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Die Gartenlaube (1879)/Heft 50

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[829]

No. 50. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig• – In Heften à 50 Pfennig.


Ein Seebad.
Von Otto Girndt.


1.

Vor dem Café Quadri in Venedig saß unter den alten Procuratien mit Cameraden seiner Waffengattung der Lieutenant Antonio di Fabbris am Abend bei der Mokkatasse und wiegte das jugendliche Haupt nach dem Tact der Musik, die in der Mitte des Marcus-Platzes von der Stadtcapelle auf tragbarem Orchester ausgeführt ward. Ein Theil des zahlreichen Publicums, das sich zum Concert eingefunden, umgab dichtgedrängt wie eine lebendige Mauer die Musikbühne; ein anderer Theil wogte unter dem glänzenden Licht der hohen Gascandelaber auf und ab; ein dritter sah, gleich dem Kreis der Officiere, um kleine Kaffee- und Eistische gruppirt, dem Treiben zu, musterte die Fremden, die aus allen Nationen hier zusammenströmen, oder ergab sich der Unterhaltung mit seiner nächsten Umgebung.

Antonio di Fabbris war als Musikenthusiast bekannt; seine Freunde brachen daher ihm zu Gefallen jedes Mal das Gespräch ab, wenn eine neue Melodie begann. Die Cameraden hielten viel auf den jungen Gesellen; er war als militärische Erscheinung ihr Stolz; denn auf sein Aeußeres paßte, was die Tochter des Regiments in Donizetti’s Oper von dem Schweizer Tonio singt: „Er war der Allerschönste im zweiten Regiment.“ Sein dunkler Teint verlieh ihm ein über seine Jahre männliches Aussehen; sein Wuchs war schlank; er hatte breite Schultern, schmale Hüften, und in seiner Gliederbewegung trat eine Grazie zu Tage, wie sie sonst nur den Frauen eigen zu sein pflegt.

Fabbris entstammte einer alten florentinischen Familie, deren Wappen aber verblichen war, bis Antonio’s Vater es mit neuem Firniß überzog, indem er eine reiche Kaufherrntochter heirathete. Dem einzigen Sohn überließ er es, auch in anderer Hinsicht den Glanz seines Adels wieder zu heben; der junge Lieutenant, der sich schon als Kind für die Kriegerlaufbahn entschieden, mußte, wenn er die väterliche Meinung nicht täuschen wollte, einmal den Generalsrang erreichen.

Bekanntlich wohnt in einem schönen Körper nicht immer eine schöne Seele, indeß Antonio’s Charakter ließ so wenig zu wünschen übrig wie seine Gestalt. Für seine Standesgenossen hatte er eine stets offene Helferhand, wenn Dieser oder Jener sich leichtsinnig in Schulden gestürzt, und er fragte nie, ob oder wann er ein Darlehn wiederbekäme. Seine Mittel erlaubten ihm, großmüthig zu sein. Für seine eigenen Bedürfnisse brauchte er wenig; kostspieligen Leidenschaften huldigte er nicht, nur auf eine ausgezeichnete fachwissenschaftliche Bibliothek legte er Werth und benutzte sie in dienstfreien Stunden eifrig. Die Abende verbrachte er entweder mit seines Gleichen im Freien oder in Familien, wo er eingeführt war. Die vornehmsten Häuser standen ihm durch Empfehlungen offen; auch beim Herzog Bevilacqua hatte er Zutritt gefunden. Der Herzog besaß einen der berühmtesten Paläste am großen Canal und von seiner frühgestorbenen Gemahlin nur ein Kind, eine Tochter.

Erminia hätte schon als kaum erblühte fünfzehnjährige Jungfrau einem Fürsten die Hand reichen können, wenn der Herzog es vermocht hätte, sich von seinem Augapfel zu trennen. Jetzt zählte sie achtzehn Sommer und mochte ihrerseits den Vater nicht verlassen. Sie wußte alle Verehrer, die ihr nahten, in Schranken zu halten, sodaß Keiner offen mit einer Bewerbung heranzutreten wagte und man ihr bereits den Beinamen „Penelope“ gab. Die Bezeichnung war ihr zu Ohren gedrungen – sie lachte darüber. Seit aber Antonio di Fabbris in ihr Haus kam, der ihr achtzehn Jahre im Alter voraus war, bewog sie nicht mehr die Kindesliebe allein, sich frei zu bewahren; sie wünschte heimlich, der Lieutenant möchte sich um sie bewerben.

Doch von Antonio’s Seite blieb es bei harmlosem Verkehr, er merkte nicht einmal, daß Erminia tieferen Antheil an ihm nahm. Wäre sie seiner Gegenliebe gewiß gewesen, von ihrem Vater durfte sie keinen Einwand gegen eine Verbindung unter ihrem Stande fürchten, wenigstens traute sie sich zu, derartige Scrupel des Herzogs leicht zu beseitigen; der gute Herr konnte ihr ja Nichts auf der Welt abschlagen – dazu war er selbst viel zu sehr verliebt in die Tochter. Und konnten die Connexionen Bevilacqua’s am Königshofe, wo er jeden Winter einige Monate mit Erminia verweilte, dem jungen Officier nicht zu ausnahmweise rascher Beförderung verhelfen? Aber, wie gesagt, Fabbris bemerkte die Zuneigung nicht, die man am großen Canal für ihn hegte. Er redete das Herzogskind fortgesetzt „Altezza“ (Hoheit) an, obschon er nach kurzer Bekanntschaft schlechtweg als „Signor Antonio“ begrüßt ward, da der Italiener im traulichen Umgang gern den Familiennamen fallen läßt und sich nur des Vornamens bedient.

Jedesmal, wenn Antonio seine Abenderholung auf dem Marcus-Platz suchte, konnte er auf den zierlichen Knicks eines Blumenmädchens gefaßt sein, das ihm nie das schönste ihrer kleinen Sträußchen vergeblich bot. Regelmäßig empfing die wandernde Händlerin das Fünffache des üblichen Preises für ihre duftende Gabe, die der Abnehmer später meistens liegen ließ oder zerpflückte. Kein Wunder, daß die Fioraja – so heißt in der Landessprache ein Blumenmädchen – sich so gewissenhaft mit ihrem Körbchen am Café Quadri einstellte.

[830] Auch heut kam sie, trat jedoch nicht sofort an den Tisch der Officiere, sondern wartete, bis das Musikstück, das gerade gespielt wurde, die letzte Note erreicht; denn sie hatte den Augen ihres Gönners längst abgemerkt, wie unliebsam ihm jede Störung war, so lange die Instrumente klangen. Das Mädchen ließ sogar noch in der Pause die Töne eine Minute in dem Hörer nachwirken, ehe sie näher trippelte und sich lächelnd präsentirte. Die gewohnte Zahlung glitt ihr in die Hand, aber ihr freundliches Dankwort überhörte Fabbris. Ihn fesselte in dem Augenblicke eine weibliche Erscheinung, die sich königlich von der Menge der Lustwandelnden abhob und fast noch mehr, als durch ihren edlen Wuchs, durch eine Fülle goldblonden Haares auffiel, wie Antonio es noch nie auf einem weiblichen Scheitel gesehen. Sie zog die Augen von allen Seiten auf sich; das Publicum wich ihr aus, stand bewundernd still und schaute ihr nach. Antonio’s Cameraden hatten sie mit ihm zu gleicher Zeit entdeckt.

„Seht, seht,“ flüsterten sie, „wer mag die Fremde sein?“

Denn daß keine Venetianerin vorüberschritt, wußte Jeder; ein solches Phänomen, wenn es der Stadt angehörte, hätte man gekannt.

„Wunderbar!“ murmelte Antonio starren Blicks und erhob sich unwillkürlich halb vom Sessel, um das Meteor zu verfolgen, bis es im Gewühl der Passanten verschwand. Die Officiere stellten jetzt allerlei Vermuthungen auf, welchem Volk der Erde das herrliche Weib entsprossen; Einer meinte, sie müsse eine Engländerin sein; der Andere hielt sie für eine Deutsche; der Dritte versetzte ihren Ursprung nach Schweden; der Vierte gar nach Amerika. Fabbris kümmerte sich nicht um ihr Vaterland; er äußerte nur: „Reicheres Goldhaar kann Lucrezia Borgia, kann Berenice nicht besessen haben.“

In demselben Augenblick klang ein frisches, bekanntes Stimmchen hinter ihm: „Befehlen die Herren zu wissen, wer die Fremde ist?“

Antonio erkannte seine Fioraja, die sich inzwischen nicht entfernt, und forderte hastig Aufschluß.

Die Kleine knixte.

„Eine polnische Gräfin!“. Und da sie sich dachte, daß der Fragende nicht zürnen werde, wenn er noch mehr erführe, ließ sie geschwind folgen: „Wohnt an der Riva, ‚Hôtel Danieli’.“

„Wer hat Dir gesagt, Angela, daß sie eine Polin?“ forschte Fabbris.

„Gestern war sie in der Marcus-Kirche; da hört’ ich’s von den Umstehenden.“

Antonio nickte und winkte dem Mädchen, zu gehen. Sie gehorchte. Er war gespannt, ob das wunderbare Wesen noch einmal sichtbar werden würde, und, was ihm nie zuvor passirt, er gab nicht Acht, als die Musik auf’s Neue begann. Seine Erwartung blieb unbefriedigt; die Polin mußte auf der entgegengesetzten Seite des Platzes längs der neuen Procuratien den Rückweg zur Riva eingeschlagen haben. Die übrigen Officiere trösteten sich mit der Hoffnung auf den nächsten Tag, wo sie dem „Hôtel Danieli“ Fensterpromenade machen wollten. Fabbris zog schweigend die Stirn kraus. Einer Dame in solcher Weise Aufmerksamkeit zu zeigen, war nicht seine Art.

Vielleicht wiederholte die Gräfin ihren Spaziergang am folgenden Abend. Aber da mußte Antonio dem Marcus-Platze fern bleiben; er hatte eine Einladung zum Herzog Bevilacqua. Sollte er absagen, nachdem er angenommen? Aus welchem Grunde? Es wäre unrecht und thöricht gewesen. Es verdroß ihn innerlich, dem Gedanken einen Moment Raum gegeben zu haben. Er stand auf, verabschiedete sich von den Cameraden unter dem Vorwand, in seiner Wohnung noch einen vergessenen Brief schreiben zu müssen, und ging.

Der Capitain Bordone lächelte hinter ihm her:

„Er will uns nur täuschen, er schreibt keinen Brief, ich weiß besser, was er vorhat.“

Die Uebrigen, neugierig gemacht, drangen in den Sprecher, sie einzuweihen, und Bordone that es.

„Fabbris ließ sich neulich mit der Feder in der Hand von mir überraschen, und ein allerdings indiscreter Blick auf das Papier orientirte mich über seine Thätigkeit. Man wird nächstens von einem neuen Militärschriftsteller hören. Er arbeitet an einem kriegswissenschaftlichen Werke.“

Ein allgemeiner Ausruf des Erstaunens belohnte die Mittheilung. Der Capitain bat sie geheim zu halten, bis Fabbris selbst die Frucht seines Fleißes an’s Licht bringe. Jeder der Hörer machte sich verbindlich, zu schweigen, und Antonio ward jetzt Gegenstand einer äußerst lebhaften Unterhaltung; die Herren stimmten sämmtlich überein, er habe bei seinen vortrefflichen Eigenschaften und seiner Persönlichkeit unzweifelhaft eine Zukunft voll Glück und Ehre vor sich.

Hätte Antonio geahnt, wie man von ihm dachte und sprach, ihm wäre leichter zu Muthe gewesen. So aber fiel ihm plötzlich ein, seine Entfernung könne den Verdacht erregen, er wolle der Polin nachspüren, und er fürchtete für den nächsten Tag Fragen und Foppereien in dem Sinne. Wenn wir Menschen von starker Gemüthsbewegung ergriffen sind, bilden wir uns gar leicht ein, Jedermann sehe uns in’s Herz und errathe die Ursache unseres Zustandes.

In seinem Quartier angelangt, schnallte der Lieutenant den Säbel ab, doch an die Arbeit, wie Capitain Bordone geglaubt, setzte er sich nicht. Er nahm nur ein Buch zur Hand, aber auch mit dem Studiren wollte es heute nicht glücken; er las Worte ohne Inhalt und sprang bald wieder auf, um bis Mitternacht nichts weiter zu thun, als im Zimmer hin und her zu marschiren. Beständig sah er das Weib mit den goldenen Haaren vor sich. Gegen seinen Willen fühlte er sich zu der fremdartigen Schönheit mächtig hingezogen, doch wie sollte er sich ihr nähern? Und wenn sich ein Weg fand, was dann? Kannte er denn ihre Verhältnisse? War sie nicht etwa vermählt? Ihr nur Anbetung wie einem Madonnenbilde zu weihen, schien ihm auf die Dauer unmöglich.

Eine wilde Jagd von Gedanken und Wünschen brauste durch sein Hirn; mit einem Schlage war die ganze leidenschaftliche Natur des Südländers in ihm erwacht. Erschöpft von selbstgeschaffenen Qualen, warf er sich endlich halb entkleidet auf’s Bett. Da erinnerte er sich der deutschen Sage von der „Lorelei“, die er einmal, in seine Muttersprache übersetzt, gelesen; die polnische Gräfin glich der bethörenden Fee des Rheinstromes, und Antonio fing an von hohen Felsen, von rauschenden Wassern zu träumen; er lag in einer venetianischen Gondel, die ohne Fährmann einem schäumenden Strudel zwischen schwarzen Klippen entgegentrieb; er wollte nicht ertrinken, aber er konnte sich nicht aufraffen und das Ruder ergreifen, bis es ihm doch zuletzt mit einem jähen Rucke gelang.

Wirklich war er vom Kissen emporgefahren und riß die Augen auf – der Morgen dämmerte, ein Fensterladen hatte sich knarrend geöffnet, losgerissen vom Sturme, der sich im adriatischen Meere erhoben und, durch die Lagune hin wie dumpfer Donner rollend, sich in der Stadt verfing. Antonio schüttelte sich und dachte über sein peinigendes Traumbild nach, bis er die Quelle wiedergefunden, der es entsprungen. Er nahm sich vor, das Goldhaar und die Frau, die es trug, zu vergessen; fester Wille vermag ja viel. Ein Sturzbad, das er seinem heißen Kopfe bereitete, so gut es sich mit zwei Händen schaffen ließ, erfrischte und kräftigte ihn dergestalt, daß er sich wieder Mann fühlte. Das Frühlicht hatte zugenommen; er suchte einen Stoß beschriebener Blätter hervor, deren Geheimniß der Capitain Bordone ausgeplaudert, und siehe da, er fand sich im vollen Besitze der nöthigen Kraft und Sammlung, seine Arbeit fortzusetzen. Als er sie abbrach, um in den Dienst zu gehen, berechnete er, daß er nach wenigen Tagen den letzten Strich an dem Werke thun könne, wenn ihn nichts ableite und zerstreue.

Am Vormittage sollte das ganze Regiment, bei dem Antonio stand, exerciren. Im Casernenhofe trat es zum Ausmarsche an. Kaum hatte Fabbris einige Officiere, die sich vor ihm eingefunden, begrüßt, da erschien der Oberst, ließ einen Kreis um sich schließen und eröffnete, er habe soeben eine Depesche erhalten: in einer Woche komme der König nach Venedig.

Es war der erste Besuch, den Victor Emanuel nach der vollendeten Einigung Italiens und der Verlegung des Herrschersitzes von Florenz nach Rom seinen Venetianern abstatten wollte. In Aussicht hatte die Königsreise schon längere Zeit gestanden, nur war der Termin noch nicht bestimmt gewesen; nun rückte er auf einmal so nahe, daß jede Stunde wichtig wurde, um den Kriegsherrn gebührend zu empfangen. Von jetzt an sollte das Regiment täglich Uebungen vornehmen, damit es Ehre einlegte, mochte nun Seine Majestät Parade oder Manöver befehlen.

Antonio freute sich auf die angestrengtere Thätigkeit, und sein [831] Blick war heute geschärfter als je für das kleinste Versehen seiner Mannschaft. Weder in den Pausen beim Exerciren, noch an der Mittagstafel der unverheiratheten Officiere, die gemeinschaftlich im Arsenal zu speisen pflegten, fiel eine Silbe von der blonden Polin; die höchsten Herrschaften beschäftigten alle Gemüther ausschließlich.

Am Abend bestieg Fabbris eine Gondel zur Fahrt in den großen Canal. Er hätte den Palast des Herzogs Bevilacqua schneller erreicht, wenn er die engen Wasserstraßen mitten durch die Stadt gewählt, er zog es aber vor, sich längs der Riva an sein Ziel rudern zu lassen. Weshalb? Was konnte es schaden, wenn er das „Hôtel Danieli“ in’s Auge faßte? Glaubte er doch vor neuen Fieberanfechtungen sicher zu sein, falls er die Gräfin von ungefähr wiedersah. So forderte er das Schicksal heraus und – sollte es büßen. Unten vor dem Hôtel stand ein Blinder, der zur Guitarre sang. Die Stimme des greisen Tenoristen hatte vielleicht einst in großen Opern Furore gemacht; sie klang noch in Trümmern süß und ergreifend. Aus einem weitgeöffneten Balconfenster neigte sich lauschend eine herrliche Frauengestalt zu dem gefallenen Bühnenstern nieder; ihre Hand streckte sich vor; des Blinden Führer fing ihr Almosen im Hute auf.

Antonio unterschied zwar ihre Züge nicht, aber Gasstrahlen vom Kronleuchter im Zimmer hinter ihr streiften das üppige Haar und übergossen es mit röthlichem Schimmer, der die Gestalt eines Heiligenscheines annahm. Und einer Heiligen gleich erbarmte sie sich der irdischen Noth zu ihren Füßen. Wehe dem Zeugen in der dunklen Gondel! Ein Stich durchfuhr sein Herz – alle Vorsätze waren dahin.

Verwirrt, fast taumelnd betrat er den Palast Bevilacqua. Ein Kreis von Gästen umringte im großen Salon den Hausherrn. Natürlich war auch hier nur vom König die Rede, von den Empfangsfeierlichkeiten, welche der Gemeinderath vorbereitete, und den Huldigungen, die der Adel darbringen werde. Antonio’s Erscheinen wäre unbeachtet geblieben, hätte Erminia nicht der Damastportière, durch die sein Weg führte, gegenüber gestanden. Daß sie die Stellung absichtlich eingenommen, wer merkte es? Freundlich ging sie dem Ankömmling entgegen, er jedoch begrüßte sie so förmlich und gemessen, daß sie stutzte. Der übrigen Gesellschaft zugeführt, verhielt Antonio sich schweigsam, theilnahmlos. Erminia beobachtete ihn fortgesetzt, bis sich ihr Gelegenheit bot, ihn ohne Aufsehen in eine Nische zu ziehen.

„Signor Antonio, was fehlt Ihnen?“ fragte sie leise.

„Mir, Hoheit?“

„Sie sind zerstreut, niedergeschlagen.“

„O, nicht doch!“

„Wollen Sie mich täuschen? Ihr Herz ist nicht frei.“ Er zuckte leicht zusammen. Sie hatte einfach gemeint, sein Herz sei bedrückt; jetzt erst ward ihr klar, welch anderer Sinn sich in ihr Wort legen ließ. Doch sie bereute die Doppeldeutigkeit nicht, im Gegentheil, sein Erschrecken machte sie kühner: „Ihre Bewegung verräth, daß ich auf der rechten Fährte bin. – Sie schweigen noch? Sie haben ein Geheimniß? Ei, ei, was soll ich davon denken?“

Er versuchte zu lächeln: „Ihr Scharfblick, Hoheit, ist merkwürdig.“

„Lassen Sie die Hoheit weg, sehen Sie nur das neugierige Mädchen und – Ihre Freundin in mir!“

„Nun denn,“ versetzte er, „ich will es nicht leugnen, ich unterliege einer Bezauberung, gegen die ich vergebens ankämpfe.“

„Warum ankämpfen?“

„Ich muß mich selbst einen Thoren schelten.“

„Gewiß, wenn Sie als Soldat muthlos sind! Was ist einem Manne, der den Degen trägt, unerreichbar?“

„In meinem Falle ist der Degen stumpf.“

„Sie machen mich ungeduldig. Wer hat Sie bezaubert?“

„Ein Weib!“

Sie trat ganz dicht an ihn heran: „Der Name?“

„Ich weiß ihn nicht.“

„Wie?“

Er senkte den halb aufgeschlagenen Blick: „Hören Sie denn, was mir geschehen!“

Und er erzählte. Schon bei seinen ersten Worten lehnte Erminia sich in die Nische zurück, hastig den Fächer vor dem Gesicht bewegend. Ihr Athem flog, aber sie unterbrach den jungen Mann durch keinen Laut, bis sie Alles vernommen. Arglos beichtete er, ohne Ahnung, wie er enttäuschte, welche Empfindungen er weckte. Die weibliche Natur verliert in kritischen Lagen entweder plötzlich jeden Halt oder gewinnt eine Selbstbeherrschung, die den stärksten Mann beschämt. Das Zweite trat bei Erminia ein; Antonio sollte nicht gewahren, daß er ihr weh gethan. „Er weiß ja nichts von meiner Liebe,“ sagte sie sich im Stillen, „sonst würde er mir dieses Geständniß nicht ablegen.“ Sie grollte ihm nicht, vielmehr beschlich sie ein Bedauern, daß ihm der Blick fehlte, zu erkennen, wo ihm Neigung blühte, und daß er seine Schwärmerei einer Unbekannten zugewendet, deren Wesen, wie glänzend es Antonio auch geschildert, ihr einen instinctiven Argwohn einflößte.

„Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen,“ hob sie an, als der Officier schwieg, „und da ich mich Ihre Freundin genannt, zählen Sie auf meinen Beistand!“

„Beistand?“ Er hob die Augen.

„Nun, es muß Ihnen doch wünschenswerth sein, Genaueres über die schöne Gräfin zu erfahren?“ Und ihn schnell verlassend, trat sie an die Gruppe der Cavaliere, die ihren Vater umgab, und brach mit lauter Stimme keck die Frage vom Zaun, ob die Herren von der strahlenden Polin im „Hôtel Danieli“ gehört oder sie gar schon gesehen? Sofort bejahten Mehrere der Anwesenden, und Fürst Giovanelli erklärte, er habe in der Mittagsstunde das Vergnügen gehabt, die Gräfin Ludovica Bariatinska in nächster Nähe zu bewundern, da sie die Einrichtung seines Palastes in Augenschein zu nehmen gewünscht. Erminia kehrte sich nach Antonio um und winkte ihm, aufzupassen. Der Fürst schwelgte ebenfalls noch in der Erinnerung an das beispiellos üppige Prachthaar. Ludovica hatte ihm offenbart, sie sei sehr jung Wittwe geworden und suche seit dem Verlust ihres Gemahls auf Reisen Trost. „Venedig ist ihr neu,“ fuhr Giovanelli fort, „mein Haus gefiel ihr außerordentlich; ich rieth ihr, sich auch bei Ihnen umzusehen, lieber Herzog, und glaubte, sie einer freundlichen Aufnahme versichern zu dürfen.“

Bevilacqua nickte zustimmend, Erminia fragte schnell: „Wann will sie kommen?“

„O, sie wird nicht lange auf sich warten lassen,“ meinte der Fürst; „denn sie erkundigte sich sofort nach der Zeit, in der Ihr Palast Fremden zur Ansicht geöffnet ist. Sie spricht kein sonderliches Italienisch, desto besser aber Französisch.“

Bevilacqua beklagte, daß ihm selbst der angekündigte Besuch vielleicht verloren gehe, da er den Berathungen des Adels über die Ovationen bei der Ankunft des Königs präsidiren müsse, doch werde jedenfalls seine Tochter bereit sein, die Gräfin zu empfangen. Erminia versprach lebhaft, den Vater würdig zu vertreten; dann näherte sie sich wieder dem Lieutenant Fabbris und flüsterte ihm zu: „Ich werde die Dame auffordern, uns einen Abend zu schenken, dann sollen Sie hier sein. Sind Sie zufrieden?“

Antonio wollte ihr dankbaren Blickes die Hand küssen; sie schlug ihm abwehrend mit dem Fächer auf die Finger und richtete kein Wort mehr an ihn, auch nicht, als er mit den übrigen Gästen aufbrach.




2.

Fürst Giovanelli hatte Recht gehabt: Ludovica Bariatinska ließ nicht lange auf sich warten, schon am nächsten Mittag brachte Erminia’s alte Kammerfrau, die als Erbstück von der Mutter her im Hause geblieben, ihrer jungen Herrin die Visitenkarte der Polin. Eine Minute später stand die Gräfin vor dem Herzogskinde. Im ersten Eindruck liegt immer etwas Entscheidendes. Hatte Erminia sich nach den erhaltenen Beschreibungen zu hohe Begriffe von Ludovica’s Reizen gemacht, oder war das junge Mädchen eine zu strenge Kritikerin, genug, trotz der elegantesten Toilette und des graziösesten Lächelns wirkte die Bariatinska eher abstoßend, als anziehend auf sie. Im Auge der Ausländerin lag keine Güte, auch um den Mund spielte ein Zug, der auf wenig Herzenswärme deutete. Der Wuchs allerdings war untadelig, und das goldene Haar mußte Erminien wie Jeden, der es sah, zur Anerkennung seiner Wunderfülle hinreißen. In einer wahren Lockenfluth ringelte es sich unter dem koketten kleinen Hut, einem unverkennbaren Pariser Modell, hervor und floß den Nacken hinab bis tief auf den Rücken.

Erminia verbarg ihr Erstaunen, verbarg auch, daß sie vorbereitet [832] war auf den Gast, erbot sich aber, persönlich als Führerin durch die lange Zimmerflucht ihrer Wohnräume zu dienen, da ihr Vater abwesend sei. Ludovica fand das sehr liebenswürdig von Ihrer Hoheit und bat um Nachsicht für ihre eigene mangelhafte Ausdrucksweise in der Landessprache, die sie indessen nicht hindere, Alles zu verstehen, was sie höre. Gefällig schlug Erminia zur Erleichterung des Verkehrs eine französische Conversation vor; die Gräfin ging mit verbindlicher Neigung des stolzen Hauptes darauf ein, wobei ihr ein paar Locken nach vorn über die Schultern fielen. Unwillig warf sie dieselben zurück.

„Mein abscheuliches Haar! Es chicanirt mich beständig.“

Hatte sie dadurch auf ihren Reichthum aufmerksam zu machen getrachtet, so verrechnete sie sich; Erminia nahm keine Notiz von der Bemerkung, sondern schritt mit der Frage vorauf, ob die Gräfin sich mehr für moderne oder für antike Zimmerausstattung interessire; danach wolle sie ihr Verweilen in den einzelnen Gemächern richten. Ludovica entgegnete, hier erscheine ihr Alles entzückend, worauf ihr Blick falle; Erminia nahm aber wahr, wie oberflächlich die kunstreich geschnitzten Schränke, die Tische mit Intarsia-Arbeit, die Bronzegüsse und Porcellangefäße gemustert wurden, und kam auf den Gedanken, es sei der Polin um ganz andere Dinge bei der Visite zu thun, als um Bereicherung ihrer Anschauungen. In diesem Argwohn ward das junge Herz noch bestärkt durch Ludovica’s plötzliche Aeußerung:

„Sie werden nun bald das Glück haben, Hoheit, Seine Majestät in der Lagunenstadt zu sehen.“

„Ich sehe ihn jeden Winter am Hofe.“

„Ach, Sie Beneidenswerthe!“ seufzte die Andere. „Wie gern würde ich den hiesigen Festlichkeiten beiwohnen, wäre ich nicht fremd, ohne einflußreiche Bekanntschaften, durch die ich vorgestellt werden könnte!“ Da Erminia keinen Laut von sich gab, seufzte sie noch einmal: „Es ist wohl traurig, mit vierundzwanzig Jahren schon völlig vereinsamt in der Welt zu stehen!“

„Sie reisen ganz allein?“ fragte Erminia ziemlich kühl.

„Eine treue Dienerin aus vergangenen glücklichen Tagen ist meine einzige Begleitung.“ Und unaufgefordert erzählte sie, wie lange sie bereits Wittwe sei, und daß sie ihren verstorbenen Gemahl nirgend vergessen lerne.

Erminia dachte bei sich: „Wer sehnt sich zu vergessen, was ihm einst theuer gewesen?“ Ihr geheimer Widerwille gegen die Reisende wuchs, zumal diese hier ganz so mittheilsam war, wie Tags zuvor im Palaste Giovanelli; mutmaßlich also tischte die Gräfin aller Orten dieselbe Geschichte von ihrem Unglück auf. Das verletzte die feinfühlende Seele Erminia’s; sie wünschte die Polin möglichst schnell loszuwerden und beschloß ungeachtet der Verheißung, die sie dem Lieutenant Fabbris gegeben, ihr keinen abermaligen Zutritt zu gewähren. Sie wartete nur, bis Ludovica ihr Klagelied beendet, dann sagte sie:

„Nach diesem schmerzlichen Erguß, Frau Gräfin, sind Sie schwerlich gestimmt, noch Gemälde zu betrachten; ich führe Sie daher nicht mehr in unsere Gallerie hinauf.“

Die Polin biß sich auf die Lippe.

„Vielleicht gestatten mir Hoheit ein anderes Mal die Besichtigung.“

„Wenn Sie mich nicht finden,“ entgegnete Erminia, „die Frau des Portiers steht den Fremden stets in den Stunden von Zwölf bis Vier als Wegweiserin zur Verfügung.“

Die Gräfin empfahl sich, tiefen Aerger im Busen über das spröde, unzugängliche Kind, bei dem sie so gänzlich ihren Zweck verfehlt, zu imponiren und sich einzuschmeicheln. Die Herzogstochter gab ihr nur das Geleit bis an den Vorsaal und trug der dort harrenden Kammerfrau auf, sie die breite Marmortreppe hinunter an den Ausgang zu führen. In der Gondel vor dem Palaste saß „die einzig Treue“, die Reisebegleiterin der Wittwe, der Rückkehr ihrer Gebieterin gewärtig. Ludovica’s finstere Miene weissagte ihrem lauernden Blick nichts Gutes.

„An’s Hotel zurück!“ befahl die Gräfin barsch dem Ruderer.

Die Alte war aufgestanden, half ihr beim Einsteigen und fragte leise: „Nun?“

„Eine junge Gans, das Ding, ein Stockfisch!“ machte Ludovica sich in polnischen Lauten Luft.

„Wer?“ fragte Jene in demselben Idiom.

Die Herrin zerriß fast ihren Spitzenumhang vor Zorn.

„Den Herzog traf ich nicht, nur seine einfältige Tochter, die in ihren dummen Ohren Wachs zu haben schien.“

Das Fahrzeug flog an einem anderen vorüber, in dem ein sauber gekleidetes junges Mädchen saß, den Scheitel blos von einem leichten schwarzen Schleier bedeckt, wie ihn die Töchter der venetianischen Bürgerfamilien tragen. Weder die Gräfin noch ihre Magd hatte Augen für die Kleine, welche dagegen sie desto schärfer fixirte. Kurz nachher legte die zweite Gondel an; das Mädchen zog die Glocke am Gitterportal unter der Säulenvorhalle des herzoglichen Palastes und schlüpfte in’s Innere.

Erminia war in ihr Boudoir zurückgegangen. Wie sollte sie vor Fabbris ihren Wortbruch rechtfertigen? Sie hatte doch ungeschickt gehandelt, blos ihrer unmittelbaren Empfindung zu folgen. Ein Zusammentreffen Antonio’s mit der vergötterten Fremden hätte sein Gefühl vielleicht ebenfalls in Abneigung umgewandelt. Aber es war ihr durchaus unmöglich gewesen, der Gräfin die geringste Sympathie zu heucheln. Sie überlegte und faßte den Entschluß, dem jungen Officier die volle Wahrheit zu bekennen; denn daß sie aus Eifersucht falsch geurtheilt, konnte ihm nicht in den Sinn kommen. Noch hielt sie das liebliche Köpfchen in die Hand gestützt, als ihr ein Blumenmädchen gemeldet ward, das dringend um eine Audienz bitte. Erminia war befremdet, bewilligte aber den Einlaß.

Die Supplikantin führte sich mit überaus zierlichem Knix ein und zog den schwarzen Schleier unter dem Kinn zusammen.

„Wie heißest Du?“

„Angela, Hoheit!“

„Dein Begehren?“

„Sind Eure Hoheit eine Viertelstunde ungestört?“

„Was soll’s? Geschwind!“ drängte Erminia, jedoch ohne Härte.

„Hoheit kennen den Lieutenant Antonio di Fabbris.“

Die Angeredete ward sichtlich gespannt.

„Woher weißt Du?“

„Ich sah ihn eines Abends in Ihrer Gondel. Er ist immer sehr großmütig gegen mich. So oft ich ihm vor dem Café Quadri am Marcus-Platz ein Sträußchen reiche, schenkt er mir eine halbe Lira. Dafür bin ich ihm gut, und sein Wohl liegt mir am Herzen.“

„Wie das?“

„Hoheit hatten soeben Besuch von einer Dame.“

„Nun?“

„Ich bin ihr gefolgt. Ich habe einen Bekannten, der mich umsonst fährt. Wir kreuzten so lange im Canal herum, bis die Dame den Palast verließ.“

„Nun, nun?“

Ich kann’s dem Cavaliere di Fabbris nicht sagen, es schickt sich nicht, und mir würde er gram werden, aber Eure Hoheit kann ihn vor der Fremden warnen.“

Erminia fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.

„Mädchen! Wie sollte ich dazu kommen?“

„Sie sind eben die einzige Signora, die ich mit ihm bekannt weiß, darum bin ich so dreist.“

„Weshalb ihn warnen?“

„Vorgestern Abend trat ich gerade an seinen Tisch, als er die Fremde zum ersten Male sah. Ich bemerkte augenblicklich, wie sie seine Sinne gefangen nahm; ich sagte ihm, wo sie wohnt, was sie ist; ich hatte es zufällig erfahren. Jetzt habe ich mich weiter nach ihr erkundigt. Der Portier im ,Hôtel Danieli’ ist ein gewitzter Bursche. Er sieht es allen Leuten, die dort einkehren, an, weß Geistes Kinder sie sind. Er hat bedenkliche Anmerkungen über die polnische Gräfin gemacht.“

„So?“ fiel Erminia ein. „Und Deinem Portier bin ich zu glauben verpflichtet?“

„Wie hat die Dame denn Eurer Hoheit selbst gefallen?“

Auf die Gegenfrage war Erminia nicht gefaßt; sie hatte Mühe, keine Verwirrung zu zeigen. „Was geht Dich das an?“

Angela blinzelte schlau. „Hoheit weichen mir aus, sie hat Ihnen also nicht gefallen.“ Erminia machte eine Bewegung, die Fioraja ließ sich jedoch nicht einschüchtern. „Das kann auch gar nicht anders sein. Wer nur einmal begnadigt wird, Ihnen nahe in die Augen zu schauen, der weiß gleich, daß Sie nicht zu der Polin passen.“

„Spare Deine Schmeicheleien, Angela!“

[833]

Auf der Eisbärenjagd.
Originalzeichnung von Ludwig Beckmann.

[834] „Wahrhaftig, ich schmeichle nicht.“

„Es ist sehr dreist, mich mit solchem Anliegen zu behelligen.“

„Ich weiß es ja, Hoheit, aber wohin sollte ich denn sonst? Es wäre mir sehr leid um den Cavaliere di Fabbris, wenn er da etwa in Schlingen geriethe –“

„Das ist seine Sache,“ unterbrach Erminia nahezu heftig.

Angela ließ den Kopf sinken. „Verzeihung, Hoheit!“ Zwei schwere Tropfen rannen aus ihren Wimpern.

Die Aristokratin stand betroffen. „Was ist das? Du weinst? Sollte die Verwegenheit, mit der Du Dich zu mir gedrängt, wohl gar einen tieferen Grund haben? Du liebst den Cavaliere Fabbris?“

Die Fioraja sah unschuldig auf. „O nein! Ja, wenn ich eine Fürstin wäre und kein so häßlich Ding!“

„Du bist nicht häßlich.“

„Nicht?“ Angela strahlte plötzlich. „Wenn Eure Hoheit mir das sagt, muß es wahr sein. Ach, wie mich das freut! Ich habe immer gedacht, ich wäre kaum zum Ansehen.“

Erminia mußte lächeln. „Mädchen, Du gefällst mir.“ Angela klaschte außer sich in die Hände. „Ich meine,“ fuhr die Sprecherin erläuternd fort, „Dein Wesen sagt mir zu. Meine Kammerfrau ist betagt; hättest Du Lust, in meinen Dienst zu treten?“

Angela erstarrte fast. „Hoheit – solch Glück – ich?“

„Ja oder nein.“

„Ja, ja, mit tausend Freuden!“

„Wann kannst Du zu mir kommen?“

„Sobald Sie befehlen. Noch heut, noch heut!“

„Du bist Blumenhändlerin; kannst Du Dein Geschäft so ohne Weiteres aufgeben?“

„O, ich werde selig sein, wenn ich nicht mehr mit dem Korb auszugehen brauche. Glauben Sie nur, Hoheit, Unsereins hat manchmal recht rohe Behandlung zu erdulden. Nicht jeder Herr geht mit uns um wie der Lieutenant di Fabbris. Ach, und meine Eltern, wie werden die jubeln, wenn ich im Palast Bevilacqua im Dienst sein werde!“

Sie klatschte von Neuem in die Hände und hüpfte auf dem Flecke, wo sie stand, in die Höhe. Die vornehme junge Dame war bei ihrem Antrag im Grunde nur vom Eigennutz geleitet gewesen; jetzt erkannte sie zu ihrer Freude, daß sie unbewußt ein gutes Werk gethan. Angela wurde entlassen, um im elterlichen Hause ihre Sachen zu ordnen.

(Fortsetzung folgt.)




Literaturbriefe an eine Dame.

Von Rudolf von Gottschall.

XXII.

Der Christmarkt, verehrte Freundin ist auch ein Büchermarkt, und unter den Lichtern des Christbaums versammeln sich die Heerschaaren der schönen Literatur im Paradeanzug. Sie werden auch einige dieser eleganten Musenkinder auf Ihren Weihnachtstisch legen, und es wird von ihnen geistiges Licht und geistige Wärme ausstrahlen in den baltischen Winter, der über die frierende Ostsee seine Schneewolken jagt.

Freilich, viele dieser zierlichen, geschmackvollen und prächtig ausgestatteten Weihnachtsbücher gehören deshalb doch nicht zu den geistigen Leuchten; es giebt auch viele schön eingebundene Maculatur, und die Ritter des Geistes in bescheidener Hülle erfahren dagegen unverdiente Zurücksetzung. Das Christkind erfreut sich, wie alle Kinder, an dem äußeren Glanz und Schimmer, und wo sich dieser dem innern Werth gesellt, da werden alle Ansprüche befriedigt. Ein illustrirter Schiller ist gewiß ein schönes Weihnachtsgeschenk, und man muß es der Hallberger’schen Buchhandlung zum Verdienst anrechnen, daß sie diese Gabe dem Christkind an die Hand gegeben hat. Dasselbe gilt von dem Prachtwerk „Aegypten“, das der gelehrte und phantasievolle Georg Ebers herausgiebt. Ist es doch diesem Autor gelungen, Aegypten mit seinen Prinzessinnen und Sphinxen in Deutschland Mode zu machen – das altersgraue Aegypten und die modernen Toilettentische: wer hätte das geglaubt? Der Nilschlamm hat sich befruchtend erwiesen auch für den deutschen Buchhandel.

Ein anderes Prachtwerk: die „Germania“ von Johannes Scherr mit ihren Geschichtsbildern, mit dem Text im schlag- und schwunghaften Stil, den dieser Autor beherrscht, dann die italienischen Kunstdenkmäler, von Ernst Eckstein, einem kundigen und geschmackvollen Interpreten, herausgegeben, werden gewiß auch auf vielen Weihnachtstischen eine Stätte finden.

Daneben die Anthologien und die großen poetischen Albums! Seitdem das Düsseldorfer „Künstleralbum“ schlafen gegangen ist, haben wir nur eines, das in gleichem Stil gehalten ist, das von Albert Traeger herausgegebene „Deutsche Kunst in Bild und Lied“. Auch in diesem Jahr ist es erschienen, und Sie, verehrte Freundin, werden es mit Vergnügen durchblättern. In den Zeichnungen freilich überwiegt das Genrebild, wie dies schon im Düsseldorfer Album der Fall war. Kinder, zahme und wilde Thiere, Scenen aus dem Salon- und Volksleben: das löst sich ab in bunter Reihe; dazwischen landschaftliche Veduten und Studien, ein Schloß an der Mosel, der Golf von Neapel und ähnliche Bilder. Nur ein Schlachtbild von geschichtlichem Interesse findet sich unter ihnen, der Tod des Prinzen Louis Ferdinand, dieses genialen preußischen Prinzen, der im Treffen bei Saalfeld fiel. Moritz Blankarts, ein Künstler, der abwechselnd Pinsel und Feder führt, hat das Bild gezeichnet. Bei den poetischen Geschwadern, die unter dem Commando von Albert Traeger in’s Feld rücken, finden sich einige Veteranen, aber auch viele neu angeworbene Truppen; Sie werden unter den jüngeren Kräften manches hübsche Talent begrüßen. Die älteren Lyriker haben nicht immer ihren guten Tag; bisweilen schläft auch Homer. Hermann Lingg hat ein Gedicht: „Shakespeare“ beigesteuert, das an Unverständlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt; selbst die Verse sind unmöglich. Geibel und Bodenstedt fehlen: der letztere hat bereits transatlantischen Boden betreten. Mirza-Schaffy im Westen – es ist etwas Neues; zwei Welten sollen dem Dichter huldigen. Hamerling in unserem Album bietet ansprechende Gedichte, ebenso der Herausgeber selbst und viele Andere. Sie werden finden, daß unsere jüngste Lyrik im Ganzen keinen leidenschaftlichen Zug hat und nicht auf’s Große gerichtet ist; das stille Empfinden und der Klang und Hauch des innigen Liedes überwiegt. Die Politik wird mehr oder weniger Tabu für unsere Poeten, und in der That, sie hat den begeisternden Schwung verloren: sollen sie die Zölle und Steuern und das Reichseisenbahnwesen in Verse bringen?

Der Roman und die Novelle erscheinen in der Regel nicht „mit Goldschnitt“, in jener für den Weihnachtstisch besonders courfähigen Tracht; aber die Werke beliebter Autoren finden dennoch ein Plätzchen auf demselben. Wie viele Freytag’sche „Ahnen“ haben bereits unter den grünen Zweigen des für fromme Zwecke entwurzelten Tannenbäumchens den Enkeln gewinkt! Diesmal wird hier kein neuer Ahn gebettet: kein Ingo und Imo; auch verlieren die edlen deutschen Jünglinge von Band zu Band ihren sagenhaften Reiz. Doch auf einige Werke unserer erzählenden Literatur, verehrte Freundin, möchte ich Sie hinweisen, auf einige neu auftauchende Talente, die zum Theil unter den Fahnen der „Gartenlaube“ sich ihre Sporen verdient haben.

Zwar der phantasievollen Mutter phantasievolle Tochter, Wilhelmine von Hillern, ist Ihnen schon lange bekannt: die Lust zu fabuliren hat sie von der Mutter geerbt; nur hatte diese eine Bühnenphantasie, die Alles in Scenen und Acten, im Lichte der Prosceniumlampen vor sich sah, während die Phantasie der Tochter mehr die Illustrationen der Romancapitel im Auge hat, doch ist diese selbstschöpferisch, während sich die Mutter an andere Schöpfungen anlehnte. Die neueste Erzählung von Wilhelmine von Hillern „Und sie kommt doch“ ist ein Pendant zu dem Roman „Homo sum“ von Georg Ebers; beide behandeln den Sieg des Menschlichen über die Askese. Ich weiß, verehrte Freundin, es ist so wenig Ihr Geschmack wie der meinige – das sich peinigende Büßerthum. Und wenn das Licht unseres Jahrhunderts auf diese Scenen fällt, so erscheinen sie doppelt grell und das Gefühl beleidigend. Und doch haben wir Philosophen, deren Lehren zuletzt darauf hinauskommen, daß wir dem Beispiel des Eremiten am Sinai oder selbst demjenigen des Mönchs vom Kloster Marienberg Folge leisten sollen. Dieser Mönch ist nicht blos [835] ein Pater, der sich von der Welt zurückgezogen hat, um seinen klösterlichen Pflichten und stiller Beobachtung zu leben. So leicht hat es die Dichterin ihrem Helden nicht gemacht. Als ihn ein Schimmer der weltlichen Schönheit streift und sein Gemüth entzündet, da ist er zur schwersten Buße bereit, und als ein fanatischer Mönch ihn mahnt, selbst im Widerspruch mit den Klosterregeln, welche die Selbstverstümmelung verbieten, diese Buße an sich zu vollziehen und sich die Augen auszustechen, so folgt er dem grausamen Gebot, doch in seiner Blindheit geht ihm erst das Licht auf: das Licht der Liebe … „und sie kommt doch!“ Die Liebe zu dem Mädchen, das seine Führerin wird, erfaßt ihn mit einem unwiderstehlichen Zauber … und bis in die hohe Bergwildniß, in die er sich nach der Zerstörung des Klosters zurückzieht, folgt ihm die Geliebte, und als sie dem Fieber erlegen, stürzt der Blinde in den Abgrund, ihre Leiche im Arm.

Die Dichterin hat zu dieser Erzählung sehr eingehende Klosterstudien gemacht; doch mehr als diese Treue des Costüms interessirt der ausnehmende Reichthum der Phantasie und die Menge genialer Züge, die in der Erzählung verstreut sind. Wilhelmine von Hillern liebt die grelle Beleuchtung, aber was sie in dieselbe rückt, ist nichts grotesk Phantastisches, es ist alles von Gedanken und Empfindung durchdrungen. Die landschaftlichen Schilderungen der Malser Haide und des oberen Etschthales sowie der Alpenscenerie des Ortler Gebirgsstockes sind ebenso anschaulich wie stimmungsvoll; die Wanderung des Blinden mit dem Mädchen in allen ihren Wechselfällen ist ein Cabinetsstück der Schilderung. Die Charakterköpfe der Mönche sind gut contrastirt, von dem sanften Astronomen bis zu dem wilden Fanatiker; nur die Blendung selbst und das Erscheinen des Geblendeten im Convent der Mönche ist von der Dichterin mit einem unleugbaren Behagen an dem Gräßlichen dargestellt. Es sind nur zarte Alpenblumen der Liebe, die sie in ihren dichterischen Strauß gereiht hat; wenn hier das wild Leidenschaftliche fehlt, so entschädigt sie sich dafür durch die Grausamkeit mancher Scenen.

Keinesfalls ist Wilhelmine von Hillern eine Schablonenschriftstellerin: sie hat mehr Geist, als zum Handwerk nöthig ist, und bisweilen verleitet sie dieser Ueberschuß zu kleinen Extravaganzen.

Einen aparten Zug der Darstellungsweise hat auch E. Werber, eine Schriftstellerin, deren Erzählungen, aus der „Gartenlaube“ hervorgegangen, unter dem Titel „Feuerseelen“ gesammelt vorliegen. In einzelnen dieser Novellen erinnert sie an Jules Verne. Sie kennen, verehrte Freundin, diesen französischen Romanschriftsteller, der das naturwissenschaftlich Exacte mit dem phantastisch Unmöglichen in so befremdlicher Weise vereinigt. Seine „Reisen auf dem Mond“, „In die Tiefen des Meeres und der Erde“ sind gleichsam wissenschaftliche Märchen. Die erste Erzählung von E. Werber, „Der Aërolith“, ist ganz im Verne’schen Stil gehalten. Dieser Meteorstein wird uns mit einer Genauigkeit beschrieben, wie dies sonst nur in einer physikalischen Zeitschrift der Fall sein würde, und Alles, was sich mit ihm zuträgt, begiebt sich regelrecht nach den Gesetzen der Schwere und der mechanischen Bewegung. An diesen „Aërolithen“ aber knüpft sich in phantastischer Weise der Untergang der Heldin, und auch der Geliebte, der ihr Herz gewinnt, wird in eine Art von magischem Zusammenhang mit demselben gesetzt. E. Werber ist ein Feuerkopf; es herrscht in Allem, was sie schreibt, ein leidenschaftlicher, oft excentrischer Ton, und ihre Helden sind zum Theil wunderliche Heilige, wie dieser Bildhauer Nervol, der dem Elend der Menschen einen Riesentempel weihte, gleichsam Schopenhauer’s Philosophie in Stein hauen will. Die psychologische Entwickelung in diesen Erzählungen geht oft sprungweise vor sich; das Ende der meisten ist tragisch, der gewaltsame Tod oder das Irrenhaus.

Die verzehrende Leidenschaft, die Feuerseele, ist das Lieblingsthema unserer Novellistin. An solcher Leidenschaft geht die polnische Gräfin, die Heldin der Karpathenidylle und des Concertsalons, zu Grunde; solche Leidenschaft beseelt den genialen Maler Bodiwil, und Mariana, das dalmatische Mädchen, das, schwerverwundet vom eigenen Bruder, diesen auf ihren Armen trägt und ihn nach den Bräuchen des Landes so beschimpfte, daß er sich ihr nicht mehr nähern durfte. Der canadische Achilles ist eine Verherrlichung indianischen Heldenmuthes, sowie Pater Gregor diejenige des priesterlichen Heroismus.

Die Verfasserin sagt irgendwo zu ihrer Selbstvertheidigung, daß sie „hohe Ueberzeugungen habe und lieber auf einem einsamen Felsen sich den Hals breche, als auf der breiten Landstraße dahinschlendere“. In der That, weder Auffassung noch Darstellung dieser Erzählungen hat etwas Landläufiges; man könnte sie novellistische Oden nennen. Der Oden- und Hymnenstil ist in ihnen vorherrschend, das Mächtige, Grandiose, besonders in den Naturschilderungen, ob sie nun den Sturm im transatlantischen Urwalde oder den Felssturz darstellen, der ein Kloster unter den Trümmern begräbt. Bisweilen hat die Kraftsprache der Autorin das Hyperbolische, Ueberschwängliche, wie es die Kraftdramatiker, die Grabbes und Hebbel, lieben. Er ist ganz gewiß eine absonderliche Erscheinung, dieser Kraftstil in der Novelle. Feuergeister und Feuerseelen indeß verschmähen den gewöhnlichen Maßstab; sie können ihre Gluth nicht mäßigen; Wassergeister und Wasserseelen sind von Haus aus für die Literatur verloren. Solche Naturen, welche, wie der Salamander der Sage, im glühenden Elemente leben, haben etwas Unverwüstliches und deshalb Zukunftvolles. Ein wenig mehr Maß und Beschränkung, und die Dichterin wird immer noch für das Ungewöhnliche ihrer Novellistik Beachtung fordern können!

So herausfordernde Geberden, so titanische Gewaltthätigkeit sind den „Bunten Novellen“ von Victor Blüthgen fern: hier ist der Ton der Erzählung leichtflüssig, und es überwiegt eine feinsinnige Stimmungsmalerei, die sanftere, nicht die getragene Lyrik, wenn die Erzählung hier und dort lyrisch opalisirt. Sie werden, verehrte Freundin, diese Geschichten mit warmem Antheil lesen. Freilich, die Vorliebe für das Tragische ist auch Victor Blüthgen eigen, in seinen beiden Haupterzählungen verleugnet sie sich nicht; in „Die schwarze Kaschka“ ist es die Schlußkatastrophe, in „Der Recensent“ sind es einige Zwischenfälle der Handlung. Die schwarze Kaschka ist ein mährisches Mädchen, welches einem preußischen Soldaten, der es im Feldzuge von 1866 kennen gelernt, an’s baltische Gestade nachzieht mit ihrem und seinem Kinde. Der Bauernstolz des Vaters, der Trotz des Sohnes, der, auf sein Erbe verzichtend, das Mädchen freit, seine Eifersucht, die zuletzt zur Gewaltthat führt: das ist alles in ungezwungener und spannender Weise erzählt. Stimmungsvoll ist besonders der Contrast zwischen der südlichen, feurigen Tochter Mährens und den nordisch kaltblütigen Bewohnern des Fischerdorfes gehalten und ihre Vereinsamung geschildert.

In der Erzählung: „Der Recensent“ weht Theaterluft: viele Scenen darin sind fesselnd, und ihre Darstellung verdient volles Lob wegen ihrer Anschaulichkeit und Durchsichtigkeit, aber die Heldin selbst, eine jener Sphinxe, wie sie in den Bühnentempeln zu finden sind, erregt doch nur geringe Sympathie, und man freut sich nicht der glücklichen Schlußwendung, die sie in die Arme des Geliebten führt. Mehr ein Lustspielmotiv liegt der Novelle: „Die Locke der Loreley“ zu Grunde; auch diese Loreley, die auf dem romantischen Felsen Wache hält, ist eine etwas excentrische Kunstjüngerin, die sich sogar von einem Fremden eine Locke von ihrem Haar losschneiden läßt. Die magische Gewalt dieser Locke zerstört ein nüchternes Liebesverhältniß und führt den Gefangenen zuletzt in die Gewalt der sieghaften Nixe. Die Erzählung ist ein romantisches Capriccio, die rheinische Scenerie von lebendigem Colorit. Lesen Sie, verehrte Freundin, die anderen Erzählungen E. Werber’s und Victor Blüthgen’s! Ich will Ihnen nicht jede Ueberraschung durch Angabe ihres Inhaltes rauben. Sie werden in allen Anregendes und Fesselndes finden.

Sie sehen, die Talente sterben nicht aus; wo ein Zweig vertrocknet, setzt bald ein anderer an. Jean Paul, ein uneigennütziger Prophet, der sich nicht, wie mancher Platenide, mit der eigenen Unsterblichkeit brüstete, sprach es irgendwo aus, daß er bereits hundert dichterische Genien der Zukunft mit ihren Blumen- und Fruchtkörben sehe; er glaubte an die Unerschöpflichkeit der deutschen Dichtung. Wir theilen diesen Glauben, verehrte Freundin; Bleibendes und Vergängliches jetzt schon sondern zu wollen, wäre vergebliches Streben: das ist die Sache der Zukunft, und sie wird gewiß diejenigen am wenigsten respectiren, die sich am meisten mit ihrer eigenen Unsterblichkeit beschäftigen.

Freuen wir uns darüber, verehrte Freundin, daß auch der Christbaum unserer Dichtung in einem Lichterglanze strahlt, der jedes Jahr sich erneuert – mögen auch manche seiner von Goldschaum glänzenden Aepfel etwas sauer sein!


[836]
Dämonen.
Von E. Werber.


Nicht schaumgeboren, nicht dem Meere unter Donner und Blitz entstiegen war die Schönheit, an der ich zu Grunde ging; sie war zur Welt gekommen wie die Menschen; dennoch war sie göttlich schön. Mir aber hatte die Natur eine besondere, eine furchtbare Häßlichkeit verliehen, und der Haß gegen die Schönheit verheerte mir das Gemüth. Ja, ich haßte die Schönheit, und ich beleidigte sie. Aber Venus rächte sich an mir. Sie rächte sich weiblich fein und göttlich furchtbar.

Ich ward am Meeresstrande geboren, in einem alten, epheu-umsponnenen Hause, das mit seinen zwei spitzigen Thürmen einsam vor einem Tannenwäldchen steht. Meine Mutter hatte blonde, weiche Haare und weiße, weiche Hände, und ihre Küsse waren unendlich sanft; sie sang mir schöne Schlummerlieder und spielte mit mir in den Gängen des Hauses und im Garten.

Mein Vater hatte schwarze Haare und braune Hände und seine Küsse waren rauhe Gluth; er hatte zwei große Hunde und ging viel auf die Jagd. Eines Abends brachte man ihn todt nach Hause, ganz mit Blut bedeckt. Meine Mutter schrie und verlor das Bewußtsein und als sie wieder zu sich kam, war sie von Sinnen.

Am folgenden Tage kam ihr Bruder Alphons de Conihoult. Er hatte mich seit meiner Geburt nicht wieder gesehen; als ich ihm entgegen eilte, sah er mich erschrocken an.

„Ich bin Maurus,“ sagte ich.

„Wirklich? Du bist Maurus? Du siehst weder Deinem Vater noch Deiner Mutter ähnlich.“ Er schloß mich zögernd in seine Arme und sagte: „Ich bin gekommen, Dich zu holen, Maurus. Du wirst nun mit Deiner Großmutter und mir leben, bis Deine Mutter wieder gesund ist.“

Aber meine Mutter wurde nicht mehr gesund. Als die Februarstürme die Meereswogen in’s Land herein warfen, da starb sie. –

Vom siebenten bis zum zwanzigsten Jahre lebte ich im Hause meiner Großmutter, eine Meile von Rouen, zwischen sanften, einzeln aufsteigenden Bergen und dem silberblauen Seine-Fluß. Die Conihoult’s sind ein altes normannisches Geschlecht, welches die Muschel der Kreuzfahrer und die zwei englischen Rosen im Wappen führt. Meine Großmutter lebt in meinem Herzen, obgleich sie schon lange todt ist. O, sie hatte alle Zauber, alle: Schönheit, Güte, Sanftmuth, Feuer, Geduld und Liebe.

Als ich sie zuerst sah, dachte ich: Kann man eine so junge Großmutter haben? Aber gleich meinem Onkel erschrak sie, als sie mich sah, und sie blickte ihn fragend an.

„Es ist Maurus,“ sagte er.

Da nahm sie mich in ihre Arme und streichelte mir die Wangen und flüsterte: „Armes, armes Kind!“

Und ich dachte in meinem kindlichen Gemüth: Was habe ich nur an mir, daß Beide so erschraken? –

Der Wahlspruch der Conihoult heißt: „Ich laufe.“ Und wahrlich, sie liefen Alle. Sie liefen mit Leidenschaft. Nur warf sich die Beweglichkeit und Unruhe dieses Geschlechtes auf verschiedene Organe: bei den Einen war sie in den Füßen, bei den Anderen im Geiste oder auch im Herzen.

Mein Großvater lief mit dem Herzen; er lief so weit, daß er den Rückweg nicht mehr fand, und meine Großmutter, welche nicht aufgehört hatte, ihn zu lieben, sich von ihm trennte, um ihn lieben zu können, ohne sich verachten zu müssen. Nie sprach sie seinen Namen aus, und war ich so ungeschickt, nach dem Großvater zu fragen, dann sagte sie traurig: „Er ist verreist.“

Als ich wieder einmal nach ihm fragte, antwortete sie mir: „Frage mich nie mehr nach ihm – er ist todt.“

„Wirst Du nun auch sterben?“ rief ich; da blickte sie mit ihren dunklen, tiefen Augen in’s verglühende Abendroth hinaus und sagte: „Noch nicht!“

Mein Onkel Conihoult hatte die Beweglichkeit in der Einbildungskraft und in den Füßen. Er war nie lange daheim; meistens in Paris, wo er wie ein Irrlicht unter den Künstlern und Dichtern sich bewegte, oder er machte Fußreisen in nahen und entlegenen Provinzen, in der Schweiz und in Italien.

„Wirst Du denn niemals müde?“ fragte ich ihn einmal.

„Müde? Was ist müde sein? Ich kenne das nicht,“ erwiderte er. „Ich bin ein Conihoult – ich laufe.“

In meinem fünfzehnten Jahre sagte er zu mir: „Nenne mich nicht mehr Onkel, sonst komme ich mir vor wie ein alter Mann!“

Er hatte große blaue Augen und war hochgebaut, seine Stirn war gewölbt und blendend weiß. Ein brauner, gekräuselter Vollbart verbarg ein wenig den feinen, außerordentlich beweglichen Mund, der ein bestrickendes Lächeln hatte. –

Als ich zu meiner Großmutter kam, war Alphons noch nicht verheirathet, und ich glaube, er flog damals, wie ein durstiger Schmetterling, von Blume zu Blume.

Einige Jahre später, als die Unruhe seines Geistes und seiner Füße ihm schon einen großen Theil seines Vermögens gekostet hatte, kam die Liebe zu ihm und sagte: Ich feßle dich. – Aber an dieser Liebeskette, die ihn bald in die Bande der Ehe schlug, waren wenige Rosen und viele Dornen.

Eines Tages kehrte er zu seiner Mutter zurück, bleich und mit fieberhaften Augen. Sie errieth ihn sogleich und sagte:

„Du bist nicht glücklich, Alphons –“

Er senkte das Haupt.

„Deine Frau versteht Dich nicht –“

„Nein!“ rief er, heftig mit den Händen durch sein Haupthaar fahrend. „Als ich umsonst versucht hatte, durch Güte, Bitten und vernünftige Vorstellungen von meiner Frau eine Erleichterung meiner Gefangenschaft zu erlangen, da wuchs mir im Herzen die Erbitterung und der Groll und in den Füßen brannte mir das Conihoult’sche Fieber. O, ich war wie ein gefangener Falke, an dessen Käfig die süßen Luftströme vorbeirinnen. ‚Ich habe einen ganzen Himmel von Wünschen in Dich niedergelegt,’ sagte ich, ‚und Du hast mir nicht Einen erfüllt. Du bist nicht meine Frau, Du bist mein Kerkermeister. Aber Dein Gefangener ist ein Conihoult und – sieh’ meine großen Normannenhände an! – damit zerbreche ich meine Ketten.’

Das war gestern, und heute bin ich von ihr gegangen und kehre nie mehr zu ihr zurück.“

„Wir haben kein Glück in der Liebe, Alphons,“ sagte meine Großmutter und zog ihn in einen Laubgang des Gartens. Ich blieb zurück und schaute ihnen nach, wie sie langsam dahinschritten unter den hohen Bäumen.

Alphons liebte das Schöne; die Schönheit war seine Religion. Er bewohnte ein ganzes Stockwerk des Hauses allein; es wohnten viele Götter und Halbgötter mit ihm. Sie waren freilich nur von Gyps oder Marmor, aber er sprach zu ihnen, als ob sie lebten, als ob sie eine Seele hätten. Er sprach zu ihnen mit Begeisterung, mit Liebe, mit Anbetung. Ich bewunderte Alphons wegen dieses Seelenschwunges, aber ich liebte seine Götter und Göttinnen nicht. Sie standen so ruhig und siegesbewußt da und nahmen die maßloseste Bewunderung mit kaltem Hochmuth entgegen. Das empörte mich. Und doch war meine Abneigung gegen sie vielleicht nur eine instinctive – dies sollte ich in meinem sechszehnten Jahre erkennen.

Ich hatte die Bemerkung gemacht, daß alle Menschen, die mich zum ersten Male sahen, mich mit Schrecken oder doch mit Erstaunen betrachteten; später sahen sie mich mit Mitleid oder mit sarkastischem Lächeln an. Eine heimliche Angst zehrte an mir, und es ward mir von den Blicken der Menschen heiß. Dennoch hatte ich nicht den Muth zu fragen, warum man mich so ansah, und wenn ich in den Spiegel blickte, so fiel mir nichts in meinem Gesichte auf; es war ja, wie es immer gewesen war.

Alphons brachte nach seinen Ausflügen oftmals ihm befreundete Künstler zu längerem Besuche mit; dann erfüllte eine bewegte geistige Atmosphäre unser Haus, und meine schöne Großmutter schwebte und webte darin mit antiker Anmuth und Würde. Die Erregbarkeit von Alphons’ Geist war dann auf liebenswürdige Art gesteigert, aber ich, ich saß still und befangen in einem seltsam bangen Gefühle.

Es war im Frühling, in der süßesten Zeit, als der Dämon zu mir kam und mir die bittere Erkenntniß brachte.

Ich lag im Grase; Veilchen dufteten von den Beeten zu mir her, und eine Wand von Weißdorn schloß mein Plätzchen [837] von den Pfaden des Gartens ab. Ich hatte ein wenig gelesen, aber ohne Aufmerksamkeit; es drängte etwas in meiner Seele, ich blickte wie in Erwartung zum Himmel hinauf. Da näherten sich auf dem Pfade hinter dem Weißdorn lachende Stimmen und eine derselben sagte:

„Hier ist eine Bank; setzen wir uns! Ich zeige es Ihnen.“

Der gesprochen, war ein Maler, welcher mit Alphons von Paris gekommen. Ich hörte jetzt eine Hand in Papieren blättern, und dann rief der Andere, ein Schriftsteller: „Es ist unerhört. Die Aehnlichkeit ist ebenso überraschend wie die Häßlichkeit. Ich habe in meinem Leben keinen so häßlichen Menschen gesehen, wie diesen Maurus. Man möchte lachen und man möchte weinen, wenn man ihn ansieht.“

„Weil er eine Carricatur ist,“ bemerkte der Maler. „Sehen Sie nur diese schiefen Augen, deren äußerer Winkel nicht etwa nach oben, wie bei den Mongolen, sondern nach unten gezogen ist, diese lange, linienlose Nase und den halbmondförmigen weinerlichen Mund! Die umgelegten, betrübten Ohren und das acajourothe Haar! Das einzige nicht Häßliche an ihm ist die Stirn; diese ist edel und bedeutend, aber sein Gesicht ist die unübertrefflichste Carricatur einer antiken Tragödienmaske. Als ich die Zeichnung beendet hatte, machte ich mir den Spaß, sie zwischen einen Antinous- und einen Apollo-Kopf aufzuhängen. Können Sie sich den Effect vorstellen?“

„Ja, aber ich habe keinen Ausdruck für das Bild.“

„Ich habe einen: ein unglücklicher Affe!“ Beide lachten, und dann sagte der Maler: „Mir thut der junge Mensch leid. Jetzt ist er noch ein halbes Kind und ziemlich unbefangen, aber in einigen Jahren, wenn er die jungen Mädchen ansieht und sie die Köpfe zusammenstecken und lachen, dann –“ „O, sagen Sie Alphons nicht, daß Sie Maurus gezeichnet haben! Er hat ihn unbeschreiblich lieb und würde Ihnen diesen Muthwillen nicht verzeihen.“

„Seien Sie ruhig! Solch ein Unicum verwahrt man sorgfältig in der Mappe und zeigt es nur Menschen, die starke Nerven haben,“ erwiderte der Maler, und dann entfernten sich Beide. –

„Erde, verschlinge mich!“ rief ich leise; „Hölle, nimm mich auf! Ich will Dein grimmigster Teufel werden und Gott und die Natur verfluchen.“ Ich wühlte mit meinen Fingern die Erde auf. Und als ich mich erhob mit dem Vorsatze, mich zu tödten – da ward mir, als stürze eine Feuerlawine von allen vier Weltgegenden auf mich herab – der Odem und die Sinne vergingen mir – ich sank im Todesgefühl zu Boden.

Mehrere Wochen lag ich im Fieber. Als ich davon erstand, war ich in der Seele um zehn Jahre gereift und hatte die Gedanken und den Willen eines Mannes.

Ich hatte meinen Schmerz wahrscheinlich im Fieber verrathen; denn meine Großmutter sah mich jetzt mit so zärtlichen und bewundernden Blicken an, als wäre ich der schönste Enkel, den eine Großmutter haben kann, und diese liebevolle Lüge führte sie bis zu ihrem Tode durch.

Aber im Abgrund meiner Seele brannte wie ein grimmiges Feuer der Haß gegen das Schöne, und hätte ich den edlen Alphons nicht so sehr geliebt, mit einem Hammer hätte ich seine Göttergestalten zerschlagen.

Und doch schien es mir eine Feigheit, so ohnmächtig zu hassen. Diese eitle Göttin der Schönheit, diese übermüthige Venus, die ihren zarten Fuß auf aller Sterblichen Nacken setzt und sagt: Bete mich an! – diese herzlose Göttin verhöhnt dein unglückliches Affengesicht, sagte ich mir, und sie verachtet deinen Haß, der nichts wagt. – Und als Alphons einmal verreist war, ging ich, den Trotz in der Seele, hinab in den Saal, wo er die Schönheiten aufgestellt hatte. Es war stille dort und feierlich, wie in einer Kirche. Die Wände, mit pompejanischem Roth getüncht, das gedämpfte Licht, die weißen Gestalten, die Harmonie der schwellenden Formen, der Hauch der Göttlichkeit – es ergriff mich mächtig. Ich sank auf eine Ruhebank und bedeckte mein Gesicht mit den Händen – ich weinte.

Da erhob sich in meinem Herzen eine Stimme und sagte: „Ausgestoßener! Geht dir der Trotz in Thränen unter? Wirst du wieder zum Knaben? Schmilzt dir das Mark von dem Lächeln dieser olympischen Gestalten? Brichst du zusammen im Angesichte dieser Venus, die schadenfroh ihre Gaben verschloß, als deine Seele zur Erde kam und um eine Hülle bat? Zitterst du kleinmüthig vor ihr, deren Herzlosigkeit dich um der Erde einzige Seligkeit, die Liebe, brachte? Denn wenn dich die Liebe sieht, so schreit sie auf vor Abscheu und flieht. Und wenn du ihr nacheilest, so wird ihr Hohngelächter dir die Kniee lähmen.“

Ein ganzes Leben ohne Liebe?! Ich hatte schon von ihr geträumt, mich ihr schon zugeschworen. Meine junge Seele hatte heimlich die Schwingen geübt zu hohem Fluge – und nun – ! Da sprang ich auf und trat vor die ungroßmüthige Göttin hin: „Hohn um Hohn, Verachtung um Verachtung!“ rief ich und nahm ein Stück Kohle und zeichnete mit fester Hand auf ihren göttlichen Busen mein Gesicht. Sie blieb ruhig, als hätte sie keinen Schimpf empfangen, und ich entfernte mich ruhig, als hätte ich keinen Frevel begangen.

Ein leiser Donner zog mit den Frühlingswolken am Himmel hin, aber ich achtete seiner nicht.

Von diesem Tage an zeigte ich den Menschen mein Gesicht ohne Scheu, und wenn sie darob erschraken oder mich mit unheimlicher Neugier ansahen, dann freute es mich, ihnen unangenehme Empfindungen verursacht zu haben. Ich war zu jung, als daß meine Verachtung der Schönheit eine kalte hätte sein können; sie war vom Hasse durchglüht; sie war ein Widerspruch, eine Krankheit.

Nach einigen Wochen kam Alphons zurück. Mit einem Lächeln halb des Entzückens, halb der Verlegenheit, sagte er:

„Liebe Mutter, ich habe mir eine Frau für viermalhunderttausend Franken gekauft.“

„Noch eine Frau?“ rief seine Mutter.

„Ja, eine, die mich nie quälen wird; sie ist stumm.“

„Stumm?!“

„Ja, und sie heißt Suleika.“

„Du hast sie in einem Harem gekauft?“

„Nein, ich habe sie in einer Künstlerwerkstätte gekauft – sie ist von weißem Marmor.“

„Alphons,“ sagte meine Großmutter, ihr Auge ängstlich auf ihren Sohn heftend: „Alphons, wie viele Frauen kannst Du Dir noch kaufen?“

„Keine mehr,“ erwiderte er erröthend, „aber ich will auch keine mehr; ich bleibe Suleika treu.“

„Armer Alphons, Du bist von göttlichem Wahnsinn oder von bösen Geistern geplagt! Mußt Du denn Alles haben, was Du bewunderst? Deine Liebe zur Schönheit wird Dich zum Bettler machen.“

Er lächelte. „Mutter, an Deinen Zügen habe ich die Schönheit lieben und anbeten gelernt. Ich bete sie an in der Natur und im Geiste. O welch schlechter Liebender wäre ich, wenn ich mit gemeinem Verstand und gemeiner Vorsicht die Nachtheile erwöge, die durch diese Liebe für mich entstehen können! Wie? Ich sollte ein Kunstwerk, das mir göttliche Gedanken und Genüsse giebt, das ich empfinde, als ob ich es selbst geschaffen hätte, ich sollte es in die weihelosen Hände eines Geldmenschen gelangen lassen, weil er reicher ist als ich, und weil es mich um viermalhunderttausend Franken ärmer macht?!“

„O Conihoults, was seid Ihr für ein desperates Geschlecht!“ rief meine Großmutter. „Nicht Euere Füße, nicht Euer Geist, nicht Euer Herz, nicht Euer Geld können ruhig bleiben! Laufen muß Alles! Laufen!“

„In der That, so ist es,“ sagte Alphons gedankenvoll.

„Aber, lieber Sohn, was willst Du thun, wenn Du nichts mehr hast?“

„Dann werde ich ruhig sein. Ich werde mir sagen: Conihoult, jetzt ist es aus. Sei nicht im Kleinen, was Du im Großen warst! Nimm nicht ein Achtel, noch ein Viertel, noch eine Hälfte von dem an, was Du einst besaßest! Sei stolz!“

„Du wirst unsäglich leiden.“

„Ich habe auch unsäglich genossen, Genüsse, die nicht vergehen, die ewig sind,“ rief er begeistert.

Und dann zeigte er uns seine Frau, Suleika. Sie saß auf einem Säulenstumpf und schaute mit großen, scheuen Augen sehnsüchtig in die Ferne. Ein feines, auf der Brust geschlitztes und von der linken Schulter herabgeglittenes Gewand, unter dem Busen mit einer gefransten Schärpe gebunden, floß ihr bis zu den Knöcheln herab; die halbaufgelösten Flechten ihres Haares entschlüpften in schmachtender Wildheit dem Blumenkrönchen, das [838] auf der Mitte des feinen Kopfes saß. Die Flügel von Suleika’s edler Nase waren erwartungsvoll gespannt, und ihre Lippen schienen sich nach einem Kusse zu sehnen. Suleika war von weißem Marmor, aber nicht von jenem bläulich weißen, kalt weißen carrarischen, sondern von röthlich weißem.

Meine Großmutter küßte sie auf die Schulter und sagte: „Schöne Suleika, süße Tochter, binde meinen Sohn, binde ihn mit allen Deinen Zaubern, binde ihn, damit er sich nicht zu Grunde richtet!“ Und dann entfernte sie sich, Thränen im Auge und ein Lächeln auf den Lippen. –

Alphons ließ Suleika in ein kleines, rundes Gemach bringen, dessen Wände mit persischen Geweben bedeckt waren, und stellte sie auf einen Sockel von schwarzem Marmor. Suleika’s Gemach war stets geschlossen, und Alphons allein besaß einen Schlüssel dazu, Keiner seiner Bekannten durfte es betreten.

„Glaubst Du,“ sagte er einmal zu mir, „daß die banale, leichtfertige Bewunderung der Menschen Suleika’s Werth für mich erhöhen könnte? Im Gegentheil, sie würde mir Suleika entweihen. Ich bewundere ihre Schönheit nicht nur, ich empfinde sie. Es ist, als hätte Suleika mir einen Liebestrank gegeben aber – verstehe mich wohl! – einen geistigen. Und der Gedanke, daß ein anderes Auge, als das meine, auf ihr ruhen könnte, ein verliebtes oder ein bekrittelndes – dieser Gedanke empört mich. Sieh, Andere gehen in die Kirche, wenn sie beten wollen; ich gehe in meine stillen Säle, in die Säle der Schönheit. Ich betrete sie barhäuptig und mit verehrungsvollem Entzücken und ich bete. Ich sage kein Pater noster und keine Litanei, aber ich bete. Und wie in jeder Kirche eine Capelle für die besondere Anbetung ist, so habe ich auch eine in meinem Schönheitstempel: die Capelle der Suleika. Und ich weiß gewiß, daß ich nach dem Tode selig werde, denn Gott ist die Schönheit im Geiste, und ich war in seinem Dienste nicht träge.“

Mehrere Tage nach Alphons’ Zurückkunft betrat ich den Saal wieder, in welchem ich dem Busen der Göttin Venus ein so entsetzliches Maal aufgedrückt hatte – es war verschwunden. Der gute Alphons hatte den göttlichen Busen davon gereinigt, ohne mir einen Vorwurf zu machen.

Aber die That war dennoch geschehen.




In meinem zwanzigsten Jahre sah ich in Rouen ein Mädchen, das sehr häßlich war. Sie saß unter den Platanen des Remparts und hatte ein Buch in der Hand. Die Seine floß still dem Meere zu; der Himmel war im Westen gewitterhaft, goldbraun und rothschwarz, und darüber schossen schwefelgelbe Lichtstrahlen und verblaßten in den weißen Wolken, die dem Flusse nachzogen.

Das Mädchen fühlte meinen Blick auf sich ruhen; erröthend stand sie auf, und da sie hastig fortgehen wollte, stieß ihr Fuß an einen Stein, und sie fiel.

Ich hob sie auf und fragte: „Haben Sie sich weh gethan?“

„Ja, ein wenig,“ erwiderte sie lächelnd. „Ich glaube, ich kann noch nicht gehen.“

Ich führte sie zur Bank zurück und setzte mich neben sie.

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie, und jetzt erst sah sie mich an.

Da verschwand das Lächeln von ihrem Munde, und ihr Gesicht wurde traurig. Sie dachte wohl: dieser Mensch ist noch häßlicher, noch viel, viel häßlicher, als ich. – Nach einer Weile fragte ich sie, was sie gelesen habe.

„Montesquieu.“

„Sind Sie denn eine Philosophin?“

„Noch nicht! Aber ich hoffe, eine zu werden.“

„Und warum wollen Sie eine Philosophin werden?“

Erröthend erwiderte sie:

„Weil ich mir denke, es müsse herrlich sein, ganz in der Philosophie zu leben.“

Die Arme hatte nicht die Wahrheit gesagt. Die wahre Antwort wäre diese gewesen: Weil ich nie geliebt werden kann. –

„Aber,“ fragte ich, „wer giebt Ihnen denn solche Bücher?“

„Mein Großvater, bei dem ich lebe. Ich bin eine Waise.“

Sie stand jetzt auf, aber sie hatte vom Fall her Schmerzen am Fuße und hinkte.

„Nehmen Sie meinen Arm!“ bat ich. „Stützen Sie sich recht fest auf mich!“

O süßer Schrecken, als ich ihren Arm in den meinen schlüpfen fühlte!

Da sie aus Bescheidenheit sich nicht auf mich zu stützen wagte, drückte ich ihren Arm fest an mich, und da mir Feuer durch die Adern und durch die Gedanken rann, sagte ich: „Fühlen Sie bei gewitterhafter Luft auch anders als sonst?“

„Ja, mir ist beklommen, halb wohl und halb weh.“

„Fürchten Sie sich vor dem Gewitter?“

„Nein, wenn es da ist, fühle ich freudig.“

Ich bat sie, nicht so schnell zu gehen, obgleich wir langsam gingen. „Sprechen Sie mir doch von Ihrer Philosophie, Fräulein!“

„Von meiner Philosophie?! O, so weit bin ich noch nicht! Wie könnte ich überhaupt schon viel wissen? Ich bin ja erst achtzehn Jahre alt.“

„Nun, so sprechen Sie mir von irgend einer Philosophie, von welcher Sie wollen!“

Sie lächelte.

„Soll ich Ihnen von jener sprechen, welche sanfte Bewegung des Geistes und völlige Ruhe des Gemüthes über alles Andere setzt?“

„O Fräulein – das ist die Philosophie der Greise! Ich erlaube Ihnen diese, wenn Sie siebenzig Jahre alt sein werden.“

Sie lachte in sich hinein und sagte: „Und doch ist gerade sie es, welcher ich mich zu ergeben gedenke.“

„Aber halten Sie dieselbe denn für ein Glück?“

„Wenn Sie auch nur ein wenig Philosophie studirt hätten, so wüßten Sie, daß es kein Glück auf dieser Erde giebt. Für ein Glück halte ich jene Philosophie nicht, aber für eine Rettung.“

„Sind Sie denn in Gefahr? Und in was für einer?“

„Aber ich kann Ihnen doch nicht Alles sagen, mein Herr! Ich kenne Sie ja gar nicht.“

„Das ist wahr,“ erwiderte ich kleinlaut. „Ich heiße Maurus le Borré. Mein Haus steht am Meeresstrande, aber ich lebe jetzt bei meiner Großmutter in der Nähe von Rouen in Védie, denn ich bin auch eine Waise.“

„Auch eine Waise?! O, ich habe ja kein Mißtrauen in Sie! Aber es wäre doch nicht schicklich, wenn ich Ihnen Alles gleich sagte, nicht wahr?“ Und als sie vor einem kleinen alterthümlichen Hause stehen blieb, setzte sie hinzu: „Hier wohne ich.“

Das hieß: wir müssen uns trennen. O, ich hätte sie am liebsten an mich gerissen, mit mir fortgerissen zum Meeresstrande und in das epheuumsponnene Haus und in den hohen Saal, und zu ihr gesagt: „Sieh dort das Meer! Ausgelöscht sei für uns das eitle Treiben der Welt! Ich schließe die Thüren hinter ihr zu und schiebe alle Riegel vor! Du bist mein!“

Aber sie entzog mir sanft ihren Arm.

„Wenn ich nur wüßte, ob sich Ihr Fuß nicht verschlimmern wird,“ sagte ich, und da sie schwieg, setzte ich hinzu: „Ich werde sehr unruhig sein.“

Da blickte sie mich mit ihren tiefliegenden Augen an, und ihr dunkler Blick hatte eine zärtliche Gewalt.

„Kommen Sie einmal, nach mir zu sehen!“ sagte sie gütig, „ich werde meinem Großvater sagen, wie gut Sie gegen mich gewesen sind.“

„Werden Sie über der Philosophie mich nicht vergessen?“ wagte ich zu fragen.

„Ich vergesse nie das Gute und das Angenehme,“ sagte sie und trat in die Hausflur.

„O Fräulein, ich habe eine große Bitte.“

„Welche?“

„Wenn Sie mir sagen möchten, wie Sie heißen –“

Sie erröthete und sagte leise:

„Ich heiße Theresa, Theresa Varennes.“ Dann wandte sie sich zur Treppe hin, und ich entfernte mich.

Wie im Traume ging ich durch die Straßen Rouens; die Menschen erschienen mir wie Schatten, die Häuser wie Gefängnisse. Es ward mir schwül, und ich glaubte zu ersticken. Als ich dann die Stadt hinter mir hatte, blieb ich eine Weile stehen; es war dämmerig geworden und stille; das Rauschen der Seine klang wie eine geheimnißvolle Orakelstimme; drüben am Horizont zitterten elektrische Lichtschauer und gossen bläuliches Gold über das finstere Gewölk; dann und wann rollte langsam der ferne Donner.

Ich entblößte mein Haupt: Zu wem soll ich beten? Wem soll ich für den Segen danken? Denn er ist gekommen, der [839] Segen. Ich habe sie gefunden, die mich lieben wird. Der göttliche Hauch kam über meine finstere Seele, und es ward Licht. Theresa, schlafe nicht! O schlafe nicht! Höre meiner Seele zu, die eine Hölle von Leiden und einen Himmel von Seligkeiten vor Dir ausschütten muß! O laß die Philosophie, und komm zur Liebe! Hier ist sie, in dieser Brust, ringend wie ein Gewitter, flammend wie eine neugeborene Sonne! Schlafe nicht, Theresa, denn ich muß die ganze Nacht zu Dir sprechen! Und hilf mir morgen ein wenig, damit der Tag schnell vorüber geht, und wenn ich übermorgen komme, so sage gleich „Maurus“ zu mir, damit ich weiß, daß Du alles gehört und verstanden hast, was meine Seele Dir sagt!

So ging ich die ganze Nacht zwischen Rouen und Védie hin und her in süßester Erregtheit. Die Nacht war dunkel, aber es wetterleuchtete häufig, und zuweilen schimmerte auf Augenblicke der Mond durch Wolken hindurch. Diese sanfte Lichtbewegung war mir wie eine holde Verheißung, und als gegen Morgen die Wolken nach Süden trieben und im Osten Venus erglänzte, da blickte ich lächelnd zu ihr hinauf und rief leise:

„Göttin, ich hasse Dich nicht mehr. Ich habe jetzt mehr als die Schönheit; ich habe das Glück!“

(Fortsetzung folgt.)




Michael Munkacsy.
Von Fr. Pecht.


Daß den Menschen nichts besser im Gedächtniß bleibt, als was ihnen Furcht oder Grauen eingeflößt, sie erschüttert oder gerührt hat, ist eine alte Erfahrung, die von den Künstlern zu allen Zeiten verwerthet worden. Wir vergessen den viel weniger, welcher uns Thränen ausgepreßt, als den, welcher uns lachen gemacht. Darin besteht auch das Geheimniß jenes immensen Erfolges, den der Maler errungen, von dessen reicher Thätigkeit hier eine kurze Skizze gegeben werden soll.

Es war bei der Ausstellung des Jahres 1870 in Düsseldorf, daß man den Namen Munkacsy zum ersten Male unter einem – damals auch in der „Gartenlaube“ (vergl. Jahrg. 1870, Nr. 30), wiedergegebenen – Bilde las, das alle Beschauer mit magischer Gewalt fesselte und von sämmtlichen vorhandenen Werken die größte Anziehungskraft ausübte. Und doch glänzte es weder durch den Reiz sonniger Farbenpracht, noch durch den schöner Formen, ging beiden vielmehr mit einer auffallenden Entschlossenheit aus dem Wege. Führte es uns doch in die düstere Zelle eines ungarischen Gefängnisses, wo ein zum Tode verurtheilter wilder Pußtensohn in Fesseln dasaß und zu allen Qualen des Abschiedes von Frau und Kind noch die ertragen mußte, von einer theilnahmlosen oder ihn sogar verabscheuenden Menge angestarrt zu werden.

So wild, unheimlich und trostlos die Scene, so groß war auch die Energie, mit der sie gegeben war. Wolfgang Müller von Königswinter hat das Bild den Lesern der „Gartenlaube“ bei Gelegenheit der Wiedergabe desselben in ergreifender Weise geschildert. Diese Malerei hatte mit der in Düsseldorf üblichen absolut nichts gemein, versüßte und verhüllte nichts, kannte keine Spannung. Sie entsprach durchaus dem düsteren Gegenstande, und in ihrer energischen Behandlung, in dem jede mildernde Farbe anscheinend hassenden, fast blos aus schwarz und weiß gemischten finstern Ton sowie der großartig einfachen und kräftigen Modellirung der Gestalten erinnerte sie, wenn überhaupt an irgend etwas, am ersten an Salvator Rosa oder Spagnolett. Das war aber eben das Packende an dem Kunstwerke, daß Inhalt und Form sich vollkommen entsprachen; man fühlte, daß hier nur Selbsterlebtes auf die Leinwand hingemalt sei von einem Manne, der es mit ungewöhnlicher Kraft und Frische empfunden.

Alle Welt, die sich um das Bild drängte, fragte nach dem Maler, der mit so viel Ursprünglichkeit, mit solch fast drohender Energie aufgetreten. Niemand wußte viel von ihm. Er sei ein Ungar, hieß es, erst sechsundzwanzig Jahre alt, ein ehemaliger Schreinergeselle, der, von glühender Liebe zur Kunst erfaßt, zuerst einigen Unterricht in Pest und Wien genossen, dann in München Franz Adam’s Schüler gewesen und nun hierhergekommen sei, um seine Studien abzuschließen. Auch hier habe er still und abgeschlossen vor sich hingelebt, wenig beachtet bis gestern, während sein Name jetzt auf einmal in Aller Munde war.

Munkacsy’s Vater führte den Namen Lieb; erst der Sohn nahm als ungarischer Patriot jenen magyarischen Namen an. Der Vater war als Theilnehmer an der Revolution im Gefängniß gestorben, und hatte den kleinen Michael mit vier Geschwistern als hülflose Waisen hinterlassen, denn die Mutter war schon längst todt. Michael fand in einer Tante eine zweite Mutter. Aber in einer dunklen Nacht bricht eine Räuberbande in’s Haus, plündert und mordet und läßt den Kleinen in den vier leeren Wänden verlassen an der Leiche dieser Pflegemutter zurück. Kann man sich bei solchen schrecklichen Jugenderinnerungen über den düstern Ernst wundern, der als Grundton in seinen ersten Bildern durchklingt?

Er kam nun zu einem seiner Onkel, Namens Reök, einem Advocaten, der aber durch die Revolution auch ganz verarmt war und daher den Jungen bald zu einem Tischler in die Lehre gab. Hier blieb er nun vier Jahre, bis er als Geselle freigesprochen ward. Freilich wartete seiner nun noch härtere Arbeit, aber er konnte jetzt doch wenigstens in den Freistunden seinem Drange nach Belehrung und Wissen aller Art folgen, nachdem er bis dahin fast keinen Unterricht genossen. Einige junge Leute, die in Arad, wo er in Arbeit stand, das Gymnasium besuchten und deren Bekanntschaft er nach und nach gemacht, dienten ihm dabei als Lehrer. Zuerst lernte er lesen und schreiben; dann begann er sich mit Geschichte und Literatur bekannt zu machen, sodaß er bald Schiller mit Begeisterung las, ja selber Verse zu machen versuchte. In der Werkstatt aber lernte er einstweilen das ungarische Volksleben nach allen Seiten hin kennen und prägte sich seine Typen in’s Gedächtniß.

Drei Jahre arbeitete er so als Geselle für spärlichen Lohn und wuchs zu einem hochaufgeschossenen Jüngling heran, aber das leidenschaftliche Studium des Abends bei von fünf Uhr Morgens bis in die Nacht dauernder Arbeit und elender Nahrung erschöpfte die Kräfte des achtzehnjährigen Tischlergesellen, der sich gerade im stärksten Wachsthum befand, und er ward schwer krank. Glücklicher Weise konnte sein jetzt wieder zu etwas Vermögen gekommener Onkel ihn zu sich nach Gyula nehmen. Dort lernt er eines Tages den Portraitmaler Samosy kennen und sieht mit Entzücken demselben beim Malen zu. Jetzt wird er sich auf einmal seines Berufes bewußt und beschwört den Onkel, ihn bei Samosy Unterricht nehmen zu lassen. Letzterer, ein wohlwollender und gebildeter Mann, nimmt sich seiner freundlich an und unterweist ihn so gut wie möglich in seiner Kunst. Sein Talent nach einiger Zeit bemerkend, führt er ihn mit nach Arad, wo sich Munkacsy bereits durch Unterricht im Zeichnen fortbringt, endlich selber Portraits, gewöhnlich für ein Mittagessen, macht und, da er einst einen Schneider mit seiner Familie gemalt, triumphirend sein Honorar in Gestalt eines warmen Winterrocks empfängt. Samosy unterrichtet ihn indeß auch noch ferner, und er fängt bereits an, eigene Compositionen zu versuchen, ja kehrt, um Studien zu machen, nach Gyula zum Onkel zurück. Er malt nun Interieurs mit Bauern, und eines dieser Bilder, eine Einladung zur Hochzeit, fällt so gut aus, daß er den Muth faßt, damit nach Pest zu gehen, wo es ihm der Kunstverein für achtzig Gulden abkauft. Jetzt ist sein Schicksal entschieden, denn bald verkauft er ein zweites sogar für hundertdreißig Gulden, und geht mit diesem Capital nach Wien, um dort in den Museen Studien zu machen. Als er aber 1866 wieder nach Pest zurückgekehrt, befällt ihn ein Augenleiden, das ihn sechs Monate im Spital festhält und beinahe seiner Künstlerlaufbahn ein Ende gemacht hätte. Jedoch ist er nicht der Mann, sich durch Schwierigkeiten zurückschrecken zu lassen, sondern geht jetzt, kaum geheilt, mit zwanzig Gulden in der Tasche nach München, wo er zwei Jahre bleibt, sich nach einander in verschiedenen Ateliers herumtreibt, eine Menge Freunde erwirbt und besonders von Leibl beeinflußt wird, bis er München mit Düsseldorf vertauscht, wo wir ihn kennen gelernt.

Sein oben erwähntes Bild „Der Verurtheilte“ wanderte nun

[840]

Der blinde Milton dictirt seinen Töchtern das "Verlorene Paradies". Von Michael Munkacsy.
Nach einer Photographie aus dem Verlage von Charles Sedelmeyer in Paris.

nach Paris und machte dort im Salon wo möglich noch größeres Aufsehen als in Düsseldorf; es erhielt die goldene Medaille, und alle Zeitungen sprachen von dem neuen glänzenden Stern, der am Kunsthimmel aufgegangen. Das veranlaßte Munkacsy 1872, selber nach Paris zu gehen, wo er fortan in jedem neuen Salon durch irgend ein neues Meisterwerk die Aufmerksamkeit an sich fesselte. Seine Stoffe entnahm er auch jetzt zunächst alle dem Leben der untersten Classen seiner Heimath. Die Poesie des Elends war es, die dauernd das Geheimniß seines Erfolges bildete; er verstand es nach wie vor, erschütternde Momente des Lebens einförmig, trostlos, aber mit rücksichtsloser Energie und höchster künstlerischer Vollendung wiederzugeben. Ein junger Verwundeter, der einem Tisch voll charpie-zupfender Frauen und Mädchen seine fürchterlichen Erlebnisse im unglücklichen Freiheitskampfe erzählt, war noch aus Düsseldorf mit nach Paris gebracht worden; es folgten dort halbwilde Csikose und Conscribirte in der Kneipe, verdächtige Nachtschwärmer, von der Polizei abgefaßt, ein trunkener Schneider, der, zu seiner Frau heimgebracht, von ihr sehr übel empfangen wird, ein ländlicher Kampfhahn, der sich anschickt, mit einem wandernden Hercules zu ringen, und andere dergleichen Scenen. Sie lieferten ihm noch jahrelang die Stoffe, welche er bald mit düsterem Ernst, bald mit unheimlich-wildem Humor behandelte. Der Spiritusduft dieses Proletarierlebens hatte natürlich nichts Anziehendes, und nur das Interesse an der Meisterschaft der Schilderung konnte Einen über die Einförmigkeit derselben hinwegtragen.

Auf der Wiener Weltausstellung, wo Munkacsy die ungarische Kunstabtheilung mit einer Anzahl seiner berühmtesten Bilder vollständig beherrschte, stellte sich aber doch bald unwiderleglich heraus, daß mit diesem armen, unentwickelten Leben auf die Länge künstlerisch nichts anzufangen war. Indem mit Munkacsy’s fortschreitender Bildung diese am Galgen endigenden Helden der Pußta aufhörten, seine Ideale zu sein, wuchs die Nothwendigkeit für ihn, sich andere zu suchen.

Eine neue Epoche in seinem Leben sollte ihm alsbald den Uebergang in eine höhere Darstellungssphäre vermitteln. Wir folgen bei ihrer Erzählung den darüber unter seinen näheren Freunden umlaufenden Traditionen, da er, selber wenig mittheilsam, über dergleichen innere Erlebnisse nicht spricht. Er hatte unter andern Salons auch den einer geistvollen Dame, einer Luxemburgerin, besucht, die, leidenschaftliche Kunstfreundin, an der Entwickelung des schnell berühmt gewordenen Deutsch-Ungarn großen Antheil nahm. An einen alten General verheirathet, jung, schön und reich, suchte sie im Verkehr mit begabten und berühmten Menschen, im Genuß der Kunst die Anregung des Gemüths, die ihr die Ehe kaum bieten konnte; Munkacsy scheint ihr schon längere Zeit seine stille Verehrung gewidmet zu haben. Jetzt machte sie der Tod des Gatten frei. Wie sie früher seine Muse gewesen, so ward sie nun bald die Gattin des berühmten Künstlers, die durch das Glück der Liebe nicht nur sein Haus, sondern auch seine künstlerischen Schöpfungen mit jener Atmosphäre wohltuenden Gemüthsfriedens erfüllte, welche aus den letzteren fortan spricht.

Hatten seine Bilder bis dahin ausgesehen, als ob ihr Autor noch kein Lächeln gekannt, immer nur Regenwetter gesehen habe, so ist gleich das erste, das jetzt (1876) entstand, bereits ein glänzendes Denkmal dieser wohlthuenden Umwandlung. Es führt uns in das mit allem Luxus ausgestattete Atelier des Malers [841] selber der nun glücklicher Besitzer einer Villa in den Champs Elysées und eines Schlosses in den Ardennen geworden.

Dämmerndes Helldunkel des nahenden Abends umgiebt uns mit süßer Traulichkeit; denn überall funkelt und glüht uns die reichste Farbe, das Köstlichste ahnen lassend, aus diesem Halblicht entgegen. In demselben fesselt zunächst die elegante Gestalt der schönen Frau in reicher blauer Sammetrobe durch ihr verstandesscharfes feines Profil den Blick. Sie hat vor der Staffelei Platz genommen und mustert, die Hände über den Knieen gekreuzt, eben mit kritischem Blick, was der neben ihr an den Tisch gelehnte, die Palette noch in der Hand haltende Gatte heute geschaffen. Dieses gemeinsame Hineinleben der beiden so bedeutenden und doch so grundverschiedenen Menschen in ein Gefühl, ihre Concentration auf denselben Gegenstand, ihr gänzliches Vergessen der Welt um sich herum, giebt uns ein Bild so tiefen stillen Glücks, so schöner Harmonie der Seelen, daß man sich nicht losreißen kann von der Scene, die bei aller äußeren Ruhe – man glaubt das Ticken der Uhr im Gemach zu hören – doch ein eben so mächtiges, wie unendlich wohlthuendes inneres Leben in ihren beiden Figuren zeigt.

Das Jahr 1877 bezeichnete Munkacsy durch die humoristische Darstellung eines flotten Waidmannes, der sein Jägerlatein in einer ungarischen Kneipe zum Besten giebt; 1878 überraschte er Paris wie das Publicum der eben eröffneten Weltausstellung durch jenen rasch berühmt gewordenen „Milton“, dessen Wiedergabe diesen Aufsatz schmückt. Unstreitig fesselte das Bild neben Hans Makart’s „Karl der Fünfte“ die Aufmerksamkeit der Beschauer am meisten von all den sechstausend, die dort aus allen Weltenden zusammengeströmt waren. Die beiden Bilder verhalten sich zu einander wie der strahlende, glühende Tag zur mondbeglänzten Nacht mit ihrem süßen, milden Zauber; man kann sie beide wohl entzückt genießen, aber nicht vergleichen.

Während die früheren Bilder Munkacsy’s nur die niedersten Menschenclassen darstellen, während er erst mit dem eben erwähnten Atelierbilde sich von denselben losriß, aber doch immer noch im Kreise des Selbsterlebten blieb, sehen wir ihm hier die Schwingen auf einmal mächtig gewachsen. Er wird selbst zum Dichter, der uns längst vergangene Zeiten und Geschichten mit voller Lebendigkeit und Glaubwürdigkeit zu schildern, sie mit allem Reize der Poesie zu umkleiden weiß. Man staunt über die Tiefe der Empfindung, die aus dem erhabenen blinden Milton, aus diesen liebevollen Mädchen spricht, fast ebenso sehr, wie über den Reichthum der Palette, den der einst so eintönige Maler hier entfaltet; und er verleiht ihm durch die vornehme Zurückhaltung, mit der er es thut, noch feineren Reiz.

Aus dem diesmal noch klareren und leuchtenderen Helldunkel glänzt uns das Gemach des in sehr bescheidenen Verhältnissen lebenden puritanischen Landedelmanns und Gelehrten mit bestrickendem Zauber entgegen. Gehört die Erfindung des blinden, blos der inneren Stimme lauschenden Dichters ganz den künstlerischen Inspirationen an, ist sie malerisch wie historisch gleich sehr ersten Ranges, so bleibt auch bei den Töchtern die schöne Abstufung des Antheils, den sie am begeisterten Vater nehmen, kaum weniger interessant. Bei der schreibenden Aeltesten ist die angestrengte Aufmerksamkeit, mit der sie keines seiner Worte zu verlieren trachtet, ebenso glücklich der Natur abgelauscht, wie das Aufblicken der Stickenden und die mit Bewunderung gemischte Zärtlichkeit der Stehenden. Außerordentlich [842] viel trägt die vortreffliche Erfindung des Gemaches, die ernste Traulichkeit seiner Stimmung zur Wirkung des Ganzen bei, welches uns den reinsten, wohlthuendsten Eindruck tiefer Rührung hinterläßt, den Munkacsy bis jetzt erreicht hat.

War er früher ein großer Colorist, der aber bereits einer einförmigen Manier zu verfallen drohte, so ist er hier als solcher unendlich reicher und reizender zugleich. Jedes kleinste Stück ist vollendet classisch, behielte seinen eigenthümlichen Zauber, auch wenn man es aus dem Bilde herausschnitte. Und dabei ist er hier durchaus original; selbst die Anlehnung an die Spanier und ihr schwärzliches Colorit ist, wenn auch vorhanden, doch sehr wohlthuend gemildert. Sein Farbenbouquet gleicht jetzt am meisten dem jener herrlichen orientalischen Teppiche, deren Grundfarbe ein tiefes Blauschwarz ist, um das ein gedämpftes gelbliches Weiß nur in geringen Quantitäten eingesprengt und durch leuchtende Punkte und Linien von allen möglichen Tinten mit dem Grundton verbunden ist. So sind denn auch sowohl der Tisch- wie der Bodenteppich, endlich die Fensterwand mit ihren durch die kleinen Scheiben spärlich hereinfallenden Sonnenstrahlen Meisterstücke, die einem Peter de Hooghe alle Ehre machen würden. Angesichts seines „Milton“ muß man Munkacsy nicht nur als Virtuosen der Farbe, die hier in ihrer ruhig gedämpften Pracht doch nur die Fülle seines Gemüths wiederspiegelt, sondern auch als hervorragenden Seelenmaler anerkennen, der nunmehr mit der angebornen Kraft eine seltene Zartheit zu verbinden gelernt hat.

Nicht zu dem geringsten Theil darf man diese so glückliche Umwandlung des Künstlers Munkacsy wohl dem Einflusse seiner Gattin zuschreiben, die uns auch hier wieder dargethan, wie recht der Dichter hat, wenn er sagt, daß es das Ewig-Weibliche sei, das uns hinanziehe, weil es eben die reichen Schätze des Herzens in uns erst zu erschließen vermag.




Erinnerungen an Java.

Von Dr. Fr. Traumüller.

2. Die Bewohner der Insel.

Alle einheimischen Bewohner des malayischen Archipels lassen, mit Ausnahme der Papuas auf Neu-Guinea und einigen benachbarten Inseln, in Körpermerkmalen, Sprachen und Sitten einen gemeinsamen Ursprung erkennen und werden daher als der malayische Stamm der mongolischen Völker zusammengefaßt. Manche Verschiedenheiten in ihren Sprachen und Sitten sind nur eine Folge der Isolirung und der mehr oder minder langen Berührung mit anderen Völkern. Ganz besonders ist der fremde Einfluß bei den Bewohnern Javas erkennbar.

Schon im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung besuchten die Bewohner des nördlichen Hindostan auf ihren Seefahrten auch Java, und seit dem achten Jahrhundert haben sich dieselben dauernd auf der Insel niedergelassen. Die Herrschaft der Hindu wurde jedoch gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts durch arabische Horden fast gänzlich vernichtet, die über die östliche Hälfte der Insel zerstreut liegenden Brahmanen- und Buddhatempel und die zahlreiche Götzenbilder zerstört und die Javaner zur Annahme des Islam gezwungen. Doch auch die von dieser Zeit an entstandenen Sultanate zerfielen nach und nach, seitdem die Holländer vom Jahre 1619 an ihre Herrschaft allmählich über die ganze Insel ausbreiteten. Die kurze englische Zwischenherrschaft (1811 bis 1817) abgerechnet, ist Java nahezu 260 Jahre im Besitze der Holländer.

Obgleich Java kleiner ist als die anderen großen Sundainseln, so ernährt es doch eine zahlreichere Bevölkerung als alle Inseln des Archipels zusammen. Zu Java gehören im administrativen Sinne noch mehrere kleine Küsteninseln und die Insel Madura; das ergiebt einen Flächeninhalt von 2440 Quadratmeilen; die Bevölkerungszahl beträgt nach der letzten Zählung vom December 1876 etwa 18,520,000 Seelen. Wenn wir hiervon die Europäer, Chinesen und Araber abrechnen, so bleiben immer ungefähr noch 18 Millionen einheimische Bewohner. Java hat also eine Bevölkerungsdichtigkeit wie nur wenige europäische Länder, denn im Mittel kommen 7050 Einwohner auf die Quadratmeile. Seit der ersten Volkszählung im Jahre 1849, die freilich ohne genaue statistische Erhebungen vorgenommen wurde, hat sich die Bevölkerung Javas nahezu verdoppelt.

Vor der Ankunft der Hindu standen die Javaner noch auf derselben niederen Culturstufe, wie gegenwärtig die Dajaken von Borneo, die Batta von Sumatra und die Alfuren von Celebes. Sie verfertigten ihre Kleider aus Baumrinde und aus Blättern, oder aus einem groben Gewebe von Bastfasern, schmückten sich mit Federn oder Zähnen und tätowirten ihre Haut. Außer der Nahrung, die sie sich durch Jagd und Fischfang verschafften, verzehrten sie das Fleisch der Schlangen; auch viele niedere Thiere galten, wie noch jetzt, als Leckerbissen. Einen Hauptbestandtheil der Nahrung lieferten die Wurzeln, Blätter und Früchte vieler Pflanzen. Der Reis, der jetzt das unentbehrlichste Nahrungsmittel ist, wurde erst durch die Hindu eingeführt, wie vielleicht der ganze Ackerbau; denn vorher war den Javanern die Bearbeitung der Metalle unbekannt, ihre Werkzeuge und Waffen verfertigten sie aus Stein, Holz und Knochen oder Fischgräten. Daß auch Java seine Steinperiode gehabt hat, beweisen die an verschiedenen Punkten der Insel gefundenen Steinwerkzeuge. Die gebräuchlichste Waffe scheint das Blasrohr gewesen zu sein, aus dem man mit dem Safte des Upasbaumes (Antiaris toxicaria) vergiftete Pfeile abschoß. Auch der Kris, ein Dolch mit wellenförmig gebogener Klinge, der stete Begleiter der jetzigen Javaner, ist ein Geschenk der Hindu.

Ihre Religion muß, ihrem damaligen Zustande entsprechend, sich in der Verehrung von Naturkräften geäußert haben; denn trotz des fast dreizehn Jahrhunderte hindurch währenden Einflusses der Hindu und trotz der Bekehrung fast sämmtlicher Javaner zum Islam lebt die alte Naturreligion in zahlreichen religiösen Gebräuchen unter denselben fort. Noch heute besteht bei ihnen der Ahnencultus, noch heute denken sie sich Himmel und Erde mit zahlreichen guten und bösen Geistern bevölkert, werden diese Geister mit Gebeten und Speiseopfern verehrt und glückliche Ereignisse deren Gunst, Unglücksfälle ihrem Zorn zugeschrieben. Zu ihren eigenen Naturgöttern nahmen die Javaner noch die der Hindu hinzu, sowie die Vorstellungen des Islam.

Die malayischen Bewohner Javas haben eine gelbbraune Hautfarbe, schwarze oder braune Augen und straffes schwarzes Haar. Sie sind klein und von schmächtigen Gliedmaßen. Nach ihren körperlichen Merkmalen und manchen Verschiedenheiten in Sprache und Sitten werden sie in drei Gruppen unterschieden: in die eigentlichen Javaner, die Sundanesen und Maduresen. Die ersteren bewohnen ausschließlich die östliche und die Sundanesen die westliche Hälfte Javas. Die Maduresen, die aus ihrer eigentlichen Heimath Madura nach Java auswanderten, haben sich vorzugsweise in den östlichen Residenzschaften niedergelassen. Im Folgenden sollen die Bewohner allgemein als Javaner bezeichnet werden.

Da die eigentlichen Javaner schon im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung mit den Hindu in Handelsverbindung traten, so mußte ihre Sprache allmählich manche Veränderungen erfahren. Wenn auch die Hindu auf Java die indische Kasteneintheilung beibehielten und die Javaner zur vierten Classe der Sudras erniedrigten, so waren sie doch genöthigt, zu ihrem Sanskrit, das sie sichern Ermittelungen zufolge gebrauchten, die Sprache der Javaner zu erlernen, um sich denselben verständlich zu machen; ebenso werden die Javaner sich bestrebt haben, sich die Sprache ihrer Herren anzueignen, um deren Gunst zu erlangen. Aus diesen Bestrebungen sind allmählich zwei Sprachen oder besser Sprachweisen entstanden, die auch heute noch gesprochen und als Hochjavanisch oder Krama und als Niederjavanisch oder Ngoko bezeichnet werden. Das Sundanesische, das nur ein Plattjavanisch ist, kennt diesen Unterschied nicht.

Das Hochjavanische wird vom Adel, von den vornehmen Javanern unter sich und von dem gemeinen Mann in der Unterhaltung mit Höhergestellten gesprochen; dagegen dürfen Personen niederen Standes nur Niederjavanisch mit einander reden, und auch [843] der vornehme Javaner bedient sich desselben im Gespräch mit dem Geringeren, um diesem zugleich seine niedrige Stellung vorzuhalten. Die Eltern reden ihre Kinder in Niederjavanisch an, dagegen dürfen diese ihre Eltern nur in Hochjavanisch anreden. Einer aus Vermischung dieser beiden Sprachen entstandenen Mittelsprache bedienen sich die Javaner im geselligen Verkehr oder der Vornehme in der Unterhaltung mit einem Javaner niederen Standes, wenn dieser wegen seines höheren Alters oder wegen seiner gesellschaftlichen Stellung Anspruch auf eine bessere Behandlung machen kann.

Das Javanische stimmt in seinem grammatikalischen Bau vollkommen mit den übrigen Sprachen des malayischen Sprachstammes überein. Es entbehrt jeder Flexion, und der Plural wird durch Verdoppelung des Substantivs ausgedrückt. Der Unterschied zwischen Krama und Ngoko besteht darin, daß für jeden Begriff, der in der Sprache ausgedrückt werden kann, zwei durch ihre Vocale und Consonanten verschiedene Wörter existiren, von denen das eine nur in Krama, das andere nur in Ngoko gebraucht werden darf. Das Hochjavanische der späteren Hinduperiode, das viele Sanskritwörter enthält und längst ausgestorben ist, nennen die jetzigen Javaner Kawi, das ist die Sprache der Gedichte, da die altjavanischen Gedichte, die sie nur in neueren Bearbeitungen lesen, in dieser Sprache geschrieben sind; doch war die Kawisprache keineswegs auf die gebundene Rede beschränkt.

Seit der Niederlassung der Holländer auf Java ist die malayische Sprache die allgemeine Verkehrssprache in allen Hafenplätzen des Archipels geworden, und durch Vermischung der malayischen Sprache mit sundanesischen und javanischen Wörtern ist in Batavia eine eigenthümliche Sprache entstanden, die man „Batavia-Malayische“ nennen könnte.

Die Javaner wohnen meist in Dörfern, die in kleinen aus Obstbäumen oder anderen Nutzpflanzungen bestehenden Hainen so versteckt liegen, daß auch von einem erhabenen Standpunkt das Dorf nicht wahrzunehmen ist; dasselbe kündigt sich uns nur durch die es umgebenden Fruchtfelder an. Zu den Dörfern führen schattige Fußpfade oder von prächtigen Alleen eingefaßte Wege.

Die Häuser der Javaner sind fensterlose Hütten, welche die Bewohner selbst ganz von Bambus bauen und mit Alanggras oder mit Palmblättern bedecken. Die gewöhnlichen javanischen Häuser empfangen ihr Licht nur durch die Thür, frische Luft liefern außer dieser auch noch die zahlreichen Spalten und Risse der aus Bambus geflochtenen Wände. Die Bewohner halten sich nur selten im Innern ihrer Hütten auf, sondern verrichten ihre häuslichen Arbeiten auf der durch ein Dach geschützten Veranda (Pandoppo); auf derselben spinnen und weben die Frauen, und hier werden auch die Besuche empfangen. Das ganze Haus besitzt meist nur zwei Abtheilungen. Die Küche, gewöhnlich blos ein offener Herd, befindet sich neben dem Hause unter einem besonderen Dach. Der Werth, den das ganze Haus an Material und Arbeit repräsentirt, beträgt höchstens zwanzig bis dreißig Mark. Jede Wohnung nebst den Nebengebäuden ist von einem Garten umgeben, der von verschiedenen Sträuchern, z. B. dem Kaffeestrauch, eingezäunt ist. Hohe Palmen und andere Fruchtbäume schützen die Wohnung gegen die brennenden Sonnenstrahlen und liefern wohlschmeckendes Obst oder Zuspeisen zum Reis.

Im Hausgeräthe wird man natürlich auch keinen Luxus erwarten dürfen. Als Bett dient den ärmeren Leuten eine breite mit einer Matte belegte, aus Bambus verfertigte Bank, die zum Schutz gegen die lästigen Mücken mit einem Vorhang aus Kattun, den die javanischen Frauen selbst weben, versehen ist. Auf keiner Veranda wird man das Balé-Balé vermissen, eine Ruhebank, deren Rahmen aus Bambus verfertigt und deren Sitz meist mit spanischem Rohr geflochten wird. Andere Möbel, z. B. Tische und Stühle, sucht man vergebens in einem javanischen Hause. Die Speisen werden in irdenen Schüsseln auf den Boden gestellt, und der Javaner sitzt beim Essen mit über einander geschlagenen Beinen am Boden. Anstatt der Teller bedient man sich der Pisangblätter oder anderer großer Baumblätter. Messer werden selten gebraucht, und Löffel nur für flüssige Speisen. Die Stelle der Gabel versehen einfach die Finger. Unentbehrlich ist in der javanischen Wohnung die Betel- oder Sirihdose, welche in verschiedenen Fächern die zum Betelkauen erforderlichen Ingredienzen enthält, nämlich: Betelblätter, Tabak, Gambir und gebrannten Kalk. In Folge der üblen Gewohnheit des Betelkauens, die bei allen malayischen Völkern sehr verbreitet ist, werden Lippen, Zahnfleisch und Speichel blutroth, und die schönen weißen Zähne, die schon den Kindern mit Bimsstein abgefeilt werden, schwarz.

Die Javaner kleiden sich mit Kattunstoffen, welche theils von den Frauen verfertigt, theils nach javanischem Muster von der europäischen Industrie geliefert werden. Zwischen der Kleidung des männlichen und weiblichen Geschlechts ist in Ostjava kein großer Unterschied; denn beide tragen den Sarong, ein Kleid wie ein offener Sack, ähnlich einem europäischen Frauenrock; am Oberkörper haben die Männer eine kurze und die Frauen eine bis zu den Knieen reichende Jacke (Capaye). Was die Füße betrifft, so geht man meist barfuß oder trägt Sandalen.

Die Männertracht im westlichen Java weist ganz kurze Hosen und oft eine Jacke auf.

Beide Geschlechter tragen lange Haare; die Männer halten dieselben mit einem halbkreisförmigen Kamme fest und bedecken sie mit einem Kopftuche, welches sie so um den Kopf wickeln, daß die Enden nicht mit einander verknüpft, sondern eingesteckt werden. Diese Kopftücher scheinen die Javaner erst seit Einführung des Islam angenommen zu haben. Noch heute gilt es als ein Zeichen der Ehrerbietung in Gegenwart von Höheren, das Haar in langen Locken über Schultern und Nacken herabhängen zu lassen. Diese Haartracht ist Vorschrift, wenn Jemand vor dem Fürsten erscheint, aber zugleich muß der Kopf mit einer weißen oder blauen Mütze bedeckt sein. Zum Schutze gegen die brennenden Sonnenstrahlen bedienen sich die Javaner oft einer Mütze mit großem Schild ober eines breiten, flachen, hölzernen Hutes. Die Frauen benutzen eine Kopfbedeckung nur bei Feldarbeiten; ihre Haare vereinigen sie am Hinterkopfe, ohne sie zu flechten, zu einem Knäuel, und die kurzen Haare der Stirn werden meist abgeschnitten und gekräuselt.

Der gewöhnliche Schmuck der Javaner hat nur geringen Werth; die Fingerringe sind meist von Kupfer oder Eisen; doch sieht man nicht selten bei den Vornehmen auch Schmucksachen von Gold und Edelsteinen, und besonders schmücken sich die Brautleute am Hochzeitstage mit kostbaren Sachen, selbst wenn sie sich dieselben leihen müssen.
(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Auch Eisbären haben ihre Schicksale. (Vergleiche das Bild auf Seite 833.) Mr. James Lamont von Keddon in Schottland ist ein englischer Polarreisenden, ein Mann, welcher sich das Vergnügen gönnen kann, auf eigene Faust eine Segeljacht auszurüsten, in den Regionen des ewigen Eises Forschungen anzustellen und nebenher Walrosse, Eisbären, Seehunde, Rennthiere und dergleichen zu jagen. Auf einer Expedition im Jahre 1859, auf welcher er das Eis der Nordküste von Spitzbergen bis zum achtzigsten Grad nördlicher Breite durchdrang, erbeutete er sogar einen weißen Walfisch. Seine Forschungen hat er in einem illustrirten Werke „Seefahrten im Eismeere oder fünf Jagd- und Entdeckungsreisen von J. Lamont“ (London, 1871) niedergelegt.

Es war am 23. Juli 1859. Lamont und sein Gefährte, Lord D. Kennedy, befanden sich in der Nähe von Whales Point, in der auf der Südküste Spitzbergens gelegenen Deeva-Bay. Sie schliefen nach einem ermüdenden Tagesausfluge bereits den Schlaf der Gerechten, als plötzlich die Schiffswache mit der Meldung erschien, daß drei Eisbären, wahrscheinlich eine Alte mit zwei Jungen, am westlichen Ufer des Fjords entlang wanderten. Rasch ging es in die Schaluppe; die Ruderer setzten ein, und das Fahrzeug bewegte sich, bei einem bitter kalten Nordwinde, uferentlang. Die Vermuthung Lamont’s, daß die Bären der Witterung eines erst vor Stunden geschossenen Individuums ihrer Gattung nachgingen, schien sich zu bestätigen: sie bekamen die Thiere, welche rasch aus dem Gesichtskreise verschwunden waren, in der vorausgesetzten Richtung bald wieder vor die Augen; dieselben saßen auf einem Streifen Landes, und nachdem Lord Kennedy ausgestiegen, um durch rasches Vorlaufen den Bären den Weg zu der nahen Bergkette abzuschneiden, fuhr Mr. Lamont mit dem Boote weiter in deren Nähe.

Als das Boot bis auf 500 Yards (1500 Fuß) herangekommen war, richtete sich die Alte auf den Hinterläufen in die Höhe, betrachtete das Boot einen Augenblick und flüchtete dann rasch, die Jungen hart auf der Ferse, am Ufer hin. Lord Kennedy gab die Verfolgung bald auf und stieg wieder in das Boot. Trotz äußerster Anstrengung schien es, daß man die Jagd werde aufgeben müssen – da kamen die Thiere an ein morastiges, von zahlreichen Wasserrinnen durchschnittenes Terrain. Mit rührender Geduld half die Alte den unbehülflichen Jungen bei dem mühseligen Marsche, aber die kleinen Dinger fingen bald jämmerlich zu [844] klagen an, und, was die Hauptsache: es ging Zeit, viel Zeit verloren. Das Boot holte sie wieder ein und bog in einen der schmalen Wasserläufe – da fuhr es plötzlich auf und war nicht von der Stelle zu bringen.

Noch betrug die Entfernung 200 Yards; bei einer Verfolgung zu Fuß wären die Bären noch immer weitaus im Vortheil gewesen. Es blieb nur die Aussicht auf den günstigen Erfolg eines Schusses. Die Büchse Lord Kennedy’s donnerte und – in das Rückgrat getroffen und völlig gelähmt, sank die alte Bärin nieder. So rasch wie möglich sprang Alles durch Schlamm und Eisstücke bis zu der Stelle; ein zweiter Schuß tödtete die Bärin, und da kauerten nun die Jungen, ganz schwarz von Schlamm und zitternd vor Kälte, auf dem riesigen Körper der Mutter, grimmig knurrend und jeden Versuch, sie zu ergreifen, hartnäckig abwehrend.

Endlich wurden ein paar Walroßleinen geholt, den beiden kleinen Teufeln Schlingen um den Hals geworfen und sie hart an einander gekoppelt, worauf sie alsbald über einander herfielen und in wüthendem Kampfe, mit Beißen, Strampeln und Gebrüll, sich rundum im Schlamme wälzten, bis zur Erschöpfung. Inzwischen war die Bärin geöffnet worden, und man hatte begonnen, ihr das Fell abzuziehen – und was geschah? Diese kleinen Musterbilder kindlicher Undankbarkeit krochen, sobald ihre Differenz ausgeglichen war, unbekümmert um die Menschen in ihrer Nähe, heran und begannen, sich an den sterblichen Ueberresten der Mutter eine Güte zu thun. Alsdann setzten sie sich auf die abgezogene Haut und weigerten sich so entschieden, dieselbe zu verlassen, daß nichts übrig blieb, als sie auf derselben zum Boote hin theils zu tragen, theils zu schleifen. Es gab noch einen harten Kampf, bei dem mehrere Bootsleute arg zerbissen und zerkratzt wurden, ehe es gelang, die beiden Unholde unter einer Sitzbank des Bootes festzubinden und zur Schaluppe zu befördern. Hier witterten sie schnell die Haut des Tags zuvor erlegten Bären – vielleicht war es ihr Papa – heraus, legten sich darauf nieder und schliefen beruhigt ein, um bald nachher in einem schnell hergestellten starken Holzkäfig untergebracht zu werden.

Einige Wochen später lag das Schiff nahe beim Ufer vor Anker; die Mannschaft war Eier suchen gegangen und nur der Koch zurückgeblieben, um das Mittagessen zu bereiten. Da hört er plötzlich den schlürfenden Schritt der Bären auf dem Decke. Er nimmt eine Hundepeitsche und eilt hinauf; aber die ziemlich herangewachsenen Thiere fallen ihn mit solcher Wuth an, daß er Hals über Kopf auf den Hauptmast flüchten und nun unthätig zusehen muß, wie die Beiden einen für das Diner bestimmten Rennthierbraten vom Haken zerren und zerreißen. Endlich klettert der eine auf den Schiffsbord; der andere folgt, und bald darauf plumpsen Beide in das Wasser und schwimmen dem Lande zu.

Durch einen seltsamen Zufall traf indessen die auf der Heimfahrt begriffene Mannschaft mit ihnen zusammen; schon schickte man sich an, auf sie zu schießen, da man sie für wilde Bären hielt, als ein Matrose wegen ihres furchtlosen Benehmens auf den Einfall kam, daß man wohl die Gefangenen vor sich habe. Die Bären machten auch keinen Versuch zur Flucht, aber sie widersetzten sich dem Einfangen mit solcher Wuth, als ahnten sie, daß mit dem Ausgang dieses Kampfes ihr Schicksal für immer besiegelt sei. Endlich waren sie gefesselt, und bald darauf saßen sie wiederum in ihrem Holzkäfige.

Mr. Lamont, welcher auf der Heimfahrt nach England sich Mühe gab, die Wildlinge zu civilisiren, sandte sie später an den Director des Zoologischen Gartens in Paris und hatte später noch die Genugthuung, sie völlig erwachsen, aber genau so unliebenswürdig wie früher wiederzusehen. Und nun kommt der tragische Abschluß der Geschichte: Als die deutsche Belagerungsarmee den eisernen Gürtel um Paris geschlossen hatte, fiel der gesammte Bestand des Zoologischen Gartens dem hungerigen Magen der Pariser zum Opfer, und wenngleich wir trotz unserer Bemühungen nicht mit Gewißheit erfahren konnten, ob auch unsere Eisbären dieses Schicksal erfahren haben, so sind doch bei jener Gelegenheit wahrscheinlich noch undelicatere Bissen verspeist worden als Eisbärcoteletten, und es bleibt kaum eine andere Annahme, als daß die Aermsten, welche unsere Abbildung im Flügelkleide zeigt, in der That mit zu den vielen Opfern jener großen weltgeschichtlichen Katastrophe zählen.




Das Wickersheimer’sche Conservierungsverfahren, über dessen an’s Wunderbare grenzende Erfolge die „Gartenlaube“ in Nr. 22 dieses Jahrgangs ausführlich berichtete, indem sie zugleich den staatlichen Ankauf zum allgemeinen Besten dringend befürwortete, ist nunmehr wirklich dem Erfinder vom preußischen Cultusministerium abgekauft worden, und der „Reichs- und Staatsanzeiger“ hat die Bereitungsweise veröffentlicht. Da die „Gartenlaube“ in weitere Kreise dringt, als das erwähnte Regierungsorgan, so wollen wir die Bereitungsweise der in ihren Wirkungen an obiger Stelle ausführlich geschilderten Flüssigkeit im Folgenden ebenfalls wiedergeben. Es werden, nach der Patentschrift, in 3000 Gramm kochendem Wasser 100 Gramm Alaun, 25 Gramm Kochsalz, 12 Gramm Salpeter, 60 Gramm Potasche und 10 Gramm arsenige Säure aufgelöst. Die Lösung läßt man darauf abkühlen und setzt der neutralen farb- und geruchlosen Flüssigkeit nach der Filtration auf je 10 Liter 4 Liter Glycerin und 1 Liter Methylalkohol hinzu. Die Anwendungsweise dieser Flüssigkeit ist je nach der Natur der zu conservirenden Körper verschieden. Sollen anatomische Präparate, ganze Thiere etc. in trockenem Zustande aufbewahrt werden, so werden dieselben je nach ihrem Umfange sechs bis zwölf Tage in die Conservirungsflüssigkeit gelegt, dann herausgenommen und an der Luft getrocknet. Die Bänder an Skeleten, die Muskeln etc. bleiben dann weich und beweglich, sodaß an ihnen jederzeit die natürlichen Bewegungen ausgeführt werden können. Hohlorgane, wie Lungen, Eingeweide etc., werden vor der Einlage in die Conservirungsflüssigkeit erst mit derselben gefüllt und später nach dem Herausnehmen und Ausgießen am besten in aufgeblasenem Zustande getrocknet. Kleinere Thiere, wie Krebse, Käfer, Eidechsen, Frösche etc., ferner Vegetabilien, bei denen es darauf ankommt, die Farben unverändert zu erhalten, werden nicht getrocknet, sondern in der Flüssigkeit aufbewahrt. Sollen menschliche Leichen oder Thiercadaver für längere Zeit liegen bleiben, bevor sie zu wissenschaftlichen Zwecken gebraucht werden, so genügt schon ein Injiciren derselben, wozu je nach der Größe, z. B. für ein zweijähriges Kind anderthalb Liter, für einen Erwachsenen bis fünf Liter erforderlich sind. Das Muskelfleisch erscheint dann selbst nach Jahren beim Einschneiden wie bei frischen Leichen. Wenn injicirte Leichen an der Luft aufbewahrt werden, so verlieren sie allmählich das frische Aussehen und die Oberhaut wird etwas gebräunt; auch dies kann verhindert werden, wenn sie vorher mit der Flüssigkeit äußerlich eingerieben und dann möglichst luftdicht verschlossen gehalten werden. Diese letztere Behandlungsweise empfiehlt sich für Leichen, welche öffentlich ausgestellt oder doch längere Zeit erhalten werden sollen, ehe sie begraben werden, weil sie dann, statt den gewöhnlichen abschreckenden Anblick zu gewähren, Gesichtszüge und Farben unverändert und frisch zeigen und nicht den geringsten Geruch haben. Zur wirklichen Einbalsamirung wird Injiciren und Einlegen mit einander verbunden, und die Aufbewahrung geschieht dann nach Einhüllung in mit der Flüssigkeit befeuchtete Tücher in gutschließenden Behältern.




Instinct oder Ueberlegung? Zuweilen möchte man auf den Verdacht kommen, daß Haus- und Hofthiere im engeren Verkehr mit höher organisirten Geschöpfen diesen etwas abgelauscht haben. Einen Anstoß zu dieser Ansicht erhielt ich neulich beim Besuche eines langjährigen Freundes in dem Forsthause eines Elbreviers. Die Hauskatze hatte vor etwa acht Wochen vier Jungen das Leben gegeben, die Hausbewohner erhielten indeß erst einige Tage darnach die Gewißheit hiervon durch den Umstand, daß leises Wimmern die Räume des stillen Hausbodens durchzog; die Mutter hatte, wie sich herausstellte, die jungen Katzen verlassen. Der Satz wurde nun auf zwei schwarze Exemplare reducirt und der nachlässigen Mutter unter eindringlichen Ermahnungen wiederholt untergeschoben. Vergebens! Die Thierchen fanden weder Liebe noch genügende Beachtung; sie entbehrten fast gänzlich der Muttermilch und wurden nur durch unzureichende künstliche Mittel etwa vierzehn Tage hindurch nothdürftig am Leben erhalten. Da begab es sich, daß Belline, eine durch ihre Guthmüthigkeit in Ansehen stehende gelbe Dachshündin, die Hausbewohner mit nur einem Sprößling gleichfalls freudig überraschte. Man verfiel darauf, die schlecht bemutterten Wesen neben den kleinen Hofbürger zu placiren, und siehe da: die kohlschwarzen Kätzlein fanden nicht allein einen duldsamen Stiefbruder, sondern auch eine opferfreudige, liebevolle Mutter; sie tranken in gierigen Zügen am Born des Lebens und gediehen zu Aller Freude nicht minder gut, als der kleine drollige, auf den Namen „Steiger“ getaufte Hund.

Weitere vierzehn Tage vergingen. Da erhob sich eines Tages die gute, treue Belline von ihrem Lager, packte ihren Einzigen beim Kragen, trug ihn in das nahe Gebüsch, setzte ihn sanft nieder, kratzte dann eine tiefe Grube und legte ihn hinein.

Steiger nieste; er scharrte sogar mit den kurzen Läufen. Nichts wollte helfen – die gute Belline fuhr fort, ihr einziges Söhnchen mit dem ausgeworfenen Erdgeröll zu überschütten. Endlich, als seinem jungen Hirn die Situation doch bedenklich vorkommen mochte, gab er „Laut“.

Jung Steiger entstieg mit menschlicher Hülfe der Grube: er war dem Leben wiedergegeben.

Belline, die Gute, erhielt eine gehörige Zurechtweisung, und dank dieser erfreute sich der also gemaßregelte Steiger wieder derselben Rechte, wie solche seinen beiden Milchschwestern bisher zu Theil geworden und noch jetzt zu Theil werden; denn gestern noch sah ich das drollige Kleeblatt in rührend zärtlicher Gemeinschaft hangen – an der Mutter Brust.

Wer erklärt ihn nur – diesen Zwiespalt der Natur?

Schönebeck an der Elbe, den 6. October 1879.

J. Köhr.




Kleiner Briefkasten.

G. L. in B. Sie fragen uns, ob wir den Natronkaffee der Firma Thilo und von Döhren in Wandsbeck, welcher den Schlußrathschlägen unseres kleinen Artikels über Kaffee-Surrogate (1879, S. 91) entgegenkommt, wirklich empfehlen können. Wir riethen Denen, welche den Kaffee, sei es aus ökonomischen, sei es aus gesundheitlichen Rücksichten, verdünnen oder ersetzen müssen, statt der Röstproducte aus unbekannten Wurzeln oder zweifelhaften Südfrüchten das Röstbitter unserer gewöhnlichen Getreide-Arten, was man sich selbst in jeder beliebigen Kaffeetrommel bereiten kann, an. Die genannte Wandsbecker Firma stellt laut der Patentschrift dieses Product nach einem insofern verbesserten Verfahren dar, als sie das Getreide vor dem Rösten durch Auskochen und Auslaugen von einem den Geschmack beeinträchtigenden Bestandtheil befreit: Nach dem Rösten setzt sie ihrem Präparate außerdem einen kleinen Procentsatz doppeltkohlensauren Natrons hinzu, der sich namentlich dann nützlich erweist, wenn man dieses Surrogat als Zusatz zu der doppelten oder dreifachen Menge reinen Kaffees benützt. Die winzige Menge des Natronsalzes begünstigt nämlich die Aufschließung und Lösung der Kaffeebestandtheile, weshalb man die Natronsäuerlinge gewisser Badeorte als das beste Kaffeewasser schätzt. Die Anwendung des natronhaltigen Surrogates hat dabei den Vortheil, daß man nicht leicht des Guten zu viel nimmt, während beim directen Zusatz des Natronsalzes zum Kaffeewasser sehr leicht die zweckmäßige, sehr geringe Dosis überschritten und dann das Getränk verschlechtert statt verbessert wird.

Stiftsfräulein Aurelie. Schade, daß wir Ihnen einen confessionellen Schrecken einjagen müssen: der mit Ihrer Theilnahme Beehrte betet den Gott Abraham’s, Isaak’s und Jacob’s an, befindet sich aber, wie er uns jüngst persönlich dargethan, außerdem wohl.

H. N. in W. Geben Sie vor Allem Ihre volle Adresse an!



Verantwortlicher Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.