war.

Am 2. Januar 1861 hauchte König Friedrich Wilhelm der Vierte im Schlosse zu Sanssouci seinen Geist aus. Im Schlaf- und Sterbezimmer Friedrich’s des Großen ward seine Leiche ausgestellt, und der lebhafte Andrang des Volkes zu seinem Sarkophage zeugte von der unveränderten Theilnahme, die es dem Könige bis zuletzt bewahrt hatte.


[690]

Dampfschiff auf der Havel.       In Nowawes, der Vorstadt von Potsdam.       Am Sterbestuhle Friedrich’s des Großen in Sanssouci.
Die Potsdamer Wachparade 1876.       Sommernachmittag in Neu-Babelsberg.       Knabe aus dem Militär-Waisenhause.

[691] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[692]
4.

Einer der freundlichsten Sommerausflüge von Potsdam, obgleich von Fremden nur selten unternommen, ist derjenige nach der Pfaueninsel. An der Langen Brücke besteigen wir in der Morgenfrühe den Nachen. Zu unserer Linken – das ist am rechten Ufer der Havel – gleiten die Häuserreihen der Stadt mit ihren Kehrseiten in mannigfachen Bildern an uns vorüber: hier eine Waschbank, auf der lachende Mägde das Leinenzeug für den Hausbedarf ausspülen, dort ein in den Fluß vorspringender Pavillon, in dem die Familie des Hauseigenthümers ihren Morgenkaffee einnimmt.

Oberhalb Potsdams gelangen wir in die erste, seenartige Erweiterung der Havel. Zur Rechten schaut aus saftigem Waldesgrün, gleich einer Normannenfeste, die Burg Babelsberg hervor; jenseits der Glienicker Brücke begleitet der kunstsinnig gepflegte Park des Prinzen Karl das linke Ufer, während nach Norden hin, in der Richtung auf Spandau, die weite Aussicht über den Jungfernsee sich öffnet.

Auf einer Halbinsel zwischen dem Jungfernsee und der Havel liegt das stille Dörfchen Sacrow mit der säulenumgebenen Basilica am Flußufer, gegenüber die träumerische Bucht Moorlake, von dunkeln Fichten umrahmt, und vor uns taucht inmitten der stillen, weiten Wasserfläche, gleich einem schwimmenden Garten, die Pfaueninsel auf.

Es ist ein überaus lieblicher Aufenthalt, die Insel mit ihren frischen, blumengeschmückten Rasenplätzen, ihren alten, prächtigen Eichen und Buchen. Nichts stört den Frieden in dieser Weltabgeschiedenheit. Nur die Glocke der drüben aus dunkelm Fichtengebüsche hervorschauenden Petri- und Paulskirche in Nikolskoe erinnert uns daran, daß wir uns in der Nähe anderer menschlicher Wohnstätten befinden. Alles athmet eine heitere Ruhe und Sicherheit, die sich unwillkürlich auch dem Gemüthe mittheilt.

Das kleine Schloß auf der Insel ist im Stile eines verfallenen römischen Landhauses erbaut mit zwei ruinenartig abgebrochenen Thürmen, die durch eine freischwebende Brücke verbunden sind. Die innere Einrichtung mit den traulichen Gemächern, deren Fensternischen liebliche Aussichten auf Busch, Hügel und Wasser gewähren, bezeichnet seine Bestimmung für ein stilles, behagliches Familienleben.

Hier war es, auf diesem friedlichen grünen Eilande, wo König Friedrich Wilhelm der Dritte an der Seite seiner unvergeßlichen Gemahlin, der Königin Louise, das höchste Glück des Lebens genoß. Ein unaussprechlicher, poetischer Zauber ruht über der Landschaft, den breiten, duftigen Rasenflächen, den schattigen Ruheplätzen an den Buchten, gleichsam der Nachglanz jenes sonnigen Liebesglückes. Auch durch die großentheils unverändert gebliebene Einrichtung des Schlosses werden wir in Gedanken in jene Zeit zurückversetzt, in welcher die Königin Louise hier verweilte.

Als der Castellan unser lebhaftes Interesse für die zur Erinnerung an ihr Walten hier noch aufbewahrten Gegenstände bemerkte, schloß er in dem ehemaligen Schreibtische der Königin ein Schubfach auf und zeigte uns ein Blatt Papier mit ihrer Handschrift, welches vielleicht nur wenige Fremde gesehen haben. Es enthält nur zwei Worte, aber köstliche, inhaltsreiche Worte, welche einen Blick in das edle Herz der Königin gestatten. Dreimal ist die Feder angesetzt mit den Anfangsbuchstaben des Wortes „Vergessen“, gleichsam als prüfte die Hand, ob sie in Wahrheit niederschreiben dürfe, was das Herz ihr dictirte. Daneben steht mit deutlicher klarer Schrift:

„Vergessen und vergeben“

und das Datum: „Den 15 Juni 1804.“

Die Worte sprechen für sich selbst und bedürfen keiner Erklärung. –

Gern betrachten wir auch ein anderes hier aufbewahrtes Document aus viel späterer Zeit, als König Friedrich Wilhelm der Dritte bereits auf ein Leben, reich an Prüfungen und Kämpfen, auf eine „Zeit mit Unruhe“ zurückblickte. Von dem letzten Geburtstage, den er hier auf der Pfaueninsel verlebte, stammt ein kleines Glückwunschschreiben, dessen Verfasser kein Anderer ist, als der gegenwärtige Kronprinz des deutschen Reiches und von Preußen, Friedrich Wilhelm. Der Inhalt lautet:

„Je vous félicite, mon cher Grand-Papa, pour votre Fête et je souhaite de tout mon coeur que vous vous portiez toujours très-bien.      le 3. août 1838.

Fritz.“ 

Daß die Pfaueninsel auch jetzt noch bei der königlichen Familie beliebt ist, dafür spricht das wohlunterhaltene prächtige Palmenhaus (in Bau genommen 1829), welches Humboldt ein „Denkmal von dem einfachen Naturgefühle des edlen Fürsten“ nennt, sowie der seit wenigen Jahren unter Pflege des königlichen Gartendirectors Jühlke neu aufblühende Rosengarten, auch die Rutschbahn und die Spielplätze, welche öfters von den kronprinzlichen Kindern besucht werden.

An einem so idyllischen Orte überrascht die auf einem Rasenplatze vor dem Schlosse aufgestellte Marmorbüste der Schauspielerin Rachel Felix. Die berühmte Tragödin, welche im Sommer 1854 in Berlin gastirte, sah in der königlichen Einladung, hier in der freien Natur anstatt in dem geweihten Musentempel vor dem Hofe aufzutreten, anfänglich eine Kränkung ihres künstlerischen Stolzes, und der Geheime Hofrath Ludwig Schneider[WS 1] erhielt die schwierige, aber mit Erfolg gekrönte diplomatische Mission, den Widerstand der spröden Künstlerin zu überwinden. Zur Erinnerung an diese Vorstellung wurde die Marmorbüste errichtet.

Um die Mittagszeit fuhren wir nach Sacrow zurück, wo unter den hölzernen Arcaden beim „Doctor Faust“ ein ländliches Mittagsmahl unser wartete. Die landschaftliche Scenerie hatte sich seit den Vormittagsstunden bedeutend verändert. Der Fluß war jetzt von zahlreichen Fahrzeugen belebt, deren Insassen unter Gesang und Zuruf aneinander vorüberzogen. Bald näherte sich von Potsdam her das stark besetzte, mit Laub und Fahnen geschmückte Dampfboot unter Musik dem Ufer und lud eine große Schaar vergnügungslustiger Berliner in Sacrow aus, die nach allen Richtungen die Halbinsel durchstreiften. Wir aber flüchteten in unseren Nachen und traten die Rückfahrt an.

Je mehr wir uns Potsdam näherten, desto stiller ward es. Weiße Schwäne tauchten ihre Flügel in die vom Abendrothe sanft gefärbten Wellen, und über die leisbewegte Wasserfläche hin hallten die feierlichen Klänge des Glockenspiels.

(Schluß folgt.)



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Im Wohnzimer des Administrators saßen Herr Doctor Fabian und Fräulein Margaretha Frank vor einem aufgeschlagenen Buche. Die französischen Lesestunden hatten nun wirklich ihren Anfang genommen, aber so ernst und gewissenhaft der Lehrer die Sache nahm, so unzuverlässig zeigte sich die Schülerin. Schon in der ersten Stunde, die vor einigen Tagen stattgefunden, hatte sie sich damit amüsirt, den Doctor über alles Mögliche auszufragen, über seine Vergangenheit, seine ehemalige Hauslehrerstellung bei Herrn Nordeck, über das Leben in Altenhof und dergleichen mehr; heute nun wollte sie durchaus wissen, was er eigentlich studire, und trieb den armen Gelehrten, der um keinen Preis seine „Geschichte des Germanenthums“ verrathen wollte, mit ihren Fragen immer mehr in die Enge.

„Aber wollen wir denn nicht endlich die Uebung beginnen, mein Fräulein?“ sagte er bittend. „Auf diese Weise kommen wir auch heute nicht dazu. Sie sprechen fortwährend deutsch.“

„Ach, wer kann jetzt an das Französische denken!“ rief Gretchen, ungeduldig eine Seite des Buches nach der anderen umschlagend. „Ich habe ganz andere Dinge im Kopfe; das Leben in Wilicza ist so aufregend.“

[693] „Ich dächte doch nicht,“ meinte der Doctor, indem er geduldig wieder zurückblätterte, um die Stelle zu suchen, bei welcher sie stehen geblieben waren.

Die junge Dame maß ihn mit einem wahren Inquisitorenblick. „Nicht, Herr Doctor? Nun, Sie müßten doch aus erster Hand wissen, was es eigentlich im Schlosse gegeben hat. Sie, der Freund und Vertraute des Herrn Nordeck! Gegeben hat es etwas – das steht fest, denn das geht ja jetzt wie im Wirbelsturm, seit der junge Herr fort ist. Die Boten fliegen nur so zwischen Wilicza und Rakowicz. Bald ist Graf Morynski hier, bald Fürst Baratowski drüben; wenn man unsere gestrenge Frau Fürstin einmal zu Gesichte bekommt, so zeigt sie eine Miene, als stände der Weltuntergang allernächstens bevor, und was sind denn das für Dinge, die seit zwei oder drei Abenden im Parke vorgehen, und von denen mir der Inspector erzählt hat? Man holt etwas, oder bringt etwas. Sie müssen das doch nothgedrungen bemerkt haben. Ihre Fenster liegen ja gerade nach der Seite hinaus.“

Sie sprach consequent deutsch, und Fabian ließ sich immer wieder verleiten, ihr in dieser Sprache zu antworten. Er rückte unruhig auf seinem Sitze hin und her.

„Ich weiß nichts, durchaus nichts davon,“ versicherte er.

„Das sagt Papa auch immer, wenn ich ihn frage,“ schmollte Gretchen. „Ich begreife ihn überhaupt diesmal ganz und gar nicht; er hat den Inspector angefahren, als dieser mit seiner Nachricht kam, und ihm streng befohlen sich nicht weiter um den Park zu kümmern, Herr Nordeck wolle es nicht. Papa kann doch unmöglich auch mit im Complot stecken, und doch sieht es beinahe so aus. Meinen Sie nicht?“

„Aber mein Fräulein,“ bat der Doctor. „Der Zweck meines Kommens wird wirklich nicht erreicht, wenn Sie sich fortwährend mit solchen Dingen beschäftigen. Seit einer halben Stunde bin ich hier, und wir haben noch nicht eine einzige Seite gelesen – bitte!“

Er schob ihr wohl zum sechsten Male das Buch hin. Sie nahm es endlich mit resignirter Miene.

„Meinetwegen! Ich sehe, man will nach nicht in das Geheimniß einweihen, aber ich werde schon allein dahinter kommen, und dann wird man bereuen, mir so wenig getraut zu haben. Ich kann auch schweigen – unbedingt kann ich das.“ Damit begann sie ein französisches Gedicht zu lesen, aber mit sehr gereiztem Ausdrucke und einer absichtlich falschen Betonung, die ihren Lehrer fast zur Verzweiflung brachte.

Sie las eben erst die zweite Strophe, als ein Wagen in den Hof fuhr. Es befand sich augenblicklich Niemand darin, aber der Kutscher schien hier schon bekannt zu sein, denn er machte sich sofort daran, auszuspannen. Gleich darauf trat eins der Dienstmädchen mit der Meldung ein, Herr Assessor Hubert werde sich die Ehre geben, auf dem Gutshofe vorzusprechen, er sei nur auf einen Augenblick im Dorfe abgestiegen, wo er bei dem Schulzen zu thun habe, und schicke einstweilen seinen Wagen voraus mit der Anfrage, ob er auch diesmal auf die Gastfreundschaft des Herrn Administrators rechnen könne.

Dabei war nun weiter nichts Auffallendes; bei der freundschaftlichen Stellung, die er zu der Frank’schen Familie einnahm, pflegte der Assessor stets in ihrem Hause zu übernachten, wenn seine Amtsgeschäfte ihn in die Nähe von Wilicza führten, und er sorgte schon dafür, daß dies sehr häufig geschah. Der Administrator war zwar über Land gefahren wurde aber noch heute Abend zurückerwartet; seine Tochter gab also die Weisung, für Fuhrwerk und Kutscher Sorge zu tragen und nachzugehen, ob im Gastzimmer Alles in Ordnung sei.

„Wenn der Assessor kommt, ist es mit unserer Lesestunde zu Ende,“ sagte sie etwas ärgerlich zum Doctor, „aber er soll uns nicht lange stören. Ich lasse gleich in den ersten fünf Minuten etwas von den Heimlichkeiten im Parke fallen, dann läuft er schleunigst hinüber, um sich hinter irgend einem Baume auf die Lauer zu stellen, und wir sind ihn los.“

„Um Gotteswillen nicht!“ rief Fabian im Tone des größten Schreckens, „schicken Sie ihn nicht dorthin! Im Gegentheil, halten Sie ihn um jeden Preis davon zurück!“

Gretchen stutzte. „So, Herr Doctor? Ich denke, Sie wissen nichts, durchaus nichts – weshalb gerathen Sie denn auf einmal so in Angst?“

Der Doctor saß mit gesenktem Blicke wie ein ertappter Verbrecher da und suchte vergebens nach einer Ausflucht; das Lügen wollte ihm durchaus nicht gelingen. Endlich schlug er die Augen auf und sah das junge Mädchen treuherzig an.

„Ich bin ein friedlicher Mann, mein Fräulein,“ sagte er, „und dränge mich nie in fremde Geheimnisse. Ich weiß wirklich nicht, was im Schlosse vorgeht, daß aber etwas vorgeht, habe ich freilich auch in den letzten Tagen bemerken müssen. Herr Nordeck hat mir nur Andeutungen darüber gegeben, aber es ist doch wohl kein Zweifel, daß Gefahr bei der Sache ist.“

„Nun, für uns doch nicht,“ meinte Gretchen mit großer Seelenruhe. „Was thut es denn, wenn der Assessor wirklich die ganze Gesellschaft da drüben auseinandersprengt? Herr Nordeck ist fort – den kann er also nicht greifen, und er wird sich auch hüten nach jener ersten Verhaftungsgeschichte. Sie stehen außerhalb jedes Verdachtes, und was die Fürstin und Fürst Leo betrifft –“

„So sind sie Waldemar’s Mutter und sein Bruder,“ fiel Doctor Fabian in tiefer Bewegung ein. „Begreifen Sie denn nicht, daß jeder Schlag, der gegen sie geführt wird, auch ihn treffen muß? Er ist der Herr des Schlosses; man macht ihn verantwortlich für Alles, was dort geschieht.“

„Und das mit vollem Rechte!“ rief Gretchen hitzig werdend. „Warum reist er fort und läßt den Umtrieben Thür und Thor offen? Warum ist er mit seinen Verwandten einverstanden?“

„Er ist es nicht,“ betheuerte Fabian, „im Gegentheil, er setzt sich mit aller Entschiedenheit dagegen; seine Reise hat ja nur den Zweck – mein Gott, zwingen Sie mich doch nicht, von Dingen zu reden, von denen ich gar nicht weiß, ob ich sie Ihnen verrathen darf! Aber das weiß ich, daß Waldemar Alles daran liegt, Mutter und Bruder zu schonen. Er hat mir bei der Abreise das Versprechen abgenommen, ich solle nichts hören und sehen wollen von dem, was im Schlosse vorgeht, und Ihrem Vater hat er ähnliche Weisungen gegeben. Ich hörte es, wie er zu ihm sagte: ‚Ich mache Sie verantwortlich dafür, daß die Fürstin inzwischen unbehelligt bleibt; ich nehme Alles auf mich.‘ Aber jetzt ist er fort; Herr Frank ist fort, und nun führt ein unglücklicher Zufall gerade jetzt diesen Assessor Hubert her, der um jeden Preis etwas entdecken will und auch entdecken wird, wenn man ihm freie Hand läßt. Ich bin ganz rathlos.“

„Das kommt davon, wenn man mir etwas verschweigt,“ sagte Gretchen strafend. „Hätte man mich in’s Vertrauen gezogen, so hätte ich mich rechtzeitig mit dem Assessor gezankt, und dann wäre er für’s Erste nicht hierhergekommen. Jetzt soll ich Rath schaffen.“

„Ach ja, thun Sie das!“ bat der Doctor. „Sie vermögen ja Alles über den Assessor. Halten Sie ihn zurück! Er darf heute durchaus nicht in den Umkreis des Schlosses kommen.“

Fräulein Margarethe schüttelte bedenklich den Kopf. „Da kennen Sie Hubert nicht; den hält kein Mensch zurück, wenn er erst einmal eine Spur gefunden hat, und finden wird er sie, wenn er überhaupt in Wilicza bleibt, denn er fragt regelmäßig den Inspector aus; also darf er gar nicht hier bleiben. – Ich weiß ein Mittel. Ich lasse mir von ihm eine Erklärung machen – er setzt jedesmal dazu an; ich lasse ihn nur nie so weit kommen – und dann gebe ich ihm einen Korb. Darüber wird er so wüthend werden, daß er Hals über Kopf nach L. zurückfährt.“

„Das gebe ich unter keiner Bedingung zu,“ protestirte der Doctor. „Was auch kommen mag, Ihr Lebensglück darf nicht das Opfer werden.“

„Glauben Sie etwa, daß mein Lebensglück von Herrn Assessor Hubert abhängt?“ fragte Gretchen mit verächtlich aufgeworfenen Lippen.

Fabian glaubte das allerdings. Er wußte ja aus Hubert’s eigenem Munde, daß dieser „sicher auf ein Ja rechnen durfte“, aber eine sehr begreifliche Scheu hielt ihn zurück, diesen zarten Punkt näher zu berühren.

„Mit solchen Dingen darf man niemals Scherz treiben,“ sagte er vorwurfsvoll. „Der Assessor würde früher oder später die Wahrheit erfahren, und das würde ihn tief verletzen, ihn vielleicht auf ewig von Ihnen entfernen – niemals!“

Gretchen sah etwas betroffen aus; sie begriff zwar durchaus nicht, wie man einen Korb so ernst nehmen könne, und machte sich herzlich wenig aus der ewigen Entfernung des Assessors, aber der Vorwurf traf doch ihr Gewissen.

[694] „Dann bleibt nichts Anderes übrig, als ihn von der richtiger Fährte weg und auf eine falsche zu bringen,“ erklärte sie nach kurzem Besinnen. „Aber Herr Doctor, damit nehmen wir doch eigentlich eine schwere Verantwortung auf uns. Es verschwört sich zwar Alles hier in Wilicza, so daß ich nicht einsehe, weshalb wir Beide es nicht auch einmal thun sollen, aber wir machen, streng genommen, doch ein Complot gegen unsere eigene Regierung, wenn wir ihren Vertreter abhalten, seine Pflicht zu thun.“

„Der Assessor hat keinen Auftrag,“ rief der Doctor, der auf einmal ganz heldenmäßig geworden war, „er folgt nur seinen eigenen ehrgeizigen Ideen, wenn er hier herumspürt. Mein Fräulein, ich gebe Ihnen mein Wort darauf, die geheimen Umtriebe haben die längste Zeit gewährt. Es wird ihnen ein für alle Mal ein Ende gemacht – ich weiß es aus Waldemar’s eigenem Munde, und er ist der Mann danach, sein Wort zu halten. Wir verschulden nichts gegen unsere Landsleute, wenn wir ein ganz nutzloses Unglück verhüten, das der übertriebene Eifer eines Beamten heraufbeschwört, den man in L. vielleicht gar nicht einmal gern sieht.“

„Gut, also machen wir ein Complot!“ sagte Gretchen entschlossen. „Der Assessor muß fort, und zwar noch in der ersten Viertelstunde, sonst geht er gleich wieder auf die Verschwörungsjagd. Da kommt er schon über den Hof. Ueberlassen Sie mir Alles, stimmen Sie nur zu – und jetzt wollen wir das Buch wieder vornehmen.“

Als Assessor Hubert einige Minuten später eintrat, hörte er in der That die dritte Strophe des französischen Gedichtes und war sehr erfreut, daß Doctor Fabian Wort gehalten hatte und daß die künftige Frau Regierungsräthin sich so eifrig in der höheren Bildung übte, die für ihre dereinstige Stellung unerläßlich war. Er begrüßte Beide, erkundigte sich nach dem Herrn Administrator und nahm dann den angebotenen Platz ein, um die jüngsten Neuigkeiten aus L. zu erzählen.

„Ihr ehemaliger Zögling hat uns eine große Ueberraschung bereitet,“ sagte er verbindlich zu Fabian. „Wissen Sie denn davon, daß Herr Nordeck, als er auf seiner Reise unsere Stadt passirte, bei dem Herrn Präsidenten vorgefahren ist und ihm einen anscheinend ganz officiellen Besuch gemacht hat?“

„Ja wohl, es war die Rede davon,“ erwiderte der Doctor.

„Seine Excellenz waren sehr angenehm dadurch berührt,“ fuhr Hubert fort. „Offen gestanden, man hatte bereits die Hoffnung auf eine Annäherung von dieser Seite aufgegeben. Herr Nordeck soll äußerst liebenswürdig gewesen sein; er erbat sich sogar die Zusage des Herrn Präsidenten, der nächsten Jagd in Wilicza beizuwohnen, und ließ etwas von anderen Einladungen fallen, die nicht minder überraschen werden.“

„Hat denn der Präsident angenommen?“ fragte Gretchen.

„Gewiß! Seine Excellenz meinen, die Sache sähe fast aus wie eine Demonstration des jungen Gutsherrn und fühlten sich verpflichtet, ihn darin zu unterstützen. Wirklich, Herr Doctor, Sie würden uns sehr verbinden, wenn Sie uns irgend einen Aufschluß über die eigentliche Stellung des Herrn Nordeck –“

„Von Doctor Fabian erfahren Sie gar nichts; er ist noch verschlossener als der junge Herr selbst,“ fiel Gretchen ein, die sich veranlaßt fühlte, ihrem Mitverschworenen zu Hülfe zu kommen, denn sie sah bereits, daß er sich durchaus nicht in seine Rolle finden konnte. Er wurde fast erdrückt von seinem Schuldbewußtsein, und die beste Absicht half ihm nicht über der Gedanken hinweg, daß der Assessor betrogen werden sollte und daß er dabei mithalf. Fräulein Margarethe dagegen nahm die Sache weit leichter; sie ging geradewegs auf das Ziel los.

„Werden wir Sie denn heute zum Abendessen haben, Herr Assessor?“ warf sie hin. „Sie haben doch jedenfalls drüben in Janonwo zu thun?“

„Daß ich nicht wüßte!“ erwiderte Hubert. „Weshalb gerade dort?“

„Nun, ich meinte nur – man hört so Manches von drüben – besonders seit den letzten Tagen. Ich dachte, Sie hätten Auftrag, dort zu recherchiren.“

Der Assessor wurde aufmerksam. „Was hört man? Bitte, mein Fräulein, verbergen Sie mir nichts! Janowo ist auch einer von den Orten, auf die man jetzt fortwährend ein Auge haben muß. Was wissen Sie davon?“

Der Doctor schob unmerklich seinen Stuhl etwas weiter zurück; er kam sich vor wie der schwärzeste aller Verräther, Gretchen dagegen bewies ein wahrhaft erschreckendes Talent für die Intrigue. Sie erzählte nichts, aber sie ließ sich ausfragen und brachte so nach und nach und mit der unschuldigsten Miene von der Welt all die Beobachtungen zum Vorschein, die sie in den letzten Tagen hier gemacht hatte, nur mit dem Unterschiede, daß sie den Schauplatz nach Janowo verlegte, dem großen Nachbargute, das unmittelbar an Wilicza grenzte, und ihr Plan gelang über Erwarten. Der Assessor biß auf den Köder an mit einem Eifer, der nichts zu wünschen übrig ließ. Er las die Worte förmlich von den Lippen des jungen Mädchens ab; er gerieth in fieberhafte Aufregung und sprang endlich auf.

„Entschuldigen Sie, Fräulein Margarethe, wenn ich die Ankunft des Herrn Frank jetzt nicht abwarte! Ich muß unverzüglich nach E. zurück –“

„Aber doch nicht zu Fuß? Es ist eine halbe Stunde Wegs dorthin.“

„Nur kein Aufsehen!“ flüsterte Hubert geheimnißvoll. „Mein Wagen bleibt jedenfalls hier; es ist besser, man glaubt mich noch bei Ihnen. Ich bitte, beim Abendessen nicht auf mich zu rechnen; leben Sie wohl, mein Fräulein!“ und mit kurzem, hastigen Gruße eilte er davon und schritt gleich darauf über den Hof.

„Jetzt geht er nach E.,“ sagte Gretchen triumphirend zu dem Doctor, „um sich die beiden dort stationirten Gensd’armen zu holen, und läuft mit ihnen geradewegs nach Janowo – und da werden sie wohl alle Drei herumlaufen bis in die Nacht hinein. Wilicza ist sicher vor ihnen.“

Sie hatte sich in ihren Voraussetzungen nicht getäuscht. Erst spät in der Nacht kehrte der Assessor von seinem Streifzuge zurück, den er richtig mit den beiden Gensd’armen aus E. unternommen hatte, natürlich ohne jedes Resultat. Er war sehr verstimmt, sehr niedergeschlagen und vollständig erkältet. In der ungewohnten Nachtluft hatte er sich einen furchtbaren Schnupfen zugezogen und befand sich am nächsten Tage so unwohl, daß sogar Gretchen ein menschliches Rühren empfand. In reuevoller Aufwallung kochte sie ihm Thee und pflegte ihn den ganzen Tag hindurch mit einer Sorgfalt, die Hubert alles ausgestandene Ungemach vergessen ließ. Leider setzte sich dadurch aber bei ihm die nunmehr unumstößliche Ueberzeugung fest, daß er über alle Maßen geliebt werde. Auch Doctor Fabian kam im Laufe des Tages herüber, um nach dem Patienten zu sehen, und zeigte eine so ängstliche Theilnahme, ein so tiefes Bedauern über die Erkältung, daß der Assessor sehr gerührt und vollständig getröstet war. Er wußte ja nicht, daß er all diese Aufmerksamkeit nur den Gewissensbissen der beiden gegen ihn Verschworenen zu danken hatte, und fuhr schließlich noch mit dem Schnupfen, aber in sehr gehobener Stimmung, nach L. zurück. – –

Im Schlosse hatte man natürlich keine Ahnung davon, wem eigentlich der Dank dafür gebührte, daß Schloß, Park und Umgebung auch an diesem Abende unbehelligt blieben. Ungefähr zu derselben Zeit, als Doctor Fabian und Fräulein Margarethe ihr Complot anstifteten, fand in der Zimmern der Fürstin Baratowska eine Familienzusammenkunft statt, die ein sehr ernstes Aussehen hatte. Graf Morynski und Leo waren in voller Reisekleidung; ihre Mäntel lagen draußen im Vorzimmer, und der Wagen, der vor einer halben Stunde den Grafen und seine Tochter herübergebracht hatte, stand noch angespannt im Hofe. Leo und Wanda hatten sich in die tiefe Nische des Mittelfensters zurückgezogen und redeten leise und angelegentlich mit einander, während die Fürstin mit ihrem Bruder ein gleichfalls halblautes Gespräch führte.

„Wie die Sache einmal liegt, halte ich es für ein Glück, daß die Verhältnisse Eure schleunige Abreise verlangen,“ sagte sie, „schon um Leo’s willen, der den Aufenthalt in Wilicza nicht mehr ertragen würde, wenn Waldemar den Herrn herauskehrt. Er vermag sich nun einmal nicht zu beherrschen; die Art, wie er meine Eröffnungen aufnahm, zeigte mir, daß es geradezu ein Unglück provociren hieße, wollte ich ihn jetzt zu einem längeren Zusammensein mit seinem Bruder zwingen. Auf diese Weise begegnen sie sich vorläufig gar nicht, und das ist das Beste.“

„Und Du selbst willst wirklich hier aushalten, Jadwiga?“ fragte der Graf.

[695] „Ich muß,“ entgegnete sie. „Es ist das Einzige, was ich jetzt noch für Euch thun kann. Ich bin Deinen Gründen gewichen, die mir den offenen Kampf mit Waldemar als nutzlos und gefährlich zeigten. Wir haben Wilicza als Mittelpunkt unserer Pläne aufgegeben, wenigstens vor der Hand, aber für Dich und Leo bleibt es immer der Ort, wohin Ihr Eure Botschaften sendet und von wo Euch Nachrichten zugehen; die Freiheit wenigstens werde ich zu behaupten wissen. Im schlimmsten Falle bleibt das Schloß Eure Zuflucht, wenn Ihr genöthigt sein solltet, Euch wieder über die Grenze zu werfen; auf diesseitigem Gebiete wird die Ruhe für diesmal ja nicht gestört. Wann gedenkt Ihr die Grenze zu passiren?“

„Wahrscheinlich diese Nacht noch. Wir werden auf der letzten Försterei abwarten, wann und wie es möglich ist; dorthin folgt uns heute Abend auch der letzte Waffentransport, um vorläufig in der Obhut des Försters zu bleiben. Ich hielt die Vorsicht doch für geboten. Wer weiß, ob Dein Sohn sich nicht einfallen läßt, übermorgen bei seiner Rückkehr das ganze Schloß zu durchsuchen.“

„Er wird es rein finden, wie –“ die Hand der Fürstin ballte sich im verhaltenen Ingrimme und ihre Lippen zuckten, „wie er es befohlen, aber ich schwöre es Dir, Bronislaw, er soll diesen Befehl und seine Tyrannei gegen uns büßen. Ich habe die Vergeltung in Händen und auch den Zügel, wenn er etwa versuchen sollte, noch weiter zu gehen.“

„Du machtest mir schon einmal eine solche Andeutung,“ sagte der Graf, „aber ich begreife wirklich nicht, womit Du eine solche Natur noch zähmen willst. Nach der Art, wie Wanda mir die Scene zwischen Dir und Waldemar geschildert hat, glaube ich nicht mehr, daß er noch irgend einem Zügel gehorcht.“

Die Fürstin schwieg. Sie schien nicht antworten zu wollen und wurde dessen auch überhoben, denn in diesem Augenblick trat das junge Paar aus der Fensternische zu ihnen.

„Es ist unmöglich, Mama, Wanda umzustimmen,“ sagte Leo zu seiner Mutter. „Sie weigert sich entschieden, nach Wilicza zu kommen, und will Rakowicz nicht verlassen.“

Die Fürstin wandte sich mit strengem Ausdrucke zu ihrer Nichte.

„Das ist eine Thorheit, Wanda. Es ist seit Monaten bestimmt, daß Du zu mir kommst, wenn diese längst vorhergesehene Abwesenheit Deines Vaters eintritt. Du kannst und sollst nicht allein in Rakowicz bleiben. Ich bin Dein natürlicher Schutz, und Du wirst ihn aufsuchen.“

„Verzeihung, liebe Tante, aber das werde ich nicht,“ erwiderte die junge Gräfin. „Ich will nicht Gast eines Hauses sein, dessen Herr uns in solcher Weise gegenübersteht. Ich ertrage das so wenig, wie Leo.“

„Glaubst Du, daß es Deiner Tante leicht wird, hier Stand zuhalten?“ fragte der Graf vorwurfsvoll. „Sie bringt uns das Opfer, weil sie uns Wilicza für den äußersten Fall sichern will, weil es überhaupt nicht aufgegeben werden darf, wenigstens für die Dauer nicht, und mit ihrem Fortgehen ist es uns verloren. Ich kann von Dir wohl die gleiche Selbstüberwindung fordern.“

„Aber weshalb ist denn gerade meine Gegenwart so unumgänglich nothwendig?“ rief Wanda mit kaum unterdrückter Heftigkeit. „Die Rücksichten, denen sich die Tante beugt, existiren doch für mich nicht – laß mich zu Hause, Papa!“

„Gieb nach, Wanda,“ bat Leo, „bleibe bei meiner Mutter! Wilicza liegt der Grenze um so vieles näher, ist um so vieles leichter zu erreichen; wir können besser in Verbindung mit einander bleiben. Vielleicht mache ich es möglich, Dich einmal zu sehen. Ich hasse Waldemar gewiß nicht weniger als Du, seit er sich offen als unser Feind erklärt hat, aber um meinetwillen bezwinge Dich und ertrage seine Nähe!“

Er hatte ihre Hand ergriffen. Wanda entzog sie ihm mit einer beinahe stürmischen Bewegung. „Laß mich, Leo! Wenn Du wüßtest, warum mich Deine Mutter durchaus in ihrer Nähe haben will, Du wärest der Erste, der sich dagegen setzte.“

Die Fürstin runzelte die Stirn, und ihrer Nichte rasch das Wort abschneidend, wandte sie sich zu dem Grafen:

„So zeige endlich einmal die väterliche Autorität, Bronislaw, und befiehl ihr zu bleiben! Sie muß in Wilicza bleiben.“

Die junge Gräfin fuhr auf bei diesen mit voller Härte ausgesprochenen Worten, die sie augenscheinlich auf’s Aeußerste brachten.

„Nun denn, wenn Du mich dazu zwingen willst, so mögen mein Vater und Leo auch den Grund erfahren. Ich habe Deine dunkeln Worte neulich nicht begriffen – jetzt verstehe ich sie. Ich soll der Schild sein, mit dem Du Dich Deinem Sohne gegenüber deckst. Du glaubst, daß ich die Einzige bin, die Waldemar nicht opfert, die Einzige, die ihn zurückhalten kann. Ich glaube das nicht, denn ich kenne ihn besser als Du, aber gleichviel, wer von uns Recht hat – ich will die Probe nicht machen.“

(Fortsetzung folgt.)




Nachdruck nicht gestattet.
Die Photographie des Blutes im Dienste der Criminaljustiz.
Von Dr. S. Th. Stein.


Unsere schöpferische, überall auf Neugestaltung hinwirkende Zeit hat die drei mächtigen Erscheinungen der Natur, den Dampf, die Electricität und das Licht, auf fast allen Gebieten des Wissens und Schaffens zu verwerthen verstanden. Während Elektricität und Galvanismus für den gegenseitigen geistigen Verkehr der Völker dienstbar gemacht wurden, während man den Dampf zur raschen Fortbewegung und zur Förderung der Industrie benutzte, während die Lehre vom Schall in der Musik ihre praktische Verwerthung fand, waren es die Gesetze des Lichtes und die Bewegungen der Lichtwellen, welche neben den Leistungen, die sie dem bürgerlichen Leben durch die Lichtbildkunst, die Photographie, erwiesen haben, fast ausschließlich der wissenschaftlichen Forschung in praktischer und theoretischer Hinsicht zu Gute kamen.

Die angewandten Lehren vom Lichte treten besonders zu Gunsten der Fächer ein, welche die Entwickelung der Naturwissenschaften zu fördern bestimmt sind, eröffnen aber auch anderen exacten Wissenszweigen ein reiches Feld der Thätigkeit und der Vervollkommnung. Daß optische Apparate für die Resultate der Astronomie von unschätzbarem Werthe geworden sind und die Errungenschaften anatomischer und physiologischer Studien durch die mikroskopische Forschung befestigt haben, daß sie in rastloser Thätigkeit verschiedenen Zweigen der Kunst und Industrie, insbesondere der Portrait- und Landschafts-Photographie ihre bilderzeugende Kraft zur Verfügung gestellt, sind allgemein bekannte Thatsachen. Man schreitet alltäglich in der Ausbildung der genannten Fächer weiter fort.

Auch in der Criminalgerichtspflege hat man in den jüngsten Jahren versucht, die Anwendung des Lichtes durch die Photographie einzubürgern, und dies ist in den betheiligten Kreisen wohlbekannt. Daß steckbriefliche Verfolgungen von Verbrechern durch die Versendung von Photographien zu schleuniger Erledigung geführt wurden, ist den Lesern der „Gartenlaube“ vor Kurzem in einem besonderen Artikel (Nr. 29) dargelegt worden; auch die directe Anwendung der Photographie zur Darstellung von Oertlichkeiten, die irgend einen Thatbestand beweisen sollen, hat sich von bedeutendem Werthe für die Untersuchung erwiesen. Allein eine weit förderlichere Benutzung steht der Photographie in Verbindung mit dem Mikroskope noch bevor.

Sehr häufig wird dem Gerichtsarzte und dem Gerichtschemiker die Frage vorgelegt, ob dieser oder jener Flecken an der Wäsche eines Angeschuldigten von Blut herrühre, ob einzelne Härchen, welche an den Kleidungsstücken eines verdächtigen Individuums gefunden wurden, Menschen- oder Thierhaare seien, ob Flecken auf Werkzeugen, Möbeln, Thüren, Wänden und Geschirren, die augenscheinlich eine Aehnlichkeit mit Blutflecken haben, wirklich von Blut herrühren oder nicht. Der Angeschuldigte leugnet entweder Alles, oder er räumt ein, daß die Flecken an seinen Kleidern wohl Blutflecken sein könnten, behauptet aber, daß sie von Thierblut herstammen. Es ist auf [696] mikroskopischem Wege möglich, eingetrocknetes Menschenblut von Thierblut selbst nach langer Zeit zu unterscheiden. Der berühmte Gerichtsarzt Casper erzählt in seinem Werke über die gerichtlich-medicinische Leichendiagnostik einige merkwürdige hierher gehörige Fälle.

Ein Mann war aus seiner Wohnung zwangsweise exmittirt und dabei mißhandelt worden. Er gab an, in Folge dessen erkrankt zu sein; es entstand der Verdacht, daß das in der Krankheit ihm angeblich abgegangene Blut nicht Menschen-, sondern absichtlich verschlucktes unverdautes Taubenblut gewesen sei. Zwei Aerzte hatten dies bescheinigt. Auch in weiterer Instanz hatten zwei Aerzte erklärt, daß das zwischen dem 30. Januar und 3. Februar des betreffenden Jahres abgegangene Blut sich bei einer nach fast sechs Monaten von ihnen ausgeführten mikroskopischen Untersuchung als Vogelblut ergeben habe. Das requirirte k. Medicinal-Collegium hatte darüber wegen Unkenntlichkeit der fraglichen Substanz eine bestimmte Ansicht nicht mehr aussprechen können. Mitte Februar des darauffolgenden Jahres, also mehr als ein Jahr nach seinem Abgange im frischen Zustande, wurde das Blut nochmals von Sachverständigen untersucht und folgendes Gutachten erstattet: „Zur Erledigung unseres Auftrages wurde die übersandte Blutsubstanz (ganz trockenes, pulveriges Blut in einer Schachtel) unter dem Mikroskope verglichen: 1) mit frischem und mit getrocknetem Blute aus einer menschlichen Leiche; 2) mit frischem und mit getrocknetem Blute einer Taube. Die Blutkörperchen des fraglichen Blutes lassen sich, wenn hinreichend kleine Fragmente desselben mit einer Kochsalzlösung oder mit Zucker angesetzt unter das Mikroskop gebracht werden, deutlich erkennen. Sie sind nicht elliptisch und haben die Form, welche den Blutkörperchen des Menschen und der Säugethiere eigen und gemeinsam sind. Von der Größe der menschlichen abweichende Blutkörperchen haben sich darin durchaus nicht erkennen lassen. Von der runden Form einigermaßen verschiedene Blutkörperchen sind darin nur wenige enthalten und nicht mehr und nicht minder, als man dergleichen geringe Abweichungen im Blute des Menschen und mancher Säugethiere wahrnimmt.“

Aus der Differenz der betreffenden Untersuchungen folgt, wie leicht der Sachverständige subjectiven Täuschungen unterworfen ist, indem die vorgelegte Blutsubstanz nicht Taubenblut und überhaupt kein Vogelblut war, vielmehr nur Menschen- oder Säugethierblut sein konnte.

Ein weiterer interessanter Fall ist folgender:

Am 14. Januar 1857 waren zu N. im Wirthshause unter mehreren gemeinschaftlich Trinkender der Bauer S. und der Knecht W. anwesend. Letzterer sah, daß S. einen Geldbeutel mit fünfundzwanzig Thalern bei sich trug, fragte denselben, welchen Weg er nach Hause nehmen werde, und entfernte sich. Als S. in der Nacht nach Hause zurückkehrte, erhielt er plötzlich einen Schlag in’s Gesicht, der ihn besinnungslos zu Boden streckte. Als er wieder zu sich kam, fand er sich seines Geldbeutels beraubt. Der Raubes dringend verdächtig, wurde der Knecht W. eingezogen. Seine Stiefel paßten genau in die Fußspuren im Schnee. Er war schon früher wegen Diebstahls bestraft worden und trieb ungewöhnlichen Aufwand. Besonders verdächtig war ein fast handtellergroßer Blutfleck in seinem drillenen Rocke. Er erklärte, daß derselbe davon herrühre, daß er zu Weihnachten des vorangegangenen Jahres beim Schlachten einer Kuh behülflich gewesen, und diese Angabe hat sich bestätigt. Das dortige Kreisgericht fand sich bei dieser Sachlage veranlaßt, den genannten Rock an einen Sachverständigen einzusenden, welcher durch mikroskopische Untersuchung feststellen sollte, ob der Blutfleck von menschlichem oder von Thierblut herrühre. Frisches Menschen- und frisches Ochsenblut wurden vergleichsweise bei einer einhundertundachtzigmaligen Vergrößerung unter das Mikroskop gebracht und ein Unterschied auf das Entschiedenste wahrgenommen. Auch beim Mischen beider Blutarten konnte man auf’s Deutlichste die kleineren Rind- und die größeren Menschenblutkörperchen sofort von einander unterscheiden. Für den fraglichen Criminalfall jedoch wurde wegen möglicher subjectiver Täuschungen ein Urtheil nicht abgegeben.

Einen dritten Fall erzählte kürzlich Dr. Malinin in Tiflis. Gegen zwei Edelleute, Brüder aus Sura im Kaukasus, lag Verdacht einer Mordthat vor. Unter Anderem hatte man bei denselben im Stalle eine mit Blut befleckte Tafel gefunden. Die Beschuldigten betheuerten, daß es Ziegenblut und Hammelblut sei. Bei der Untersuchung dieser Flecken zeigte das Mikroskop wirklich, daß der eine Flecken aus Ziegenblut, der andere aus Hammelblut bestand – die beiden Edelleute waren gerettet.

Bringt man bei solchen Untersuchungen eine kleine Quantität von menschlichem Blute, etwa ein Tröpfchen von der Größe eines i-Punktes zwischen zwei Glasplättchen unter das Mikroskop, so löst sich diese kleine Masse bei einer etwa 250-fachen Vergrößerung für das beschauende Auge in hunderte kleiner röthlicher, an den Kanten abgerundeter, in der Mitte dellenartig eingedrückter Scheibchen von ungefähr anderthalb Millimeter scheinbarer Größe auf; diese Körperchen schwimmen in einer klaren Flüssigkeit, welche „Serum“ genannt wird; sie machen mehr als die Hälfte der ganzen Blutmasse aus und sind bei verschiedenen Thierclassen sehr verschieden, sodaß sie, je nach ihrer Form und Größe, einen Schluß auf das Thier gestatten, von welchem das untersuchte Blut herrührte. Das Blut der Säugethiere nämlich, mit Ausnahme des Kameeles und des Lamas, zeigt runde, das Blut der Vögel, Reptilien und Fische ovale Blutkörperchen. Die einzelnen Gattungen genannter Thierclassen lassen sich aus der verschiedenen Breite der Blutkörperchen erkennen, und bei einer von uns und anderen Sachverständigen angestellten vergleichenden Berechnung ergaben sich merkwürdige Verschiedenheiten, nicht nur in Bezug auf die Form, sondern auch in Betreff der Größe der einzelnen Blutbestandtheile.

Der Laie verbindet mit dem Begriffe „Blut“ nur den Eindruck einer gleichmäßigen, dunkel- oder hellrothen Flüssigkeit von klebriger Consistenz. Den Wenigsten ist es indessen bekannt, daß die eigentlichen Träger des Lebens nicht in der Blutflüssigkeit, sondern in den dieselbe zu Milliarden durchsetzenden beweglich-zusammenziehbaren Körperchen zu suchen sind.

In einem Cubikmillimeter Blut eines kräftigen Mannes finden sich ungefähr fünf Millionen rothe Blutkörperchen, in einem Cubikcentimeter 5000 Millionen und in der gesammten, ungefähr 4400 Cubikcentimeter betragenden Blutmasse eines gesunden erwachsenen Mannes ungefähr zweiundzwanzig Billionen Blutkörperchen. Die Masse eines solchen Körperchens beträgt nur 0,000000072 Cubikmillimeter. Die in einem Cubikmillimeter enthaltenen Blutkörperchen (fünf Millionen) besitzen eine Oberfläche von 640 Quadratmillimeter und die Zellen des Gesammtblutes (4400 Cubikcentimeter) eine Oberfläche von 2816 Quadratmetern. Bei Frauen finden sich ein Zehntel weniger derartige Gebilde im Blute vor, und bei erschöpfenden Krankheiten, bei der Bleichsucht, bei anhaltendem Hungern, nimmt die Zahl dieser mikroskopischen Träger des Lebens noch weit mehr ab.

Es ist nicht zu leugnen, daß bei den Untersuchungen selbst der exactesten Gelehrten die Gesichtsempfindungen, auf welchen ja einzig und allein die directe Beobachtung beruht, Täuschungen unterworfen sind. Es ist durch genannte Untersuchungen dargethan, daß auf physiologischen Anomalien (Regelwidrigkeiten) des betrachtenden Auges beruhende Fehler durchaus nicht immer dieselben sind, selbst nicht während einer einzigen Reihe von Beobachtungen. Wenn nun der menschliche Empfindungsmechanismus derartige Unvollkommenheiten zeigt, welche nicht nur mit dem Lebensalter, sondern sogar von einem Augenblicke zum andern sich ändern, von vorübergehender Störung der Verdauung, der Blutcirculation oder von nervöser Erregung abhängen, so wird besonders bei Beantwortung wissenschaftlicher Fragen, von welchen das Leben eines Menschen abhängt, die Anwendung des Lichtes und der Photographie als ein unschätzbares Förderungsmittel in der Wissenschaft betrachtet werden müssen. Ich habe in meinem größeren Werke „Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung“ durch eine große Anzahl erläuternder Abbildungen und eine populär allgemein verständliche Sprache gerade in dieser Richtung sowohl die Fachgelehrten, wie auch die Gebildeten im Volke auf die Wichtigkeit obiger Momente hinzuweisen versucht.

Um nun den mitgetheilten, besonders für die Gerichtspflege so sehr wichtigen Thatsachen einen reellen Boden zu verleihen, ist es wichtig, dem Richter und den Geschworenen neben der gutachtlichen Schilderung das objective Bild der Untersuchung des Blutes vorzulegen. Nach der Natur durch den Einblick in [697] das Mikroskop gezeichneten Bilder können hier durchaus nicht maßgebend sein. Selbst der trefflichste Zeichner wird subjective Anschauungen in die Objectivität des zu schaffenden Bildes hineintragen; die Darstellung einer angeblich absolut richtigen Erkenntniß von den Gegenständen, welche die reale Beobachtung der Natur ihm vorführt, kann angezweifelt werden.


Fig. 1. Das photographische Mikroskop.


Als Ersatz der Zeichenkunst bietet die Photographie insbesondere dem Forscher auf dem Gebiete der Mikroskopie ein großes Feld der Thätigkeit, indem die empfindliche Platte nicht nur die Einzelheiten der durch den Tubus des Mikroskopes betrachteten Bilder in bedeutender Vergrößerung wiedergiebt, sondern sogar empfindlicher als unser Auge ist, die kleinsten Formverschiedenheiten auf einmal in sich aufnimmt, welche wir mit den besten Instrumenten bei directer Beobachtung nicht in gleicher Zeit zu erkennen vermögen. Besonders zur Beseitigung falscher Auffassungen in Betreff gewonnener Bilder bietet die Photographie dem Forscher eine sichere Handhabe, und gerade in dieser Hinsicht stand der Arzt, wenn er selbst des Stiftes nicht mächtig war, stets in Abhängigkeit von einer helfenden Hand, so daß zwei Anschauungen sich geltend machen konnten, die rein mechanisch schaffende des Zeichners und die denkend erklärende des Forschers. Von dem mikroskopischen Nachweis, ob ein Blutfleck von Menschen- oder Thierblut herrühre, kann einerseits die Klarlegung der Nichtschuld, andererseits die Enthüllung des Verbrechens einzig und allein abhängen. Die gerichtliche Praxis hat wegen der möglichen subjectiven Täuschungen bis jetzt die Hülfe des Mikroskopes bei Criminalfällen nicht positiv anerkannt. Was man aber mit dem Mikroskop sehen kann, das ist auch, direct nach der Natur vergrößert, photographisch darzustellen. Man hat zu diesem Zwecke nur nöthig, an Stelle des besichtigenden Auges, welches eine natürliche Camera obscura ist, eine photographische Miniaturcamera zu setzen.


Fig. 2. Menschenblut. 350 Mal vergrößert.
Nach einer Mikrophotographie.
Die runden Körperchen sind auf der Fläche, die länglichen Körperchen auf der Seite liegende Blutscheiben.


Die Netzhaut des Auges wird alsdann durch die chemisch präparirte lichtempfindliche Platte, welche das vergrößerte Bild festhält, ersetzt. Die durch Lichteindrücke gewonnenen Untersuchungsresultate können nunmehr festgehalten und die erhaltenen Bilder zur differentiellen Beurtheilung verschiedenartigen Blutes dauernd bewahrt werden. Derartige Mikrophotographien kann man auf eine höchst einfache Methode mit jedem Mikroskope darstellen.

In Fig. 1 haben wir ein derartiges mikrophotographisches Instrument abgebildet. a b k l ist das Mikroskop, h die demselben aufgesetzte Camera obscura und g f d e die Vorrichtung zum Photographiren. Legen wir nun auf den Tisch k b des Mikroskops ein flaches Gläschen, auf welchem sich eine Spur Blut befindet, und lassen wir durch Vermittelung des leicht beweglichen Spiegels a einen Sonnenstrahl von unten her auf dieses Gläschen fallen, so wird das Blut genügend beleuchtet sein, um ein vergrößertes Bild seiner Bestandtheile durch die dreihundertfünfzigmal vergrößernde optische Vorrichtung auf einer mattgeschliffenen Glasscheibe erkennen zu lassen, mit welcher man das kugelförmige Rohr h abschließt. Nun wird an der feinen Schraube, der sogenannten Mikrometerschraube l hin und her gedreht, bis das Bild der mikroskopischen Blutbestandtheile recht scharf begrenzt und markirt auf der in dem Rahmen e d befindlichen Scheibe erscheint. Die Schraube ist so eingerichtet, daß sie das Rohr des Mikroskops um ein Minimum nach Bedarf hebt oder senkt. Nachdem nun das Bild der Blutelemente genau eingestellt ist, verschiebt man die mattgeschliffene Scheibe und ersetzt dieselbe durch eine in einem mit ihr verbundenen flachen Kästchen, der sogenannten Cassette g f, ruhenden, chemisch präparirten, lichtempfindlichen Glasplatte.

Die photographische Aufnahme geschieht, indem man den Schieber j, welcher das photographische Kästchen nach unten verschließt, aufzieht und die Lichtwirkung beginnen läßt. Nach einigen Secunden schon ist ein vergrößertes Bild in den feinsten Einzelheiten entstanden, welches nun nach den gewöhnlichen Regeln der Photographie vollendet wird. Kein Zeichner ist im Stande, in so exacter Naturtreue vergrößerte Bilder mikroskopischer Objecte darzustellen, wie wir solche, als zu unserem Thema gehörig, in Fig. 2 und 3 nach mikrophotographischen Copien wiedergegeben haben. Fig. 2 zeigt die Bestandtheile des menschlichen Blutes bei dreihundertfünfzigfacher linearer Vergrößerung, Fig. 3 die Blutkörperchen einer Taube, mit derselben Linse photographisch aufgenommen und durch den Holzschnitt wiedergegeben.


Fig. 3. Taubenblut.
350 Mal vergrößert.
Nach einer Mikrophotographie.


Wird man nun in einer zweifelhaften Criminalsache, bei welcher durch abweichende Anschauung zweier Sachverständigen die Frage „ob Thier- oder Menschenblut“ unerledigt bliebe, zwei derartige Naturbilder des Blutes dem Richter zur Vergleichung [698] vorlegen können, so wird dadurch den Verhandlungen sicher eine sehr feste Grundlage geboten. Nimmt man nun noch die chemischen Blutproben hinzu, so kann man eine bisher nicht vorhanden gewesene Sicherheit für die bezüglichen Urtheile erwarten. Der Unschuldige wird eher entlastet, der Mörder um so sicherer überführt und mit Hülfe der raschen Wirkungen des Lichtstrahls eine unantastbare Klarheit und Erkenntniß in die Nacht des Verbrechens entsendet werden können.




Blätter und Blüthen.

Ein rechnender und Whist spielender Automat. Der Kempelen’sche Schachspieler, welcher gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ganz Europa in Erstaunen setzte und eine förmliche Literatur, sogar ein Drama hervorgerufen hat, scheint einen nicht unwürdigen Nachfolger in einem Automaten erhalten zu haben, den die amerikanischen Ingenieure Clarke und Maskeline verfertigt und bereits in den Hauptstädten Amerikas und Englands vorgeführt haben. Da Herr von Kempelen seiner Zeit zugab, daß bei seinem die meisten Partien gewinnenden hölzernen Türken von einer schachkundigen Person ein äußerer Einfluß auf das innere Getriebe geübt werde, so hat man angenommen, daß er damit nur den gegründeteren Verdacht ablenken wollte, nach welchem ein kleiner Gehülfe in der Maschine verborgen gewesen wäre, sodaß die Hauptkunst darin bestanden hätte, daß dieser kleine Kerl, während die Thüren und Schübe nacheinander geöffnet wurden, lautlos aus dem einen in das andere Fach zu schlüpfen wußte. Ein ähnlicher grober Betrug ist bei der neuen, „der Denker (Psycho)“ genannten Maschine nicht annehmbar, denn der rechnende und Whist spielende Türke sitzt mit übergeschlagenen Beinen auf einem nur kleinen, wie er selbst mit Räderwerk erfüllten würfelförmigen Kasten und hat nicht, wie der Schachspieler, eine geräumige Kommode, sondern nur ein unverdecktes Tischchen neben sich, auf dessen Platte vor seiner rechten Hand die dreizehn Whistkarten in einem Viertelskreise aufgesteckt werden, während sich im Bereiche der linken ein Zahlenkasten befindet. Der Türke ergreift die auszuspielende Karte zwischen den Fingern, hält sie den Mitspielern hin, worauf sie ihm aus der Hand genommen wird, und zeigt in ähnlicher Weise auf die auf Täfelchen gravirten Ziffern, welche die Auflösungen der ihm aufgegebenen Multiplications- und Divisionsexempel bilden. Man hat bekanntlich Rechenmaschinen verfertigt, die noch ganz andere Aufgaben lösen, als diese, die aber trotzalledem nicht im Stande sind, wie dieser Türke mündlich gestellte Aufgaben zu lösen. Ebenso wenig kann selbstverständlich einer Maschine die Ueberlegung beigebracht werden, die beim Whistspiele erforderlich ist.

Offenbar handelt es sich also auch hierbei um eine äußere Direction des Getriebes, wahrscheinlich ähnlich derjenigen der gelehrten, rechnenden, buchstabirenden und Karten spielenden Hunde. Wie letztere, wenn sie langsam mit der Schnauze über die Ziffern, Buchstaben oder Karten hinstreichen, von ihrem Director bei der zu wählenden ein Zeichen zum Anhalten empfangen, so auch die Maschine bei der regelmäßigen zur rechten Zeit ausgelösten Bewegung der Hände über die Karten und Zahlzeichen. Auf welchen Schleichwegen dieser nun das Zeichen mitgetheilt wird, das ist eben das Geheimniß der Erfinder, und sie haben die Spuren so schlau verborgen, daß sie in alten Zeiten unfehlbar als Zauberer verbrannt worden wären. Denn erstens stellen sie die Maschine in jedes beliebige Zimmer auf einen Teppich, und der Kasten, auf dem die Figur sitzt, wird zweitens noch auf einen durchsichtigen Glasuntersatz gestellt, um zu zeigen, daß keinerlei mechanische Einwirkung vom Fußboden her stattfinden kann. Herr von Kempelen suchte den Glauben zu erwecken, daß er durch starke Magnete von außen auf das Getriebe seiner Maschine einwirke, und dies wäre am Ende nicht unausführbar, wenn sich der Director stets in der Nähe der Figur aufhalten könnte. Allein seine Nachfolger scheinen der Maschine mehr freie Hand zu lassen und nähern sich ihr absichtlich nur selten. Professor Heeren in Hannover hat daran erinnert, daß wir darum immer noch nicht an eine Denkmaschine oder an Zauberei zu glauben brauchen und daß man beispielsweise trotz des gläsernen Untersatzes recht wohl elektrische Ströme in den Apparat senden könnte, wenn dieser Untersatz etwa zwei Canäle mit wasserklarer und darum unsichtbarer, Electricität leitender Flüssigkeit verberge. Und dann wäre weiter nichts mehr erforderlich, als daß auch der Teppich zwei eingewirkte Metallschnüre enthalte, deren Enden beiderseits nahe beieinander hervortreten, so daß die Leitung einerseits durch die beiden Canäle des Glasuntersatzes und andererseits durch eine metallbedeckte Stiefelsohle bewirkt werden könnte. Eine unmerkliche Bewegung des Fußes seitens des aus der Ferne das Spiel überschauenden Directors würde genügen, den elektrischen Strom auf kürzere oder längere Zeit zu schließen und dadurch den Automaten jede beliebige Karte ausspielen und jede Zahl bezeichnen zu lassen. Natürlich soll damit nicht gesagt sein, daß dies durchaus der Schlüssel zu dem Geheimnisse sein müsse, sondern nur angedeutet werden, welche Mittel den Professoren der sogenannten höheren Physik durch deren Fortschritte zur Verfügung stehen.


Vier in einer Woche! Der Tod feiert ein Erntejahr unter den Veteranen der Ritter des deutschen Geistes; jetzt hat er uns vier der Besten der Nation im Verlaufe einer Woche entführt: drei Siebenziger und einen Sechsundsechsziger. Der Aelteste ist Ernst von Bandel. Wir haben ihn an seinem höchsten Ehrentage, einem Siegesfeste siebenunddreißigjährigen Kampfes gegen die Hemmnisse seiner Arbeit, den Glücklichsten der Alten preisen können, aber das Leben in diesem Glücke hat er kaum über ein Jahr ertragen. Mit dem sechszehnten August 1875 war seine Sendung erfüllt; er brauchte nicht, wie Anastasius Grün, im Hinblick auf ein unvollendetes Werk seinen Tod zu beklagen; er konnte noch im Sterben glücklich sein.

Neben dem Sechsundsiebenzigjährigen liegt ein Dreiundsiebenzigjähriger auf der Bahre der Todeswoche: Franz Ziegler, der Streitgenosse eines Waldeck, Taddel, Twesten und Hoverbeck, der unerschütterliche „Demokrat aus Patriotismus“, ein Mann von unantastbarer Reinheit als Bürger, Beamter, Politiker und Dichter. „In Franz Ziegler“ – so ruft F. Mehring in der „Magdeburger Zeitung“ ihm nach, „ist der letzte Repräsentant jener altpreußischen Demokratie dahingegegangen, welche ihre Traditionen nicht aus den Ideen von 1789, sondern aus dem Allgemeinen Landrechte, aus der Stein’schen Gesetzgebung schöpfte, welche unfähig war, einen Gedanken zu denken, der nicht organisch aus der historischen Entwickelung des preußischen Staats emporwuchs. Ein abstractes Freiheitsideal fand in der Brust dieser Männer kein Echo; ihre Liebe zur Freiheit war die schöne Blüthe patriotischer Einsicht. Nur weil ihr Staat, so wie er nun einmal war, einzig durch freie Entfesselung aller Volkskräfte gedeihen und wachsen konnte, verlangten sie diese freie Entfesselung, nur um Patrioten zu bleiben, wurden sie Demokraten.“ – Als Volksbote in Frankfurt und Berlin hat Ziegler drei Worte gesprochen, die in der Geschichte fortleben. Mitten in das Toben der Paulskirche gegen stehende Heere fuhr seine Mahnung: „Die Disciplin ist die Mutter des Siegs.“ – Als Tausende 1866 in Parteihader schwankten, rief er dem preußischen Volke zu: „Das Vaterland ist in Gefahr; das Herz der Demokratie ist stets da, wo die Fahnen des Landes wehen.“ Und als noch Alles denselben Gedanken nur flüsterte, sprach er ihn laut im Abgeordnetenhause aus: „Der Minister von Mühler muß fort von seinem Platze.“ Das sind drei Thaten zu ihrer Zeit gewesen. Die „Gartenlaube“ verdankt ihm die tiefergreifende Erzählung „Der Bettler vom Capitol“ im Jahrg. 1864.

Der jüngste der heimgegangenen drei Siebziger ist Adolf Stahr. Hat er dem Tageskampfleben nicht unmittelbar so nahe gestanden, wie Ziegler, war von Haus aus die Studirstube sein liebster Aufenthalt und geschichtliches Forschen und kritisches Prüfen seine liebste Beschäftigung, so trat er doch später durch seine Reiseschilderungen und dadurch, daß er in anmuthigen Darstellungen den Einblick in das Leben und Treiben geschichtlicher und literarischer Größen erschloß, dem Volke näher und ist auf diesen Wegen ihm oft ein freundlicher Führer gewesen.

Als der jüngste der vier todten Veteranen sank ein Held mit der Pritsche in’s Grab: Adolf Glaßbrenner, das echte Berliner Kind, dessen Witz mächtig genug war, alle Menschen zum Lachen und die Polizei zur Verzweiflung zu bringen. Durch ihn zuerst wurden von Berlin aus Humor und Satire wieder eine Macht im öffentlichen Leben. Was zur Censurzeit Niemand im Ernst zu sagen wagte, das fand in der Form des Scherzes den Weg in’s Volk. Die kleinen Hefte „Berlin wie es ist und – trinkt“ gingen von Hand zu Hand durch alle Schichten des Volkes und säeten Gedanken aus, die später aufgingen und Früchte trugen. Er hatte bereits auf diese Weise politisch Außerordentliches geleistet,[4] als das Jahr 1848 ihn, wie Tausende, verführte, das so keck Gelehrte nun praktisch auszuführen. Als der Sturm vorüber war, kehrte er, der die Fahne seines Witzes gen Mecklenburg getragen hatte, nach Berlin zurück und lebte und wirkte dort als einer der beliebtesten Menschen und Schriftsteller, bis endlich dem Tod auch nach diesem frohen Gesellen gelüstete. So stand in dem sechsundsechszigjährigen Körper das gute lustige Herz still. Die Tausende, die er erfreut, werden dankbar um ihn trauern.


Ein Schauspieler-Asyl. Der berühmte und reiche amerikanische Tragöde Edwin Forrest hat eine Heimath für alte und hülflose Schauspieler gegründet. Das fragliche Gebäude ist höchst malerisch auf dem Rücken eines schönbewaldeten Hügels, etwa eine halbe englische Meile von dem Landstädtchen Holmesburg (neun und eine halbe Meile von Philadelphia) im Staate Pennsylvanien belegen. Das zwar etwas altmodisch aussehende, drei Stockwerk haltende Gebäude gewährt von seinen breiten Säulenportiken eine Aussicht von überraschendster Schönheit. Das Innere dieser Schauspielerheimath gewährt gleichermaßen Ueberraschendes. Der breite Hallenweg, welcher den ersten Stock theilt, ist in eine vollkommene Kunstgalerie umgeschaffen, die werthvolle Gemälde, Statuen, Portraits ausgezeichneter Männer, Schauspieler etc. enthält. Auch in den Sprechzimmern und der Bibliothek zieren kostbare Kunstwerke die Wände. Die Bibliothek enthält gegen achttausend Bände, auf’s Sorgfältigste in zierlichen Büchergestellen arrangirt. Die Schlafzimmer sind bequem und einladend, obgleich sie mit seltsam aussehenden alterthümlichen Bettstellen, Bureaus und Toilettentischen möblirt sind, von denen manches Stück bereits das ehrwürdige Alter von hundert Jahren erreicht hat. Ueberhaupt ist die ganze wohlthätige Anstalt auf’s Beste und Trefflichste eingerichtet. Sie muß als ein originelles Institut der Menschenliebe bezeichnet werden.
D.

Theodor Kirchhoff, unser verehrter Mitarbeiter in San Francisco, hat soeben den zweiten Band seiner „Reisebilder und Skizzen aus Amerika“ erscheinen lassen. Was bereits dem ersten Bande nachgerühmt wurde: die feine Beobachtung, die äußerst glückliche Gabe der Schilderung, eine überaus gefällige und geistreiche Schreibweise, vor Allem aber die wahrhaft deutsche Gesinnung, die alle einzelnen Schilderungen durchzieht, dieselben Vorzüge zeichnen auch den zweiten Band aus, der nach allen Seiten hin wieder Belehrung und Unterhaltung bietet. Das Culturleben Amerikas hat in Kirchhoff einen Schilderer gefunden, wie wir augenblicklich keinen zweiten kennen.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Aus von Mausebach’s Sammlung, mitgetheilt in Hoffmann’ von Fallersleben „Findlingen“, S. 180.
  2. Die Feldmusik des Leibregiments bestand aus Mohren.
  3. Allerdings nicht direct; denn das Königsregiment wurde bei der Thronbesteigung Friedrich’s des Zweiten aufgelöst und aus dem bisherigen Regimente „Kronprinz“ eine neue Garde gebildet. Auch diese erfuhr unter den nachfolgenden Königen noch manche Umbildungen. Nach dem unglücklichen Kriege von 1806 und 1807 wurde aus den Resten der früheren Garden ein „Regiment Garde zu Fuß (das jetzige „Erste Garde-Regiment zu Fuß“) errichtet.
  4. Vorlage: „gegeleistet“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schneid r