Die Gartenlaube (1878)/Heft 47
„O miserocordia!“ rief Sanna und schlug die Hände mit einer leidenschaftlichen Geberde des Zornes zusammen; „das hab’ ich davon, daß ich selbst hergelaufen bin; die Frau Baronin hat Recht gehabt, wenn sie es stets verbot, daß man sich mit dem plebaglio, dem miserabile einlassen sollte.“
„Was Eure Baronin sagt, ist mir ganz gleichgültig,“ erklärte die Muhme, „und Eure italienischen Schimpfwörter könnt Ihr sparen; die verstehe ich nicht, aber Eins muß ich Euch doch noch sagen, Jungfer Sanna, da es der Zufall will, daß wir zusammen kommen – ich habe mich lange darnach gesehnt, es zu thun: Ihr und Eure Baronin, Ihr tragt eine Sünde auf dem Gewissen, die himmelschreiend ist. Vielleicht habt Ihr gemerkt, es weiß Niemand darum, vielleicht habt Ihr auch richtig erkannt, daß es Eine giebt, die doch den Hergang kennt und weiß, wie es gekommen ist, daß ein junges blühendes Leben in’s Grab sinken mußte, ich sag’s Euch aber, und Ihr könnt’s der gnädigen Frau dort oben bestellen: Gott sieht eine Zeit lang durch die Finger, aber nicht ewig, und er läßt sich nicht spotten, und ich – ich, die alte Muhme aus der Papiermühle – ich bete noch jeden Abend zum lieben Gott, daß er mich einen Tag erleben läßt, wo ich es Eurer stolzen Frau in’s Gesicht sagen kann, daß sie eine –“
„Cielo!“ kreischte die Italienerin und focht mit den Händen in der Luft, „welch eine verrückte Person! Ich wundere mich, daß Sie nicht sagen, wir haben das hochmüthige Ding gemordet.“
„Das könnte ich mit vollem Recht behaupten,“ beharrte die Muhme, „und wenn Keins hochmüthiger war als sie, so ständ’s wohl in der Welt.“
„Das soll ich mir sagen lassen?“ rief dunkelroth die alte Sanna, „wollen Sie vielleicht nicht auch behaupten, daß wir ihr Gift eingegeben oder sie erdrosselt haben? Wenn die Jungfer Lisett starb, so ist sie selbst schuld daran gewesen; was hat sie sich einzubilden, der Herr Baron würde sie heirathen! Was fängt sie Liebschaften an, die über ihren Stand gehen! So ein Herr hat hundert Augen und sieht mehr als ein schönes Mädchen.“
„So?“ rief jetzt die alte Frau und setzte hastig das Präsentirbrett mit den Tassen, welches sie eben hochgenommen, wieder hin – „wollt Ihr den Baron Fritz auch noch verleumden? Der ist besser gewesen als die ganze Sippschaft da droben“ – sie deutete nach dem Schlosse – „zusammengenommen, und wenn er ein leichtsinniger Bursch ward, so ist’s abermals Eure Schuld. Was nun das Einbilden anlangt, so hat sich die selige Lisett gar nichts eingebildet; sie ist des Barons Fritz ehrliche Braut gewesen und wäre, so wahr ich hier stehe, seine Frau geworden, wenn nicht falsche, elende Menschen, noch schlimmer als Räuber und Mörder, sie auseinander gerissen hätten.“
Sanna lachte rauh und höhnisch.
„Meinen Sie wirklich? Und ich sage: so wahr sie Lumpenmüllers Lisett war, so gewiß ist für dergleichen Art kein Platz dort oben.“
„Hoffahrt steckt immer den Schwanz über’s Nest,“ sagte die Muhme verächtlich, „unsere Art ist Gott sei Dank zu gut und zu brav und paßt nicht in solche Sündenwirthschaft, wie sie dazumal droben war. Die Derenberg’s waren immer Leute von altem Schrot und Korn; denen saß der Adel nicht nur im Geblüte, sondern auch im Gemüthe, und so war es recht, aber seitdem – na, Ihr wißt, was ich meine – im Grabe hätten sie sich umgedreht, alle mit einander in dem alten Erbgewölbe, hätten sie gewußt, wie weit es noch kommen thät mit ihrer stolzen Sippe.“
„Muhme! Muhme!“ rief die ängstliche Stimme der Hausfrau aus dem Fenster.
„Gleich, Minnachen!“ erwiderte sie und nahm das Präsentirbrett auf; „ich komme schon. Du weißt, wir Alten reden gern von altem Käs, besonders wenn man sich so lange nicht gesehen hat, wie die Jungfer Sanna und ich,“ und dann schritt sie über die Schwelle, ohne sich noch einmal umzuwenden.
„Aber Muhme, um Gott!“ sagte vorwurfsvoll die Frau Erving, als die alte Frau mit gerötetem Gesicht in’s Zimmer trat; „was machst Du für Geschichten! Ich hab’ mich gefürchtet, so böse sah die große finstere Person aus –“
„Ich nicht, Minnachen, ich nicht,“ erwiderte die alte Frau triumphirend, „es war eine Wohlthat für mich, daß ich einmal sprechen konnte. Jahrelang hab’ ich darauf gewartet; mitunter glaubt’ ich schon, ich müsse sterben, ohne daß ich es ihnen in’s Gesicht gesagt, was sie für eine große Sünde gethan haben, und nun heut – o, ich bin noch viel zu sanft gewesen, aber hätte ich das falsche Weibsbild nicht unter Gottes freiem Himmel gehabt, sondern in meiner Stube, da hättest Du hören sollen, Minnachen –“
„Muhme! Muhme! ‚Mein ist die Rache!‘ Was würde der Herr Pastor sagen wenn er Dich jetzt sähe!“
„Ich will mich nicht rächen,“ sagte die alte Frau leise, „denn auf Rach’ folgt allemal ein Ach! Aber glaube mir, wie [770] ich sie so dastehen sah, das Frauenzimmer, das zu dem Unglück mitgeholfen hat, da war mir’s gerade, als gösse mir Jemand siedend Oel in’s Herz –“ sie brach ab, denn eben trat Lieschen in’s Zimmer.
„Die Gräfin Stontheim ist richtig gestorben,“ erzählte diese, „Nelly’s Mutter sagte es, als sie uns im Park begegnete. Army hat geschrieben, sie würde schon morgen beigesetzt, und nach dem Begräbniß will er seine Braut wieder hierher bringen; die Hochzeit soll gar nicht verschoben werden, es bleibt alles beim Alten. Sag ’mal, Muhme, war die Sanna, die ich erst am Waldweg traf, bis jetzt bei Dir?“
„Bis jetzt, mein Herzel; es war noch ein lustiges Gespräch, das wir zusammen hatten.“
Das junge Mädchen blickte fragend zu ihr hinüber und setzte sich dann an’s Fenster. Die Muhme und die Mutter verließen das Zimmer. Es war so still um das junge Mädchen mit der heimlichen hoffnungslosen Liebe im Herzen. Von den hohen Linden draußen schwebten langsam die gelben Blätter herunter, verblichenes, erstorbenes Frühlingsglück; ein Paar kleine Vögel flatterten zirpend von Ast zu Ast.
„Wenn er gestorben wäre?“ flüsterte sie halblaut. „Aber nein – nein – es ist besser so, lieber Gott, laß’ ihn noch glücklich werden – um seiner Mutter und um Nelly’s willen!“ – klang es zögernd nach. – –
Ein paar Tage waren vergangen; Lieschen hatte fleißig der Muhme zur Seite gestanden in der Wirthschaft, und häufiger als sonst in der letzten Zeit war auch ihr altes helles Lachen wieder erklungen. „Lach’ nur, mein Herzel!“ sagte die alte Frau einmal in vollem Glück darüber, „den Lacher hat Gott lieb.“ Sie wird wieder fröhlich, sie hat’s überwunden, dachte sie; das Kind war ja auch noch so jung, und das Leben lag vor ihm so weit und glückverheißend. Und dann trat unwillkürlich der hübsche, blonde, junge Mann vor ihre Seele, der so wenig Wesens von sich machte und doch mit seiner verständig freundlichen Art mehr und mehr Boden in der Lumpenmühle gewonnen hatte. „Es wäre ein Staatspärchen!“ flüsterte sie halblaut.
Heute früh hatte sie ihm eine Weile nachgeschaut, wie er mit dem Hausherrn in aller Frühe, das Gewehr über der Schulter, auf die Jagd gegangen war, und dabei gar wohl bemerkt, wie ein rascher Blick zurückzog zu den Fenstern, hinter denen das Lieschen noch fest schlummerte, und gedacht: „Wenn sie ihn jetzt so sehen könnte, schmucker kann Keiner sein.“ Aber Lieschen hatte kein Ohr gehabt, als sie ihn nachher gelobt, und nur lachend die Rede immer wieder auf etwas Anderes gebracht. Nun war es Mittag geworden; die Suppe dampfte schon auf dem Tische der Eßstube, und draußen sprang Lieschen dem zurückkehrenden Vater entgegen, ohne daran zu denken, wer mit ihm kam.
„Guten Morgen, Väterchen!“ rief sie fröhlich, „was bringst Du mit?“ Da wurde sie erst gewahr, daß hinter ihm Herr Selldorf stand, der den grünen Hut von dem lockigen Haar genommen, die Rechte in die des Vaters gelegt hatte und ihn mit einem flehenden Blick ansah.
„Bis auf heute Abend denn, lieber Selldorf,“ hörte sie den Vater sprechen, dann noch ein Händeschütteln, und der junge Mann war verschwunden, ohne sie angesehen zu haben. Der stattliche Vater begrüßte sein Töchterchen wie zerstreut und warf die Jagdtasche ab. „Wo ist die Mutter? Ich muß mit der Mutter reden,“ sagte er eilig.
„Aber Friedrich, die Suppe!“ rief die Muhme aus der Küche.
„Ja so – dann nachher!“ meinte er. Bei Tische aber da fuhr er oft mit der Hand über das Gesicht, und dann lächelte er, und plötzlich wurde er wieder ernst. Einmal sah er sein Lieschen so forschend und dabei so traurig an, daß diese die Gabel weglegte und fragte:
„Vater, was ist Dir nur passirt?“ und „Erving, hast Du etwas Unangenehmes gehabt?“ fragte auch die Hausfrau.
„Ei bewahre!“ erwiderte er lustig und zwang sich zur Unbefangenheit. Gleich nach rasch beendeter Mahlzeit folgte er seiner Frau in das Wohnzimmer. Lieschen spazierte im Garten auf und ab und schaute mitunter bange nach den Fenstern der Wohnstube; endlich ging sie wieder in’s Haus, aber da schritt eben die Muhme in die Stube und winkte ihr draußen zu bleiben.
Sie setzte sich voll banger Ahnungen auf die Steinbank unter dem Fenster. Drinnen wurde eifrig gesprochen, und endlich hörte sie die Stimme der Muhme: „Nein, Friedrich, das Eine mußt Du mir versprechen, wenn sie nicht will, dann redet ihr nicht zu, denn gezwungene Eh’ ist ein ewiges Weh!“
„Selbstverständlich!“ erwiderte der Vater, „aber man kann ihr doch alle Vortheile und Nachtheile vorstellen.“
Das junge Mädchen dort auf der alten Steinbank war plötzlich bleich geworden wie der Tod. Mit einem Schlage war ihr eine Klarheit über das gekommen, was drinnen verhandelt wurde; hatte sie denn in einem Traume gelebt? Ihre Eltern, ihr lieber guter Vater – könnten sie es fertig bringen, sie von sich zu geben? Sie sollte fort müssen von der alten lieben Mühle mit einem fremden Manne? Fort von der Mutter, der Muhme und Allem, was ihr lieb und vertraut war? Sie sollte nicht mehr in ihrem Stübchen wohnen, nicht mehr die Thürme des alten Schlosses da drüben sehen? Sie preßte die Hände gegen die Brust, und es war ihr, als hörte das Herz auf zu schlagen bei dieser Vorstellung.
„Lieschen, komm einmal herein!“ tönte jetzt die Stimme ihres Vaters. Mechanisch erhob sie sich und folgte der Weisung.
Da stand sie nun in der Wohnstube; auf dem Sopha saß ihre Mutter, am Fenster die Muhme, und Beide schauten sie so besonders – so innig an, ja, es war, als ob die Mutter geweint habe.
Die alte Frau am Fenster erhob sich und schritt hinaus; sie wollte nicht stören bei dem, was jetzt die Eltern dem Kinde zu sagen hatten; sie ging still in ihre Stube und nahm die Bibel von ihrer Kommode; dann setzte sie sich auf den alten Lehnstuhl und faltete die Hände über dem Buche. „Gott weiß allein was Recht ist,“ flüsterte sie; „er mag ihr Herz lenken, und so wird es wohl werden.“ Draußen lagen die Strahlen der Herbstsonne auf dem bunten Asternflor, und lange weiße Fäden hatten sich wie silberne Schleier um die halbentlaubten Stachelbeersträucher gehängt. „Wenn es wieder Frühjahr wird, wie mag es dann hier im Hause stehn?“ Sie dachte an ihren Liebling, der da drüben so plötzlich vor die wichtigste Entscheidung im Leben gestellt worden – wie wird Lieschen die Eröffnung aufnehmen? Ob sie wirklich nicht bemerkt hatte, wie lieb sie dem jungen Manne geworden? Und ob sie ihn nicht ein klein wenig – „Ach nein!“ Die alte Frau schüttelte den Kopf, sie wußte, wie es in dem jungen Herzen aussah – „Nein, sie liebt ihn nicht, und wenn sie ihm dennoch ihr Jawort gäbe, sich zwänge, weil es die Eltern wünschten – würde sie dann glücklich werden? Ach, gezwungene Lieb’ und gemalte Wangen, die dauern nicht. Das arme Kind!“ flüsterte sie vor sich hin. „Wenn sie ihr nur nicht so zureden! Minnachen, die thut’s nicht, aber der Friedrich, der Friedrich, der hat einen Narren an dem Jungen gefressen.“
Sie schlug das alte Buch auf und blickte auf die vergilbten Blätter, aber sie vermochte nicht zu lesen; die Buchstaben flimmerten ihr vor den Augen, und die Hände zitterten ihr, – und nun faßte es leise auf die Thürklinke – wird jetzt das Gesicht einer fröhlichen jungen Braut hereinschauen, mit dunkler Gluth übergossen? Die alte Frau hielt dea Athem an; da öffnete sich langsam die Thür, und das junge Mädchen stand auf der Schwelle; war sie denn gewachsen seit vorhin? Sie trat ruhig herein; auf dem bleichen Gesicht lag tiefer Ernst.
„Muhme,“ sagte sie leise, „ich habe nein gesagt.“
Die Muhme antwortete nicht; sie nickte nur wie zustimmend mit dem Kopfe. „Du bist ihm nicht gut, Kind?“ fragte sie dann. „Sieh, es sind eben eigene Sachen um solche Heirathsgeschichten.“
„Ich kann Keinen lieb haben, Muhme,“ tönte es nah an dem Ohr der alten Frau; zwei weiche Arme schlangen sich um ihren Hals, und ein blasses Gesicht verbarg sich an ihrer Brust. So lag sie auf den Knieen neben der Alten, und diese strich mit der Hand über die braunen Flechten.
„Gott segne Dich, mein Liesel!“ flüsterte sie, „Du hast das Rechte gethan.“ – –
Drüben im Wohnzimmer schritt der Hausherr aufgeregt hin und wieder. Frau Erving hatte roth geweinte Augen und bat:
„Wenn sie ihn aber doch nicht lieb hat, Erving!“
„Minna, es ist gar zu schwer mit einer Frau über solchen Punkt vernünftig zu sprechen,“ sagte er vor ihr stehen bleibend, „sieh Dir den Jungen an! Er ist hübsch, ist ehrenwerth; er hat sie lieb, ist aus guter Familie; sein Vater schreibt mir, [771] sie wollen das Mädel auf Händen tragen – ist das nicht Alles, was sie überhaupt verlangen kann? Aber es steckt etwas dahinter – das lasse ich mir nicht ausreden.“
„Aber ich bitte Dich, Erving, was sollte das wohl sein?“
„Und dann, ich kenne das Mädchen nicht wieder – sie, die sonst so schmiegsam und biegsam ist, wie sie dastand mit dem blassen Gesicht und ‚Nein‘ sagte, weiter nichts als ‚Nein!‘ Gott steh’ mir bei, wer hätte das gedacht?“
„Sie ist ja Deine Tochter, Alterchen,“ bat Frau Erving aufstehend und zu ihrem Gatten tretend. „Du weißt doch,“ fuhr sie mit einem Versuch zu lächeln fort, „wie Dein Vater gewünscht hatte, Du solltest die Agnes heirathen, da hast Du ebenfalls ‚Nein‘ gesagt und weiter nichts.“
„Na, das war denn doch etwas Anderes, damals kannte ich Dich schon und hatte Dich lieb, aber hier – sie hat ja kaum die Nase aus dem Nest gesteckt. Gott weiß, so sauer ist mir bald nichts vorgekommen, als dem Jungen heut Abend solchen Bescheid zu bringen.“
Er blieb am Fenster stehen und blickte unmuthig durch die Scheiben. Er wendete sich auch nicht um, als jetzt leise die Thür aufging und die Muhme eintrat.
Sie blieb einen Augenblick stehen. „Nu, nu, Minnachen,“ sagte sie dann, „Du weinst ja – es ist doch Keins gestorben und solche Eile hat’s doch auch nicht mit dem Freien! Es giebt ja nicht eine Hand voll, es giebt ein ganzes Land voll Männer – der Rechte kommt schon noch –“
Der Müller am Fenster machte eine heftige Bewegung, als wollte er scharf antworten; dann sagte er ruhig: „Du redest, wie Du es verstehst, Muhme.“
„Ei, ich sollte meinen, in solchen Dingen bin ich auch gerade nicht auf den Kopf gefallen, und hab’ ein Stückel Leben mehr gesehen wie Du. Die Liesel ist siebenzehn Jahr gewesen – das ist doch kaum aus den Kinderschuhen heraus; es werden noch hundert Freier nach der Mühle kommen; was soll sie gleich den Ersten nehmen? Er ist ein schmucker Bursche, der Selldorf, ja, aber der Geschmack ist halt verschieden, und Lieb’ ohne Gegenlieb’ ist ’ne Frage ohne Antwort und giebt ein Unglück. Und nun laß gut sein, Friedrich, und mach ihr kein böses Gesicht, sie ist ja Dein einziges Bissel, was willst Du sie denn zwingen! Es nutzt Dich aller Aerger nichts, und ein Machtwort kannst Du in dieser Angelegenheit nicht sprechen; darum gieb Friede, und freue Dich, daß Du das Kind noch behältst! Wenn sie erst einen Mann hat, dann ist sie nimmermehr Euer.“
„Schon gut, schon gut!“ erwiderte er ungeduldig und fing die Wanderung durch’s Zimmer von Neuem an. Die alte Frau fügte kein Wort mehr hinzu; sie wußte, daß sie ihren Zweck erreicht hatte, und so nahm sie ihren Strickstrumpf und setzte sich auf ihren Platz.
„Hast Du sie denn gesprochen?“ fragte nach einer ganzen langen Pause die Mutter.
„Freilich! Sie kam zu mir und hat mir’s gesagt, wie es steht, und zuletzt da hat sie geweint und mich gebeten, ich solle ihr den Vater wieder gut machen helfen.“
„Wo ist sie denn?“ fragte er.
„Sie ist in ihr Stübchen hinaufgegangen.“
„So?“ erwiderte er und schritt wieder auf und ab, dann aber näherte er sich der Thür und ging hinaus.
„Ich weiß schon, wo er hingeht,“ nickte die alte Frau und lächelte. „Er war wohl recht böse?“
„Es ging schon noch, Muhme, aber ich kenne ihn ja gar nicht ärgerlich – es hat mich erschreckt.“
„Nein, guck einmal, Minnachen,“ sagte sie und wies in den Garten hinaus, und als sie nun hinschauten, da ging eben der Müller langsam den Weg hinauf, die Arme um sein Töchterchen geschlungen, und sie hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt und sah zu ihm auf’, er sprach mit ihr, und sie lächelte ihm zu.
„Mein guter Mann, mein liebes Kind!“ sagte leise die Frau am Fenster.
Im Schlosse war die Nachricht von dem Tode der Gräfin Stontheim keineswegs sehr traurig aufgenommen worden; die junge Baronin und Nelly hatten die Verstorbene gar nicht gekannt. Nelly hatte Kränze gewunden und sie mit theilnehmenden Zeilen an Blanka abgesendet, und dann hatten die drei Damen Trauerkleider angelegt, um auch dieser äußerlichen Form zu genügen, hauptsächlich wohl Blanka’s wegen, welche auf das Schreiben Army’s hin zu längerem Aufenthalte in Derenberg erwartet wurde. Army und ihr Vater wollten sie begleiten.
Und nun war der Tag gekommen, an welchem der Besuch eintreffen sollte. In Blanka’s Zimmer waren die Fenster weit geöffnet, und die frische Herbstluft zog in die üppig traulichen Räume; die Sonnenstrahlen glänzten auf den blaß-grünen gleißenden Atlasfalten der Wände und den schwellenden Polstern von gleichem Stoff; überall prangten frische Herbstblumen in Vasen und Körbchen und Nelly blickte sich sorglich um, ob das verwöhnte Kind auch nichts zu vermissen brauche. In dem einfachen schwarzen Wollkleide sah sie in diesem strahlenden Boudoir beinahe wie eine arme verwunschene Prinzessin aus, die durch Zufall oder einen guten Geist wieder in die prächtige Umgebung versetzt worden war, die ihr eigentlich gebührte. Das ovale Gesicht mit dem zart rosigen Teint hob sich reizend von dem tiefen Schwarz ihres Kleides, und die weißen Hände, die aus den Kreppmanschetten des Aermels hervorsahen, waren fast zu klein für ein erwachsenes Mädchen.
„Es ist doch reizend, dieses Zimmer, Großmama,“ sagte sie, und schaute zu der alten Baronin hinüber, die eben in dem Rahmen der Thür erschien.
„Gewiß! Aber für Dich, mio cuore, würde ich es hübscher in Blau finden.“
„O, für mich!“ lachte sie auf, „Großmamachen, ich und so ein Zimmer aus Seide und Spitzen! Ich würde mich unglücklich fühlen in diesem Duft und Schimmer.“
„Du wirst es lernen, mein Kind, darin glücklich zu sein.“
Das junge Mädchen blickte rasch auf, das klang so ernsthaft.
„Wenn meine kleine Nelly recht lieb ist,“ fuhr die alte Dame fort und trat näher zu dem erstaunten Mädchen, „und sich Mühe giebt, ihr wildes Wesen abzulegen, dann schenke ich ihr vielleicht so ein strahlendes Zimmerchen zu Weihnacht.“
„Großmama, Du?“ rief die Kleine ungläubig. „Ach nein, ich möchte lieber so eine Einrichtung, wie Lieschen sie hat, mit blau und weiß beblümtem Kattun – das sieht doch reizend aus.“
Die alte Baronin zuckte die Schultern und wandte sich um, denn ihre Schwiegertochter trat ein.
„Da bekomme ich eben ein ganzes Paket Kleiderstoffe und Proben zugesandt,“ fragte diese, „haben Sie das bestellt? Ich meine, es muß ein Irrthum sein; es sind seidene Möbelstoffe dabei und allerhand Sachen, die wir doch unmöglich gebrauchen können.“
„Ich habe die Bestellung gemacht, Cornelie,“ erklärte die Angeredete ungeduldig, „laß die Sachen auf mein Zimmer legen!“
Nelly zog davon, um es zu besorgen, und die beiden Frauen standen sich stumm gegenüber.
„Aber,“ sagte endlich die Jüngere, „wozu das?“
„Hast Du Dich schon einmal in dem Spiegel gesehen, Cornelie?“ klang es scharf zurück, „in dem Fähnchen da kannst Du Dich doch kaum noch vor unseren Leuten blicken lassen, geschweige denn bei einer Hochzeit.“ Sie lachte.
„Ich hatte schon eingekauft, Mamachen, für Nelly ein weißes Kleid und für mich einen schwarzen Seidenstoff.“
„Leichteste Qualität, recht dünnen Taffet, Kunstreiterseide, wie man sagt, ich kenne das,“ erwiderte die alte Dame höhnisch. „Genug, es bleibt dabei, ich kaufe, was ich für nöthig halte –“
„Aber Mamachen!“
„Du willst vielleicht fragen: woher nimmt sie das Geld? Nun denn, Cornelie, das Geschäft hat früher Tausende von mir verdient, und es wird auch wohl jetzt noch der Baronin Derenberg Credit gewähren – das ist vorläufig genug, für das Weitere laß mich sorgen. Oder willst Du vielleicht, daß Dein Sohn in einem völlig leeren Salon getraut werde, wo die Vorhänge kaum noch an der Stange hängen bleiben, weil sie von den Motten zerfressen sind, die Möbelüberzüge Löcher haben, so groß wie jene Schale dort? Deine Schwiegertochter würde empfindlich die Nase rümpfen, meinst Du nicht auch?“
„O, daran dacht’ ich nicht,“ erwiderte die blasse Frau leise, und schloß die Thür, da ein kühler Luftzug die seidenen Vorhänge weit in’s Zimmer wehte. „Ich meinte nur,“ setzte sie zurückkehrend hinzu und an dem prachtvollen Stutzflügel stehen bleibend, [772] den Blanka sich während des Sommers hatte nachschicken lassen, weil sie behauptete, auf dem alten Clavier im Wohnzimmer nicht spielen zu können, „ich meinte, weil wir so ganz allein sind in der Familie –“
„Da haben wir wieder Deine vollständig pietätlosen Ansichten, Cornelie. Army ist kein hergelaufener Bursche, der gerade dort seine Hochzeit begeht, wo er zufällig mit seinem Mädchen zusammentrifft; er ist der Sohn eines der edelsten Geschlechter im Lande und seine Braut eine Verwandte unseres Hauses, und darum werde ich dafür sorgen, daß diese Ceremonie wenigstens in anständiger Weise vor sich geht. Es könnte ein Lamm zum Tiger machen, Cornelie, wie Du über solche Sachen denkst.“
Die alte Dame schritt mit hochgeröthetem Gesicht an ihrer Schwiegertochter vorüber und trat an’s Fenster.
„Ich muß Dich überhaupt dringend bitten, Cornelie,“ fuhr sie fort, „daß Du Deine spießbürgerlichen Ansichten in Etwas änderst, wenn Blanka im Hause ist; sie sind das geeignete Mittel, ihr den Aufenthalt hier gründlich zu verbittern; sie kann das ewige ängstliche Beobachten und Sparen, welches den Maßstab an jede Buttersemmel lege, ebenso wenig vertragen wie ich, und jetzt kommt es vor allen Dingen darauf an, daß wir sie festhalten – festhalten um jeden Preis. Ist erst das Amen hinter der Trauung gesprochen so sind wir über jede Verlegenheit hinaus.“
In die Wangen der Schwiegertochter war ein tiefes Roth getreten, und die Thränen drängten sich ihr in die Augen. Für wen sparte sie? Für wen sorgte sie? Weshalb ging sie in den elendesten Kleidern? Damit jene excentrische Frau dort so wenig wie möglich von der wirklich drückenden Armuth empfinden sollte und einigermaßen so leben konnte wie früher; sie schickte jeden Abend die Sanna mit Thee und kaltem Fleisch hinauf in ihr Zimmer, und Nelly und sie begnügten sich mit einer Suppe oder einfachem Butterbrod.
„Nun weinst Du vielleicht auch noch, Cornelie,“ klang wieder die Stimme herüber, die das Deutsche so scharf und eckig aussprach, während sie in ihrer Muttersprache in melodischer Weichheit förmlich zu schmelzen schien, „misericordia! was sind die deutschen Weiber für sentimentale Geschöpfe; es kann mich außer mir bringen, sehe ich gleich diese Thränenbäche quellen; was ich Dir eben gesagt, ist nur zu unserem Besten – wenn Du es doch einsehen wolltest!“
In diesem Moment trat Nelly wieder ein. „Es ist schon fünf Uhr, Mama, und gleich nach sechs Uhr können wir sie erwarten; unten ist schon der Tisch gedeckt, und Heinrich wird hier schnell Feuer im Kamine anmachen und die Fenster schließen – ich bin so neugierig,“ fuhr sie fort, „was sie Alles erzählen werden, wie Blanka in Trauer aussieht und wie das Testament ausgefallen ist.“ Sie sah bei diesen Worten die Mutter an und bemerkte die Thränen in ihren Augen. „Weine nicht, Mama!“ flüsterte sie, „nachher kommt ja der Army, unser lieber Army.“
„Das Testament?“ fragte die Großmutter, „mon dieu, Army die Hälfte, sie die Hälfte, und verschiedene Legate an alte Diener, Spitäler etc., und wahrscheinlich auch für den Herrn Obersten, der sicher zugesehen, wo er bleibt bei der Sache.“
„Ja, Großmamachen, aber erinnere Dich doch, damals erzählte Army, Blanka gelte überall als die alleinige Erbin –“
„Ah bah! Dann liegt die Sache noch günstiger – über das Vermögen der Frau entscheidet ja stets der Mann; freilich, ich glaube es nicht; die Stontheim liebte Army viel zu sehr.“
„Wenn aber das Testament schon vorher gemacht war, Großmamachen?“
„Dann hat sie sicher ein Codicill dazu hinterlassen,“ erwiderte ungeduldig die alte Dame.
„Wenn ich nur genau wüßte, wann sie kommen!“ sagte Nelly; „die gewöhnliche Post trifft pünktlich um siebeneinhalb Uhr ein, Army schrieb aber, daß sie mit Extrapost reisen und deshalb auf der Eisenbahnstation erst ruhen und zu Mittag essen, zwischen sieben und acht Uhr aber, da müssen sie sicher hier sein. Geduld, Geduld! Ob ich das je lernen werde?“ lachte sie über sich selbst. „Sieh’ nur das schöne Abendroth, nun wird es bald dunkel; ich freue mich so sehr auf den Army.“
Allmählich sank die Dunkelheit über Schloß und Park, und am Himmel blitzte Stern an Stern in funkelndem Glanz; noch war die Lampe im traulichen Wohnzimmer nicht angezündet, nur das Feuer des Kamins warf eine dämmernde Helle in das Gemach. Mutter und Tochter waren allein; denn die alte Baronin hatte das Zimmer verlassen. Das junge Mädchen da in der tiefen Fensternische sah mit großen träumenden Augen in das leuchtende Gewimmel dort oben; sie knieete neben dem Sessel der Mutter und hatte den Arm um sie geschlungen; die tief erregte Frau preßte ein Tuch vor die Augen, und ihre Brust hob und senkte sich in leisem Weinen.
„Mein gutes Mütterchen,“ bat die Kleine mit ihrer süßen Stimme, „weine doch nicht Deine lieben Augen roth! Was soll Army denken, wenn er kommt? Sieh’, Großmama meint es nicht so böse –“
„Ach, Nelly, das ist es nicht,“ erwiderte leise die weinende Frau, „aber mich verfolgt heute schon den ganzen Tag eine Angst, eine Unruhe, die ich kaum beschreiben kann – Gott gebe nur, daß dem Jungen nichts passirt ist!“
„Aber Mama,“ tröstete die Tochter und schmiegte das blonde Köpfchen fest an ihre Brust, „was soll ihm denn geschehen sein? Er fährt sicher augenblicklich in der alten gelben Postkutsche und sitzt seiner Blanka gegenüber, also in der behaglichsten Situation, die es für ihn geben kann; der Oberst erzählt Anekdoten, und sie freuen sich Alle auf ein warmes Abendbrod und auf Dein liebes freundliches Gesicht, mein Mütterchen.“
Die Frau in dem Sessel schreckte auf. „Was hast Du nur, Mama?“ fragte Nelly ängstlich.
„Es war nur, als hörte ich seinen Tritt,“ erwiderte flüsternd die Mutter, „hast Du es nicht auch gehört, Nelly?“
„Nein, Mama, es ist ja auch nicht möglich.“
Es wurde still in dem großen Gemach; die flüsternden Stimmen schwiegen; ringsum kein Laut als das Knistern des Feuers im Kamine, und dann und wann ein banges Aufseufzen aus beklommenem Mutterherzen.
Aber da – da – ja, das war sein Tritt auf dem Corridor; „Nelly!“ rief die Baronin mit halberstickter Stimme, und das junge Mädchen flog empor und durch das Zimmer, und da öffnete sich die Thür – eine hohe Gestalt trat herein.
„Army!“ jubelte die Schwester. „Army!“ kam’s auch von den Lippen der Mutter. „Army, bist Du es?“
„Ja, Mama,“ erwiderte er, aber seine Stimme klang gepreßt, als müsse er sich mit Gewalt zwingen, ruhig zu scheinen.
„Mein guter Junge,“ sagte innig die Mutter und schlang den Arm um ihn. „Army, lieber Army,“ schmeichelte Nelly „aber sag’ doch, wo ist denn Blanka?“
Er stand in der Nähe des Kamins, noch in Mantel und Mütze, und der schwache Schein des verlöschenden Feuers ließ seine Züge nicht genau erkennen.
„Army, wo ist Deine Braut?“ rief nun auch die Mutter.
„Ich habe keine Braut mehr.“ Seine Stimme erstickte fast im Schmerze. Nelly stieß einen Laut des Schreckens aus, die Mutter aber hatte keine Antwort, da war ja das Unglück, das sie geahnt – sie preßte ihres Sohnes Hand fester in die ihre, als könne sie ihn hinwegreißen aus einem schrecklichen wüsten Traume.
„Mach’ mich nicht weich, Mama!“ bat er und drängte sie langsam zu dem nächsten Sessel, „es kann nichts nützen; wie konnte ich mir auch einbilden“ – er lachte bitter – „daß sie – Mach’ Licht, Nelly!“ sagte er dann kurz und rauh, „und bereite die Großmama vor! Ich habe nicht lange Zeit; ich muß morgen schon wieder fort.“
Mit zitternden Händen ergriff Nelly die Lampe; der helle Schein derselben beleuchtete das blasse Gesicht Army’s, der noch auf demselben Flecke stand und wie abwesend in’s Leere starrte.
„Army, mein lieber Army!“ flüsterte die Schwester und schlang aufschluchzend die Arme um ihn. Er strich gedankenlos über ihre Haare.
„Die Großmama!“ schrie sie dann auf und lief der alten Dame entgegen.
„Army,“ fragte diese, hastig eintretend, „was soll das? Ich wollte es nicht glauben, als Sanna behauptete, sie sei Dir auf dem Corridor begegnet. Wo ist Blanka? Wo ist der Oberst? Was bedeutet es, daß Du allein –?“
„Das bedeutet,“ erwiderte er langsam und jede Silbe betonend, „daß mich meine Braut heute früh, kurz vor unserer Abreise, in Gnaden entlassen hat; sie liebe mich nicht, ließ sie mir als Grund für ihren plötzlichen Entschluß sagen, und, weiß Gott, der Grund ist doch wohl triftig genug!“ Wieder lachte er
[773][774] höhnisch auf. Die alte Dame taumelte zurück, wie vom Blitz getroffen.
„Es ist nicht möglich!“ stammelte sie leichenblaß.
„Ich habe heute früh dasselbe gesagt, als mir der Herr Oberst diese Auseinandersetzung machte,“ fuhr Army fort, „und ich habe mich wohl hundert Mal an den Kopf gefaßt und mich gefragt, ob ich wahnsinnig geworden bin, oder so etwas Aehnliches – Aber nein, es ist Thatsache, Blanka von Derenberg ist meine Braut nicht mehr.“
„Army, war denn gar nichts vorangegangen?“ fragte die Mutter, die wie gebrochen in dem Sessel lag.
„Was vorangegangen war?“ antwortete er mit schneidender Stimme. „Ei nun, die Testamentseröffnung, Blanka von Derenberg ist alleinige Erbin des großen Vermögens – das ist Alles. Weshalb soll sie einen Mann heirathen, den sie nicht liebt? Aber beruhige Dich, Großmamachen –“ er trat einen Schritt näher zu der wankenden Frau, die sich mit beiden Händen an einen Sessel klammerte, „sie ist doch ein nobler Charakter, sie ahnt es, daß mir durch meine Brautschaft Unkosten erwachsen sind, und darum ließ sie mir durch ihren Vater ankündigen, daß sie bereit sei, meine sämmtlichen Schulden zu bezahlen. Das war doch ein Trost für den entlassenen Bräutigam, für den dummen Jungen, der mit thörichter Liebe an diesem falschen Geschöpfe gehangen!“
Er hatte während dieser Worte mit einem Krystallglase gespielt, es fortwährend umwendend, jetzt faßte er es und schleuderte es zu Boden, daß es klirrend zersprang und die Scherben weit über das alte Parquet tanzten.
„Army!“ klang es angstvoll von den Lippen der Mutter, und ihre zitternden Hände streckten sich nach dem Leidenschaftlichen aus. Die alte Baronin aber hatte sich hoch aufgerichtet. „Das werden wir uns nicht gefallen lassen,“ sagte sie heftig. „Blanka erbt jedenfalls nur unter der Bedingung, daß Du ihr Gatte wirst, ich habe noch einen Brief von der Stontheim –“
„Denkst Du denn,“ fragte Army und stand mit ein paar Schritten vor seiner Großmutter, „denkst Du denn, ich würde sie jemals wieder ansehen? Sie könnte auf den Knieen vor mir liegen und mich anflehen, ich stieße sie weg, und wäre ich am Verhungern und Du und Ihr Alle mit mir – nicht einen Pfennig nähme ich von ihrer Gnaden eher eine Kugel vor den Kopf. – Jawohl, eine Kugel, was ja auch schließlich das Vernünftigste ist, hat es doch meinem Vater auch geholfen, wie mir Blanka mittheilte, als ich sie noch einmal inständig bat, mit mir hier in Derenberg zu wohnen; sie fürchte sich – erklärte sie – in diesem unheimlichen Neste, wo der letzte Hausherr sich selbst das Leben genommen; ha, ha! Lauter Gründe, gegen die kein vernünftiger Mensch etwas einzuwenden vermag!“ Es klang heiser und halb wahnwitzig, und aus dem verstörten Antlitze Army’s leuchteten die dunklen Augen im wilden Schmerz.
„Mama! Mama!“ rief das junge Mädchen herzzerreißend. „Army ist krank, er weiß nicht mehr, was er spricht.“
Die blasse Frau erhob sich vom Sessel, schritt zu ihrem Sohne hinüber und faßte seine Hand, sie wollte sprechen, aber ihre Lippen bewegten sich, ohne einen Laut hervorzubringen; ihre Augen sahen ihn so schmerzlich flehend an, als wollten sie sagen: Schone mich, habe ich nicht genug gelitten im Leben? – Er sah sie nicht, die flehenden Blicke; ungeduldig versuchte er die Hand aus der ihren zu befreien: „Laß gut sein, Mama, laß gut sein! Ich denke nicht an’s Sterben; ich werde leben – für Euch. Hier ist übrigens ein Schreiben des Herrn Obersten an die Frau Baronin von Derenberg,“ setzte er hinzu, einen Brief aus seiner Brusttasche ziehend und auf den Tisch werfend, „wahrscheinlich eine Auseinandersetzung, weshalb es so das Beste sei und so weiter.“
Er fuhr sich mit beiden Händen durch die dunklen Haare und trat zum Fenster; dann schritt er rasch und fest durch das Zimmer und ging hinaus.
Ein paar Augenblicke blieb es still drinnen. In den Händen der älteren Baronin knisterte das feine Papier des geöffneten Briefes.
„Sieh hier, Cornelie! Da steht’s,“ rief sie, „was habe ich Dir heute gesagt? ‚Ein anderer Grund für die Bitte meiner Tochter an Ihren Herrn Enkelsohn,‘ las sie, ‚ihr die Freiheit wieder zu geben, ist der, daß sie sich durchaus nicht in den Derenberger Verhältnissen gefallen hat; das Warum? ersparen Sie mir; wozu sollen wir uns Bitterkeiten sagen, da wir im Begriff stehen unsere Beziehungen für das fernere Leben vollständig abzubrechen –‘ Siehst Du,“ unterbrach sie sich heftig, „das ist die Folge Deiner, die Folge von Nelly’s Ungeschicklichkeit im Umgange mit dem verwöhnten Mädchen. Nun habt Ihr das Resultat. Army mag sich bei Euch bedanken, bei Euch allein, für den Untergang seiner sämmtlichen Hoffnungen! O, es ist haarsträubend, an so viel einfältige stupide Anschauungen, so viel bornirtes Denken und Empfinden gekettet zu sein – das Unglück meines Lebens!“
Die alte Dame hatte die feinen Hände geballt und sah mit dem Ausdruck geringschätziger Verachtung zu der Gruppe von Mutter und Tochter hinüber.
„Auf mich, Großmama, hast Du ein Recht zu schelten,“ Nelly trat wie schützend vor die Mutter; „aber Mama laß’ aus dem Spiele! Verzeih, daß ich es wage, so mit Dir zu sprechen! Aber ich kann nicht anders, Mama war stets freundlich gegen Blanka, liebenswürdiger als Du es gewesen. Ich habe Blanka allerdings nicht geliebt, weil ich fühlte, daß sie sich Army nur auf Wunsch der Tante verlobte. Und jetzt sage ich: Army soll Gott auf den Knieen danken, daß Alles so gekommen ist. Und deshalb, Großmama, bitte ich Dich, kränke Mama nicht durch ungerechte Vorwürfe um dieses falschen herzlosen Geschöpfes willen, das sogar noch unseren Vater im Grabe beschimpfte und ihn zum Selbstmörder – Allmächtiger Gott!“ unterbrach sie sich, und schon war sie neben der bewußtlosen Mutter zu Boden gesunken und bemühte sich die Ohnmächtige aufzurichten.
„O cielo, cielo!“ murmelte die alte Dame, „welch ein Leben, welch ein fürchterliches Leben!“ –
Vier hölzerne Wände und darüber ein aus Balken gezimmertes Dach – das war die erste Wohnstatt des seßhaften Germanen. Nur durch die Oeffnung der auf beiden Schmalseiten befindlichen Thüren drang das Licht des Tages frei hinein; sonst blickte es nur verstohlen durch die Ritzen und Spalten des Holzgefüges. Dafür warf das ewig brennende Herdfeuer, dessen Rauch durch die Glunzen des Dachgebälkes hindurchdrang, seinen grellrothen Reflex in die blaugraue Dämmerung des fensterlosen Innenraumes. Entlang der Wände standen Bänke und Lagerstätten. Die in der Mitte hindurch gehenden Dachstützen gestatteten die Theilung des Raumes nach der schon früh abgehaltenen Trennung der Männer von den Frauen. Dann wies eine weitere Entwickelung der Frau einen erhöhteren Sitz auf einer der beiden Eingangsseiten an, wohin Herd und Webstuhl verlegt wurden. Auch entstanden einzelne Verschläge an den Wänden, Räume zum Aufbewahren der Waffen und Gewänder, von dem großen Hauptraume sich abtrennend, der noch immer zum gemeinsamen Wohnen, Essen und Schlafen diente. Weiter zweigten sich vom Hauptgebäude, als dem Haupthofe, nach und nach besondere Nebengebäude ab, Wirthschaftsgebäude, Speise- und Kornkammern, Ställe und Scheunen. Auch die Frau wurde aus dem Haupthause in ein besonderes Frauenhaus verwiesen, das für weibliche Arbeiten jeglicher Art bestimmt war (genitia). Dasselbe bildete oft einen Hof im Hofe, besonders umfriedet und geschirmt. Auch war an die Stelle des Holzbaues der römische Steinbau getreten.
Diese große Halle bildete auch in der ferneren baulichen Entwickelung das ganze Mittelalter hindurch den Centralpunkt des deutschen Hauses innerhalb der höhern Gesellschaftskreise. Sie verlieh dem Hause eine gewisse Oeffentlichkeit und bot besonders der herrschenden Gastlichkeit einen geeigneten Spielraum freier Entfaltung dar. Erst als die Familie sich mehr und mehr isolirte, sank die gemeinsame Halle herab zur Vorhalle, als Aufenthalt der
[775] Dienerschaft, und in noch späterer Zeit, besonders im städtischen Hause, zum bloßen Vorsaale.
In der weiteren Entwickelung wurden die von der Halle getrennten Nebengebäude, namentlich das Frauenhaus, wieder in enge Verbindung, unter ein Dach mit ihr gebracht. Dies markirte zugleich eine Veränderung in der gesellschaftlichen Stellung der Frau. Sie kam dadurch wieder in nähere Beziehung zu dem Manne, von dessen Gesellschaftskreise sie so gut wie ausgeschlossen war. Aus diesem gemeinsamen Verkehre heraus erwuchs dann die Blüthe der ritterlichen Romantik.
Anfangs wurde der Zusammenhang des Frauenhauses mit der Halle nur durch eine außerhalb der Mauer befindliche Stiege vermittelt, bald aber die Stiege in’s Innere verlegt, und das Frauengemach erhielt Thür und Fenster nach der Halle zu, so daß der Frauen Beobachtung und Theilnahme nichts mehr entging von dem, was im Mittelpunkte des Hauses sich bewegte. Später, zunächst aus Vertheidigungsrücksichten, rückte auch die Halle, jetzt Saal oder Pallas genannt, eine Etage höher hinauf, behielt aber gleichwohl durch eine Freitreppe, welche im Andrange der Gefahr abgebrochen werden konnte, den alleinigen Zugang von außen. Das untere Stock diente dann zu Rüstkammern, Wohnungen der Dienstleute und Vorrathskammern, das zweite zu Familien-, Gast- und Schlafzimmern.
Jetzt wurde auch das freilodernde Herdfeuer in besondere steinumschlossene Räume verwiesen. Solch heizbare Stätten wurden im mittelalterlichen Latein caminata genannt, und da es besonders Frauen waren, welche im Gegensatz zu dem, seinen Schwerpunkt wesentlich außerhalb des Hauses verlegenden Manne, nach der behaglichen Wärme begehrten, so fanden sich solche zuerst nur in den Frauengemächern und gaben diesen selbst den Namen der Kemenate. In der Halle blieb noch lange der in der Mitte aufgemauerte Feuerplatz mit seinem großen eisernen, rostartigen Boden, auf dem die mächtigen Holzblöcke ruhten. Oefen kamen trotz ihrer größeren Wärmekraft, die bei dem Kamin für das winterliche deutsche Klima nur eine dürftige war, erst vom fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert ab allgemeiner in Gebrauch.
Nun drang in das Haus auch das Licht der Fenster, freilich noch nicht durch jene bleigefaßten bunten Glasscheiben, die wir jetzt auf allen restaurirten mittelalterlichen Burgen schauen und die dem Gemach ein so magisches, anheimelndes Zwielicht verleihen. Diesen Luxus konnten sich nur große Kirchen und reich ausgestattete Klöster erlauben. In den Häusern der Privaten, selbst auf den vornehmen Edelsitzen, wurde der offene Fensterraum, wenn er Schutz heischte wider Wind und Wetter und die Unbilden der Nacht, von außen mit einem hölzernen Laden, innen mit Teppichen verdeckt. Höchstens daß mit Wachs überzogene dünne Leinwand, ölgetränktes Papier oder dünn geschabtes Horn einen dürftig schützenden Rahmen bildeten. Nur in ganz seltenen Fällen wurde matt schimmerndes Marienglas, durch kleine viereckige Stücken zu einem Gitterwerke verbunden, benutzt. Erst im fünfzehnten Jahrhundert wurde die Fassung mit Fensterglas allgemein, zuerst in kleinen runden, bleigefaßten Butzenscheiben.
Werfen wir nun einen weiteren Blick in das Innere der deutschen Wohnung. Treten wir zuerst in die „Halle“, den Saal, ein, so finden wir zunächst, daß die Decke der alten Halle, welche noch durch das Dachgebälke gebildet war, jetzt entweder durch den Fußboden des oberen Gemaches hergestellt wird, bei welchem die ganze Balkenlage im Plafond noch sichtbar bleibt, oder es ist eine hölzerne Zwischendecke eingeschoben. An ihren vorspringenden Kanten finden sich geschnitzte laubartige Ornamente, an Trägern und Consolen allerhand figürliche Verzierungen, in denen namentlich die Zeit der Gothik, die ihre reichen Formen selbst dem geringsten Geräthe aufpreßte, besonders brillirte. Die Wände waren vom Boden auf mit braunem Holze getäfelt, sodaß nur ein schmaler Raum noch zwischen der Holztäfelung und der Decke verblieb. Diese friesartige Kante war nicht selten mit figürlicher Malerei geschmückt.
Den früheren Estrich des Fußbodens finden wir jetzt durch Steinfliesen ersetzt, schachbretartig, in verschiedenen Farben schillernd. Später wurde der Fußboden mosaikartig hergestellt, und dazu viereckige Blättchen aus glasirtem Thone verwandt, auf denen allerhand Figuren, wie Hirsche, Reiter u. dergl. m. eingebrannt waren, wie deren aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert, von Ulm und Cadolzburg stammend, das Germanische Museum noch aufweist. Selbst auf den dort aufbewahrten alten Dachziegeln findet man einzelne Arabesken, Namenszüge und Jahreszahlen eingebrannt. Auch zur Bekleidung der Wände wurden derartige Mosaikblättchen benutzt. Die Holzmosaik entstand erst weit später – im fünfzehnten Jahrhundert – übertrug sich dann aber rasch auf alle Arten von Möbels, Tische, Schreine, Thüren und Wanddecken, und vervollkommnete sich bis zur Herstellung ganzer Gemälde. Im nördlichen Deutschland ging der Fliesboden des rauheren Klimas wegen bald in den einfachen Fußboden über.
Wie einfach war das Mobiliar! An den Langseiten der Wände lief eine breite hölzerne Bank hin, an dieselbe befestigt und gleichsam mit dem Holzgetäfel der Wand in Eins verschmolzen. Ihr verschlossener Sitz diente gleichzeitig als Truhe oder als Vorrathsraum. In früheren Zeiten war die Bank wohl noch aus Stein. Noch lange war dies der Fall in den in die dicken Mauern eingelassenen Fensternischen, den sogenannten Lauben. Die Steinsitze dieser lauschigen Lauben waren die Lieblingsplätze der Frauen. Sie belegten die Sitze mit Polstern und sperrten sie durch Teppiche von dem Saale ab. Bei den städtischen Gebäuden erweiterten sie sich zu jenen in die Straßen vorspringenden Erkern, welche weiblicher Neugier einen noch willkommeneren Vorschub leisteten. Später zogen sich die Bänke auch in die Nischen mit hinein.
An der Stirnseite der Bank befand sich der Ehrensitz des Hausherrn oder Lehnsherrn, oft über einem etwas erhöhten Gestell, geschnitzt und mit grotesken Zierrathen versehen, auch wohl vergoldet. Dann wurde derselbe zu einem beweglichen Sessel, über den in der gothischen Zeit sich ein baldachinartiges Dach wölbte. Lange war es der einzige Stuhl im Hause. Stühle waren im Mittelalter selten; die Bank war das einzige Sitzmöbel. Es trug eben alles Mobiliar noch den Charakter des Festen, des unmittelbaren Zusammengehörs mit dem Hause selbst. So waren auch Schränke und Kasten meist in die Wände eingelassen, und auch die Schwerfälligkeit der Tische wies denselben einen ständigen Platz an. Die Mitte des Gemachs füllte oft eine eichene über Schragen gelegte Tafel aus. Sie, wie die andern Tische, waren von schwerer, aber dauerhafter Construction, Urväterhausrath, nicht Träger eines nur ephemeren Daseins. Anstatt von vier schwächlichen Füßen, wurde die derbe Platte von einem breiten Untergestell getragen, das auf vier geschnitzten Thierköpfen ruhte und auf das sich die Füße des Davorsitzenden bequem stützen konnten. Nur eine leichte Stuhlart ist aus dem Mittelalter bekannt und in einem Exemplare im Germanischen Museum vertreten. Es sind dies die sogenannten Faltstühle, deren Form in einer Art unserer Gartenstühle noch fortlebt. Sie bestehen aus zwei sich in der Mitte kreuzenden zusammenlegbaren Theilen; auf dem oberen Kreuz befindet sich das Sitzbret. Ein an derselben Sammelstelle befindlicher drehbarer Lehnsessel gehört der spät mittelalterlichen Zeit an. Keins der Sitzmöbel war gepolstert, dagegen befanden sich sowohl auf Bank wie Stuhl Cultern (Matratzen) oder Plumiten (Federkissen). In früherer Zeit, im zehnten und elften Jahrhundert, wo die Schnitzkunst noch weniger geübt war, waren die Möbel mit bunter Farbe bemalt; nur die Pfosten und Beine zeugten von der Kunst des Drechslers. Dagegen überschüttete die Gothik alle Möbel mit ihren durchbrochenen, krausen, geästelten Ornamenten. Einzelne leere Stellen im Saale füllten vordem niedere Betten im Stile unserer Divans aus, ohne Pfühl und Oberdecke. Des Nachts dienten dieselben thatsächlich auch als Schlummerlager. An den Lehnen der Bänke hingen Rücklaken, von der Hand der Hausfrau oft mit wahrhaft künstlerischem Geschicke gewebte oder gestickte Decken. Die schmaleren enthielten das mit bunter Wolle gestickte oder gewirkte Wappen des Hauses oder der verwandten Geschlechter.
Andre zeigten auf rothem Grunde Blumen, Arabesken, den Lieblingshund der Damen des Hauses und Anderes, größere gar eine ganze am Speisetisch versammelte Gesellschaft sammt Geiger und Lautenschläger, ja den ganzen Verlauf einer mittelalterlichen Hochzeit in fünf Abtheilungen. Da sehen wir den Bräutigam und Brautvater die Boten aussenden, um zur Hochzeit zu laden, sehen auf dem zweiten Felde den Priester, wie er das Paar mit den auf einem darüber hinlaufenden Spruchbande befindlichen Worten einsegnet: „Gott mög Euch viel Glück und Ehre geben und nach Eurem Tode das ewige Leben!“ Wir sehen dann weiter die Gäste beim Hochzeitsmahle, wo aus dem Munde der glücklichen [776] Braut die Worte hervorgehen: „Keine größere Freude mir werden kann; meinen Liebsten fein ich funden han“; wir werden Augenzeugen eines Turniers und sehen im letzten Felde das Ehepaar mit Pauken und Trompeten in die neue Heimath reiten. „In großen Freuden und allen Ehren wollen wir heim zu Lande kehren,“ lautet der Gruß des Bräutigams auf dem umlaufenden Spruchbande. (Germanisches Museum.)
Aber der Reichthum des Hauses an Geweben und Teppichen war damit noch lange nicht erschöpft. Er zeigte sich erst in seiner Größe an festlichen Tagen; dann wurden an Haken große Hautelliseteppiche im Stile unserer modernen Gobelins, die eigentlich nur eine Wiedergeburt derselben bezeichnen, an den Wänden entlang aufgehangen. Nicht alle entstanden sie der schöpferischen Hand der Frau. Burgund, besonders Arras und Brabant lieferten die fertigen Fabrikate, und die Bewohner einzelner Klöster füllten mit ihrer Fertigung die Stunden ihrer reichen Muße aus. Ueber die Tafel lag ein tief herabgehendes leinenes, mit breiter Borte und durchgehenden bunten gemusterten Streifen versehenes Tischtuch. Auffallend für das moderne Auge ist der gänzliche Mangel eingerahmter Bilder – nicht einmal das Portrait eines Ahnen blickt aus dunkler Umrahmung zu uns heraus. Erst vereinzelt im fünfzehnten, dann allgemeiner im sechszehnten Jahrhundert entstand der Wandschmuck der eingerahmten Staffeleibilder. Auch auf dem Fußboden liegen hie und da Teppiche, so vor dem Kamin, dessen Kolossalgestalt weit in den Saal hereinragt. Der den Feuerherd umschließende Mantel erreicht fast Manneshöhe. Auf dem Herdboden steht ein längliches eisernes Gestelle, der Feuerhund. Wäre es Winter, so läge auf ihm ein tüchtiger Holzklotz, dessen rothglühende Flamme einen weiten Gluthschein in den Saal hineinwirft. Auf dem mit Arabesken gezierten Simse stehen allerhand Hausgeräthe, Krüge, Leuchter, Kannen, Becher. Es sind meist solche, die dem öfteren Gebrauche dienen. Für den eigentlichen Schatz des Hauses, für das reiche Prunkgeschirr, das entweder nur zur Zierde als Document für den Reichthum des Geschlechts oder zum seltenen Gebrauche an hohen Festtagen dient, war an der einen Schmalseite eine stufenförmig sich aufbauende Prunkstätte errichtet. Auf jeder Stufe lag eine weiße mit Stickerei und bunter, wohl golddurchwirkter Borte verzierte Decke. Weithin leuchtete der prangende, glitzernde Schmuck in den Saal, eine helle Augenweide für die an den Langseiten sitzenden Gäste, deren Blicke ihm, dem Tressur, wie man die Prachtpyramide wohl nannte, stets zugekehrt blieben, da sie der geschilderten Beschaffenheit der Bänke nach nur auf einer Seite saßen. Halten wir unter diesen Schaustücken Musterung!
Trinkgefäße bilden offenbar das Hauptcontingent. Patriarchalische Pietät hat auch die ersten primitiven Formen von Holz und Thon aus Urväterzeiten, das Vermächtniß mehrerer Generationen, aufbewahrt. Der wachsende Reichthum des Geschlechts hat dann zinnerne, kupferne und lederne Gefäße, später silberne und goldene hinzugesellt. In jüngster Zeit sind auch feine venetianische Krystallgläser dazu gekommen. Da fallen uns zunächst in die Augen gewundene Trinkhörner, der schwarze Leib mit breiten Goldreifen umschlungen, an der Endspitze ein reich vergoldetes Ornament, vorn auf zwei klauenartigen Füßen ruhend, daher in der Sprache des Mittelalters Greifenklauen genannt. Würdig ihnen zur Seite, dem Zwecke des Trinkens in größerem Maßstabe dienend, stehen Humpen aus Holz, Glas oder gar getriebenem Silber; daneben steht ein Krug, der alle zwölf Apostel auf feiner Glasur aufweist. Diese Apostelkrüge, Fabrikort Creußen, sind ziemlich neuern Datums, das heißt spätmittelalterlicher Zeit entstammend. Das Töpferhandwerk ist zwar ein uraltes, das sich bis in die Zeiten des Pfahlbaues verfolgen läßt, aber seine Schöpfungen waren noch roh und kunstlos, nur dem realen Bedürfnisse angemessen; erst durch die Einwirkung der Gothik kamen der Schmuck des gepreßten Ornaments und die kunstmäßige Anwendung der Farbe hinzu. So war es auch mit der Glastechnik. In der Römerzeit ebenso wie die Töpferei auf hoher Stufe stehend, war sie bei den Deutschen wieder gesunken; schöne Gläser waren ein Luxusartikel geworden, den man meist dem Orient entrang. Erst im dreizehnten Jahrhundert begann die Glasfabrikation sich wieder zu heben und feierte später, im sechszehnten Jahrhundert, ihre glänzendsten Triumphe in Venedig. Diese venetianischen Gläser, deren das Germanische Museum eine reiche Anzahl besitzt, zeichnen sich durch ihren matten Schliff, durch kunstvolle Durchschlingung des Glases mit feinen weißen oder bunten Fäden aus. Echt deutsch sind auf unserem Tressur die sogenannten Batzengläser, von schwerem, grünlich schimmerndem Glase, mit Buckeln versehen, eine Decoration, der wir auch auf den metallenen Gefäßen unseres Schatzes begegnen. Dem Zug des Mittelalters nach phantastischen Formen trug auch die Glasfabrikation Rechnung. Da sehen wir auf unserem Tressur neben dem bis auf unsere Zeit treu erhaltenen grünen Römer große Glasstiefeln, Fässer, allerhand Figuren mit gläsernem Mundstücke; andere Gläser mit darmartiger Verschlingung oder in kugelförmigen Absätzen sich thurmartig erhebend. Da stehen zierliche Kräuselbecher, „Kräusleins“, neben den unseren Weißbierstangen ähnelnden gekröpften Roßzageln oder Roßschwänzen und dem langhalsigen, flaschenartigen „Angster“ (vom lateinischen angustus, enge). Da fehlt unter den Trinkpokalen nicht der „Willkomm“, der „Paß“, „Tummler“, „Stauff“ und „Stutzen“. Auch bei den messingenen oder von noch edlerem Metalle gefertigten Wasserkannen finden wir die gleiche Phantastik der Form. Sie sind eingekleidet in die Gestalt von Hirschen, Pfauen, Löwen, krähenden Hähnen, Böcken, oder vertreten den Ausdruck eines noch weit derberen Humors. Messingene Waschschüsseln, meist aus Nürnberg, zeigen auf dem Boden Figuren von erhabener Arbeit.
Auch ein Tischspringbrunnen für Wein fällt uns auf. Das Hauptkleinod wird repräsentirt durch einen Tafelaufsatz in der Form eines Schiffes, das jüngste Erzeugniß der auch erst in dem späteren Mittelalter zu höherer Kunstentfaltung auf dem Profangebiete gediehenen Goldschmiedekunst. Auch Sculpturen aus Elfenbein weist der Tressur auf, sowohl als Zierrath wie als selbstständige Statuetten und Reliefs. Es findet sich da eine Madonna mit dem Jesusknaben und eine Anbetung der heiligen drei Könige neben einem Herrn und einer Dame, die auf die Falkenjagd reiten. Die Verwendung des Elfenbeins war im Mittelalter eine außerordentlich mannigfaltige. Ebenso reich scheint die Ausnutzung der Edelsteine gewesen zu sein, die nicht blos an Leib und Gewand, sondern auch an den Schaustücken des Tressurs, an Bechern und Pokalen oft im Uebermaß prangen. Bei Wolfram von Eschenbach nimmt die Aufzählung aller Arten edlen Gesteins zwanzig Verszeilen in Anspruch. Wir finden da neben den bekannten Arten noch Namen von fremdartigstem Klange. Der Glanz ihres natürlichen Lichtes war nach Hartmann von Aue’s Schilderung so mächtig, daß Rubine an Pferdeköpfen zur Nachtzeit den Weg zeigten. Nach dem Glauben des Mittelalters wohnte ihnen theilweise eine geheime Wunderkraft inne, die zur Heilung von Krankheiten führte.
Auch verschiedene Formen von Lampen und Leuchtern treffen wir auf dem Kaminsims. Da ist z. B. ein messingener Löwe, der auf dem Rücken eine Burg trägt, auf deren Zinnen Kerzen aufgesteckt werden, und eine Lampe in Schwanenform.
Die Zimmerbeleuchtung hatte sich vom Herdfeuer inzwischen auch weiter entwickelt. Zunächst war es nur ein auf einen Leuchtstock gesetzter Kienspan, der die Stube mit seinem flackernden Lichte zu erhellen strebte, ein Leuchtapparat, dem man auf weltentlegenen Walddörfern wohl jetzt noch begegnet. Dann warfen Harzfackeln, in der Hand besonders dazu bestellter Diener (kertisveiner) oder von eisernen Ringen an den Wandpfeilern festgehalten, ihre rothe Gluth auf die in gemessenen Tanzreihen sich bewegenden oder an der Abendtafel zechende buntschillernde Gesellschaft. Wachskerzen zählten noch lange zu den Gegenständen eines besondern Luxus. Die Kerzen staken sowohl auf Wand- wie auf Tragleuchtern, die oft nur in einem auf einem Brett befestigten Stifte oder einer Drahtspirale bestanden. In das Oel der Hänge- und Traglampen goß man wohlriechende Essenzen. Aus dem fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert sind uns – im Germanischen Museum – Kronleuchter aus Hirsch- und Elengeweihen erhalten. Die langsame Entwickelung der gewerblichen Technik, die jetzt in einem Jahrzehnt so viel fördert, als sonst in einem Jahrhundert, läßt den Schluß rechtfertigen, daß auch schon weit früher die Kerzen des Kronleuchters auf die betende oder zechende Menge in Kirche und Tanzsaal schienen, was auch im „Parcival“ seine Bestätigung findet.
Die Säuberung und Wahrung all dieser Schätze, dieser vielfachen Teppiche und Laken bildete einen nicht geringen Theil der Tagesarbeit der Frau, die sich noch mehrte, als der gothische Stil mit seinen den Staub geradezu conservirenden Schnörkeln, Consolen, Figürchen und Schnitzwerk im Hause seinen Einzug hielt.
[777]Eine Historie vom Kloster Eberbach.
Das war im Kloster Eberbach;
Da waren spät zwei Mönche wach:
Der Kellermeister und der Koch,
Die tranken Nachts um Elfe noch.
Gab sich des Standes Würde kund;
Um’s Antlitz floß ein Glanz, ein Licht,
Wie einst um Mosis Angesicht.
Sehr würd’ge Männer waren das –
Jedoch nach Wein und Braten roch
Der Kellermeister und der Koch.
Selbst in der strengsten Fastenzeit;
Dies galt als Wunder weit und breit,
Zwei Männer waren’s rund und frumm.
Sie sorgten für die Brüder gut;
Ein Fäßlein nur mit Rebenblut,
Von bester Art ein einzig Stück,
Aus heißem Jahr ein edler Trank,
Wie flüssig Gold, so klar und blank!
So oft der Wein vom Zapfen quoll,
Das war ein Duft gar wundervoll;
Als thät’ sich auf des Himmels Thor,
Als säß’ man frei von jedem Gram,
Im Schooß von Vater Abraham.
Und dennoch sagt’ der Bruder Koch:
Von Anfang an hab’ ich’s entdeckt,
Daß dieser Wein nach Leder schmeckt.“
[778]
Der Bruder Kellermeister meint’:
„Der Nachgeschmack mir anders scheint;
Nach Eisen schmeckt’s, es schmeckt nach Stahl.“
Der meinte dies und jener das.
Sie saßen bei dem vollen Faß,
Doch immer zu Verdruß und Qual;
Doch darin waren Beide eins,
Es sei dies eine Art des Weins,
Für die kein langes Lagern pass’. –
Sie tranken leer das ganze Faß.
O, wißt ihr, was man drinnen fand?
Ein kleiner Schlüssel, welcher hing
An einem kleinen Lederring.
„O Bruderherz, wer that uns das?
Und dieser Schlüssel, wie ich mein’,
Das muß der Höllenschlüssel sein.
Der Herrgott gab den Wohlgeschmack;
Der Teufel trieb den Schabernack.“ –
Das Schlüss’lein sammt dem Lederband.
Und wo am tiefsten war der Rhein,
Da senkte beides man hinein,
Damit kein Menschenkind hinfür
Wo seid ihr, fromme Mönche, ach,
Vom alten Kloster Eberbach?
Der Welt, im Sündenpfuhl verderbt
Habt ihr die Zunge nicht vererbt;
Ein schnöd’ Gebräu der Weinfabrik
Und merkt es nicht im stumpfen Sinn:
Der Höllenschlüssel liegt darin! –
Dies Stücklein fiel dem Sänger ein,
Auf welchem „Eberbacher“ stand. –
Zu Leipzig war’s im Sachsenland.
Kaum wird man heutzutage eine Annoncenbeilage unserer Zeitungen und Journale öffnen können, ohne den beiden Zaubermitteln unserer Ueberschrift zu begegnen, die zu den häßlichsten Zeichen unserer Zeit gehören. Goldberger, Hoff und Daubitz, diese gelehrigen Schüler des großen Barnum, versprachen doch nur den menschlichen Körper, wo er schadhafte Stellen zeigt, ein wenig aufzubessern, die amerikanischen Doctoren Sampson und Alvarez im Vereine mit den deutschen Apothekern Strauß und Tiedemann versprechen ihn von Grund auf zu verjüngen. Sehen wir uns denn diese neueren, von der Unsterblichkeit der menschlichen Thorheit zeugenden Mittel etwas genauer an!
„Dem Coca-Gebrauche,“ beginnt eine dieser Annoncen, „schreibt Alexander von Humboldt das totale Fehlen von Asthma und Tuberculose auf den Anden zu, und die Koryphäen der Wissenschaft aller Länder sind darin einig, daß keine Pflanze des Erdballes so glückliche Heilwirkungen auf die Organe der Athmung und Verdauung mit so enormer, constanter Kräftigung des Nerven- und Muskelsystems vereinigt, wie eben die Coca. Obige Präparate, für die verschiedenen Krankheitsgruppen verschieden combinirt …, sind das Endresultat gründlicher Studien und Versuche Dr. Sampson’s, des direct dazu veranlaßten Schülers Alexander von Humboldt’s. Humboldt’s Empfehlung Ehre machend, bewährte sie sich seit vielen Jahrzehnten (eclatanteste Dankschreiben Geheilter) selbst in verzweifelten Fällen“ etc.
So zieht die vor keinem Mittel zurückschreckende Reclame selbst einen der erhabensten Namen der deutschen Wissenschaft in ihr zweifelhaftes Geschäft, und ohne Zweifel mit gutem Erfolge, denn gewiß werden sehr viele Leute glauben, eine so directe Bezichtigung könne nicht aus der Luft gegriffen sein, Humboldt habe wirklich seinen Apostel Sampson beauftragt, die Welt mittelst der Coca von allen ihren Leiden und Schwächen zu befreien, und seine Präparate ausdrücklich empfohlen. Es handelt sich aber in diesem Falle um nichts Anderes, als um einen unsaubern Mißbrauch seines reinen Namens. Humboldt hat mit der Coca nichts weiter zu schaffen gehabt, als daß er, wie so viele andere Besucher Südamerikas, den Gebrauch der Cocablätter als eines narkotischen Genußmittels von der Art des Kautabaks beschrieben hat, natürlich ohne dasselbe für ein Universalheilmittel zu halten oder zu erklären.
Die alten Bewohner Perus und Bolivias, sowie anderer Theile Südamerikas, sind dem Cocagenusse seit uralten Zeiten in dem Maße ergeben, daß sie die getrockneten Cocablätter sammt etwas Kalk immerfort in einer Tasche bei sich führen und lieber Speise und Trank, als das „goldene Kraut“ entbehren, wie etwas Aehnliches auch bei eingefleischten Rauchern vorkommt. Mit dem Cocabissen im Munde betreten sie ohne Keuchen die steilen Pfade der Anden, legen weite Strecken zurück, ohne die Wirthshäuser zu vermissen, und erheben sich nach den allgemein eingeführten Ruhepausen für den Cocagenuß munter zu der schweren Arbeit in den Bergwerken. Der Jesuit Don Antonio Julian dachte daher schon im Jahre 1670 daran, mittelst der Coca die unlösbare „sociale Frage“ zu lösen, indem er den europäischen Regierungen rieth, ihren Unterthanen Coca zugänglich zu machen; dann würde sie Hunger, Durst und Kälte nicht verspüren und mit Gleichmuth die schwerste Arbeit verrichten. Aehnliche sonderbare Philanthropen und Weltbeglücker sind öfter auf diesen Vorschlag zurückgekommen, indessen hat ein näheres Studium immer wieder gezeigt, daß der Cocatraum doch auch seine großen Schattenseiten hat, und daß „die Pflanze“ – so heißt das Wort: Coca auf deutsch – sich in Europa nur dazu eignet, auf Kosten Leichtgläubiger einige Schlauberger reich und glücklich (?) zu machen.
Es ist nicht uninteressant und jedenfalls sehr lehrreich, zu bemerken, wie nun obige Reclame scheinbar von Erfahrungssätzen und Thatsachen ausgeht, um auch diejenigen in ihr Netz zu locken, die schon etwas mehr von Humboldt und dem Cocastrauche wissen. Die circa 8000 Fuß und höher belegenen Abhänge und Hochthäler der Anden, in denen man auf Felsterrassen, wie bei uns den Weinstock, die Coca, einen etwas über mannshohen Strauch mit glänzend dunkelgrünen eirunden Blättern und unscheinbaren Blüthen, anbaut und verwendet, zeichnen sich zugleich durch die Seltenheit der Schwindsucht unter ihren Bewohnern aus, die am Fuße der Anden ziemlich häufig vorkommt. Da es somit feststeht, daß Coca und Schwindsucht nicht neben einander gedeihen, so schob man flugs dem Cocagenusse das Verdienst daran zu, mit um so größerem Anschein von Recht, als auch Tschudi berichtet, daß die Bergsteiger sich mittelst Coca die Athembeschwerden vertreiben. Sorgsam verschwiegen wird, daß in der amerikanischen Ebene am Fuße der Anden trotz des leidenschaftlichsten Cocagenusses die Schwindsucht häufig vorkommt, und daß anderseits auch hochgelegene Gegenden anderer Welttheile, wo der Wunderstrauch nicht wächst und gänzlich unbekannt ist, dennoch ebenfalls schwindsuchtsfrei sind. Humboldt schrieb bereits diese günstige Wirkung hochgelegener Wohnorte auf die Athmungsorgane der dünneren Luft zu und interessirte sich lebhaft für die kurz vor seinem Tode in’s Dasein gerufene Bergcurorte für Brustkranke. So viel über die Universalheilkraft der Coca gegen Brustleiden, um nun zu ihrer Magen, Muskeln und Nerven stärkenden Zauberwirkung überzugehen.
Die Coca ist ein narkotisch-erregendes Genußmittel, wie Thee, Kaffee, Tabak, Hanf, Betel, Opium u. dergl. m., sie erhöht die Nerven- und Gehirnthätigkeit in einem erheblichen Grade, läßt Müdigkeit, Hunger, Durst und körperliche Anstrengungen vergessen oder weniger empfinden und führt, wie alle diese Mittel, einen vorübergehenden Zustand großer Behaglichkeit herbei, so daß es ganz erklärlich ist, weshalb ihre Verehrer ihr mit Leidenschaft zugethan sind. Aus dem Umstande aber, daß der Cocagenuß den armen Indianer und Bergmann Hunger und Durst vergessen läßt und ein vorübergehendes Gefühl von Kraft erzeugt, schließen zu wollen, die Coca sei ein ausgezeichnetes ernährendes, Verdauung und Magen stärkendes Mittel, das ist mehr als naiv. Es ist nur zu bekannt, daß umgekehrt alle narkotischen Genußmittel mehr oder weniger zunächst die Verdauung und Ernährung stören, eine Wirkung, die am regelmäßigsten nach dem Opiumgenusse auftritt,
[779] aber auch bei übermäßigem Tabaks- oder Kaffeegenusse sich einfindet. Die bisherigen Erfahrungen haben ergeben, daß die Coca keines der schlimmsten unter den narkotischen Genußmitteln ist, aber ganz unschuldig ist sie keineswegs. Zunächst besitzt sie nicht die gute Eigenschaft des Kaffees und des Thees, ihre Verehrer gesellig und gesprächig zu machen; der Coca-Esser sucht wie der Opium-Sclave die Einsamkeit und flieht tagelang die Gesellschaft, um ein einsames Plätzchen im Walde aufzusuchen; seine Gemüthsstimmung neigt zur Melancholie. Auch theilt die Coca nicht mit dem Kaffee, Thee und Tabak die gute Eigenschaft, daß man dabei alt werden kann; die gewohnheitsmäßigen Coca-Esser erreichen selten ein höheres Alter als fünfzig Jahre. Leidenschaftliche Verehrer dieses Blattes nutzen ihre Lebenskraft noch viel schneller ab, und der sogenannte Coquero wird in Peru für ein ebenso unheilbares und verlornes Mitglied der Gesellschaft gehalten, wie bei uns ein Branntwein-Säufer und in China der Opium-Esser.
„Der eingefleischte Coquero,“ erzählt der Reisende Pöppig, „ist auf den ersten Blick kenntlich. Sein unsteter Gang, seine gelbe Haut, seine eingesunkenen schwachen Augen, die von einem dunkelrothen Ringe umgeben sind, seine zitternden Lippen und seine allgemeine Fühllosigkeit bezeugen sattsam die schlimmen Einflüsse des Cocasaftes, wenn derselbe fortgesetzt und im Uebermaße genossen wird. Seine erste üble Wirkung ist eine Schwächung der Verdauung; der Appetit geht verloren oder wendet sich auf ganz unnatürliche Speise; ein schmerzhaftes Gallenleiden stellt sich ein, und der Befallene geht nach einigen Jahren unter den Symptomen der sogenannten Wassersucht zu Grunde.“ Dr. Weddel entwirft kein ganz so düsteres Bild von den Wirkungen der Coca, aber er hatte doch auch wiederholt Gelegenheit, eine Art Säuferwahnsinn bei Coqueros zu beobachten und hebt die bleichen Lippen und den abscheulichen Athem – eine Folge der gestörtem Verdauung – der Coca-Esser hervor.
Ein Europäer, der zum ersten Male Coca genießt, bereitet sich damit eine trübe Rückerinnerung an die Folgen seiner ersten Rauchstudien. Freilich, die Krone des Ganzen, der Gipfel der Reclame wird erst mit der Empfehlung der Coca als eines das geschwächte Nervensystem stärkenden Mittels erreicht. Alle Welt weiß, daß sämmtliche erregenden Genußmittel, vom Kaffee an bis zum Opium, die natürliche Tendenz besitzen, das gesunde Nervensystem zu zerrütten, denn der Zweck dieser Mittel ist ja der: die Nerventhätigkeit zeitweise unnatürlich zu erhöhen, und mit mathematischer Gewißheit muß jeder solchen Erregung eine desto größere Erschlaffung folgen. Keinem besonnenen und ehrlichen Arzte wird es einfallen, mit einem solchen Erregungsmittel geschwächte Nerven stärken zu wollen. Allerdings haben diese Mittel in den Händen der Charlatane etwas sehr Verführerisches und Gefährliches. Wer hat nicht einmal einen Säufer beobachtet, dessen Hände des Morgens so sehr zitterten, daß er kaum im Stande war, das Gläschen mit dem Morgenschnaps ungefährdet zum Munde zu führen, und der nach einem zweiten und dritten Kümmel eine ganz sichere Hand erhielt? So vermag auch Coca den Traum einer Kräftigung zu erzielen, der den Verblendeten so lange umgaukelt, bis nach fortgesetztem Gebrauche auch der anfangs noch vorhandene Rest von Gesundheit vernichtet ist, und man schaudert zurück vor der Gewissenlosigkeit, durch den Vertrieb solche Mittel Reichthümer zu erwerben. Für Personen, die einen festen Schlaf haben und deren Gewissen nicht im Mindesten durch die Gespenster der zu Grunde gerichteten Existenzen beunruhigt wird, ist es offenbar sehr leicht, auf diese Weise viel Geld zu verdienen, denn in unserer schnelllebigen Zeit werden die Menschen früh abgenutzt und greifen dann gern zu derartigen vermeintlichen Verjüngungsmitteln.
Die guten Chancen einer solchen Speculation auf die jetzt zahlreicher als je hervortretenden Opfer des intensiver gewordenen Kampfes um’s Dasein haben bereits vielen Personen der verschiedensten Berufsclassen eingeleuchtet. Jedermann kennt die „Wohlthäter der Menschheit“, welche die guten Namen Laurentius, Bernhardi, Retau, Airy etc. in Verruf gebracht haben. Es ist nun eine der betrübendsten Erscheinungen auf diesem Gebiete, daß neuerdings selbst die deutschen Apotheker, welche doch die Gesetzgebung wie Schooßkinder behandelt, um sie durch Niederhaltung aller Concurrenz vor dem Straucheln zu bewahren, anfangen, diese Mittel zu führen, ja mit gewissenlosen Aerzten den Raub zu theilen. Dem Mohren-Apotheker Strauß in Mainz hat sich ein Straußen-Apotheker in Berlin gegenübergestellt, und hier heißt der dunkle Ehrendoctor, der sich natürlich ebenfalls auf Humboldt beruft, Alvarez. Denjenigen aber, die beide Cocas umsonst versucht haben, bietet ein dritter Apotheker, ein Herr Tiedemann, das unschätzbare Stärkungsmittel aus dem Reiche der Zöpfe, das göttliche Pentsao.
Die Chinesen, bei denen die Heilkunde auf einer unglaublich niedrigen Stufe steht, haben seit undenklichen Zeiten den Glauben an sogenannte Panaceen oder Allheilmittel und Kraftmedicinen conservirt, und sie sind durch ihre eigenthümliche Entwicklungsgeschichte gewissermaßen entschuldigt, wenn sie tief im Aberglauben stecken. Da ist denn vor Allem die berühmte Ginsengwurzel zu nennen, die noch immer mit dem zwanzigfachen Gewichte Gold aufgewogen wird, und von der das Pfund in unserem Jahrhundert noch mit 7680 Thalern bezahlt worden sein soll. Das ist etwas viel, aber mit der Wurzel dieser seltenen, unserem Epheu verwandte Pflanze hofft man denn auch Greise in Jünglinge zu verwandeln und Halbtodte zu neuem Leben zu erwecken, sodaß blos das Eine räthselhaft bleibt, daß nämlich Leute, die dieses Wundermittel wirklich bezahlen können, nichtsdesoweniger sterben müssen. Der eigentliche Humor der Sache aber ist, daß diese Wurzel ebenso wie die gleichfalls hochgeschätzte Menschenwurzel (Rinsing), welche nicht ganz so theuer ist, von den europäischen Aerzten für völlig werthlos, wenigstens für nicht wirksamer als Pastinakwurzel oder Salep gehalten werden, sodaß sie es den Chinesen gar nicht weiter verdenken, wenn sie diese Schätze ängstlich für sich behalten. Gleichwohl nimmt der Herr Apotheker Tiedemann das Verdienst in Anspruch, eine dieser chinesisch-japanesischen überkostbaren Panaceen nach Deutschland importiert zu haben und sie billiger als in ihrer Heimath der „schwachen“ Menschheit darzubieten. Mehrere der bekannten „Gelehrten“, die jedes marktschreierisch ausgebotene Geheimmittel empfehlend begutachten – und die ihre gewichtigen Gründe dazu haben mögen – fanden natürlich kaum Worte genug, diese patriotische That gebührend zu preisen.
Es hat keinen Zweck, uns länger bei der Frage aufzuhalten, ob diese Mittel bei den angedeuteten Leiden irgend einen Nutzen gewähren können, denn bei unterrichteten Aerzten besteht darüber kein Zweifel, daß von allen Krankheiten die nervösen am wenigsten mit Arzeneien geheilt werden können. Was jahrelange Ueberanstrengung oder Mißbrauch und dauernde Einwirkung allgemeiner Schädlichkeiten, wie vorwiegend geistige Beschäftigung, Stubenluft, Mangel an Thätigkeit und Bewegung, Verzärtelung, schlechte Ernährung, Ausschweifungen etc. verdorben haben, kann nicht binnen Kurzem mittelst einiger – und wir wollen den besten Fall in’s Auge fassen – den Stoffwechsel „anregenden“ oder wunderbar „ernährenden“ und „regenerirenden“ Heilmittel wieder gut gemacht werden. Hier bietet nur ein Weg Hoffnung, und zwar sichere Hoffnung auf guten Erfolg, wenn er nicht gar zu spät betreten wird, und das ist eine „Naturheilmethode“ – aber nicht die berüchtigte Airy’sche – sondern ein Uebergang zur rationellen Lebensweise unter Vermeidung der Schädlichkeiten, welche den Ruin der Kräfte herbeigeführt haben. Land- und Gebirgsluft, Ruhe, Bäder, Enthaltung geistiger Anstrengung, Leibesübung, gute und kräftige Diät – das sind die Heilmittel, die in solchen Fällen allein Wunder bewirken können und durch welche die Nervenschwäche langsam, wie sie gekommen, wieder beseitigt werden kann.
Ein solcher Erfolg kann durch den gleichzeitigen Gebrauch erregender Mittel, wie der Coca, höchstens verzögert und in Frage gestellt werden; die geschwächten Nerven bedürfen der Ruhe, aber nicht neuer Erregungen, die womöglich statt der gehofften „moralischen Unterstützung“ zu neuen Excessen verleiten. Die Cocapillen gleichen in ihrer Wirkung besten Falls jenen Verjüngungselixiren, mit denen Saint-Germain und Cagliostro die gebrechlichen Madras und Comtessen der französischen Schwelgezeit betrogen haben. Aus Ambra und ähnlichen erregenden Droguen bereitet, wirken sie wie ein Champagnerrausch und ließen die Leutchen, welche dergleichen kaufen konnten, wirklich einen Augenblick glauben, sie seien wieder jung geworden. Allein nach den Regeln der körperlichen Oekonomie konnten sie dabei nur noch schneller altern als vorher, und so wird es auch den Kunden der neuen Wundermänner gehen. Die Coca, welche [780] selbst gesunde Nerven zerrüttet, muß auf die angegriffenen wie Gift wirken.
Daß man die Nerven nicht wie die Darmsaiten einer Geige mit Colophonium anstreichen kann, um sie besser tönen zu machen, sollte sich jeder vernünftige Mensch selber sagen, aber das und nichts Anderes behauptet dieser Pfuscherschwindel. Wann wird das Gesetz kommen, welches alle Anpreisungen von Geheimmitteln verbietet?
Auf dem Lloyddampfer, der uns von Triest nach Constantinopel brachte, lernten wir uns kennen, fünf Mediciner, welche sich dem Sanitätsdienste unter dem Halbmond widmen wollten: drei Deutsche, ein Ungar und ein Siebenbürger. Uns Deutsche führte das Schicksal weit aus einander und doch schließlich wieder zusammen, und ewig lieb und theuer bleiben wird mir die Erinnerung an meine Landsleute Dr. Schücking und Dr. Weiß.
Siehe Neapel und stirb! Siehe Stambul und schweig! denke ich und erlasse mir damit jede Beschreibung, die doch von der Pracht der orientalischen Residenz ein zu dürftiges Bild geben würde. Wir hielten, nachdem wir am frühen Morgen angekommen, noch selbigen Tages unsere feierliche Auffahrt im Seraskierat, dem Kriegsministerium. „Schön ist ein Cylinderhut, wenn man ihn besitzen thut,“ dachte der Altpreuße und erschien in angeborener Achtung vor hohen Ministerien und Excellenzen in Frack und Chapeau-claque, der Ungar hatte in seiner Sympathie für die muselmanischen Stammesbrüder bereits den communistischen Fez seinem gut entwickelten Hinterkopfe aufgedrückt, wir Anderen kamen in treuer Anhänglichkeit an das Alte – abgesehen von anderen Gründen – in unserem Reise-, Salon- und Gesellschaftsanzug.
Im Orient muß man sich an das stete Tragen von Ueberschuhen gewöhnen. Das Wohnzimmer des gewöhnlichsten Hauses kann man nicht mit denselben Schuhen betreten, die eben noch das Straßenpflaster berührt haben; wer keine Ueberschuhe trägt, der niedrige Mann, läßt überhaupt seine Schuhe draußen und macht seinen Besuch in Strümpfen.
Wir, mit dieser Sitte noch nicht bekannt, entgingen dem Ansinnen des Treppenhüters, unsere Stiefeln für die Dauer der Audienz in seiner Obhut zu lassen, nur durch die Intervention eines höheren türkischen Beamten, der in uns sofort Ausländer von nicht ganz obscurer Bedeutung erkannte. Er beschied uns auch zur Medicinalabtheilung des Seraskierats. Wir traten ein durch die rothe Portière – ein Lärm schallte uns da entgegen, ein Tabaksqualm legte sich uns vor die Augen wie beim Eintritt in ein besuchtes Wiener Kaffeehaus niederen Ranges.
Nachdem wir uns an Lärm und Dampf gewöhnt hatten, suchten wir unter den Anwesenden Seine Excellenz Nouri Pascha, an den wir unsere Accreditive abzugeben hatten; man zeigte uns ein dickes Männchen, das in der Ecke des Salons auf einem Sessel hockte und freundlich lächelnd die Perlen seiner Spielschnur durch die Finger gleiten ließ. Er bat uns Platz zu nehmen und lächelte weiter. Man brachte uns Kaffee, und da absolut von keiner Seite weiter uns irgend welche Beachtung geschenkt wurde, so folgten wir dem Beispiele der meisten Anwesenden und rauchten eine Cigarette nach der andern. Während dessen hatten wir Zeit und Gelegenheit, uns etwas umzusehen und das Treiben im hohen Seraskierat zu beobachten. An der einen Wand des Salons saßen auf Teppichen verschiedene Schreiber; neben jedem stand eine große Kiste, mit beschriebenen Papieren gefüllt. Bisweilen wurde von einem der Schreiber aus seiner Kiste ein bunter Haufen Schriftstücke hervorgeholt und so lange durchwühlt, bis er das Gesuchte fand. Von Zeit zu Zeit mußte Nouri Pascha untersiegeln, was mit großer Umständlichkeit und Wichtigkeit geschah. Dazwischen kamen Soldaten oder solche, die es werden sollten, aber vorzogen, sich gleich von der obersten Behörde für dienstuntauglich erklären zu lassen, Invalide, um die ihnen zugesagte Unterstützung erst noch zu erbetteln. Verwundete und Kranke kleideten sich ungenirt aus, um ihre Gebrechen ad oculos zu demonstriren. Selbst ein Bettler trat auf, mit unverschämt jämmerlicher Miene, und machte an uns Fremden einen guten Fang.
Endlich erschien die Hauptperson auf dem Schauplatze, Seine Omnipotenz der Secretär von Nouri Pascha. Er sah die Papiere nach und bat uns, nach zwei Tagen zur Empfangnahme unserer Ordres wieder zu erscheinen.
Mit Allah für Sultan und Vaterland! Als Dr. Schücking und ich – uns beide hatte die Ordre getroffen, auf den unmittelbaren Kriegsschauplatz und zwar zuerst nach Orchanie abzugehen – als wir nach zweitägiger Eisenbahnfahrt in Tatar Bazardjik, der damaligen Endstation der ottomanischen Bahn, ankamen, zeigten sich schon die Schwierigkeiten einer Reise durch diese Gegend bei Kriegszeiten. Nachdem wir die Nacht in einer widrig schmutzigen italienischen Locanda, dem einzigen Gasthause, wo wir noch Platz finden konnten, durchwacht hatten, begaben wir uns der Weisung des Seraskierats gemäß zum Kaimakam (Militärgouverneur) der Stadt, um denselben für unsere Weiterbeförderung zu interessiren. Ein armenischer Arzt, dessen Praxis und Apotheke wegen der Kriegsläufte nicht in gehörigem Zuge war, machte gegen den üblichen Bakschisch den Dolmetscher. Wagen, die wir wünschten, behauptete der Kaimakam beim besten Willen nicht auftreiben zu können, aber Pferde nach Belieben, jedoch nur mit den gewöhnlichen Packsätteln. Der Europäer, der zum ersten Mal sich einen solchen Türkensattel besieht, hält ein Reiten darauf, wenn nicht für unmöglich, so doch für höchst problematisch und unbequem. Also durchwanderten und durchmusterten wir den Bazar und kauften uns schließlich zwei alte lederne Sättel.
Gegen Mittag kam eine Heerde kleiner Pferde vor der Locanda angetrappelt, dahinter her mit Stöcken einige schmutzige rumelische Jungen. Bald erschien auch, sein Pferd am Zaum führend, ein türkischer Gensd’arm und machte uns nach der schuldigen Begrüßung durch grinsende Mimik begreiflich, daß er trotz seines schuftigen Aussehens ein famoser Kerl sei und uns begleiten solle. Er legte auf zwei Pferde unsere Sättel; auf drei andere wurde unsere Bagage vertheilt, und wir stiegen auf. Bei letzterem Unternehmen konnte ich mich bereits wegen des bedenklichen Wackelns meines zukünftigen Leibrosses einer dunklen Ahnung nicht erwehren.
Als wir zwei oder drei Stunden geritten waren und der Weg anfing steil und stellenweise uneben zu werden, wurde der Gang meiner Rosinante immer unsicherer, sie verfiel von einem Fehltritt in den anderen, zuletzt war sie nicht mehr, weder mit Gewalt noch Güte, fort zu bringen. Sie hatte aber kein Gesicht wie der Esel Bileam’s, sprach auch kein Wort; sie blieb stumm und – blind, auf beiden Augen stockblind, wie ich mich nach dem Absteigen überzeugen konnte. Die Treiber mit den Packpferden waren noch weit zurück, der Gensd’arm vorgeritten, um Quartier zu machen. So mußte ich denn das arme Thier fürsichtiglich über Stock und Stein geleiten, bis endlich der Gensd’arm zurück kam und mir sein Pferd zur Benutzung überließ. Wir erreichten in kurzer Zeit ein Dorf, fanden das bestellte Quartier ziemlich erträglich, und bald wob uns zum ersten Mal unter bulgarischem Dache der Traum seine lieben Bilder aus Vergangenheit und Zukunft.
Noch einen ähnlichen Ritt auf einem anderen Packpferde, noch eine zweitägige Fahrt von Ichtiman nach Sofia in einem Schubkarren, der von einem gaulähnlichen Viergebein ruckweise nach dem Tempo von Stockschlägen fortgeschoben wurde, und wir rasselten in die krummen Straßen von Sofia hinein. Hier ruhten wir einen Tag aus und bestellten uns auf den anderen Morgen Schnellpost, die allerdings eine schwere Menge Geld kostete, uns aber auch mit geradezu rasender Schnelligkeit über die Höhen des Balkan nach Orchanie, dem Schauplatze unserer zukünftigen Thätigkeit, beförderte, wo wir noch am Abend unser Quartier in eitler Bulgarenhütte aufschlugen.
An der Spitze des Militärhospitals und der Ambulanzen von Sofia bis Plewna stand Temple Bey, ein Mann, der alles Andere eher war, als Mediciner. Englischer Renegat, war er durch die Vermittelung einer einflußreichen Haremsdame zu diesem
[781][782] Posten gekommen. Seine Hauptaufgabe schien es zu sein, die Confusion, welche so wie so in Lazarethen und bei Ambulanzen herrschte, durch tolle, meist in der Trunkenheit gegebene Befehle zu vermehren. Seine Autorität war zuletzt auch dermaßen erschüttert, daß wir ihm Alle offen erklärten, wir würden keine Ordre mehr von ihm berücksichtigen. Er wurde denn auch endlich im December abberufen.
Im Militärhospital zu Orchanie waren deutsche, ungarische, englische und amerikanische Aerzte neben den etatmäßig angestellten türkischen Aerzten. Hätte man nun deutsch-ungarische und englisch-amerikanische Abtheilungen gebildet und dieselben unter die Leitung eines deutschen oder ungarischen, eines englischen oder amerikanischen Arztes gestellt, so konnte man sich von der Wirksamkeit dieser Abtheilungen etwas versprechen. So war das Hospital und ganz Orchanie mit der großen Anzahl von Krankenhäusern in verschiedene Divisionen getheilt und jede Division hatte ihren Arzt, der dort die Visiten machen und die nöthigen Operationen, größere nur mit Zustimmung der Medschlis (Conferenz oder Versammlung der Aerzte), ausführen mußte. Da es aber in der Taktik des Chefarztes lag, keinen Arzt längere Zeit bei einer Division zu lassen, sondern bald den, bald den mit Truppenkörpern oder Verwundetentransporten eine Zeitlang auf Reisen zu schicken, so entstand natürlich durch den häufigen Personenwechsel die größte Verschiedenheit, ja Verwirrung in der Behandlung der Kranken, da oft schon die Unkenntniß der Sprache einen Deutschen und Engländer an dem hier doch nothwendigen Meinungsaustausch hinderte.
Mit einer solchen Taktik verfolgte unser würdiger Chef den Zweck, die ausländischen Aerzte keinen Einblick in die Verwaltung und die inneren Verhältnisse des Militärsanitätswesens gewinnen zu lassen. Welche Niederträchtigkeiten da vorgekommen sind, habe ich später mit Gewißheit erfahren. Die Bestechlichkeit griechisch-türkischer und levantinischer Aerzte war selbst dem gemeinen Soldaten bekannt und wurde von demselben benutzt, wenn er das Geld hatte, sich einen Invalidenschein zu kaufen. In Philippopel theilten bei Anrücken der Russen die türkischen Aerzte die sogenannten Todtengelder unter sich, das heißt diejenigen Gelder, welche in den Lazarethen gestorbene Soldaten bei sich getragen hatten, und solche, welche durch Verauctionirung der von den Todten hinterlassenen Effecten zusammen gekommen waren. Es waren das viele tausend Franken.
Einen unheilvollen Einfluß auf die armen Kranken und Verwundeten, welche durch ihre bewiesene Tapferkeit und ihre Ruhe im Leiden die vollste Sympathie verdienten, hatten die Veruntreuungen und Pflichtverletzungen der Apotheker, auch zumeist griechischer Türken. Chinin wurde in großen Quantitäten gestohlen und statt dessen den Kranken Zucker gegeben. In späterer Zeit wurde trotz der religiösen Bedenken als Stärkungsmittel Rothwein eingeführt, der zum größten Theile von den Apothekern getrunken wurde. Kam man nun diesen Niederträchtigkeiten auf die Spur, so wurde eine Anzeige bei dem Chefarzt entweder todtgeschwiegen oder endigte mit der Abcommandirung des Arztes, der die Anzeige machte; denn türkische Aerzte und Apotheker mußten unter einer Decke spielen. Der Apotheker mußte den Arzt bei der Morgenvisite begleiten und sogleich die Verordnungen aufschreiben; eine zu gründliche Untersuchung eines oder mehrerer Kranker, welche die Mahlzeit des Apothekers etwas hinausschob, genügte oft, um die Versetzung des Arztes zu einer anderen Division zu verursachen.
Meine Bewunderung für die Leistungen der türkischen Soldaten ist geradezu unbegrenzt. Ich habe den gemeinen türkischen Soldat kennen gelernt im Gefecht und auf dem Marsche, im Zeltlager am Kochkessel und im Lazareth auf dem Krankenbette und dem Operationstische, und immer als tapfer und ausdauernd, mittheilsam und mäßig ohne Ruhmrederei und Geschrei nach dem Siege, ohne Klage bei den größten Entbehrungen und Schmerzen. Der gänzliche Mangel an der nöthigsten Verpflegung, die Strenge des den Meisten ganz unbekannten Winters und die erdrückende Uebermacht der Russen haben endlich die Kraft und Ausdauer dieser braven Soldaten gebrochen. Doch Soldaten konnte man sie zuletzt gar nicht mehr nennen, diese Schatten von dem, was sie gewesen, erfrorene, verhungerte, zerlumpte Gestalten mit einem Rest von Leben unter den Rippen.
Und diese Reste von Menschenleben aus den Kämpfen bei Kamerli sollten wir am 28. December, als die Russen die Straße nach Sofia abgeschnitten hatten und Taskissi bedrohten, nach der Ordre Baker Pascha’s auf Fußwegen über den Balkan nach Ichtiman bringen. Von dreißig Wagen, die uns für die schwersten Kranken zur Disposition gestellt wurden, kamen vier, von mehr als tausend Kranken ungefähr dreihundert nach Ichtiman. Die übrigen liegen begraben in den Schluchten des Gebirges, in die sie die Schneestürme warfen, welche uns hoch oben mit solcher Heftigkeit überfielen, daß ich mich, obgleich gesund und kräftig, oft minutenlang an einem Baum festhalten mußte und drei- bis viermal kopfüber in den Schnee gestürzt wurde. Noch kommt mir oft das Jammergeschrei der Unglücklichen in Erinnerung, die uns flehend die Kniee umklammerten und die Schuhe küßten. Und es war nicht zu helfen, selbst mit Aufopferung des eigenen Lebens nicht.
Wenn nun meine Hochachtung für die Leistungen der regulären türkischen Soldaten eine unbegrenzte ist, dann möchte der Leser wohl auch gern meine Meinung über die „schrecklichsten der Schrecken“, über die Baschibozuks und Tscherkessen hören.
Man hat im letzten Kriege, in Zeitungen aller Nationen, zum Theil Entsetzen erregende Berichte von den Gräuelthaten dieser Leute gelesen. Ich will den Hang dieser irregulären Kämpfer für den Islam zu Grausamkeiten, zu Mord und Plünderung gar nicht in Abrede stellen; aber so schlimm, wie man sich Baschibozuks und Tscherkessen denkt und nach den Berichten denken muß, sind sie doch nicht, und vielleicht zwei Drittel der ihnen zur Last gelegten Gräuelthaten sind nie verübt worden. Der Tscherkesse ist stolz und tapfer, habsüchtig und grausam; seinen Nationalstolz verleugnet er nie, er mischt sich fast nie unter türkische Soldaten. Selbst in den Zeiten des größten Wirrwarrs hatten die Tscherkessen in Städten und Dörfern eigene, streng exclusive Theestuben, und höchstens ein Europäer von unserem Stande konnte es wagen in denselben einzukehren, ohne den Unwillen der Gäste hervorzurufen. Merkwürdig schlau ist der Tscherkesse in Geldsachen; er hatte immer den Cours des Papiergeldes im Kopfe, in zweifelhaften Fällen zu seinen Gunsten, wußte sehr gut Gold von Gold zu unterscheiden und machte alles, was er raubte, am liebsten so rasch wie möglich zu Napoleons und Sovereigns. Er ist gebildeter als der Türke, und wenn auch von der Natur nicht besser beanlagt, so doch geweckter und wißbegieriger.
Die Grausamkeit des Tscherkessen gegen die Bulgaren läßt sich, relativ wenigstens, rechtfertigen oder erklären. Die türkische Regierung hatte bekanntlich die muselmanischen Tscherkessen in Bulgarien zum größten Aerger der christlichen Einwohner angesiedelt. Nun wußten die Tscherkessen, daß sie nicht allein für den Glauben, für den Sultan und die Existenz der Türkeit, sondern vor allen Dingen für Haus und Hof, für Weib und Kind zu kämpfen hatten; und sie hatten es erfahren in den bulgarischen Aufständen und jetzt überall, wo sich die türkische Armee rasch zurückziehen mußte, daß die erste und größte Wuth der befreiten Bulgaren sich mit Mord und Brand gegen die Familien und Wohnungen der Tscherkessen richtete. Zwischen Bulgaren und Tscherkessen wüthete eben ein Racenkampf in des Wortes entsetzlichster Bedeutung.
Schöne, imposante Gestalten sind die Tscherkessen, mit scharf geschnittenen Gesichtern, in geschmackvoller, malerischer Tracht. Den langen, eng anschließenden, meist braunen Rock mit Silbereinfassung schmückten auf der Brust zwei Reihen von häufig kostbaren Patronkapseln. Der Tscherkesse gehört auf das Pferd, ohne das ist er gar nicht denkbar. „Er lebt und stirbt auf demselben“ ist eine banale Redensart, doch will ich hier einen kleinen Beweis bringen, daß sie bei den Tscherkessen ihre Anwendung finden kann. In Orchanie war’s. Wir waren eben mit dem Verbinden eines großen Verwundeten-Transportes fertig geworden, meine Collegen waren in die Locanda zum Essen gegangen; ich blieb allein zurück, da ich die garde hatte, und stand in der Hausthür des Hospitals. Eben nahm die Herbstsonne, ihren kühlen rosigen Gruß über den Kamm der steilen Gebirgswand schickend, Abschied, da ritt langsam in den Hof auf jungem schwarzem Hengst ein alter, uralter Tscherkesse mit schneeweißem Barte. Er saß aufrecht im Sattel, aber der Ausdruck im Gesicht fiel mir schon von Weitem auf; ich ging ihm rasch die Treppe hinab entgegen und fragte nach seinem Begehr. Da zeigte er nur auf seinen Oberschenkel, und als ihn zwei rasch herbeigerufene Krankenträger mit mir vom Pferde hoben, da sah ich schon in ein lächelndes sterbendes Gesicht. Kaum hatten wir ihn im Corridor niedergelassen, so war er [783] bei Allah. Die Wunde, die er zehn Stunden von Orchanie erhalten und selbst auf’s Beste verbunden hatte, wäre auch ohne den langen Ritt tödtlich gewesen. Und sicher hatte ihn sein Pferd so sanft wie möglich getragen, es kam „wie auf den Zehen“ über den Hof. Jetzt wieherte es laut nach einer Liebkosung, die es sich nur unwillig von fremder Christenhand gefallen ließ.
Vor den Baschibozuks hatte ich anfangs immer ein gewisses Grauen; die Kerle sehen auch zu unheimlich aus, wirklich bis an die Zähne bewaffnet. Im rothen Shawl, der um den Leib gewickelt ist, stecken zwei oder drei lange Pistolen und drei bis vier große Messer. Die Pistolen, deren Schäfte meist prachtvoll gearbeitet und mit Silber, Gold, sogar echten Steinen ausgelegt sind, können nur als Hauptschmuck an der Tracht des Baschibozuks angesehen werden. Ich habe wenigstens nie eine solche Pistole bei einem Baschibozuk getroffen, die man so hätte laden können, daß sie hernach losging; statt dessen tragen sie meist Flinten, die desto sicherer schießen. Und dann: je unschuldiger die Pistole als Mordgewehr, desto gefährlicher das Messer.
So schaudererregend mir diese mit Recht verrufenen Mordkerle anfangs auch waren, so habe ich doch mit dem Einen und dem Andern nähere Bekanntschaft angeknüpft, mit Einem sogar, ich möchte sagen Freundschaft geschlossen; einen Andern habe ich in der letzten Zeit als Diener engagirt und mich ganz wohl dabei befunden. Mein Freund wohnte in beschaulicher Ruhe in einem Dorfe zwischen Sofia und Taskissi und verwaltete, allerdings wohl ohne jeden Auftrag, das Besitzthum eines flüchtigen oder gehenkten Bulgaren. Er machte nur selten noch kriegerische Ausflüge und gab sich, bescheidener Natur, mit dem Erbe des Bulgaren zufrieden. Mein erster Besuch bei Mehmet war ein unfreiwilliger; ich wollte nach Sofia reiten, wurde aber, da mein Pferd lahmte, von der Nacht überrascht und suchte, hungrig und müde, das erste erleuchtete Haus abseits der Straße auf. Wie freute sich der biedere Bursche, einem Nekim Baschi (Arzt) seine Gastfreundschaft beweisen zu dürfen, als könnte er dadurch das Vorurtheil der ganzen europäischen Presse gegen seinen Stand umstimmen! Alles, was Haus und Stall liefern konnte, wurde aufgetischt; Gänsebraten, Hühnerragout, Hammelrisotto, Pilaff waren die Glanzpunkte des Menu. Nachdem wir nach dem Mahl etwas politisirt, über das Unglück der Türken und die schlechten Russen gesprochen hatten, mußte ich sein Lager einnehmen, wo er mich sorgfältig zudeckte. Er selbst wachte, am Kaminfeuer sitzend, über den Schlaf seines Gastes.
Die bulgarische Nation steht bei mir in unangenehmer Erinnerung; ich stelle sie weit hinter die Tscherkessen, die Baschibozuks und sogar die Kosaken. Die Bulgaren sind hinterlistig und heuchlerisch, grausam und herrschsüchtig, dabei von unglaublicher Selbstüberhebung, besonders dem Türken gegenüber. Während uns mit der Grausamkeit des Tscherkessen seine Tapferkeit, mit der Raublust des Baschibozuks seine Ehrlichkeit versöhnen kann, verbindet der Bulgare mit seinem Blutdurst Feigheit, mit seinem Eigendünkel die niedrigste Gesinnung.
Das Unglück, welches meinen Collegen Dr. Schücking traf, seine schimpfliche Behandlung von Seiten der Russen, die ihn zweimal dem Tode nahe brachte, hatte derselbe nur der beispiellosen Undankbarkeit und niederträchtigen Verleumdung der Bulgaren von Etropol zu verdanken.
Im November wurde Dr. Schücking[1] und ich mit einem griechischen Apotheker, welcher, der französischen Sprache mächtig, zugleich als Dolmetscher dienen sollte, zur Einrichtung eines Hospitals nach Etropol geschickt. Wir nahmen Wohnung im Konak der angesehensten bulgarischen Familie. Das Haupt dieser Familie, der Bürgermeister im christlichen Viertel von Etropol, war vor Kurzem, da er eben verhaftet werden sollte unter der Anklage, mit den bulgarischen Insurgenten und den Russen in Verbindung zu stehen, zur russischen Armee geflüchtet, und die Familie befand sich ob dieses Vorfalls noch in großer Aufregung.
Nun wurde der älteste Sohn des Hauses, ein hübscher, schlanker Mann, nicht viel über zwanzig Jahre alt, eines Tages auf Grund desselben Verdachtes, und weil er die Zahlung einer beträchtlichen Contribution verweigerte oder nicht leisten zu können erklärte, vom dem Gouverneur des Ortes, einem Bimbaschi (Major), verhaftet und sollte nach Sofia transportirt werden. Eine Abführung nach Sofia aber führte vor das dortige Kriegsgericht, und zu der Zeit gab es in Sofia viele Galgen, an denen wohl auch mancher Unschuldige hat baumeln müssen. Die Familie war außer sich vor Verzweiflung, Mutter und Schwestern rauften sich vor unseren Augen buchstäblich die Haare aus und umklammerten schreiend unsere Kniee. Ich ging zum Bimbaschi und versuchte die Freilassung des Bulgaren zu erwirken, fand aber, obgleich ich mich seiner ausnehmenden Gewogenheit erfreute, nicht das geringste Gehör. Der Arrestant saß im Hofe des Bimbaschi auf dem kalten Pflaster; in der Nähe hockten die türkischen Wachtsoldaten am Feuer. Er mußte es an meinem Gesicht merken, als ich den Bimbaschi verließ, daß er wenig zu hoffen hatte, denn er ließ den Kopf stumpfsinnig zwischen die Kniee sinken.
Nun gingen Schücking und ich zu dem Adjutanten des commandirenden Generals, Mustafa Pascha, der den eigentlichen Oberbefehl an Stelle des faulen Paschas führte. Derselbe war uns bekannt und für Geschenke und besonders Schmeicheleien sehr zugänglich. Wir stellten ihm vor, daß der Bulgare gewissermaßen unser Diener sei, und verbürgten uns für ihn und seine Dummheit, die ihn allein schon zu einem Verrath unfähig mache; dabei brauchten wir in verschwenderischer Weise die Anrede „Excellenz“ und erlangten wirklich die Freilassung des Bulgaren. Dem Bimbaschi ertheilte der Adjutant höchst eigenhändig in unserer Gegenwart einige Schläge mit dem Säbel für sein schlechtes Betragen.
So hatte uns die Familie, bei der wir wohnten, Freiheit und Leben ihres Sohnes zu verdanken, und wie bewies dieselbe ihre Dankbarkeit später gegen Schücking?!
Ich wurde leider von Etropol abcommandirt, wenige Tage vor der Einnahme des Ortes durch die Russen, und zwar kam ich wieder zur Armee von Orchanie. Als ich auf der Flucht unserer Armee von der Einnahme Etropols bestimmte Kunde erhielt, ritt ich nach Sofia, suchte und fand Soldaten von der Etropoler Armee und empfing von denselben die ziemlich bestimmte Nachricht, daß Schücking zurück geblieben und den Russen in die Hände gefallen sei. Ich schickte nun die für Dr. Schücking auf dem österreichischen Consulat liegenden Briefe an den Vater, mit der Benachrichtigung über das vermuthliche Schicksal seines Sohnes. Den Bemühungen des Vaters gelang es endlich, den Sohn ausfindig zu machen und seine Freilassung zu bewirken.
Dr. Schücking war bei der Flucht vom Pferd gestürzt, hatte sich, an allen Gliedern zerschunden und unfähig zu gehen, in seine Wohnung zurück geschleppt und erwartete die Ankunft der Russen im Vertrauen auf die Humanität einer Heeresleitung, die auf Civilisation Anspruch macht, und auf die Stipulationen der Genfer Convention.
Bei dem Einrücken der Russen wurde in der Straße, in der Schücking’s Wohnung sich befand, ein russischer Soldat erschossen, sei es absichtlich oder aus Irrthum. Um nun allen Strafen zu entgehen, gaben die Bulgaren den zurückgebliebenen türkischen Arzt, ihren Wohlthäter, als den Schuldigen an.
Zweimal entging Schücking der über ihn verhängten Execution nur durch eine glückliche Fügung, aber nicht den scheußlichsten Mißhandlungen, die ihn auf’s Krankenlager warfen und dem Tode nahe brachten, bis er endlich durch die Intervention der deutschen Reichsvertretung in Rumänien und mit Hülfe der Gesellschaft vom „Rothen Kreuz“ aus den Händen der russischen Militärjustiz befreit wurde.
Als er schon in Wien im Kreise der Seinigen verweilte, befiel ihn nochmals ein heftiger Typhus als Nacherinnerung an die mannigfaltigen Strapazen und Mißhandlungen.
Mit welcher Freude erfüllten mich die ersten Zeilen, mit denen mir mein Kriegscamerad, dessen Freundschaft ich so viel zu verdanken habe, seine Genesung melden konnte!
Eine That der Mutterliebe. (Zu dem Bilde S. 773.) Es giebt in der Vogelwelt unserer deutschen Heimath keinen gefürchteteren und verhaßteren Räuber, als den Habicht (Falco palumbarius). Scheu und ungesellig, unruhigen, hastigen Fluges, durchstreift er mit nimmersatter Gefräßigkeit und Mordlust sein Revier, und diese letzteren Eigenschaften sind um so gefährlicher, als sie mit einer seltenen Schlauheit gepaart erscheinen. Graf Wodzicki (bei Brehm) erzählt einen Fall, wo ein Habicht den zu äußerster Vorsicht eingeschüchterten Taubenschlag dadurch düpirte, daß er sich mit gesträubten Federn auf einem Strohdache zum Schein versteckte, unverkennbar eine Eule nachahmend; die Tauben wagten sich denn auch bald ohne Furcht in die Nähe des ruhig Dasitzenden, bis derselbe mit rauschendem Stoß sein Opfer ergriff und schlauer Weise zwischen den Wohnungen verzehrte, wo erfahrungsgemäß der Feuergefährlichkeit halber kein Gewehr abgefeuert wurde. „Seine Jagd gilt sämmtlichem Geflügel von dem Trappen oder Auerhuhne an bis zu dem kleinen Finken herab, und allen Säugethieren, welche er bewältigen zu können glaubt. Er stößt auf den Hasen, um ihn umzubringen, erhebt das bissige Wiesel vom Boden, wie er das Eichhörnchen vom Neste wegnimmt, raubt im Fliegen wie im Sitzen, den schwimmenden Vogel wie das laufende Säugethier, zieht seine Beute selbst aus ihren Versteckplätzen hervor.“ (Brehm). Im Käfig frißt sogar der stärkere Habicht den schwächeren; es ist ein Fall verbürgt, daß ein Förster vierzehn Habichte in einem Käfige bewahrte, welche sich bis auf zwei auffraßen! – Nach alledem wird die Echtheit eines Erlebnisses, wie das von Künstlerhand in unserem Bilde dargestellte, nicht angezweifelt werden können. Die Geschichte trug sich folgendermaßen zu:
Schreiber dieses stand als Knabe um die Mittagszeit eines Herbsttages am Fenster des elterlichen Hauses und ergötzte sich an dem drolligen Spiel einer jungen Katze, der einzigen von einem Wurf, welche der Alten zur Aufzucht überlassen geblieben war. Plötzlich streifte eine schattenhaft dunkle flatternde Masse fast das Fenster, und gleich nachher stieß das Kätzchen ein durchdringendes Geschrei aus: ein mächtiger Habicht, mit den aufgeschlagenen Fittichen balancirend, hielt das Thierchen in der einen Klaue, während die andere in den Boden griff, um sich festzuklammern. Ein paar Augenblicke lähmte mich die Ueberraschung, dann war ich im Begriff zu Hülfe zu eilen, als mich ein Anblick wieder an das Fenster fesselte, der mir unvergeßlich bleiben wird. Die alte Katze, welche in der Nähe gewesen sein mußte, war mit ein paar Sätzen auf dem Schauplatze erschienen und hatte nach einem glückliche Biß die Halspartie des Raubjunkers unter den Zähnen. Nun eine Scene voll des wildesten dramatischen Lebens, die ich athemlos mit den Augen verfolgte. Die Katze hielt in unbeschreiblicher Wuth fest, von den heftigen Bewegungen des nicht minder wüthenden Vogels umhergeschleudert; Federn stoben; in verworrenem Knäuel wälzten sich die beiden Kämpfer auf dem Boden; dann und wann flatterten die ziemlich dunklen Flügel des Habichts auf. Dem Kätzchen war es endlich gelungen, freizukommen; es schleppte sich ein Stückchen bei Seite und blieb wie erstarrt liegen. Ich hegte keinen Zweifel, daß der Vogel dem Biß der Katze erliegen müsse, aber ich irrte mich, der dicke Federkragen mochte die Rolle des Schutzengels spielen – in einem Moment flogen Vogel und Katze auseinander, und der Habicht erhob sich mit rasch duckendem Aufschwung auf einen benachbarten Apfelbaum, während die Katze nach einem vergeblichen Satz auf dem Boden verblieb. Ich eilte jetzt aus dem Zimmer; als ich auf dem Schauplatz des Ereignisses anlangte, sah ich den Habicht über die Häuser hinstreichen, die Katze vom Stamm des Apfelbaums niederspringen und zu dem Jungen eilen, welches unter ihren zärtliche Bemühungen wieder Leben bekam. Die Fänge des Vogels mußten nicht tief eingedrungen sein, denn es gelang unserer sorgfältigen Pflege, welche die Alte übrigens eine Zeit lang abzuwehren Miene machte, das „Habicht-Anni“, wie wir das Thierchen nach dem bekannten schweizerischen „Lämmergeier-Anni“ unserer Schulbücher tauften, am Leben zu erhalten.
Neue Prachtwerke des Buchhandels. (Mit Abbildung S. 781.) In der vorweihnachtlichen Zeit befindet sich der Buchhandel auf dem Höhepunkte seiner Regsamkeit; die meisten Bücher haben mit dem Täufer Johannes ungefähr den nämlichen Geburtstag, und die Prachtwerke wohl sämmtlich, selbst wenn dieselben, wie es bei einer Anzahl der werthvollsten der Fall ist, Lieferungswerke sind. Und wie drängt ein Prachtwerk jetzt das andere! Die Auferstehung des deutschen Kunstsinnes ist kaum besser zu erweisen, als durch die Thatsache, daß trotz der vielen Klagen über schlechte Zeiten und allgemeine Einschränktheit der Kauflust die Herausgeber solcher buchhändlerischer Kunstschöpfungen an denen Schriftsteller, Künstler, Drucker und Buchbinder in ihrer Weise vereint das Beste zu leisten streben, ihre Rechnung finden. Wir begrüßen diese vermehrte Freude am künstlerisch Schönen in unserem Volke mit voller Würdigung und dem Wunsche, daß dieselbe sich in vermehrter Weise nach allen Seiten hin geltend machen möge. Daß die Productivität auf Seiten des Kunstverlags vorläufig nicht so bald erlahmen wird, dafür ist durch das pilzartige Aufschießen neuer Vervielfältigungsarten für zeichnende und malende Kunst gesorgt; wir hoffen in Kürze einmal auf dieses interessante Erfindungsgebiet näher eingehen zu können, von dem der Weihnachtstisch des Buchhändlers so manche verlockende Frucht zu bieten hat.
Bevor wir die Leser mit einigen empfehlenswerthen Novitäten im strengen Sinne des Wortes bekannt machen – wozu unsere zweitnächste Nummer die Gelegenheit bieten soll, haben wir eine alte Schuld abzutragen, es gilt des prächtigen Lieferungswerkes „Aegypten“ (Stuttgart und Leipzig, Ed. Hellberger) zu gedenken, welches seit voriger Weihnacht im Erscheinen begriffen ist und aus dessen jüngsten Illustrationsschmuck wir unsern Lesern heute ein Blatt vor Augen führen. Wer die Sammlung der bisherigen Lieferungen durchblättert, der wird nicht in Zweifel sein, daß es sich hier um eine Publication von hohem künstlerischem wie literarischem Werte handelt. Die Schilderung des alten Pharaonenlandes, dessen Vergangenheit sich in der Darstellung geschickt mit einer Wanderung durch das heutige Aegypten verknüpft, nimmt ihren Ausgang von Alexandria und ist bereits bis Mittelägypten vorgeschritten; der Führer, an dessen Hand der Leser die Wanderung macht, ist kein Geringerer als Georg Ebers; der, als gelehrter Kenner Aegyptens gleich hochstehend wie als Darsteller auf belletristischem Gebiete, mehr denn jeder Andere berufen ist, ein Land zu schildern, welches von je einen so eigenthümlichen Reiz für alle Culturvölker der Geschichte gehabt hat, ja, das wohl als die Wiege aller Cultur überhaupt anzusehen ist. Durchgehends von Meisterhand gezeichnet und geschnitten sind die Illustrationen, welche verschwenderisch reich durch die Lieferungen verstreut sind und ebenso lebendig die Gegenwart, wie die Vergangenheit zur Anschauung bringen; besonders lobenswert ist das maßvolle Geschick, mit welchem der aus der altägyptischen Kunst sich bietende Ballast an instructiven Abbildungen auf das Wesentliche beschränkt ist. Mag die treffliche Publication bestens empfohlen sein! – Das heute von uns wiedergesehene Bild stellt das Innere eines Harems aus der Khalifenzeit dar, einer Zeit, welche das unter christlich-byzantinischer Herrschaft ziemlich gesunkene Aegypten merkwürdig rasch zu eigenartiger Blüthe belebte. Es bedarf kaum eines erklärenden Wortes; die Ausstattung des Raumes zeigt unverkennbar den Reichthum und das Behagen jener in Cultur und Geschmack hochstehenden Zeit, in welcher „der Kunstfleiß der Araber unter den Fatimiden, die in kostbaren Palästen zu wohnen liebten und deren vornehmste Beamten und Untertanen sich glänzend ausgestattete Wohnhäuser bauten, reiche Gelegenheit fand sich zu bethätigen.“
Einsender in Stuttgart. Herzlichen Dank für die warmen Verse, welche Sie zum Allerseelentage dem Gedächtnisse unseres vielverehrten Ernst Keil widmen!
Abonnent in Hamburg. Chronische Bindehautentzündung ist heilbar. Die Behandlung kann aber nur ein Augenarzt leiten.
M. v. W. in Bückeburg. Sie wünschen unsern Rath in Betreff neuer Lyrik für den Weihnachtstisch? Unter den uns vorliegenden Novitäten dieses Genres verdienen „Balladen und Lieder“ von Felix Dahn ( Leipzig, Breitkopf und Härtel), „Liederfrühling im Herbste des Lebens“, nachgelassene Gedichte von Heribert Rau (Leipzig, Louis Senf) und „Schein“, ein Skizzenbuch in Versen von Karl Hoff (Stuttgart, W. Spemann), besonders hervorgehoben zu werden.
Gertrud B. in H. Nicht ohne Talent, aber noch nicht ganz reif.
C. R. in Halle. Ihrem Zwecke dürften die „Blätter für Gefängnißkunde“ (Weiß. Heidelberg) am besten entsprechen.
Karl Haas in Altona. Nein! In „Ueber Land und Meer“.
Ein holländischer Leser. Wir bedauern! Das Portrait halten wir zu Ihrer Verfügung bereit.
Mehrfach mir ausgesprochenen Wünschen entgegenkommend, habe ich mich entschlossen,
zu dem herabgesetzten Preise von 11 Mark (excl. Porto) abzulassen, mache jedoch ausdrücklich darauf aufmerksam, daß diese Ermäßigung nur bis Ende Januar des nächsten Jahres und nur bei Zusammenkauf aller vier Jahrgänge Geltung hat.
sowie die seiner Zeit mit so großem Beifall aufgenommenen
- ↑ Unsere Leser werden sich einer Notiz erinnern, welche seinerzeit die Nachricht vom Verschollensein des hier Genannten, eines Sohnes von Levin Schücking, durch die Tagesblätter trug, sowie einer nachfolgenden zweiten, welche das Wiederauftauchen desselben in russischer Gefangenschaft meldete. Hier das Nähere über die Angelegenheit. D. Red.