Die Gartenlaube (1883)/Heft 14
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No. 14. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Gebannt und erlöst.
Vilmut sah den Freiherrn an. Jetzt war es Triumph, der aus seinen sonst so kalten Augen blitzte und in seiner Stimme klang, als er antwortete:
„Nein, denn ich werde niemals die Wahrheit verleugnen. Anna hatte in meine Hand gelobt, keine Zeile mehr von Ihnen anzunehmen. Ich war bei ihr, als sie jenes Schreiben empfing, und mahnte sie an ihr Versprechen. Ich selbst nahm den Brief aus ihrer Hand und warf ihn in das Feuer.“
Ein tiefer Athemzug rang sich aus der Brust des Freiherrn, als sei eine Last von ihm genommen.
„Also gezwungen! Ich ahnte es, obgleich Anna es mir verschwieg.“
„Anna?“ wiederholte Gregor. „Was soll das heißen, Herr von Werdenfels? Haben Sie etwa seitdem Frau von Hertenstein gesehen und gesprochen?“
„Ja,“ sagte Raimund kalt.
„Und wann geschah das? Wo geschah es?“
„Darüber bin ich Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Fragen Sie Anna selbst; sie wird ihrem strengen Beichtiger die Auskunft wohl nicht verweigern.“
„Ich werde fragen,“ sagte Vilmut finster. „Und ich werde mir Antwort zu verschaffen wissen.“
„Daran zweifle ich nicht, aber haben Sie Dank für Ihre Auskunft. Sie ist mir sehr viel werth, leben Sie wohl.“
Er wollte gehen, doch Vilmut vertrat ihm den Weg.
„Noch eins, Herr von Werdenfels – gedenken Sie in Ihrem Schlosse zu bleiben?“
„Für das Erste – ja.“
„Und wie soll ich und das Dorf Ihr Wiedererscheinen deuten?“
„Wie Sie wollen!“ entgegnete Raimund stolz und verächtlich.
„Ist Ihnen das so gleichgültig? Sie sind hier nicht so unnahbar, wie in Ihrem Felseneck, das sollten Sie bedenken –“
„Sprechen Sie Ihre Drohungen doch offen aus,“ unterbrach ihn der Freiherr. „Sie wollen von Neuem den Kampf beginnen, den wir Beide schon einmal mit einander gekämpft haben. Ich war darauf gefaßt, als ich Felseneck verließ.“
„Und Sie denken diesmal Sieger zu bleiben?“
„Ich denke diesmal Stand zu halten, wie auch das Ende sein mag.“
Es war ein seltsamer Ausdruck in dem Blicke, mit dem der Priester den „haltlosen Träumer“ maß, der jetzt eine so ungewohnte Energie zeigte, ein halb verwunderter, halb zorniger Ausdruck.
„Jene Unterredung muß wohl sehr inhaltreich gewesen sein, da sie Ihnen einen Kampfesmuth gegeben hat, der sonst gar nicht in Ihrer Natur liegt,“ bemerkte er. „Bauen Sie nicht auf den Tod des Präsidenten Hertenstein, auch bei seiner Wittwe können Sie das Geschehene nicht auslöschen, und ich, der ich ihr Hüter gewesen bin von ihrer Kindheit an, stehe ihr auch jetzt zur Seite. Was Sie auch versuchen mögen, Sie werden mich auf dem Platze finden.“
„Es bedarf der Hut nicht,“ sagte Werdenfels bitter. „Sie haben dafür gesorgt, daß ich nichts unternehme. Aber diese Unterredung hat mir auf’s Neue gezeigt, daß wir Beide bleiben, was wir von jeher gewesen sind – Feinde auf Leben und Tod.“
Er grüßte kurz und stolz und schlug den Rückweg nach dem Schlosse ein. Vilmut stand einige Minuten finster, wie in Gedanken verloren, dann sagte er halblaut:
„Also sie hat ihn gesprochen! Und sie verschwieg mir das!“
Lily war pünktlich zur Mittagszeit zurückgekehrt. Sie hätte gar zu gern die interessante Begegnung mit dem Schloßherrn erzählt, so wenig heldenhaft sie sich auch dabei benommen hatte, aber bei dieser Gelegenheit wäre doch auch das Rendez-vous bei den Haselsträuchen zum Vorschein gekommen. Das junge Mädchen verstand nicht zu lügen und wäre nicht im Stande gewesen, jene Zusammenkunft für einen Zufall auszugeben, sie schwieg daher über das Ganze. Die Unterhaltung bei Tische zeichnete sich überhaupt nicht durch besondere Lebhaftigkeit aus; der Pfarrer war sichtlich verstimmt von seinem Krankenbesuche zurückgekehrt, er sprach kaum ein Wort, auch Anna verhielt sich meistens schweigsam, und so war es Fräulein Hofer, die fast allein das Gespräch führte.
Kaum war die Mahlzeit zu Ende, so erklärte Vilmut, daß er etwas Wichtiges mit seiner Cousine zu besprechen habe, und zog sich mit ihr in das Studirzimmer zurück.
„Da zieht wieder ein Ungewitter heran!“ sagte Lily. „Wenn Vetter Gregor so aussieht, empfinde ich immer ein dringendes Bedürfniß, davonzulaufen. Ich beneide Anna nicht um diese Unterredung unter vier Augen.“
„Es werden geschäftliche Unannehmlichkeiten sein,“ meinte Fräulein Hofer. „Es giebt ja noch so Manches zu ordnen in dem Nachlaß des Präsidenten, und der Herr Pfarrer hat ja größtentheils diese Angelegenheiten in Händen.“
[218] „Ja, er mischt sich in alles!“ rief Lily, die sehr naseweis sein konnte, sobald eine geschlossene Thür zwischen ihr und dem Vetter Gregor lag. „Seit Anna Wittwe geworden ist, bevormundet er sie bei jeder Gelegenheit, ganz wie in früheren Zeiten.“
Das Fräulein lächelte ein wenig.
„Ich glaube, Frau von Hertenstein läßt sich nur bis zu einem gewissen Punkte bevormunden. Es ist im Grunde nur natürlich, daß sie die Vertretung ihres Verwandten annimmt.“
„Der Justizrath ist ihr geschäftlicher Vertreter,“ beharrte das junge Mädchen, „wozu braucht sich da noch Vetter Gregor einzumischen? Der arme Onkel Justizrath mit seinen vier Körben! Er sah noch recht trübselig aus, als er gestern nach Rosenberg kam. Ich habe ihn nach Kräften getröstet.“
„Ja, Sie trieben wieder ein recht übermüthiges Spiel mit ihm,“ sagte Fräulein Hofer strafend. „Und es ist doch sehr anerkennenswerth, daß er wiederkam, um sich der gnädigen Frau in alter Freundschaft zur Verfügung zu stellen, trotz allem was geschehen war.“
„Trotz der Hochachtung Nummer vier!“ rief Lily mit übermüthigem Lachen. „Es muß eigentlich schrecklich sein, immer und ewig nur Hochachtung zu finden, wenn man eine Frau sucht. Sie haben aber gar kein Mitleid mit ihm, Fräulein Emma. Sie haben sich gestern wieder mit ihm gezankt.“
„Ja, das that ich,“ sagte Emma mit unverkennbarer Genugthuung, „oder vielmehr wir zankten uns Beide!“
Im Studirzimmer zog inzwischen der prophezeite Sturm heran. Auch Anna kannte das Gesicht Vilmut’s und sah, daß irgend etwas geschehen war. Kaum befand sie sich mit ihm allein, so fragte sie unruhig:
„Was ist vorgefallen, Gregor? Du bist auf das Tiefste verstimmt, ich sah es schon bei Deiner Rückkehr.“
Gregor schloß die Thür, dann trat er dicht vor die junge Frau hin und sagte plötzlich, ohne jede Einleitung:
„Ich habe eine Begegnung mit Werdenfels gehabt.“
In Anna’s Gesicht zeigte sich ein leichter Farbenwechsel, aber sie erwiderte mit anscheinender Ruhe:
„In der That? Ich hörte, er habe bisher sein Schloß noch nicht verlassen.“
„So that er es heute, und er war auf dem Wege zu mir.“
„Zu Dir?“
„Scheint Dir das unmöglich?“
„Wie ich den Freiherrn kenne, allerdings.“
„Und Du kennst ihn jedenfalls am besten! Du hast Recht, er kam nicht als Bereuender, aber ich erfuhr etwas ganz Seltsames bei dieser Gelegenheit. Du hast ihn kürzlich gesehen und gesprochen! Warum hast Du mir das verschwiegen?“
Die rücksichtslose Strenge dieser Frage rief das ganze Selbstgefühl der jungen Frau wach. Sie hob mit voller Entschiedenheit den Kopf.
„Weil ich kein Kind mehr bin, das von jedem Worte und jedem Schritte Rechenschaft abzulegen hat. Bedenke das, Gregor.“
Gregor schien wenig geneigt, seine herrische, rücksichtslose Art aufzugeben, aber er mochte wohl wissen, daß es hier eine Grenze für seine Macht gab, denn er milderte seinen Ton.
„Du verweigerst mir also die Auskunft?“
„Wenn Du sie wünschest – nein.“
„Nun also, wo und wie fand diese Begegnung statt?“
„Durch einen Zufall. Es war an jenem Tage, wo wir nach dem Mattenhofe fuhren. Du warst bei dem gestürzten Pferde zurückgeblieben und ich eilte nach der Försterei, um Dir Beistand zu senden. Auf dem Wege dorthin traf ich Rai– den Freiherrn von Werdenfels.“
„Und bei dieser Gelegenheit erfuhr er vermuthlich, daß Du Wittwe bist,“ sagte Vilmut hohnvoll. „Das erklärt allerdings sein plötzliches Wiederauftauchen.“
Die junge Frau schüttelte leise, aber entschieden den Kopf.
„Du irrst, ich bin es nicht, die er sucht. Aber wenn er es nur versuchen wollte, sich wieder den Menschen zu nähern, die ihn ausgestoßen haben! Gregor, Du bist allmächtig in Deiner Gemeinde und in der ganzen Umgegend, ein Wort von Dir giebt das Signal zum Kampfe oder zum Frieden. Wirst Du dem Zurückkehrenden wieder so unversöhnlich entgegentreten wie damals, wird sich auf Dein Geheiß wieder Alles gegen ihn wenden? Du bist ein Priester, Dein Amt schon fordert Versöhnung und Verzeihung, sei nicht unbarmherzig!“
Ihre Stimme bebte im leidenschaftlichen Flehen, aber gerade dies Flehen schien den starren Mann noch mehr in seiner Härte zu bestärken.
„Willst Du mich meine Priesterpflicht kennen lehren?“ fragte er kalt. „Ich fordere Unterwerfung des Schuldigen unter mein Urtheil, volle, ganze Unterwerfung, dann mag von Versöhnung die Rede sein, eher nicht!“
„Du hassest ihn!“ sagte Anna leise.
„Nein, ich richte ihn! Und wenn er diesen Richterspruch nicht anerkennen will – um so schlimmer für ihn.“
Die junge Frau mochte wohl einsehen, daß jeder Versuch der Milderung vergebens sein würde. Sie wandte sich ab und ließ sich auf den Stuhl nieder, der vor dem Schreibtische stand. Nach einem minutenlangen Schweigen trat Vilmut zu ihr und seine Haud legte sich schwer auf ihren Arm.
„Und Du, Anna?“ fragte er langsam. „Hast Du endlich diese unselige Neigung überwunden, oder muß ich Dir von Neuem die Vergangenheit in das Gedächtniß zurückrufen? Muß ich Dich an den Tag erinnern, wo –“
„Nein, nein, schweig davon!“ unterbrach sie ihn mit angstvoller Abwehr. „Du weißt es ja, was mich und Werdenfels trennte, das besteht noch in voller Kraft.“
„Ja, es besteht!“ bekräftigte Gregor. „Und wehe ihm, wenn er versuchen sollte, daran zu rühren! Ich werde Dich vor ihm zu schützen wissen.“
Um Anna’s Lippen zuckte ein halb bitteres, halb schmerzliches Lächeln.
„O gewiß! Das hast Du schon einmal gethan, und Du hattest ja auch Recht, aber ich hege seitdem doch ein Grauen vor Deinem Schutze.“
„Und doch hat er allein Dich damals gerettet. Dieser Werdenfels hätte gesiegt trotz Allem, was geschehen war, ohne mein Dazwischentreten. Du bist ja nur ein Weib und Du liebtest ihn.“
„Und Du, Gregor, bist ein harter Richter, wo es sich um die Liebe handelt, die Du nie gekannt und erfahren hast.“
Gregor kreuzte die Arme, und in seinem Antlitze erschien wieder jener Ausdruck stolzer, kalter Genugthuung, als er fragte:
„Weißt Du das so genau?“
„Ja. Du brachtest sicher kein Opfer, als Du Dein ganzes Leben und Sein dem Priestergelübde zu eigen gabst. In Deinem Herzen hat die Liebe keinen Raum.“
„Nein, sie hat ihn nicht gefunden, aber sie nahte auch mir einst als Versuchung, und bei dem geweihten Priester war diese Leidenschaft für ein Weib ein Verbrechen. Auch mir ist der Kampf nicht erspart geblieben, den Jeder im Leben einmal durchkämpft, aber ich habe ihn bestanden.“
„Du hast geliebt, Gregor?“ rief Anna, indem sie sich in höchster Ueberraschung erhob. „Das hätte ich nie für möglich gehalten, aber ich möchte die Frau kennen, die Dir eine Empfindung abzwang.“
Das Auge des Priesters ruhte eisig auf dem schönen Antlitze und den goldschimmernden Haaren, es war auch nicht die leiseste Regung in diesem Blicke.
„Du kennst sie!“ erwiderte er. „Glaubst Du denn, ich hätte Dich jemals hinaus gelassen aus dem sicheren Schutze meines Hauses, wenn die Trennung nicht nothwendig gewesen wäre?“
Die junge Frau erblaßte. „Die Trennung von mir? Das kann nicht Dein Ernst sein!“
„Weshalb nicht?“ fragte Vilmut mit derselben eisigen Gelassenheit. „Du warst in meiner Hut aufgewachsen und jahrelang glaubte ich Dir nur Lehrer und Beschützer zu sein, bis ich eines Tages entdeckte, daß ich am Abgrunde stand, und den Schwindel fühlte, der mich hinabzog. Ich bin Sieger geblieben, weil ich nicht unterliegen wollte, weil ich den Muth hatte, das Messer an die Wunde zu setzen, ohne der Schmerzen zu achten. Ich brachte Dich zu Fräulein von Hertenstein, deren Reise Dich monatelang entfernte, und das gab Deinem Schicksale eine neue Wendung. Ich weiß, Du hast es mir niemals verziehen, daß ich damals, als jene Katastrophe hereinbrach, Deine Verzweiflung, Deine halbe Betäubung benutzte, um Dich zu der Verbindung mit dem Präsidenten zu bestimmen. Ja, diese Heirath war mein Werk, aber mein eigenes Herz war es, das dabei zermalmt und [219] zertreten wurde. Und mit diesem Herzen drängte ich Dich zu jenem Entschlusse, mit diesem Herzen traute ich Dich einem Andern an und sprach den Segen über Eure Häupter.“
Anna erwiderte keine Silbe, aber sie blickte mit einem Gemisch von Scheu und Bewunderung auf den Mann, der ebenso eisern und unbarmherzig, wie er Andere richtete, auch die Empfindungen seines eigenen Herzens niederzwang. Wohl sprach der Triumph über den errungenen Sieg aus jedem seiner Worte, aber diese Worte klangen so unbewegt, als läge ein Menschenalter zwischen ihm und jenen Kämpfen.
„Jetzt ist die Schwäche längst überwunden und begraben,“ fuhr er fort, „sonst hättest Du überhaupt niemals davon erfahren, aber ich wollte Dir an meinem Beispiel zeigen, was der Wille und das Bewußtsein der Pflicht vermag. Was mir die Pflicht gebot, das gebietet Dir die Schuld jenes Mannes. Aergert Dich Dein Auge, so reiß’ es aus! sagt die Schrift. Ich folgte diesen Worten – thu’ Du desgleichen!“
„Gregor, Du bist furchtbar in Deiner starren Größe,“ sagte die junge Frau mit einem leisen Schauer. „Ich bewundere sie, aber ich kann mich nicht zu ihr erheben.“
„So lerne es!“ versetzte er mit Nachdruck. „Du gehörst nicht zu den Schwachen, auch Dein Wille ist eine Macht, lerne sie gebrauchen. Die Gefahr, die ich für immer beseitigt wähnte, tritt Dir zum zweiten Male nahe, seit Werdenfels wieder in Deiner Nähe ist. Du wirst jeden Annäherungsversuch unerbittlich zurückweisen, hörst Du, Anna? Ich fordere es von Dir im Namen der Vergangenheit, im Namen jener Flammen, die vor vierzehn Jahren unser Dorf in Asche legten!“
Anna zuckte zusammen, aber sie widerstand nicht der schonungslosen Mahnung, stumm senkte sie das Haupt, und ebenso wortlos legte sie ihre Hand in die ausgestreckte Rechte Gregor’s. Ihm war das genug; denn er wußte, dies Gelöbniß werde gehalten werden.
Monate waren vergangen, der Winter hatte seine unbestrittene Herrschaft angetreten, die diesmal ungewöhnlich hart war. Es war ein stürmischer, eisiger Winter, der Alles in Schnee begrub und das Gebirge und dessen nächste Umgebung oft wochenlang ganz unwegsam machte. Die ärmere Bevölkerung litt schwer in dieser harten Jahreszeit und gerade auf den Werdenfels’schen Gütern gab es viel Noth und Elend. Der verstorbene Freiherr hatte trotz seines Reichthums nie auch nur das Geringste für seine armen Gutsangehörigen gethan, und sein Sohn hatte sich nach einigen mißglückten Versuchen, ihnen nahe zu treten, in die Einsamkeit zurückgezogen, wo er überhaupt nicht mehr nach dem Wohl und Wehe der Menschen fragte.
Jetzt war Raimund von Werdenfels freilich zurückgekehrt und schien dauernden Aufenthalt in seinem Stammschlosse nehmen zu wollen. Er fuhr zwar noch öfter nach Felseneck und blieb tagelang allein dort, aber der eigentliche Haushalt befand sich in Werdenfels, und die Abgeschlossenheit wurde dort nicht so streng aufrecht erhalten, wie droben in dem einsamen Bergschlosse.
Paul hatte mit Erlaubniß, ja auf ausdrücklichen Wunsch seines Onkels Besuche bei den Gutsnachbarn gemacht, die sehr zahlreich erwidert wurden. Man kam schon aus Neugier, um den vielbesprochenen Schloßherrn zu sehen, den indessen Niemand zu Gesicht bekam. Werdenfels zog sich persönlich von jedem Verkehr mit der Gesellschaft zurück und ließ sich stets durch Paul vertreten. Die Landleute dagegen sahen ihn öfter, denn er fuhr regelmäßig durch das Dorf, wenn er Felseneck besuchte, und zeigte sich auch bisweilen zu Pferde in der Umgegend. Selbst seine Unzugänglichkeit den Beamten gegenüber hatte theilweise aufgehört, er empfing nicht selten persönlich ihre Berichte. Es war, als versuche er langsam und allmählich wieder die Fühlung mit den Menschen zu gewinnen, die er so ganz verloren hatte.
Die Zimmer, welche der Freiherr bewohnte, lagen in der Hauptfront des Schlosses und waren von den ehemaligen Gemächern seines Vaters durch einen Salon getrennt, der in früheren Zeiten als Empfangszimmer benutzt worden war. Es war ein ziemlich großes Gemach, reich, aber ohne jene düstere Pracht eingerichtet, die in Felseneck vorherrschte. Durch die hohen Fenster fiel das Licht voll herein und das lebensgroße Bild des verstorbenen Freiherrn, das die Hauptwand schmückte, zeigte sich in bester Beleuchtung.
In dem Armsessel am Kamin saß Raimund von Werdenfels und hörte den Bericht des ersten Verwalters an, den er hatte rufen lassen. Paul, der soeben eingetreten war, stand neben seinem Onkel und folgte aufmerksam dem Gespräche. Der Freiherr wandte sich eben zu ihm und sagte erklärend:
„Es handelt sich um die Dammbauten, die sehr kostspielig sind, aber doch endlich in Angriff genommen werden müssen. Das Schloß und die Gärten sind hinreichend geschützt, das Dorf aber ist einem etwaigen Hochwasser schutzlos preisgegeben, und der Strom hat uns in diesem Herbste wieder eine drohende Mahnung zugerufen. Ich habe der Gemeinde den Vorschlag gemacht, die sämmtlichen Kosten zu tragen und einstweilen Erddämme aufführen zu lassen, damit einer möglichen Gefahr im Frühjahr vorgebeugt wird. Mit dem Eintritt der milden Witterung soll dann sofort der eigentliche Bau beginnen.“
Die Worte hatten nichts von der gewöhnlichen Theilnahmlosigkeit des Freiherrn, und die Zeichnungen und Pläne, welche neben ihm auf dem Tische lagen, zeigten, daß er sich eingehend mit der Sache beschäftigte. Auch Paul hielt eine der Zeichnungen in der Hand, die er mit großem Interesse betrachtete, und die beiden Herren waren so eifrig dabei, daß sie gar nicht die augenscheinliche Verlegenheit des Verwalters bemerkten, der sich verschiedene Male räusperte, ohne ein Wort hervorzubringen, endlich sagte er:
„Die Sache ist aber noch nicht geordnet, gnädiger Herr, es haben sich da noch verschiedene Schwierigkeiten ergeben –“
„Schwierigkeiten?“ fragte Raimund aufblickend. „Ich dächte, die Sache wäre vollkommen klar und einfach. Ich übernehme die Kosten und stelle meinerseits nicht eine einzige Gegenbedingung. Sie haben das betreffende Schriftstück doch der Gemeinde übergeben?“
„Schon vor einigen Tagen, und der Gemeindevorstand war in dieser Angelegenheit auch heute bei mir, aber – man weigert sich, das Anerbieten anzunehmen.“
Paul fuhr mit einer Bewegung der Entrüstung auf.
Raimund blieb ruhig sitzen, aber er erbleichte.
„Weigert sich?“ wiederholte er. „Aus welchem Grunde?“
„Herr Pfarrer Vilmut wird eine Petition bei der Regierung einreichen, von der man sich Erfolg verspricht. Man rechnet auf die Beihülfe des Staates, und ihren eigenen Antheil an den Kosten will die Gemeinde selbst bestreiten.“
„Sind die Leute denn von Sinnen?“ rief Paul heftig. „Da klagen sie fortwährend über die Armuth ihres Dorfes, die ihnen keine Schutzmaßregeln gestattet, und solch ein Geschenk, solch eine Wohlthat, die ihnen unverdienter Weise zufällt, weisen sie zurück? Das ist ja reine Tollheit!“
„Nein,“ sagte Raimund kalt, „es ist nur ein Beweis, daß Vilmut’s Macht noch größer ist, als die Geldliebe der Bauern. – Also an die Regierung will man sich wenden! Wenn da wirklich etwas bewilligt wird, so kann das Jahre dauern, und jedes Frühjahr kann die Gefahr bringen. Haben Sie das den Leuten nicht vorgestellt?“
„Gewiß, gnädiger Herr, aber sie blieben dabei – sie wollten –“
„Nun? Sprechen Sie nur frei heraus, Feldberg.“
„Sie wollten kein Gnadengeschenk, sie würden allein thun, was Noth wäre, und damit gaben sie mir dieses Schriftstück zurück.“
Er zog ein Papier hervor, das er dem Freiherrn überreichte; dieser nahm es, ohne einen Blick darauf zu werfen, seine Hand bebte dabei in nervöser Erregung, aber seine Züge blieben unverändert.
„So mag die Sache denn ihren Lauf nehmen,“ sagte er. „Lege die Zeichnungen bei Seite, Paul, Du hörst es ja, daß sie nicht mehr gebraucht werden. Und nun weiter, Feldberg, wie steht es mit der Unterstützung, welche ich für die Familie des verstorbenen Schullehrers bestimmt habe? Ist sie ausgezahlt worden?“
In dem Gesicht des Verwalters zeigte sich derselbe Ausdruck peinlicher Verlegenheit wie vorhin.
„Noch nicht, gnädiger Herr,“ erwiderte er. „Ich wollte erst Ihre Willensmeinung hören, denn die Hülfe scheint bei der Familie nicht mehr nöthig zu sein.“
„Sie sagten mir aber doch selbst, daß die Wittwe mit den Kindern sich in der größten Noth befindet, und gar keine Hülfsmittel besitzt.“
„Das war auch bei dem Tode des Mannes der Fall, aber jetzt ist Herr Pfarrer Vilmut eingetreten und wird selbst die nöthigen Mittel herleihen, um –“
[220] „Meine Hülfe überflüssig zu machen!“ ergänzte Raimund. „Ich hätte es vorher sehen können! Und die Frau weigert sich natürlich, die Unterstützung von meiner Hand anzunehmen?“
Feldberg zuckte die Achseln und schwieg.
Der Freiherr brach mit einer krampfhaften Bewegung das Papier zusammen, das er noch in der Hand hielt.
„Gut, so senden Sie das Geld den Armen von Buchdorf; da das Gut Eigenthum meines Neffen ist, wird man ihnen die Annahme hoffentlich erlauben. Sollte es dennoch nicht der Fall sein, so melden Sie es mir.“
Er gab dem Verwalter einen Wink, sich zu entfernen, aber Feldberg blieb stehen und sagte zögernd:
„Ich habe noch etwas mitzutheilen, gnädiger Herr. Ich fürchte, es wird Ihnen unangenehm sein, aber erfahren müssen Sie es ja doch – die große Ceder im Parke ist heute Morgen gefallen.“
Raimund fuhr auf, und sein Auge richtete sich forschend und finster auf den Sprechenden.
„Wie konnte das geschehen? Der Wind war ja doch ganz unbedeutend heute Nacht, und die Ceder hat länger als fünfzig Jahre den heftigsten Stürmen Widerstand geleistet. Der Fall muß irgend eine Ursache haben.“
„Die hat er auch und eine schlechte dazu!“ sagte Feldberg. „Der Stamm ist während der Nacht heimlich durchsägt worden, und da fiel der Baum beim ersten Morgenwinde.“
Raimund hatte sich erhoben, sein Auge sprühte auf in wildem Schmerz oder Zorn, man sah es, dieser Nachricht hielt auch seine Gelassenheit nicht Stand, aber er sprach kein Wort.
Paul dagegen brach empört aus:
„Das ist ja ein Bubenstück ohne Gleichen! Die prachtvolle Ceder, die in der ganzen Umgegend berühmt war als die Krone der Werdenfels’schen Gärten, die ein Menschenalter hindurch gegrünt hat und auf das Sorgsamste gepflegt worden ist! Raimund, diese Niederträchtigkeit darfst Du nicht ungestraft hingehen lassen. Der Baum war Dein Liebling, ich weiß es!“
„Eben deshalb mußte er fallen!“ sagte Raimund tonlos. „Man wird erfahren haben, daß er mir lieb war. – Aber laß Feldberg ausreden.“
„Die That muß von Mehreren verübt worden sein,“ berichtete Feldberg. „Wir haben auch bereits eine Spur gefunden, die nach dem Dorfe weist. Wenn Sie befehlen, gnädiger Herr, so soll die Untersuchung sofort –“
„Nein,“ unterbrach ihn Werdenfels. „Ich will nichts entdecken, was mich zwingen würde, zu strafen. Lassen Sie die Untersuchung fallen.“
„Ich begreife Deine Langmuth nicht,“ rief Paul unmuthig.
Der Verwalter aber sah ungemein erleichtert aus. Der Befehl des Freiherrn schien ihm sehr willkommen zu sein; er verneigte sich und ging.
Zu Richard Wagner’s Tod.
Und so wäre es denn wahr: Richard Wagner ist todt! Wir wollten’s nicht glauben, daß er auch einmal alt werden, daß er gar sterben könne, er, der, so lange wir ihn kannten, nur wuchs und wuchs, der in jedem seiner Werke in vollerer Manneskraft vor uns zu treten schien. Und doch ist’s wahr, Richard Wagner weilt nicht mehr unter uns! Noch ein erhabenes Werk schuf er und fast ohne Krankheit trat er aus unserer Mitte. Wahrlich, hätte dieser Mann im Alterthum ein solches Leben so geschlossen – die Mythenbildung hätte sein Scheiden verklärt, und wie bei dem des Pythagoras würde die staunende Welt nicht sagen: er ist todt, sondern: er ist zu den Göttern entrückt.
Aber der Künstler Wagner lebt ja noch! Er wird leben und uns vom Alltagsleben zu freier Höhe emporziehen, so lang uns seine Klänge durchrauschen. Der Mensch Richard Wagner, der kleine große Mann mit dem entschlossenen Mund, den durchdringenden Augen, der gewaltigen Stirn – seiner freilich werden wir uns nie mehr erfreuen. Und wie wir einem treuen Freund, der auf immer von uns geht, noch einmal recht tief und innig in’s Antlitz schauen, uns seine Züge treuer zu bewahren, so suchen wir uns heut die Züge tiefer einzuprägen, die das Bild des Menschen im Geschiedenen formten.
Ein wenig dazu soll auch das Folgende beitragen. Nicht aber von dem Wagner der letzten Jahrzehnte will ich sprechen, nein, von dem Wagner will ich erzählen, von dem noch kein Musiker sprach, den Keiner kannte, als der, der mit ihm verkehrte – vom Knaben Wagner. Und keine Biographie will ich geben: der Abriß seines Lebens ist ja uns allen bekannt, und wär’s auch nur durch jenen Aufsatz, den die „Gartenlaube“ vor ein paar Jahren brachte. Ein wenig plaudern wollen wir zusammen, mein lieber Leser, wie wir von theuren Todten in der Dämmerstunde zu plaudern gewohnt sind – taucht doch ihr Bild klarer vor uns herauf, wenn wir statt Daten und Jahreszahlen dem freundlichen Gruß kleiner lieber Erinnerungen lauschen, wie sie kommen und gehen und uns anheimelnd durch die Seele klingen.
[221]
[222] Am 22. Mai 1813 war Wagner zu Leipzig geboren – dem Frühling des großen Jahres der nationalen Erhebung entstammt auch der Erheber der nationalen Kunst. Ein paar Monate nach der Geburt des Knaben rollte um seine Wiege der Kanonendonner der Völkerschlacht. Seine Mutter hat es dem heranwachsenden Jungen oft erzählt, wie Napoleon, ohne Hut auf dem Kopfe, auf seinem Pferde den Brühl hinunter und am „weißen und rothen Löwen“ vorbeisprengte, in welchem der kleine Richard lag. Sein Vater, der Polizei-Actuar Friedrich Wagner, fiel noch dem großen October zum Opfer – er starb am Lazarethtyphus, der ihn bei der Pflege der Kranken und Verwundeten ergriff.
Wie ein Vermächtniß, das in so schwerer Zeit doppelt heilig war, hatte der Sterbende Weib und Kind dem treuesten seiner Freunde, Ludwig Geyer, an’s Herz gelegt. Mit ihm, der bald Richard’s Stiefvater wurde, siedelte die Familie nach Dresden über.
Es muß ein prächtiger Mann gewesen sein, der Maler und Hofschauspieler Geyer.
„Wer ihn kannte,“ sagte nach seinem Tode Böttiger in der „Dresdener Abendzeitung“, „war stets zweifelhaft, ob er seiner vielfachen Kunstfertigkeit, oder seiner geistreichen Unterhaltung, oder seinem tiefen Gefühl, wo es Liebe und Pflichterwiderung galt, seinen Beifall zunächst schenken sollte.“
Wer aber in alten Briefen und Familienpapieren den Lebensäußerungen dieses Mannes nachgeht, dem blüht aus den vergilbten Blättern eine so frische lebenathmende Gestalt entgegen, daß er sie nimmermehr vergißt. Es ist köstlich zu sehen, wie er ein jedes Glied der Familie anders und ein jedes gerade ihm angemessen zu leiten sucht, wie er bald freundlich zuspricht, bald tröstet, bald seine Ermahnungen durch Humor verzuckert, bald mit prächtigen Knittelversen die Sorgen und Kleinlichkeiten des Lebens zum Tempel hinausjagt. Die bösen Geister, welche sich aus dem Zusammenstoß seines hochstrebenden Künstleridealismus mit den Sorgen um Fleisch und Brod und mit deren Verkörperung in der Hausfrau entwickeln mochten, bannt er in seinem Lustspiel vom „Bethlehemitischen Kindermord“ auf’s Papier. Denn auch als Lustspieldichter bethätigte sich Geyer und auch hier erfreute er sich der Anerkennung. Ludwig Tieck, damals Dresdener Dramaturg, hoffte viel von seinem Talent. Aber Geyer starb jung.
Und trotzdem sein Stiefsöhnchen kaum sieben Jahre beim Tode Geyer’s zählte, war doch er es, der den größten Einfluß auf Richard’s Jugend übte. Durch sein Wort, so lange er lebte, durch seine Denkart, seine Anschauungen, kurz, durch seinen in der Familie fortwirkenden Geist, nachdem er gestorben. Das empfanden auch Richard’s Verwandte wohl – es war ein Ausdruck solchen Gefühls, wenn sie den Knaben bis zu seiner Confirmation nur „Richard Geyer“ nannten. Auch die Schülerlisten der Kreuzschule, die er nun bald bezog, kennen ihn nur als solchen.
Es steht noch, das alte Haus am Dresdener Jüdenhof, in welchem der Knabe heranwuchs. Sein Mannesalter sollte sorgenvoller werden, als seine Kindheit, denn seine Mutter, der zudem klarer Menschenverstand und praktischer Lebensblick über manches hinweghalf, ward von den gröbsten Sorgen des Lebens nicht berührt. Vater Geyer’s Bilder waren nach seinem Tode im Werthe noch gestiegen, die ältesten Geschwister hatten schon gute Einnahmen, und eine königliche Pension scheint hinzugetreten zu sein; denn Geyer, der feingebildete, vielseitige und geistreiche Künstler war am sächsischen, wie – im Hinblick auf seinen Sohn ein eigenthümlicher Zufall – am baierischen Hofe sehr beliebt. Ein Theil der besten Dresdener Gesellschaft verkehrte im Hause seiner Wittwe.
Der kleine Richard aber fand seinen ersten Freund, seinen eigentlichen Spielcameraden in Cäcilie, seinem zwei Jahre jüngeren Stiefschwesterchen.
„Wenn Du Dich so wieder einmal an mich wendest,“ schrieb er an sie, als Beide lange erwachsen waren, „so fällt mir doch immer unwillkürlich unsere Jugendzeit ein, wo wir zwei doch eigentlich am meisten zu einander gehörten: keine Erinnerung aus jener Zeit kommt mir, ohne daß Du mit darin verflochten wärst.“
Ihr, der späteren Gattin des Verlagsbuchhändlers Avenarius, meiner Mutter, danke ich das meiste von dem, was ich erzähle. Alle anderen Geschwister Wagner’s ruhen gleich ihm.
Nun aber wollen wir nach dem Jungen ausschauen! Da kommt er, im kurzärmeligen Kittel – ein schmächtiger, blasser, kleiner Kerl. aber wild, daß er „alle Tage einen Hosenboden auf dem Zaune läßt“, wie Papa Geyer klagt. Mit seinen Schulcameraden, den guten Dresdener Philisterjungen, kommt er schlecht zurecht, mit der dunkelhaarigen kleinen „Cile“ um so besser, denn alle seine Streiche macht sie mit, all seine Dummheiten hält sie für Gott weiß wie gescheidt. Tags tollen sie zusammen herum, Nachts schlafen sie in derselben Kammer – wenn sie sich nämlich schlafen lassen; denn unruhige Gesellen sind sie alle Beide, und von Richard’s Schreien, Weinen, Lachen und Gespenstersehen, während er im Bette lag, weiß meine Mutter genug zu berichten.
Ueberhaupt war seine Phantasie dasjenige, von dem er am meisten litt. Wenn er schon am hellen lichten Tage Geister sah und Stimmen hörte, so läßt sich’s begreifen, daß er vor der Dunkelheit einen mächtigen Respect hatte und absonderlich an der schmalen, düstern Treppe, die zur Wittwe Geyer hinaufführte, gar kein Gefallen fand.
Der Knabe ward größer, trieb sum und habeo, und, da er einen guten Kopf hatte, trotz weniger Schularbeiten und vieler Allotria bald auch Griechisch. Ja, das war eine Welt, die ihn packte – nichts als Homer hatte er im Kopf, nun er ihn einmal kennen gelernt! Saß er zu Haus, so übersetzte er daraus, ging er mit seiner Schwester spazieren, so erzählte er von nichts, als den Wundergeschichten der Odyssee, von groben, plumpen Cyklopen, von der niederträchtigen Zauberin Circe und vor allem von ihm, dem urgescheidten Odysseus, der doch mit all der Gesellschaft machte, was er wollte. Der erste selige Rausch, den damals der Knabe aus dem Becher griechischer Schönheit trank – er weht durch sein ganzes Leben als schöne Begeisterung weiter.
Und noch ein anderer Zug in Richard’s Charakter äußerte sich schon damals lebhaft: die innige, nein, leidenschaftliche Liebe zur Natur. Als der Knabe zum Mann geworden war und manchen bittern Trank gekostet hatte, schrieb er einmal an seine alte Mutter: „Fühl’ ich mich so bald gedrängt, bald gehalten, immer strebend, selten des vollen Gelingens mich freuend, oft zur Beute des Verdrusses über Mißlingen – fühl' ich mich fast immer empfindlich verletzt durch rohe Berührungen mit der Außenwelt, die ach! so selten, fast nie, dem innern Wunsche entspricht, so kann mich einzig der Genuß der Natur erfreuen. Wenn ich mich ihr oft weinend und mit bitterer Klage in die Arme werfe, hat sie mich immer getröstet und erhoben.“
In seltenem Maße entwickelt war schon früh seine Thierliebe. Er kannte alle Hunde weit und breit, hatte es mit seinem Schwesterchen ganz sicher ausspionirt, wenn es irgendwo einen überflüssigen Hundesäugling vom schnöden Ertränkungstode zu retten galt, und suchte einmal eine verkommende Kaninchenfamilie dadurch dem süßen Dasein zu bewahren, daß er sie vor ihren Verfolgern in seinem – Arbeitssecretär versteckte. Endlich setzte er von seiner Mutter die Erlaubniß durch, sich ein Hündchen zu halten. Das arme Thier fiel, als die Kinder einmal ausgegangen waren, zum Fenster hinaus und brach den Hals. Es wurde lange, lange beweint – soll doch Wagner später die Trauer um seinen Tod als den tiefsten Schmerz jener Jahre bezeichnet haben.
Es war auch dem Erwachsenen so gut wie unmöglich, recht froh zu sein, ohne daß „etwas um ihn herumbellte“. Mitunter kam er dabei in Verlegenheit – köstlich und meines Wissens noch nie erzählt ist jene Geschichte, bei der sein großer schwarzer Hund, „Rüpel“ geheißen, die Hauptrolle spielt. Es war in Magdeburg zur Zeit, als Wagner dort Musikdirector war. Wie ein Wahrzeichen folgte ihm, der damals in blauem Frack und weißen Hosen gerade auf Freiersfüßen ging, auf allen Wegen und Stegen der ehrliche „Rüpel“ nach. Ueberall hin, nur in’s Theater nicht. Einmal aber doch. Wagner, der die Zwischenactsmusik dirigirt hat, sitzt, während er im Orchester nicht nöthig ist, in der Theaterkneipe bei einem Glase Bier. Auf der Bühne scheidet gerade ein Uebelthäter von einem moralischen Manne, den er zurückläßt. Da erscheint auf den Brettern, welche die Welt bedeuten, kein Geringerer, als Rüpel, der seinen Herrn sucht. Verzweifeltes Locken und Rufen hinter den Coulissen hervor – „Rrrr!“ als einzige Antwort. Der Schauspieler stockt – soll er fortfahren? Ihm scheint’s am geratensten, den Eindringling stolz zu ignoriren. Er weist auf die Stelle, an welcher der Bösewicht, mit dem er im Stücke gesprochen, soeben hinausgegangen ist – leider steht Rüpel nicht entfernt von ihr. „Der ist gerad’ ein so leichtfertiger Geselle, wie sein Herr!“ Da bricht das Publicum in stürmischen Jubel los. Endlich erscheint, zu Hülfe gerufen, der Capellmeister selbst hinter den Coulissen, er ruft den Köter – der erkennt ihn, sein Knurren [223] und Zähnefletschen wird von fröhlichem Schwanzwedeln abgelöst, und heiter tänzelnd verschwindet er vom Schauplatz seiner Thaten.
Ernster – und in der That wirklich ernst – war für ihn der Kummer, den ihm später, zur Pariser Zeit, sein großer schöner Neufundländer bereitete. Er hatte ihn von Riga her mitgenommen: alle Gefahren der Wasserreise, alle Strapazen der Landfahrt, bei welcher der Hund neben dem Wagen hergelaufen, waren von „Robber“ glücklich überstanden, und so hing Wagner mit doppelter Liebe an ihm. Der Heinebiograph Strodtmann erzählt, daß Heine „andächtig die Hände faltete“ ob der Zuversicht unseres „unbekannten deutschen Musikus“, der „mit einer Frau, mit anderthalb Opern, mit einer kleinen Börse und einem furchtbar großen, furchtbar viel fressenden neufundländischen Hunde“ nach Paris kam, um sein Glück zu machen.
Aber – „Selbsterhaltung ist die erste Pflicht, menschliche Gesinnung gegen die Thiere eine zweite und schönste“. Das war ein Capitel aus Wagner’s Glaubensbekenntniß, und so ließ er seinen „Robber“ nicht im Stich. Aber Robber sollte ihn im Stich lassen. Eines Morgens war er verschwunden. Wagner bot alles auf, ihn wieder zu erhalten. Endlich ließ er, der damals in den kümmerlichsten Verhältnissen lebte, an die Straßenecken von Paris Plakate schlagen, die dem Wiederbringer des Hundes – hundert Franken Belohnung verhießen. „Hab’ ich nur erst den Robber – die hundert Franken werde ich schon irgendwoher zusammenbekommen!“
Aber auch das war fruchtlos, und Wagner mußte sich in den Verlust seines Lieblings ergeben. Da – als er nach Jahr und Tag seinen gewohnten Morgengang an einem nebligen Herbsttage unternimmt – steht plötzlich der Verlorene vor ihm. „Robber, Robber!“ Der Hund hört die Stimme, wedelt – dreht sich um und jagt davon! Wagner hinterher, durch Straßen, Plätze und Gassen, bis das Thier vor ihm im Nebel verschwindet.
Das war die einfache Geschichte. Wer aber sehen will, wie tief die Untreue seines Hundes, dieses seines „Treuesten“, den Herrn desselben berührte, der lese Wagner’s Novelle: „Ein Ende in Paris“. Aber keine Untreue machte unsern Meister an seiner Thierliebe irre. Später, als er Dresdner Capellmeister war, besuchte ihn einmal meine Mutter. Sie fand ihn in trüber, wehmüthiger Stimmung.
„Willst Du die Freunde sehen, denen ich am meisten verdanke? Da sind sie!“ Und er wies auf seinen Hund und seinen Papagei. „Es sind ja auch meine einzigen Kinderl“ fügte er hinzu. –
Aber wohin gerathen wir – wir wollten vom Kinde plaudern und erzählen uns Geschichtchen vom Mann! Ja, das ist eben die Sache, daß der kleine Richard Wagner schon so viel vom großen an sich hat, daß wir, wenn wir den ersten sehen, immer unwillkürlich an den zweiten denken.
„So!“ werd’ ich nun gefragt, [„]kannst Du uns da nicht auch etwas vom künftigen Musiker im Jungen erzählen?“ Nein, nur von dem gewaltigen Eindrucke, den damals ein Musiker auf ihn machte. Weber’s „Freischütz“ war erschienen, und Alles, vom Minister bis zum Lohndiener, sang, pfiff und trällerte seine Melodien. Weber selbst aber war damals in Dresden, was später Wagner war: Capellmeister. Wenn er aus der Probe kam und am Jüdenhof vorüberging, so rief Richard sein Schwesterchen an’s Fenster:
„Du, der da ist der größte Mann, der lebt; Du, wie groß der ist, das kannst Du Dir gar nicht vorstellen.“
Der kleine, dürre Mann mit dem langen, grauen Ueberrocke, mit der riesigen Brille auf der riesigen Nase – er wollte dem Mädchen anfangs gar nicht groß vorkommen, bald aber betrachtete auch sie ihn, wie ihr Bruder, nur mit „heiliger Scheu“. An keinem Abende aber, wenn der „Freischütz“ gegeben ward, war Richard im Hause zu halten. Hinter den Coulissen durfte er zuschauen – am Gelde für das Billet lag also keine Schwierigkeit, in’s Theater zu kommen. Wohl aber daran, daß Richard’s und der Mama Geyer Ansichten darüber, ob dies oder die Schularbeiten wichtiger seien, zuweilen aus einander gingen. Thaten sie’s, so setzte sich der Junge am Abend hin: „Ach Gott, jetzt ist nun das dran – jetzt das – jetzt das!“ und dabei heulte er „Thränen wie die Bierflaschen“ nach meiner guten Großmutter Ausdruck. Doch er erreichte schon damals meist, was er wollte: „Mach’, daß Du fortkommst!“ Husch, ging’s in den „Freischütz“! Nichts aber konnte die Phantasie des Knaben aufnehmen, ohne es, irgendwie verarbeitet, wieder aus sich heraus zu gestalten. Was war ihm das Spielen dort auf dem Theater: er selbst wollte den „Freischütz“ aufführen! Bei einem Freunde sollte er in Scene gehen, da war denn des Klebens und Pappens kein Ende – besonders an einen großen Eber erinnert sich meine Mutter, der mit seinen weißen Papphauern gar dämonisch auf seinem Brette einherschurrte. Die Wolfsschluchtscene war natürlich die Hauptsache. Richard gab den Caspar, aber der Max hatte nichts gelernt. Caspar machte ihm heimliche Vorwürfe, da lachte Max zuerst und schimpfte dann. Und die Zuschauer machten’s ebenso.
Es war eine jener Erfahrungen, denen kein begabter Knabe entgeht. Wie sollten ihn seine Altersgenossen auch verstehen, ihn, der, lebhafter als jeder Andere, Alles in sich aufnahm, was ihm entgegentrat, dessen immer erregte Phantasie ihm ein Kraftbewußtsein schuf, dem nichts unmöglich schien, und der dann wieder fast weiblich zart empfand und gegen Kleinigkeiten, welche die dicke Haut der guten Spießbürgerjungen kaum bemerkte, bis zu Thränen reizbar war! Immer mehr zog sich Richard von seinen Schulcameraden zurück, immer mehr verkehrte er nur mit seiner Schwester. Am meisten aber trug dazu die folgende kleine Geschichte bei, die Geschichte von Wagner’s – erstem Patronatverein.
Freilich, um Bühnenfestspiele handelte es sich damals nicht, sondern um etwas ein wenig Einfacheres: um ein Vogelschießen. Richard und Cäcilie hatten die kleinen Schächtelchen, in denen sie vom Frühstück abgesparte Pfennige für außerordentliche Gelegenheiten zu verwahren pflegten, schon recht schwer werden lassen: nun sollte ein großes „Sommerfest“ für Richard’s Freunde arrangirt werden, mit einem Vogelschießen als Glanzpunkt. Aber dazu war der Mammon doch zu knapp. So ward denn eine Art von Verein begründet: wer einen Dreier auf den Altar der Kunst legte, sollte Freud’ und Antheil an all dem Hohen haben, das da vorbereitet ward. So häuften sich die Summen, und als die Farben-, Rauschgold- und Nagellieferungen eingetroffen waren, begab sich der Meister an’s Werk, um aus dem schwersten Brennholze den stolzesten Aar hervorzuzaubern. Nun ward auch die Vogelstange im Garten errichtet, die zu gewöhnlichen Zeiten bescheiden als Wagendeichsel diente – und bald leuchtete das Wappenthier mit Gewinnen behängt in allen Farben über den Gartenzaun. Morgen sollte das Fest vor sich gehen. Aber ach, als der Unternehmer desselben am nächsten Tage mit seinem Intendanten, der Cäcilie, vor die Thür trat, sein Werk zu beschauen – da lag’s traurig am Boden. Die lieben guten Freunde hatten gefunden, daß doch das Vergnügen weit größer sei, wenn sie den Adler vorher mit Steinen herunterwürfen und sich nachher an Richard’s Wuth und Thränen weiden könnten.
„Wir haben unsern Dreier gegeben, da können wir auch damit machen, was wir wollen!“ war auf des armen Jungen Vorwürfe die Entgegnung seiner holden Genossen. Wie oft ist es Wagner mit großen weisen Männern so ergangen, wie hier mit diesen Schulcameraden, den „Freunden“ seiner Jugend! Es ist wahrhaftig kein Wunder, wenn er mit der Zeit lernte, „hart zu werden“.
Je älter Richard wurde, desto häufiger machte er sich auch an poetische Versuche. Er selbst erzählt uns in jener autobiographischen Skizze, die seinen Werken vorgedruckt ist, daß er das Englische „blos, um Shakespeare ganz genau kennen zu lernen“, trieb, wie er früher das Griechische so leidenschaftlich lernte, um den Homer in der Ursprache lesen zu können. Ein Gedicht auf einen verstorbenen Mitschüler wurde gedruckt. Durch Shakespeare angeregt, wuchs aber auch ein großes Trauerspiel in Wagner’s Kopfe heran.
„Der Plan war äußerst großartig,“ schreibt der erwachsene Meister darüber, „zweiundvierzig Menschen starben im Verlaufe des Stückes, und ich sah mich bei der Aufführung genöthigt, die meisten als Geister wiederkommen zu lassen, weil mir sonst in den letzten Acten die Personen ausgegangen wären.“
Ob es mit den „zweiundvierzig“ Opfern gar so ernst zu nehmen ist, weiß ich nicht – schauerlich genug ging’s aber in dem Drama her; denn mit dem Geiste Shakespeare’s, dem es bekanntlich auf ein Menschenleben mehr oder weniger auch nicht sehr ankommt, spukte damals derjenige des Gespenstergeschichtenerzählers von Beruf, E. T. A. Hoffmann, in Richard’s Kopf. Und dem jungen Wagner ging’s, wie seinem Vorbilde Hoffmann – auch [224] er fürchtete sich schließlich selbst vor den Geburten seiner Phantasie. Und wie es seinem Schwesterlein, die natürlich auch hier seine Vertraute war, gegruselt haben mag, das können wir uns wohl denken! Gerade in jener Zeit aber sprießen zwischen all den Kindereien leise, leise die ersten Keime männlichen Denkens bei unserm Helden hervor.
Einmal trug er der Cäcilie eine dämonische Stelle vor, in der ein Lebender auf einen Geist zuschreitet. Da ruft ihm die dumpfe Grabesstimme ein Zurück: „Rühre mich nicht an; denn meine Nase zerfällt in Staub, sowie man sie anfaßt.“ Meine Mutter behauptet, daß ihr das schon damals ein wenig sonderbar vorkam. Bald darauf besuchte eine Freundin den jungen Poeten.
„Wie geht’s mit dem Trauerspiel?“ frug sie.
„Nu, bis auf Einen hab’ ich sie Alle todt!“ war seine Antwort. Das sagt kein Kind. Das ist erwachende Selbstkritik. Auch äußerlich war ein Abschnitt in Wagner’s Leben eingetreten: seine Familie war nach Leipzig zurückgesiedelt. Das Suchen und Träumen des Knaben wich der geregelten Arbeit, dem geregelten Vorwärtsstreben des Jünglings. Er hörte Beethoven’s Musik – ihr Eindruck auf ihn war „allgewaltig“ und, was sich bisher nur leise flüsternd in den Zweigen geregt, die Liebe zur Musik, nun brach sie mächtig wie ein Lenzessturm hervor und fegte alle die Blätter vor sich hin, die in früheren Jahren erblüht und verwelkt waren. Noch wenige Lehrjahre, dann folgen die Jahre der Wanderschaft.
Das Schauspiel, das dann beginnt, ist ein wenig großartiger, als jenes mit den „zweiundvierzig“ Todten: das Schauspiel von Wagner’s Werden, das herrlich, wie nicht so leicht ein anderes, zeigt, wie der Genius auch aus dem ihm Fremdesten und Widerwärtigsten gerade das und das allein herausfindet, was ihn nährt, stärkt und stählt.
Hoffnungen und Enttäuschungen, und wieder Enttäuschungen und Hoffnungen, das ist der Inhalt der Jahrzehnte, welche folgen. Endlich sucht Wagner sein Glück im Ausland, zunächst in Riga, dann mit kühnem Entschluß in der Musikweltstadt Paris. Auch hier Enttäuschung und die Erkenntniß, daß es auch hier keinen Kampf der Talente giebt, sondern einen Kampf der Namen. Bald lebt er in Verhältnissen, die so ärmlich sind, daß er um des lieben Brodes willen Arbeiten übernimmt, die nicht viel besser sind, als Abschreiben, ja, daß er alles irgend Entbehrliche versetzen muß, selbst theure Andenken seiner Verwandten. Wohl tritt an ihn die Versuchung heran, es auch so zu machen, wie die Andern, dem Publicum zu schreiben, was ihm Spaß macht, und das, was er auf geradem Wege nicht erreichen kann, auf krummem Wege zu versuchen.
Aber er selbst erzählt uns, wie der Geist der deutschen Musik ihn schnell und kräftig über alles Schwanken emporträgt: Beethoven’s Klänge, die die Brust des reisenden Knaben wie Chöre des Himmels durchbebten; sie heben ihn wieder vom Staube der Erde empor – er sieht ihn noch, aber er fühlt ihn nicht mehr. Jener Stolz, jene gewaltige Energie, die wir an ihm bewundern, jetzt entwickelt sie sich. Er glaubt fortan felsenfest an sein Ideal; so sehr er am Gelingen des Einzelnen zweifeln mag, an den Sieg seiner Ueberzeugungen glaubt er fortan mit dem Glauben, welcher Berge versetzt.
Und endlich, endlich sollte ihm ja auch die erste Anerkennung kommen, der erste große Erfolg: die Aufnahme des „Rienzi“ zur Aufführung in Dresden. Auch der „Holländer“ nahte seiner Vollendung entgegen. Wie rührend sind Wagner’s Erzählungen aus jener Zeit, wie ergreifend ist der Bericht, in dem er davon erzählt, wie er sich nach langer Entbehrung endlich wieder – ein Clavier miethen konnte!
„Nachdem es angekommen, lief ich in wahrer Seelenangst umher, ich fürchtete nun entdecken zu müssen, daß ich gar nicht mehr Musiker sei. – Alles ging mir im Fluge von Statten und laut auf jauchzte ich vor Freude bei der innig gefühlten Wahrnehmung, daß ich noch Musiker sei.“
Meine Eltern, die damals mit Wagner in Meudon wohnten, waren bei jener ersten Probe zugegen. Es war in einem kleinen Landhaus, in einem Zimmerchen, dessen einzige Ausstattung jenes geliehene Piano und ein paar Stühle bildeten. Auch meine Eltern erzählen, daß Wagner „laut aufjauchzte vor Freude“, dann wandte er sich um:
„Hört, klingt das nicht nach etwas?“
Da klopfte es. Monsieur Jadin, der Hauswirth, ein altes Original, das Wagner selbst köstlich geschildert hat, schickte herauf. Er ließe bitten, solches Musiciren zu unterlassen. Das war die erste Kritik des – Spinnerliedes aus dem „Holländer“.
Doch der „Rienzi“ sollte in Dresden nun bald in Scene gehen. Wagner kehrte in die Heimath zurück.
„Ich kann es Euch nicht sagen, wie ich sie hasse, diese große kalte Fremde für unsere deutschen Herzen!“ schrieb er, als er die Grenze überschritten hatte, an meine Eltern. Und die Selbstbiographie seines ersten Lebensabschnittes schließt: „Zum ersten Male sah ich den Rhein – und mit hellen Thränen im Auge schwur ich armer Künstler meinem deutschen Vaterlande ewige Treue.“ Und allzu lange währte es nicht, da traf ein Briefchen in Paris bei meinem Vater ein. Es trägt das Datum vom 21. October 1842 – am 20. October 1842 war der „Rienzi“ zum ersten Male über die Bretter gegangen. Das Briefchen lautet:
„Na, liebste Kinder! In aller Eile und Abspannung muß ich Euch heute doch wenigstens mit einer Zeile melden, was gestern vorgefallen ist. Es wäre mir lieber, Ihr erführet es von einem Andern, denn ich muß Euch sagen, daß noch nie, daß, wie mir alle versichern, in Dresden zum ersten Male eine Oper mit solchem Enthusiasmus aufgenommen worden ist, wie mein ‚Rienzi‘. Es war eine Aufregung, eine Revolution durch die ganze Stadt; ich bin viermal tumultuarisch gerufen. Uebermorgen ist die zweite Vorstellung, schon auf die dritte sind alle Plätze genommen. Ich bin furchtbar ermüdet und abgespannt; nach der zweiten Vorstellung schreibe ich ausführlich. Die Aufführung war hinreißend schön – Tichatschek, die Devrient – Alles – Alles in einer Vollendung, wie man es hier noch nie erlebt. Triumph! Triumph! Ihr guten, treuen, lieben Seelen! Der Tag ist angebrochen! Er soll auf Euch Alle leuchten!“
Bei Gott, er hat auf uns Alle geleuchtet!
Und nun ist er todt. Was er gewirkt und geschaffen – ein jeder Berufene hat das Recht, es frei zu beurtheilen. Das jämmerliche Geschrei aber, mit der die Person des Mannes ihr Leben lang beschimpft ward, möge über seiner Gruft verstummen!
Züchtet Pilze!
Der eßbare Pilz, jener vielbegehrte Leckerbissen, um welchen der römische Dichter Martial „Gold und Silber und die Freuden der Liebe“ hingab – wenn auch nur in einem Epigramm – war bisher wohl eine eifrig gesuchte, doch nie eine gepflegte Himmelsgabe. Man brach ihn weg ohne Wahl und Qual, einfach wo und wie man ihn fand, und dachte nicht im Entferntesten daran, daß auch dem Pilze sozusagen eine Möglichkeit belassen werden muß, Nachkommen zu erzeugen, wenn die Ernte nicht ganz aufhören soll.
Freilich hat sich die grundgütige Mutter Natur in vielen Gegenden in diesem Punkt ohne die geringste Rache-Aeußerung mißhandeln lassen, in andern aber macht sich ihre Rache doch bemerklich, denn ganze Wälder haben aufgehört, die würzigsten aller Waldfrüchte dem rücksichtslosen Menschengeschlecht zu spenden. Glücklicher Weise finden sich jedoch immer einzelne freundliche Seelen, welche den stillen Bedürfnissen, den geheimen Neigungen der Natur mit Liebe und Eifer nachspüren, ihr Nachhülfen angedeihen lassen und sie dadurch zu tausendfacher Vergeltung der oft nur geringen Mühen sich verbinden. So ist auch das schüchterne und geheimnißvolle Waldkind, der Pilz, nach und nach in das Bereich der Culturpflanzen hereingezogen worden.
In Frankreich, wo die Feinschmeckerei mehr zu Hause ist, als bei uns, wachsen die Pilzculturen selbst wie die Pilze aus der Erde, und in Deutschland sind in Hannover und in Strehlen bei Dresden Pflanzstätten für Pilzzucht entstanden, die als Centralstellen für mancherlei Versuche im weiten deutschen Reiche gelten können. Als die Seele aber des neuen Culturzweiges ist die [225] seit vorigem Jahr erscheinende Monatsschrift für Pilzkunde anzusehen.[1]
Und nun einiges Allgemeine über die Pilze selbst, ehe wir sie an ihren neuen Pflegestätten aufsuchen.
Der eßbare Pilz ist nicht nur eine Delicatesse, er ist viel mehr als das, er ist ein Voksnahrungsmittel, das namentlich in nassen Jahren, in Zeiten bitteren Mangels schon öfter großen Volksgruppen als einzige Rettung übrig blieb. Allerdings geben die flüchtigen feinen Oele des Pilzes, die sich besonders gern dem Fleisch mittheilen, eine ebenso köstliche als spottbillige Würze ab, doch in vielen Gegenden Polens, Rußlands und, näher gelegen, in Böhmen bildet er Monate hindurch ein regelmäßiges massenhaft eingeerntetes Volksnahrungsmittel. An Nährwerth steht er auch gar nicht so weit hinter dem Fleisch zurück, während er die Kartoffel um ein Bedeutendes überholt. Die Fettstoffe des Champignons z. B. verhalten sich zu denen der Kartoffel wie 40 zu 10, der Stickstoffgehalt wie 67 zu 33.
Wir kennen eine große Zahl eßbarer Pilze und eine ebenso große Zahl solcher, von denen man nicht genau weiß, ob sie eßbar sind. Viele Arten gelten in manchen Gegenden als giftig, in andern dagegen werden sie in großen Mengen gegessen. Einige Gelehrte wollen gar kein Gift im Pilz anerkennen, andere finden Gift in jedem Pilz, wieder andere behaupten, daß ein- und dieselbe Art zuweilen giftig und zuweilen nicht giftig sein könne. Allerdings haben die Pilze in ihrer Erscheinung etwas Räthselhaftes, sie scheinen ausschließlich von Zersetzungsproducten zu leben, bedürfen keines Lichts zu ihrer Entwickelung, zeigen niemals Blattgrün in ihren Zellgeweben und athmen statt Sauerstoff Kohlensäure aus. Auch ihr Generationswechsel ist geheimnißvoll, man kann auf den Pilzzüchter zuweilen den Volkswitz anwenden: „Er säete Rettige und erntete Rüben“, und wenn er dann von den Rüben den Samen ausstreut, so erhält er plötzlich wieder Rettige. Wir sehen, es giebt viel unentdecktes Land in dieser Wissenschaft, und ich rufe dem Forscherschifflein, der neuen Zeitschrift für Pilzkunde, nochmals ein herzliches Glückauf zu.
Der verbreitetste und für künstliche Anzucht geeignetste Pilz ist derjenige, den man in der vornehmen Küche mit dem französischen Gattungsnamen Champignon bezeichnet. Die lateinischen Namen will ich mir und den Lesern erlassen, der gelehrte deutsche Name ist Feldblätterschwamm, das Volk verzehrt ihn aber als Ehegärtel, Angerling, Weidling, Brachpilz etc. Ich möchte für eine der letzteren Bezeichnungen stimmen, denn man kann sich dabei wenigstens die Lieblingsstandorte des Pilzes, die Weide, den Anger, die Brache vorstellen, während ‚Feldblätterschwamm‘ gar nichts oder eigentlich zu viel sagt.
Das Verbreitungsgebiet dieses Angerlings dehnt sich über ganz Europa, Nordamerika und selbst über Nordafrika aus. Bei seiner großartigen Verbreitung ist er einer der schmackhaftesten Pilze, und sein Aroma erinnert an ein Gemisch von weißen Rosen und frisch gemahlenem Mehl.
Nicht ganz so verbreitet wie der Angerling ist der Steinpilz; sein Name entstammt seinem kernigen festen Fleisch, und wirklich repräsentirt er unter den weichen, zarten und sehr vergänglichen Geschwistern eine gewisse derbe Solidität; wenn man ihn nämlich zerdrückt, so knallt er wie eine Knapskirsche, während die meisten seiner Kollegen bei gleicher Behandlung Thränenströme von sich geben und in ihr Nichts zusammen sinken. Im Westen scheinen die Vogesen die Grenze seines Verbreitungsgebietes zu bilden, ferner zieht ihm die Nord- und Ostsee eine natürliche Grenzlinie, dagegen tritt er in Ungarn und Italien häufiger auf als bei uns.
Er ist ein echter Sohn des Waldes und liebt reiche Humusschichten von vermorschtem Laub, Gras und Holz. Als eine besondere Tugend hat der Pilzsucher seine Geselligkeit zu preisen. Oft finden sich in den Wäldern kleine aufgetriebene Erdhügel, die der Kenner leicht von einer gewöhnlichen Erderhöhung unterscheidet. Hebt man die obere Kruste davon ab, so überrascht uns eine große zahlreiche Steinpilzfamilie mit allen Gliedern, von der Großmutter bis zum Urenkel, und fast drollig sieht es aus, wie sie scheinbar ihre Köpfe heben und neugierig in das ungewohnte Halbdunkel des Waldes hinaufblinzen. In freieren Gegenden [226] siedelt er sich seltener an und wählt dann sehr große und alte Bäume, unter denen er es bis zu einem enormen Umfange bringen kann.
Besonders wichtig für unsern Haushalt sind noch die Morchel, die Lorchel, der Eierschwamm, der Birkenpilz und obenan die Trüffel. Die letztere ist die Königin der Pilze an Wohlgeschmack und beinahe ebenso selten wie die Mächtigen unter den Sterblichen; zudem muß der Mensch die Ernte mit den Wildschweinen theilen, die sich auch noch den Löwenantheil nehmen, weil sie geschickter im Finden sind, als wir Menschenkinder, die sich dabei der Trüffelhunde bedienen müssen.
Die künstliche Anzucht dieser hier genannten Pilzarten geschieht auf dreierlei Weise.
Die erste, die einfachste und sicher auch die aussichtsreichste, besteht in einer künstlichen Nachhülfe draußen in der Natur und in einer rationelleren Ernte mit vernünftiger Schonung.
Die zweite Art umfaßt die Freilandcultur in Gärten, und die dritte geschieht durch Treiberei innerhalb geschlossener Räume; ihr Hauptzweck besteht in der Wahrnehmung gärtnerischer Berufsinteressen, man will auch im Winter der vornehmeren Küche, natürlich für angemessene Preise, frische Pilze liefern können.
Die erste Art der Pilzpflege verdient schon darum eine eingehendere Behandlung, weil sich so ziemlich alle Leser der „Gartenlaube“ auf Spaziergängen, in der Sommerfrische etc. daran betheiligen können, wenn sie nur wollen.
In der künstlichen Pilztreiberei müssen wir den Franzosen die Priorität zugestehen, in der natürlichen Anzucht dagegen verdient der deutsche Gärtner Moritz Gössel in Strehlen bei Dresden die Palme; er ist ein Mann, der mit den Pilzen sozusagen aufsteht und zu Bette geht, und dazu hat ihm die Direction des königlichen Großen Gartens zu Dresden das weite Gebiet dieses herrlichen Parkes für die umfänglichsten Versuche zur Verfügung gestellt.
Ich folge in der nachstehenden Beschreibung ausschließlich seinen Beobachtungen und Angaben.
Bricht man einen Pilz ab, so entsteht bekanntlich eine offene Wunde in dem Stiel desselben, und die infame Pilzfliege hat nichts Eiligeres zu thun, als sofort ihre abscheulichen Eier dem Pilzstumpf anzuvertrauen. Die Verwandlung derselben in Maden geht außerordentlich schnell vor sich, und damit ist auch das Schicksal der benachbarten Pilzgruppen besiegelt, sie fallen der Fäulniß mit rasender Schnelligkeit anheim. Hätte man nur eine einzige Hand voll Erde auf die offene Wunde gedrückt, so hätte die Pilzfliege vorüberschwirren müssen und der traurige Proceß wäre nicht vor sich gegangen, der Sammler hätte in einigen Tagen bei der Pilzfamilie wieder vorsprechen und sie ihm ohne Schaden für sich neue herangewachsene Mitglieder abtreten können. Dies eine Hauptregel beim Sammeln! Selbstverständlich sind die älteren Exemplare auch nicht alle abzuernten, man weiß ja nicht, ob der Nachwuchs zu vermehrungsfähigen Pilzen herangedeiht. Ebenso reiße man nie die Pilze aus, weil dabei die triebfähigen Mycelien[2] leicht mit zu Grunde gehen.
Die Hauptaufgabe bei der natürlichen Anzucht ist die Verpflanzung der Pilze. Wir sehen in den Wäldern weite Strecken, in denen kein Pilz wächst und wo doch alle Bedingungen vorhanden sind, daß solche in Menge gedeihen könnten. Man wählt zu diesem Zweck gut ausgewachsene Exemplare, deren jedes unzählige Mengen von feinen Samen, Sporen genannt, unter seinem Hute trägt, schneidet sie dicht an der Erde ab und wickelt sie in Seidenpapier ein, um die ausfallenden Sporen zu erhalten. Nachdem der Stumpf mit Erde bedeckt, trägt man die Emigranten an die ihnen zusagenden Standorte, über welche weiter unten Aufklärung gegeben ist, stößt hier ein Loch in die Erde, setzt den Pilz mit dem Stiel ein und überläßt ihn hierauf einem guten Schicksal. Er ist nicht etwa eingesetzt, um hier anzuwachsen, er soll nur seine Sporen abwerfen, und dann kann er ruhig den Weg alles Organischen wandeln. Im zweiten Jahr darf der Pfleger wieder nachschauen, und wenn nicht besonderes Unglück über seinen Pfleglingen waltete, wird er seine Freude erleben an dem reichen Segen für seine geringe Mühe.
Ueber die geheimen Lebensgewohnheiten dieser stillen Patrone hat Gössel folgende Beobachtungen gemacht:
Der Steinpilz liebt schweren feuchten Untergrund und große vermorschende Massen von Waldspreu; er ist ziemlich lichtscheu und will, obgleich er nur während der letzten paar Tage seines Daseins den Kopf in die Welt steckt, ein geschlossenes Laub- oder Nadeldach über seinem Standort. Eine Hauptbedingung seines Gedeihens ist die möglichste Einsamkeit der Lage. An Orten, wo viel gegangen und gefahren wird, ist er höchst selten anzutreffen. Gössel vermuthet, daß von den Erderschütterungen das feine Mycel oder Lagergewebe in der Entwickelung gestört wird und abstirbt.
Die Morchel, die hauptsächlich im Frühling ihre tigerartig gemusterten Knollen austreibt, läßt sich leicht ganz auf dieselbe Weise in Gärten auf Rasenplätze übertragen, ihr Lieblingsstandort sind auch in der Natur die Wiesen. Lehmiger, schwerer Untergrund mit Dungstoffen von Gras, Nadeln und Laub sagen ihr vornehmlich zu. Beim Schneiden der zum Verpflanzen erwählten Exemplare lasse man verdoppelte Vorsicht walten, weil die Morchel während und nach dem Schnitt die Sporen rasch fallen läßt. Am besten wickelt man das Exemplar schon vor dem Schnitt in Seidenpapier.
Die Lorchel, nicht nur im Namen, Aussehen und Geschmack der Morchel verwandt, kommt im Frühling etwas zeitiger als ihre Schwester und dauert zuweilen bis spät in den Herbst hinein; sie sucht sich in der Natur gern Ränder von Nadelholzwäldern auf, auch an verwesenden Stöcken und auf Waldwiesen findet sie sich häufig. Auf diese Standorte ist natürlich beim Verpflanzen gleichfalls Rücksicht zu nehmen, im Uebrigen verfahre man aber wie mit der Morchel.
Der Birkenpilz deutet schon durch seinen Namen an, wo man ihn zu suchen und wohin man ihn zu versetzen hat; er nimmt zwar dungreichen Boden auch nicht übel, doch begnügt er sich gern, wie seine genügsame Protectorin, die Birke, mit magerem sandigem Untergrund. Nasse Standorte wollen ihm gar nicht behagen, und geschieht die Umpflanzung bei feuchtem Wetter, so sorge man für ein kleines Dach von Brettchen oder Schiefersteinen. Birken müssen nicht gerade in der Nähe sein, doch scheint ein lichterer mehr trockener Standpunkt Lebensfrage für ihn zu sein. Der etwas rohe säuerliche Geschmack ist nicht Jedermanns Sache, wie ich nicht verschweigen will.
Zu den schmackhaftesten Pilzen zählt der Eierschwamm oder auch das Geelchen, Gelbschwamm, Pfifferling genannt. Seine Uebertragung geschieht auf die einfachste Weise, indem man ausgewachsene Exemplare an dunklen Waldstellen auf dungreicher Erde oder an morsche Baumstümpfe ausstreut. Die Sporen, weiß von Farbe, die im Frühjahre ausfallen, haben sich schon im Herbste zu den prächtigsten, zuweilen tulpenartig geformten Pilzen entwickelt. Der Eierschwamm dürfte für natürliche Anzucht der dankbarste aller Pilze sein.
Ein sehr geheimnißvolles Geschöpf ist die Trüffel; man behauptet, daß ihre Sporen nur durch die Losung der Wildschweine triebfähig werden. Gössel glaubt nicht daran und hofft auf Erfolge, ohne die Darmcanäle dieser Wühlhuber zu Hülfe nehmen zu müssen. Mit einer geringeren, bei uns heimischen Art, die zur Trüffelwurst Verwendung findet, sind Versuche bereits gelungen.
Die Freilandkultur in Gärten darf auf ein allgemeineres Interesse nicht rechnen, sie ist mehr Sache der Fachmänner und Liebhaber. Der Betrieb bedarf auch so eingehender Studien, daß ich unökonomisch mit dem mir zugemessenen Raume verfahren würde, wollte ich auch nur das Wesentlichste davon berühren. Dagegen hoffe ich auf einige Aufmerksamkeit für die Pilztreiberei in geschlossenen Räumen, ihre Grundzüge sind gewiß auch für Denjenigen interessant, der nie Pilze zu züchten gedenkt.
Als Saat wird hier nicht mehr die Spore, sondern das bereits entwickelte Mycelium benutzt, jenes Fädengewirr, aus dem der Pilz aufschießt. Die Sporen werden in Blumentöpfe gesäet und hier unter mehrmaliger Umpflanzung soweit zur Entwickelung gebracht, bis die Topferde mit den weißen feinen Fäden ganz durchzogen erscheint. Man nennt dieses Gemisch von Erde und Mycelien Pilzbrut, die auch noch auf andere Weise herangezüchtet wird. Sie bildet schon gegenwärtig einen lebhaft begehrten Handelsartikel für private Pilzzüchterei, wie auch für natürliche Anzucht in pilzarmen Gegenden. Gössel versendet Brut von Morcheln, Lorcheln und Steinpilzen, ebenso ganze Sortimente von Pilzsporen.
[227] In den Treibhäusern für Anger- oder Brachpilze erheben sich Holzstaffagen, die mit großen Waarenregalen verglichen werden können. Das Licht ist völlig abgeschlossen. Auf die Regale wird starkverrotteter und durchgearbeiteter Dünger in Lagen von circa zwanzig Centimeter Stärke aufgetragen, in diesen Dünger werden hierauf die Pflanzlöcher vier bis sechs Centimeter tief eingedrückt und etwa fünfzehn bis zwanzig Centimeter aus einander gehalten. Für jedes Loch ist eine mäßig volle Hand Pilzbrut bereit zu halten, man drückt dieselbe fest ein und verschließt die Oeffnung wieder mit Dünger. Nach vierzehn Tagen erst wird gut durchgearbeitete Erde aufgeschüttet oder besser aufgedrückt. Der Pilz liebt Widerstand, er will beim Aufkeimen Etwas zum Durchbrechen haben, bei zu glatt geebneter Laufbahn bleibt, wie dies oft auch bei dem Menschen der Fall ist, seine innere Lebens- und Triebkraft unentwickelt.
In etwa anderthalb Monaten gehen die Pilze auf, oft kommen sie zu Hunderten an einer Stelle heraus, doch wird immer neue Erde über sie hinweggeschüttet, um sie so zur Weiterentwickelung zu zwingen. Im zweiten, dritten und vierten Monat kann die Ernte stattfinden, ohne daß man daneben aufhört, neue Erdschichten aufzuwerfen. Es ruhen noch viele Mycelien im dunklen Schooß der Dungmassen, welche ebenfalls Pilze treiben wollen. Im sechsten Monat ist jedoch der Dünger in der Regel so ausgebrannt und ausgesaugt, daß er eine hellrothe Farbe angenommen hat und entfernt werden muß, um einer neuen An-, Auf- und Einlage Platz zu machen.
Diese wirklich überraschenden Erfolge beschränken sich indeß jetzt noch auf den weißen Brachpilz und auf eine Abart desselben, den sogenannten Treibchampignon. Der Waldchampignon wird zwar ebenfalls in großen Mengen gezogen, doch macht er insofern mehr Umstände, als er sich weigert, auf Stellagen zu gedeihen; dadurch bedingt er größern Treibraum, also kostspieligere Anlagen.
Der Steinpilz und viele andere Arten haben sich bis jetzt der völlig künstlichen Treiberei noch nicht anbequemen wollen, wenigstens sind lohnende Anlagen noch nicht erzielt worden.
Am Schlusse sei noch einmal der Abschnitt über die natürliche Anzucht den Lesern an’s Herz gelegt. Jetzt finden wir in vielen Wäldern leider nur Giftpilze und ungenießbares Gesindel, und man muß in manchen Gegenden schon ein Sonntagskind sein, wenn man einen Steinpilz oder Brachpilz finden will. Nun, wir können uns so ziemlich Alle am Werke betheiligen, die erforderlichen geringen Mühen sind ja eigentlich nur Vergnügen zu nennen – die Natur wird’s uns danken mit tausendfältiger Frucht.
Thusnelda.
Es ist gewiß eine bezeichnende und sinnige Erscheinung, daß die Gattin des ersten Deutschen, von welchem wir Thaten für sein Vaterland kennen, zugleich die erste deutsche Frau ist, nicht nur von der uns die Geschichte berichtet, sondern deren hoher Sinn und Charakter uns auch das Ideal vorführt, welches wir uns als das einer echten deutschen Frau der Vorzeit denken müssen und das auch vom heutigen Geschlechte als Vorbild gewählt werden darf, so weit die veränderten Culturverhältnisse es gestatten.
Thusnelda, diese echte deutsche Frau, stellt ihrem Volke aber auch in ihrer Geschichte mit ergreifenden Zügen die Warnung vor Augen, wohin es mit ihm kommen müsse, wenn es nicht einig ist, denn sie war selbst das traurige Opfer der Uneinigkeit unter ihren Landsleuten, einer Uneinigkeit, an welcher sie leider Jahrhunderte, ja fast Jahrtausende gekrankt haben, bis die neueste Zeit hierin einen gewaltigen, hoffen wir andauernden und nachhaltigen Schritt zur Besserung herbeigeführt hat.
Die alten Deutschen um die Zeit des Beginnes unsrer Zeitrechnung hatten noch kein gemeinsames Nationalgefühl, dazu war ihre Bildung noch zu wenig weit vorgeschritten. Jeder Stamm lebte für sich und verband sich höchstens zu Kriegszwecken mit anderen in vorübergehender Weise. An ihren Grenzen, am Rhein, standen die Römer und organisirten das eroberte Gallien, welches, das linksrheinische Germanien mit umfassend, bis an den deutschen Lieblingsstrom reichte, als Provinz. Der Glanz ihrer Thaten und ihrer höhern Cultur, ihre prächtigen Rüstungen und Waffen, ihre Tempel und Villen, ihre rauschenden Feste und Vergnügungen, ihre Kampfspiele und Heeresmusterungen, der Reichthum ihrer Märkte an Waaren des bezaubernden Italiens und des märchenhaften Morgenlandes, alles das konnte nicht anders, als ein noch rauhes, schlicht lebendes, aller Falschheit und Tücke bares und in sich noch nicht zusammengeschlossenes Volk blenden und fesseln.
Thatendrang sowie Durst nach kriegerischem Leben und Streben verlockte Tausende von Germanen, den lorbeerbedeckten Legionen zu folgen, im berückenden Lande jenseits der Alpen dem triumphreichen Imperator zu dienen, die Wunder des azurblauen Himmels und der sinnberauschenden Buchten des Weltmeeres, der Oliven- und Pinienhaine in ewiger Frühlingsluft, dann das überwältigende Rom mit seinen Marmorbauten, Kaiserpalästen, goldschimmernden Kunstdenkmalen und aufregenden Circus- und Amphitheater-Orgien zu schauen. Heimkehrend waren sie begeisterte Anhänger der Herrin der Welt und ihres Herrn, des Cäsars, Lobredner Roms und seiner allgewaltigen Macht, und pflanzten diese Gesinnung durch Erzählung der Wunder, die sie mit angesehen, weiter durch die Urwälder und die mit Binsen gedeckten Hütten, daß die auf ihren Bärenhäuten ruhenden Volksgenossen hoch aufhorchten und nichts sehnlicher wünschten, als so Herrliches auch genießen zu können.
So kam es, daß ganze Völkerstämme rechts vom Rhein römisch gesinnt, „Bundesgenossen des römischen Volkes“ wurden, und wenn auch andere in ihrem Unabhängigkeitssinn und ihrer Freiheitsliebe verharrten und sich gegen die verhaßte, ihnen drohende Fremdherrschaft immer wieder erhoben, so wurden ihre Anstrengungen wieder vereitelt durch die den Fremden ergebenen Landsleute. Wie stark dennoch der Geist des Widerstandes gegen die Unterdrücker war, zeigt die Sage, daß dem bis zur Elbe vorgedrungenen Drusus, dem Stiefsohn des Augustus, ein Weib von übermenschlicher Größe entgegengetreten sei und ihm das Ende seines Feldzugs und seines Lebens verkündet habe. Beides trat in der That bald ein, und dies konnte nicht ohne ermuthigenden Einfluß auf das Volk sein.
Die Römer hatten jedoch nicht nur das linke Rhein-, sondern auch das rechte Donau-Ufer bereits unterworfen, und die Germanen schienen nur noch durch die Unzufriedenheit auch anderer Völker Europas gegen die ihnen drohende oder bei ihnen bereits waltende Römerherrschaft von völliger Unterjochung gerettet werden zu können.
Aber noch pochte in den Herzen der unabhängigen deutschen Stämme ein Stolz, welcher der stärkste Schutz ihrer Freiheit wurde. Denn als Quintilius Varus, der Befehlshaber der römischen Truppen, die Germanen in derselben erniedrigenden Weise behandeln zu dürfen glaubte, wie er vorher die verweichlichten und längst geknechteten Syrer behandelt hatte, empörte sich die verletzte Mannesehre, sie vereinigte sonst getrennte germanische Stämme zum gemeinsamen Kampf, und an ihre Spitze trat der junge Cherusker Arminius (leider kennen wir seinen deutschen Namen nicht), welcher sich den Römern bald als ein überlegener Gegner fühlbar machte. Welcher deutsche Schulknabe kennt nicht die Schlacht im Teutoburger Walde, in welcher der Cheruskerhäuptling die Macht der Römer in Deutschland vernichtete? Arminius, den das deutsche Volk nunmehr am liebsten „Hermann“ nennt, war in früheren Jahren selbst in römische Dienste gegangen und sogar römischer Ritter geworden, seine eigene Familie, darunter sein Bruder Flavus (der Blonde), und sein Volksstamm waren tief mit Römerfreundschaft durchfressen, und selbst nach seinem Siege beherrschte diese Seuche immer noch mehrere rechtsrheinische Volksstämme. Selbst der mächtige Herrscher im Osten Germaniens, Maroboduus (dessen deutscher Name ebenfalls unbekannt), auf dem die Hoffnungen aller freigesinnten Germanen ruhten, offenbarte sich als Abtrünniger von seinen Volksverwandten am Rhein; er zeigte nicht nur vor aller Welt, welch hohen Werth er auf den Frieden mit den Römern legte, sondern er sandte sogar den Kopf des Varus, den ihm Arminius wohl als eine Aufforderung zum Beistande geschickt hatte, nach Rom.
So stand denn Arminius, trotz jenes großen Sieges mit seinen Getreuen allein da, und die geschlagenen Römer konnten sich unter
[228][229] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [230] des Drusus Bruder Tiberius und Sohn Germanicus wieder sammeln und verstärken, und bald kam die Ernte der Zwietrachtssaat: die Marsen wurden von Germanicus überfallen und zusammengehauen, die Chatten von Cäcina überwältigt, und selbst die Cherusker waren in Parteien für und gegen die Römer zerrissen. An der Spitze der Römerfreunde stand Segestes, der seiner Hünengestalt wenig Ehre machte. Und er war der Vater der Thusnelda! Sie, die herrlichste Jungfrau der Germanen, vereinigte der innigste Herzensbund mit dem Befreier ihres undankbaren Volkes.
Dem unwürdigen Vater trotzend willigte Thusnelda ein, durch Entführung die Gattin des Arminius zu werden. Der Bruderkrieg brach aus, und das Unrecht siegte. Segest hatte selbst den verhaßten Schwiegersohn in seine Gewalt gebracht, doch wurde dieser durch einen glücklichen Ueberfall seiner Freunde wieder befreit. Desto tiefer traf Segest den edlen Armin in’s Herz, als er statt seiner sein angebetetes Weib, seine Thusnelda, zur Gefangenen machte. Um sie zu retten, zog Armin in wilder Wuth mit seinen Schaaren zur Belagerung der Burg Segest’s heran, und er würde des Verräthers Herr geworden sein und sein geliebtes Weib befreit haben, wenn nicht in dem Bruder derselben, in Segimund, ein zweiter Verräther erstanden wäre. Früher ein Getreuer Armin’s im Befreiungskampfe, holte er jetzt, als des Vaters würdiger Sohn, gegen seine deutschen Kampfgenossen die Hülfe der Römer unter Germanicus herbei.
Der römischen Uebermacht mußte Arminius weichen, und mit der Burg gerieth auch Thusnelda in die römische Gewalt. „Bei ihrer Gefangennahme,“ erzählt Tacitus, „vergoß sie keine Thräne, keine Bitte um Mitleid kam über ihre Lippen, fest drückte sie über dem Busen ihre Hände in die Falten des Gewandes, gefaßt niederblickend.“ Weil es dem Germanicus gelungen war, Segest zu befreien, so mußte nun der Bedrängniß, aus der ihn der Römer erlöst, der Dank, und dem Haß gegen Armin die Rache an Größe angemessen sein: der germanische Vater lieferte sein Kind, Armin’s Gemahlin, Thusnelda, den Römern als Gefangene aus.
„Für die jugendliche Verirrung meines Sohnes,“ sagte er zu ihm, „bitte ich um Vergebung: daß meine Tochter sich nicht freiwillig ergab, gestehe ich. Du selbst magst erwägen, ob Du sie verderben oder erhalten willst, ob es bei Dir mehr Gewicht hat, daß sie Arminius’ Weib, als daß sie meines Blutes ist.“
Thusnelda, die später zu Rom in dem Triumphzuge des Germanicus aufgeführt wurde, gebar in der römischen Gefangenschaft einen Sohn, der zu Ravenna erzogen und bald der Spielball eines widrigen Geschickes ward. Leider ist das Buch des Tacitus, in welchem er die merkwürdigen Schicksale des jungen Mannes erzählte, verloren gegangen, aber das traurige Loos des Thumelicus lebt noch heute in der Erinnerung des deutschen Volkes, bildet es doch den Vorwurf zu Halm’s ergreifendem Drama „der Fechter von Ravenna“. Wie wir dann aus den Annalen des römischen Geschichtsschreibers Tacitus wissen, wie aber auch einfach menschlich wahr sein kann, ist Armin durch den Raub der Gattin und des Sohnes, durch die Knechtschaft, in welcher die junge Mutter schmachtete, in Raserei versetzt worden. Er flog durch der Cherusker Gebiet, zu den Waffen gegen Segest, zu den Waffen gegen den Cäsar (Germanicus), aufrufend.
„Ha, der treffliche Vater,“ höhnte er, „der große Imperator, das tapfere Kriegsheer! So viele Hände haben ein Weiblein wegzuschleppen vermocht. – Vor mir,“ rief er, „sind drei Legionen, drei Legaten hingesunken. Nicht mit Verrath, nicht gegen Frauen und Kinder, sondern offen und gegen Bewaffnete führe ich Krieg!“
Seine flammenden Reben wirkten. Germanicus, der gegen die Deutschen heranzog, nachdem er die Reste seiner vor sechs Jahren unter Varus gefallenen Landsleute bestattet, errang keinen Erfolg, auch Cäcina nur einen Pyrrhussieg, denn er kostete ihm mehr, als er errang. Und da auch ein größerer Sieg die Römermacht in Germanien nicht wiederherstellte, so gab Kaiser Tiberius den Gedanken an die Unterjochung der Deutschen ganz auf. Armin aber, der Weib und Kind nie wieder sah, züchtigte den Maroboduus, der ihn einst im großen Kampfe im Stiche gelassen hatte und nun zu den Römern flüchten mußte, bei denen er an demselben Orte (Ravenna) endete, wie der Sohn seines Gegners. Ueber Thusnelda’s Ende ist nichts bekannt. Armin, der, wie Tacitus sagt, nach der Königsherrschaft strebte oder vielmehr nach fester Einigung seines Volkes, die mit der Freiheit desselben durchaus nicht unvereinbar war, fiel „durch Verrath seiner Verwandten“.
„So fiel er, der Mann, der ganz unzweifelhaft der Befreier und Retter Germaniens ist,“ fügt der Römer hinzu, „er, der nicht, wie andere Könige und Heerführer, das Römerreich angegriffen und zum Kampfe gefordert, als es noch klein und seine Macht gering war, sondern damals, als es auf dem Gipfel des Ruhmes stand, als seine Kraft am gewaltigsten und furchtbarsten war; er, der in einzelnen Schlachten wohl einmal unterlag, im Kriege aber nie überwunden werden konnte. Siebenunddreißig Jahre währte sein Leben, und zwölf erreichte seine Herrschergewalt[3], und bis auf den heutigen Tag klingt sein Ruhm in den Liedern der Barbarenstämme wieder, und mächtig ragt seine Heldengestalt über alle andern hervor. Unbekannt freilich ist sein Name und seine Bedeutung den Geschichtsbüchern der Griechen, die nur Sinn und bewundernde Worte haben für die Großtaten ihrer eignen Krieger und berühmten Männer, und auch von den Römern wird er nicht mit dem Ruhm genannt, den er verdient, da wir die alte Zeit wohl preisen und als herrlich rühmen, an den Werken und Thaten der neuen aber kalt und gleichgültigen Auges vorübergehen.“[4]
Aber die Nachwelt war gerecht. Wie die deutsche Nation in ihrer Begeisterung für ihre Befreiung von fremdem Joche zu Anfang und für ihre Einigung zum mächtigsten Reiche nahe am Ende dieses Jahrhunderts dankbar dem ersten Befreier Germaniens auf seiner Ruhmesstätte im Teutoburger Walde ein Denkmal errichtet, so wird bald die Verkörperung des Vaterlandsideals, die Germania, in unserem nunmehr ganz germanischen Rheine sich spiegeln – und wer in ihr das Bild der Thusnelda erkennen will, wird den großen Gedanken der Vaterlandsverherrlichung nicht erniedrigen.
Auch vor diesen Bildern unserer Vergangenheit erfüllt uns der erhebende Trost, daß die Gerechtigkeit und die Dankbarkeit in unserer Nation noch lebendig sind, und daß uns das Schicksal des deutschen Volkes glänzend von der Wahrheit des Dichterwortes überzeugt: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!“
Der chaldäische Zauberer.
Es war im zweihundertneunundneunzigsten Jahre der christlichen Zeitrechnung. Ein wolkenloser Octobertag war eben zu Ende gegangen; hinter dem weitgestreckten Kamm des Berges Janiculus glühte der Abendhimmel; auf den Plätzen aber und Straßen wogte die Bevölkerung der Weltstadt bereits durch ein bläuliches Zwielicht, und gelbrothe Lampen glänzten rauchumqualmt aus den Tabernen der giebelreichen Subura.
Vom querquetulanischen Thore herkommend, bog ein Jüngling, die weiße Toga über den Schultern, in die cyprische Gasse ein. Die Art seines Dahinschreitens hatte etwas Befremdliches. Bald nämlich stürmte er hastig vorwärts, wie ein Mensch, der ungeduldig einem längst ersehnten Ziele entgegenstrebt; bald sah er sich zögernd um, oder blieb einige Sekunden lang stehen, als ob’s ihn gereue. An den Bädern des Titus vorüberkommend, gewahrte er eine andere Jünglingsgestalt, die von links her, wo eine Seitengasse in den Vicus Cyprius einlief, gesenkten Hauptes auf die Lavaplatten des Dammes trat und, nur wenige Ellen von ihm entfernt, die gleiche Richtung verfolgte. Näher zuschauend, erkannte er in den blassen Zügen des Ankömmlings einen Freund.
Fast anderthalb Monate hatte er den liebenswürdigen Lucius [231] Rutilius nicht zu Gesicht bekommen; denn die Lebensführung der Beiden war eine grundverschiedene. Wenn Rutilius, der Sohn eines reichen Senators, sich mit Vorliebe in den auserlesenen Kreisen der Weltstadt bewegte, die Theater, die Wettrennen und die Kampfspiele der Arena besuchte, den Sommer hindurch bald sein etrurisches Landgut mit den Wasserfällen von Tibur, bald das Ufer des bajanischen Golfs mit dem von Antium vertauschte, so hielt sich Cajus Bononius, der Sohn eines Ritters, ziemlich abgeschlossen in der Einsamkeit seines Studirgemachs und erlaubte sich höchstens während der heißesten Monate eine kurze Uebersiedelung nach dem weltberühmten Spiegel Diana’s, jenem traulich verschwiegenen See im nahegelegenen Albanergebirge, wo er ein bescheidenes Gärtchen besaß. Trotz dieser Verschiedenheit ihres äußeren Auftretens hegten die beiden jungen Leute eine tief gewurzelte Sympathie für einander. Lucius Rutilius schätzte die umfassenden Kenntnisse, den unersättlichen Wissensdurst und die stolze Unabhängigkeit des Cajus Bononius; dieser aber wußte sehr wohl, daß Rutilius all’ den Glanz des großstädtischen Lebens nicht mit den Augen des rohen Genußmenschen, sondern mit denen des Poeten beschaute; daß er sich an der Farbenpracht und dem Luxus der ewigen Roma ergötzte wie der schaffende Künstler an den Lichteffecten der Landschaft; daß er inmitten dieses brausenden Strudels sich ein warmfühlendes Herz und eine edle Selbstlosigkeit bewahrt hatte.
Da er ihn anrief, hob Lucius Rutilius, wie aus tiefen Gedanken emporfahrend, das schwärzlich umlockte Haupt. Eine heftige Röthe, selbst in der beginnenden Dämmerung ersichtlich, stieg ihm zur Stirn auf, als habe ihn der Andere auf verbotenen Wegen ertappt.
„Du bist’s, Bononius?“ sagte er stotternd. „Trifft man Dich auch einmal in der Schaar der Spaziergänger? Hier freilich in der vornehmen cyprischen Gasse ist’s einsam genug, sodaß Du selbst im Lustwandeln Deiner Neigung für die Abgeschiedenheit fröhnen kannst.“
„In der That,“ versetzte Cajus Bononius, „ich habe die letzten Wochen hindurch allen Verkehr gemieden; denn mich beschäftigten wundersame Probleme. – Du aber – was führt Dich um diese Tagesstunde so ohne jeden Begleiter in dieses Viertel der Schweigsamkeit? Sonst pflegtest Du um diese Zeit noch zu Tisch zu liegen – pästische Rosen im Haar, die glühenden Lippen am schöngeschliffenen Murrhagefäß – wenn nicht gar auf dem Nacken einer jugendstrahlenden Freundin –“
Lucius erröthete abermals.
„Das ist anders geworden,“ sprach er, zu Boden schauend.
„Wie?“ fragte Cajus Bononius verwundert. „Mein Lucius hätte den Freuden der Zechgelage und dem Glanze blumenduftiger Triclinien entsagt?“
„Nicht ganz – aber was Du von dem Nacken einer lieblichen Freundin bemerktest … Du brauchst nicht zu lächeln, Cajus! In voller Wahrheit: während der letzten Monate hat sich in dieser Hinsicht ein Umschwung vollzogen, der – wie soll ich nur sagen – ?“
„Wie Du sagen sollst? Wie Du denkst! Die Verlegenheit Deiner Rede aber bekundet mir deutlich, wie sehr Du bemüht bist, Deine Gedanken eher zu verschleiern, als zu enthüllen. Geh’, Lucius! Hast Du so ganz vergessen, daß wir nicht nur beim goldnen Falernerwein uns Freundschaft und Treue gelobt haben? daß unsere Beziehungen tiefer wurzeln? Wenn sich Dinge ereignet haben, die auf Deinen Charakter, Deine Weltanschauung von Einfluß gewesen, so laß mich wissen, was Dich ergriff; denn als ernster Freund, wenn auch als halb entbehrlicher, hab’ ich ein Anrecht auf Dein unbegrenztes Vertrauen. So wahr ich lebe, Du machst mir völlig den Eindruck, als handelte es sich hier um Bedeutsames! Rede, mein Lucius! Hast Du Dich im Widerspruche mit Deiner ganzen Vergangenheit auf das Studium der Philosophie geworfen? Bist Du mit irgend einer Heiligen von der Secte der Nazarener in Berührung gekommen und hast so Geschmack gewonnen an den schönen Legenden des Orients?“
„Nichts von alledem,“ seufzte Lucius, den Freund beim Arme ergreifend und langsam in der Richtung der Subura mit sich hinwegziehend. „Du wirst mich auslachen, wenn Du erfährst, wie es Deinem unverwüstlichen Epicuräer schließlich dennoch ergangen ist … Ja, Du hast Recht, Cajns: thöricht wäre es, wenn ich vor Dir, dem Getreuen, verbergen wollte, was Dein Scharfblick dennoch errathen würde … So wisse denn – aber zeihe mich nicht der Schwäche –: ich bin sterblich verliebt – nicht nur mit den Augen, wie ehedem, sondern mit Leib und Seele, ein zweiter Troilus, ein Leander, der die Brandung aller Meere durchschwimmen möchte, um seine Hero endlich in die Arme zu schließen.“
„So hast Du öfter geredet,“ lächelte Cajus.
„Geredet, aber niemals empfunden. Der beste Beweis für die Echtheit meiner Gefühle liegt für mich selbst in dem Ungestüm, mit dem ich verlange, das geliebte Mädchen als Gattin über meine Schwelle zu führen. Du weißt, Cajus, ‚Heirathen‘ war mir ehedem ein schreckliches Wort: jetzt aber, seitdem ich Hero gesehen – sie heißt wirklich Hero und ist die Tochter eines vornehmen Sicilianers – seitdem kenne ich mir nichts Holderes als die Fackel des Hymen, und voll Sehnsucht harre ich der Minute, die trotz aller Schwierigkeiten und Mißgeschicke uns endlich vereinigen soll.“
„Schwierigkeiten?“ wiederholte Bononius, stehenbleibend. „Weigert Hero ihrem Leander die heißersehnte Gewogenheit? Hat der schöne Rutilius zum ersten Male umsonst geworben?“
Lucius Rutilius blickte nach dem westlichen Himmel, wie Einer, der den Stand der Gestirne prüft.
„Es ist noch Zeit,“ murmelte er vor sich hin.
Dann zu Bononius gewandt:
„Umsonst geworben? Nein – und dennoch, es ist beinahe so, als hätt’ ich umsonst geworben! Dieser Widerspruch scheint Dir ein Räthsel? Wenn Dir’s gefällt, so sollst Du Alles erfahren – nur hier nicht, wo die Vorübergehenden wieder zahlreicher werden, wo ein Lauscher meine Worte mißbrauchen könnte. In einer Stunde etwa habe ich Geschäfte am Nordhange des quirinalischen Hügels – bis dahin laß uns hier drüben rechts in der patricischen Gasse das Haus meines Oheims Publius Calpurnius betreten. Der Mann ist heute bei Cajus Decius zu Gaste: im Säulenhofe wandeln wir ungestört – und ehrlich gesagt, mich selber verlangt darnach, Dir mein Herz auszuschütten und Deine Rathschläge einzuholen.“
Bononius zögerte. Er schien im Stillen eine rasche Berechnung zu machen.
„Gut!“ sagte er endlich. „Wenn’s nicht zu lange währt … Du wirst’s nicht verübeln, wenn ich Dir sage, daß auch ich in spätestens einer Stunde …“
„O – in zehn Minuten hab’ ich Dir Alles aus einander gesetzt.“
Er zog den Freund, rechts abbiegend, mit sich hinweg. Kurze Zeit darnach pochten sie an die Pforte eines geräumigen Wohnhauses. Der Pförtner stieß den Riegel zurück, neigte sich und ließ die beiden Jünglinge durch den Thürgang in’s Atrium (Empfangsraum).
Das Haus des Publius Calpurnius war eines jener mächtigen Luxusbauwerke, die an Ausdehnung mit den weitgestreckten Palästen, wie sie der Kaiser Diocletian in Salona und Nicomedia aufführen ließ, wetteifern zu wollen schienen. Von außen nicht allzu prunkvoll und von mäßiger Frontbreite, entwickelte es gleich hinter dem Atrium die überraschendsten Größenverhältnisse, indem es nach rechts und links über das natürliche Terrain der Nachbarhäuser hinausgriff und sich nach der Böschung des Hügel zu stetig verbreiterte.
Cajus Bononius, der die Wohnungen der römischen Großen beinahe absichtlich mied, so oft sich auch Lucius – wenigstens früher – bemüht hatte, den Freund in das weltstädtische Leben und Treiben hereinzuziehen – durchmusterte nicht ohne staunende Neugier diese glanzgeschmückte Umgebung, die Hallen der beiden Höfe, wo ein Dutzend buntgekleideter Sclaven eben die Kandelaber in Brand setzte, die farbenstrotzenden Wandgemälde, die Portraitstatuen – Männer in ziemlich unrömisch aussehenden Aermelgewändern und Frauen mit hochrealistisch gemeißelten Haartrachten, die genau so aussahen, als habe die neueste Frisur einer modischen Circusbesucherin dem Bildhauer als Modell gedient.
In der That versicherte Lucius, diese Haartrachten seien beweglich und könnten, je nachdem es die Mode erheische, von den Köpfen der Standbilder weg genommen und durch moderne vertauscht werden – ein Triumph der Plastik, wie er spitz-ironisch hinzufügte.
So schritten sie durch den zweiten Säulenhof nach dem Hausgarten. Die schwärzlichen Baumgänge, deren weithin gestreckte Aeste [232] von dem Licht des ersterbenden Tages noch gerade so viel hindurch ließen, daß man den buchsumfriedigten Kiesweg erkennen konnte, luden zur beschaulichen und vertraulichen Wanderung ein. Der Wächter an der Rückwand des Hauses bürgte dafür, daß kein Unberufener den Jünglingen nachschlich.
„Erfahre also,“ begann Lucius Rutilius, „daß Hero noch zu Ende des vorigen Monats fest entschlossen war, ihr Leben an das meine zu knüpfen. In Tibur hatte ich sie kennen gelernt, wo ihr Vater die Villa des Junius Gellius – Du weißt, sie stößt dicht an die meine – nach dem Tode ihres ersten Besitzers käuflich erstanden hatte. Im Parke lustwandelnd, gewahrte ich die bezaubernde Mädchengestalt jenseits der Mauer, die den Garten des Gellius von dem meinigen scheidet. Hero stand im Schatten eines Lorbeergesträuchs, das blonde Haar nur mit einer blühenden Rose geschmückt, und streute einer flatternden Wolke von Sperlingen mit ihrem zierlichen Händchen Brosamen oder Körner, die sie im Schooße ihres hochgeschürzten Gewandes trug. Von dem Sockel einer Herbstgöttin gedeckt, konnte ich sie ruhig beobachten, ohne daß sie meine Nähe vermuthete.
„Ach, theurer Cajus, vergeblich würde ich zu schildern versuchen, was sich in dieser Viertelstunde an zierlicher Anmuth, kindlicher Unschuld und bezauberndem Liebreiz vor mir entwickelte! Wie sie mit ihren Schützlingen plauderte, die Dreisten abwehrte und den Schüchternen zusprach, wie sie scherzte und lachte, wie ihr die lose Tunica von der schneeigen Schulter fiel – es war zum Entzücken! Kurz, diese Viertelstunde hatte über mein Schicksal entschieden. Zum ersten Mal in meinem sechsundzwanzigjährigen Leben hatte ich beim Anblick eines Mädchenbildes, das mich bezauberte, zugleich die Empfindung einer heiligen Scheu, einer Art von Ehrfurcht, die mir jeden leichtfertigen Gedanken wie einen Frevel erscheinen ließ. In meinen glühenden Träumen, die sich sofort mit begehrlicher Sehnsucht um diese liebenswerthe Erscheinung rankten, sah ich sie nur als die waltende Gebieterin meines Hauses, als die Beherrscherin meines Lebens …“
„Es scheint in der That ernst zu sein,“ murmelte Cajus Bononius. „Täuscht mich der Nachtwind, der in den Zweigen rauscht, oder was ist es sonst, was Deine Stimme so beben macht?“
„Zweifle nicht!“ versetzte Rutilius. „Was ich für Hero empfinde, ist heilig genug, um mein Herz mit jenen Gefühlen zu sättigen, die den Andächtigen bei der Nähe der Gottheit ergreifen. Höre nun weiter! Völlig von dem einen Gedanken erfüllt, trat ich in’s Haus zurück und plante in brütender Einsamkeit, wie mir’s gelingen möchte, an’s ersehnte Ziel zu gelangen. Sonst – Du weißt es – war ich im Verkehr mit schönen Frauen und Mädchen keiner von den Beklommenen; hier aber schien mich die oft bewährte Kunst der schlauen Anschläge gänzlich im Stich zu lassen. Nach zwanzig thöricht-abgeschmackten Entwürfen beschloß ich, mich beim nächsten Gastmahle ihres Vaters – sein Name ist Heliodorus – durch Agathon, der gleichfalls in Tibur weilte, als ungebetenen Gast mitnehmen zu lassen. Zum Vorwand sollte mir der geheuchelte Wunsch dienen, mit Heliodorus wegen der Abtretung eines kleinen Gehölzes zu sprechen. Agathon warf mir einen seltsamen Blick zu, da ich ihm mein Verlangen bekundete. Es mag ja sein, daß diese Art der Einführung nicht die beste war; aber ich hielt sie dafür, denn – auch Du wirst dies dereinst noch erfahren, trotz all der forschenden Weisheit, die jetzt Deine Seele erfüllt –: die Liebe macht auch den Erfahrensten ungeschickt.“
„Ich glaube im Gegentheil,“ versetzte Bononius, „daß große Leidenschaften uns erfindungsreich machen.“
„Streiten wir nicht. Erfindungsreich vielleicht in dem, was entscheidend ist; thöricht aber in allem Uebrigen. – Agathon also sagte mir’s zu, und am dritten Tage schon bot sich mir die Gelegenheit. Heliodorus empfing mich wie ein vollendeter Weltmann. Er begrüßte mich als den Nachbarn, dessen Bekanntschaft zu machen er seit lange gewünscht habe. Was das Gehölz betreffe, von dem ich stammelnd einige Worte hervorbrachte, so werde er die Sache erwägen und, wenn er mich ernstlich damit verpflichte, gern bereit sein, mir ein Opfer zu bringen.
„Das Gastmahl verlief allerdings, ohne daß ich den Gegenstand meiner glühenden Sehnsucht auch nur ein einziges Mal zu Gesicht bekam; aber ich konnte dennoch zufrieden sein. Die Trennungsmauer zwischen unseren beiden Besitzthümern war von dieser Stunde an wie geschleift: es begann ein Verkehr, der sich schon nach kurzer Frist zu einem freundschaftlichen Verhältniß gestaltete, und jetzt natürlich war auch Hero, die sich dem Anblick der Gäste bei den geräuschvollen Zechgelagen entzog, für den Nachbarn, der gleichsam in der Tunica zu dem Vater herüberkam, zu jeder Tageszeit sichtbar.
„Laß mich verschweigen, wie nun Alles gekommen ist. Aus hundert Einzelheiten wob sich mir nach und nach die Gewißheit zusammen, daß die Tochter des würdigen Sicilianers mir hold sei, und eines Abends im Park, an derselben Stelle unter dem Lorbeergesträuch, wo ich sie zum ersten Mal erblickt hatte, küßte ich ihr das Wort der Gewährung von den jungfräulich erbebenden Lippen.
„Das waren selige Tage, Bononius! Noch hielten wir das Glück unserer Liebe geheim; nicht als ob wir Ursache gehabt hätten, an der Einwilligung ihres Vaters zu zweifeln; aber es lag ein unbeschreiblicher Reiz in diesem Verschweigen; ich möchte sagen: wir fürchteten unser Glück zu entweihen, wenn wir gar zu frühzeitig den Schleier hinwegzögen. Dem trefflichen Heliodorus freilich waren unsere Beziehungen durchaus nicht entgangen. Mehr als einmal begegnete ich, wenn ich an Hero’s Seite durch die Colonnaden des Peristyls wandelte, seinem vertraulich-sympathischen Lächeln, das mir zu sagen schien: ‚Freund, ich durchschaue Dich; aber ich zürne nicht ob Deiner heimlichen Werbung.‘
„Da, eines Abends – wir hatten des Tags zuvor den Beschluß gefaßt, am folgenden Freitag, am Ersten des Monats October, als dem Geburtstag des Heliodorus, Hand in Hand vor ihn hinzutreten und ihm Alles zu offenbaren – empfing mich Hero mit einem Ausdrucke der Verstörtheit, der mich heftig erschreckte. Ihr Vater war in Geschäften nach Rom gereist und wurde erst spät zurück erwartet. Hero war den Tag über mit Lydia, einer jungen Verwandten, mit der sie gemeinsam erzogen worden, allein gewesen, hatte ihrer Vertrauten, der greisen Septimia, jeden Zutritt in ihre Gemächer verweigert, das Mahl verschmäht und erst um die Stunde, da ich zu kommen pflegte, sich angekleidet, um auf der steinernen Bank unter der Halle des Peristyls auf mich zu warten. Lydia – beiläufig ein allerliebstes Geschöpf, das nur ein wenig zu sehr an unsere buntgeschminken Modedamen erinnert, um neben Hero’s himmlischer Einfachheit aufzukommen – saß neben ihr, als ich die Colonnade betrat. Mein holdes, trauerndes Mädchen hielt ein dreieckiges Blatt in der Hand; Lydia dagegen preßte stirnrunzelnd mit der zierlichen Faust ein Pergament zusammen, das mit röthlichen Lettern bedeckt war. Nach langem Hin- und Herfragen erfuhr ich das Folgende:
„Kurz nach Sonnenaufgang waren die Beiden wie allmorgendlich durch den Park gewandelt. Da mit einem Male hatte ein altes Weib von erschreckender Häßlichkeit, ganz in Lumpen gehüllt, den ahnungslosen Mädchen die Straße verlegt, mit krächzender Stimme und dem Ausdruck eines Gorgonenhauptes dreimal ein prophetisches ‚Wehe!‘ gerufen, meiner zitternden Hero eine umschnürte Rolle vor die Füße geworfen und sich dann eilig entfernt.
„Wie im Bann dieser unheimlichen Erscheinung hatten die Mädchen die Rolle vom Boden genommen und von ihren Schnüren befreit. Der Inhalt bestand aus einem beschriebenen Pergament und einem dreieckigen leeren Papierstück. Das Pergament aber hatte etwa folgenden Inhalt:
„‚Olbasanus der Chaldäer, der Erforscher der Zukunft und der Warner der verblendeten Menschheit, schreibt dies an Hero, die Tochter des Heliodorus. Die Götter haben uns kund gethan, daß Du, in Liebe zu Lucius Rutilius entbrannt, die Absicht hegst, ihn zum Gatten zu nehmen. Olbasanus warnt Dich ob dieses Vorhabens, denn sein Auge hat in den Sternen gelesen, welch entsetzliches Unheil Dir und den Deinigen, insbesondere auch dem Lucius Rutilius selber droht, wenn Ihr Euer Vorhaben ausführt. Da Du meiner Warnung nicht glauben möchtest, sende ich Dir mit diesem Brief ein heiliges Blatt aus dem Buche des Gottes Amun. Trage das Blatt zum Herde, lege es auf die Steinplatten, doch so, daß die Flammen es nicht erreichen können; neige Dich dreimal mit gefalteten Händen und harre der göttlichen Offenbarung. Mit unsichtbarem Finger wird Amun selbst dies Blatt aus seinem Buche beschreiben und Dir kund thun, was Dir bevorsteht, wenn Du seinen heiligen Willen mißachtest.‘
„Das ungefähr war der Inhalt des Pergamentes, das Lydia krampfhaft zwischen den Fingern hielt.“
[233]
[234] Cajus Bononius hatte während der letzten Minute den Arm fester in den des Freundes gelegt, und auch sonst ein wachsendes Interesse bekundet.
„Olbasanus?“ fragte er jetzt, da Lucius Rutilius einen Augenblick Athem schöpfte. „Der Chaldäer am quirinalischen Hügel?“
„Derselbe. Schon früher war sein Name zu meinen Ohren gedrungen, aber jetzt erst sollte ich seinen gespenstischen Einfluß und seine Macht kennen lernen.“
„Weiter! Weiter!“ drängte Bononius.
„Nun,“ fuhr der Andere fort, „schon dies Schreiben hatte genügt, um die beiden Mädchen in die äußerste Aufregung zu versetzen. Lydia hatte – eine Ausnahme ihres Geschlechts – bis dahin mit keiner forschenden Bitte an das Geheimniß ihrer Freundin getastet, obgleich auch sie unsere Beziehungen seit lange erkannt hatte. Jetzt, da die Sache sich ihr so plötzlich und in so unerwünschter Weise enthüllte, vergaß sie die üblichen Fragen, das Erstaunen, die Glückwünsche. In ihrer Herzensangst drängte sie nach den Räumen des Küchenmeisters, scheuchte voll Ungestüms alle Sclaven hinweg und hieß die Freundin thun, was Olbasanus ihr vorgeschrieben. Hero, kaum ihrer Sinne mächtig, beugte sich dreimal über das geheimnißvolle Blatt und gewahrte schon nach wenigen Secunden mit stillem Grausen die schwärzlichen Schriftzüge, die ihr verkünden sollten, was ihrem Glück in den Weg trat. Sie las: ‚Dem Vater Wahnsinn, der Tochter Blindheit, dem Lucius Rutilius der Tod.‘“
„Unerhört!“ rief Cajus Bononius. „Und ein wunderbares Zusammentreffen!“
„Wie meinst Du das?“ fragte Rutilius.
„Später, mein Theurer! Laß mich zuerst nur Dein Erlebniß zu Ende hören! Freilich, kaum noch bedarf ich der Aufklärung, wo die Sache hinaus will. Was versetztest Du, als die Mädchen Dir das Blatt aus dem Buche Amun’s gezeigt hatten?“
„Ich versuchte zu zweifeln – aber zu deutlich sprachen die gespenstischen Lettern und die verstörten Augen meiner trauernden Hero. Die Thatsache, daß hier ein seltsames Wunder vorlag, ein unerklärliches und, wie es schien, von den Göttern eigens gewolltes, – diese Thatsache wich und wankte nicht. Ich selber fühlte mich anfangs peinvoll beklommen; im Verlauf jedoch unsres Beisammenseins, da mir Hero ruhiger zu werden schien, gewann ich eine gewisse Kraft des Vertrauens wieder, und als ich um die Mitte der ersten Nachtwache[5] meine Wohnung betrat, war ich trotz des noch immer ungelösten Räthsels geneigt, das Ganze mehr für ein sonderbares Abenteuer als für ein Unglück zu halten.
„Der folgende Tag schon sollte mich bitter enttäuschen. Um die Stunde des zweiten Frühstücks auf die Straße hinaustretend, gewahrte ich vor dem Eingang des Nachbarhauses zwei geräumige Reisewagen. Da ich einen der Sclaven, die bei den Pferden herumstanden, nach dem Zweck dieser Zurüstungen befragen wollte, kam Heliodorus mit den beiden Mädchen über die Schwelle. Der Sicilianer begrüßte mich und erklärte, er habe mich in Begleitung Hero’s und Lydia’s aufsuchen wollen, um Abschied zu nehmen. Hero, die, wie ich wisse, eine kleine Tyrannin sei, schwöre mit einem Male, Tibur sei ihr in die Seele verhaßt, sie verlange nach Rom zurück, und da nun bei der vorgerückten Jahreszeit für ihn, Heliodorus, kein ernstlicher Grund vorliege, diesem Wunsche zu widerstreben, so habe er sich mit gewohnter Raschheit entschlossen.
„Ich wußte natürlich, daß die plötzlich erwachte Sehnsucht Hero’s mit Olbasanus zusammenhing. Sie wollte ihn aufsuchen, sie wollte Näheres erfahren über die seltsame Prophezeiung, und wenn es anging, die feindlichen Mächte, die sich unserem Glücke entgegenstemmten, durch Opfer und Gebete versöhnen.
„Ehe eine Viertelstunde verstrich, saß die Gesellschaft, mit Einschluß der alten Septimia und einiger Haussclaven, in den Polstern, und rollte, drei Berittene voran, die Straße nach Rom zu.
„Du wirst nicht staunen, theurer Bononius, wenn ich Dir sage, daß auch ich noch an demselbigen Tage Tibur verließ und nach den sieben Hügeln zurückkehrte. Gepreßten Herzens nahte ich am folgenden Morgen dem hellenischen Prachtbau, den Heliodorus an der Nordseite des cälischen Berges bewohnt. Der Sicilianer empfing mich herzlich und freundschaftlich, aber dennoch mit einer gewissen Beklommenheit. Hero, so erfuhr ich, da ich an seiner Seite mich niedergelassen, schien krank zu sein. Sie hatte, kurz nach ihrer Ankunft, mit Lydia ihre Sänfte bestiegen und war mit allen Zeichen der Aufregung in später Stunde zurückgekehrt. Seitdem lag sie theilnahmlos auf der Ruhestatt, kaum eine Frage beantwortend, bleich vor sich hinstarrend. Einmal war sie in heftiges Schluchzen ausgebrochen; ein wilder Krampf hatte ihren Körper durchschüttelt; dann aber trat eine gesteigerte Abspannung und Mattigkeit ein, bis sie endlich lange nach Mitternacht einschlief.
„Ich errieth natürlich, was vorgefallen. Hero war bei Olbasanus gewesen und hatte aus dem Munde des Zauberers das Gleiche vernommen, was ihr jene Inschrift vorausgesagt. Ja es schien, als wäre die Art und Weise dieser Bestätigung weit entsetzlicher und dämonischer ausgefallen, als die erste Warnung durch das Blatt aus dem Buche des Gottes Amun. Ich war vollständig rathlos. In abgerissenen Worten mein Bedauern aussprechend, verließ ich das Haus. Ich bat den Sicilianer, mich wissen zu lassen, wenn das Befinden seiner Tochter sich soweit hergestellt haben würde, daß ich meinen Besuch, ohne lästig zu sein, wiederholen dürfte.“
Das Kaiserliche Seebataillon und seine Bedeutung für die Marine.
Die Verleihung einer Fahne an das Seebataillon hat zum ersten Male diese der kaiserlichen Marine angehörige Truppe als solche vor die Augen der Oeffentlichkeit gebracht. Daß sie überhaupt existirt, war bisher wenig allgemein bekannt und noch weniger bekannt ist der eigentliche Zweck derselben in Krieg und Frieden, sowie ihre Bedeutung für die Marine.
Diese Bedeutung, verbunden mit einem kurzen Rückblick auf die Entstehung und Entwickelung des Seebataillons, in gedrängter Form weiteren Kreisen zur Kenntniß zu bringen, ist der Zweck dieser Zeilen.
Als es der rastlosen Thätigkeit und unermüdlichen Energie des unvergeßlichen Prinzen Adalbert von Preußen endlich gelungen war, an maßgebender Stelle die Ueberzeugung von der strategischen und moralischen Nothwendigkeit zu wecken, Preußen auch zur See soweit wenigstens wehrhaft zu machen, daß es im Stande sei, unsere Küsten und unseren Seehandel gegen die Flotten zweiten und dritten Ranges zu schützen, wurde, unter dem Vorsitze des Prinzen, eine Commission bestellt, welcher die Aufgabe zufiel, die Art und Ausdehnung der maritimen Mittel zu berathen, welche zur Vertheidigung der preußischen Ostseeküste ausreichen würden.
Das Resultat dieser Berathung war der Befehl zur Erbauung einer größeren Anzahl von Ruderkanonenbooten sowie zur kriegsmäßigen Ausrüstung einiger, zum Theil der Post zugehöriger Dampfer.
Diese kleine Macht, sowie die bereits im Jahre 1842 erbaute Segelcorvette „Amazone“, wurde der Verwaltung des Kriegsministeriums unterstellt und für dieselbe zu Stralsund ein Marinedepot errichtet.
Die zu den Fahrzeugen gehörigen Mannschaften – Stammmannschaften – wurden unter dem Namen „Marinebataillon“ zu einer Truppe formirt, welche sich aus Freiwilligen und solchen Schiffern, die zur Ableistung ihrer Dienstpflicht für die Armee ausgehoben worden waren, ergänzte. Dieses Marinebataillon hatte die Stärke von 476 Köpfen inclusive Officiere und stand unter dem Befehl des Majors Gäde, eines Mannes, der sich um die Bildung der damaligen ersten Anfänge deutscher Wehrkraft zur See die dankenswerthesten Verdienste erworben hat.
Mit der beabsichtigten und auch zum Theil schon in die Wege geleiteten Vermehrung der Zahl unserer Kriegsschiffe machte sich das Bedürfniß fühlbar, die Mannschaften der Marine in zwei [235] verschiedene Corps zu theilen, deren eines nur wirkliche Seeleute enthielte und die eigentliche seemännische Besatzung der Schiffe zu stellen hätte, während das andere aus Nichtseeleuten formirt und mehr zum Dienst auf den Ruderkanonenbooten und am Lande verwendet werden sollte.
So entstand das „Matrosencorps“ – sehr bald darauf „Matrosenstamm-Division“ genannt – und das in 2 Compagnien getheilte „Marinecorps“. Die etatsmäßige Stärke exclusive der Officiere des ersteren belief sich im Jahre 1849 auf 50 Unterofficiere, 378 Matrosen und 100 Schiffsjungen, die des Marinier-Corps auf 20 Unterofficiere und 200 Mariniere.
Aus dem „Marinier-Corps“ wurde nun im Jahre 1852 zu Stettin das „Seebataillon“ gebildet.
Mit dem Namen wechselte das Marinier-Corps, welches bisher äußerlich dem Matrosen-Corps völlig gleich gewesen war, auch die Uniform. Letztere bestand fortan aus blauem Waffenrock mit blauem Kragen, weißen Biesen und weißen Achselklappen mit gelben Ankern, blauen Beinkeidern mit weißer Biese, Helm mit Kugel und Marine-Emblem aus schwarzem Lederzeug. Die Officiere erhielten goldgestickte Kragen und trugen den Füsiliersäbel der Armee.
In dem Maße, wie das schwimmende Material der Flotte zunahm, wurde auch das Seebataillon successive verstärkt, sodaß dasselbe gegenwärtig aus 6 Compagnien besteht, von denen 4 in Kiel und 2 in Wilhelmshaven stehen.
Fragt man nun: Welchen Zweck erfüllt diese Infanterietruppe innerhalb der Marine? so ist es, um dem Laien die Beantwortung verständlich zu machen, nothwendig, einen kurzen, vergleichenden Blick auf das frühere und gegenwärtige Seekriegswesen zu werfen.
In den großen Flotten anderer Nationen, namentlich der englischen, bestand ein geordnetes, auf allgemeiner Wehrpflicht beruhendes Recrutirungssystem nicht, wie ja auch England bis zu diesem Augenblick ein solches noch nicht eingeführt hat.
Die Matrosen, welche für die Bemannung der vielen großen Linienschiffe von 72 bis 120 Kanonen in bedeutender Zahl erforderlich waren, wurden aus Angehörigen aller Nationen angeworben und, wo es an Freiwilligen fehlte, mit Gewalt ausgehoben – „gepreßt“. Diesen Leuten fehlte naturgemäß jede militärische Vorbildung. Da es aber in der Schlacht zwischen Flotten, die nur aus Segelschiffen bestanden, von höchster und meistens entscheidender Wichtigkeit war, alle dabei nothwendig werdenden Segelmanöver mit möglichst großer Schnelligkeit und Präcision auszuführen, so mußte auch die erste und größte Sorgfalt auf die Ausbildung der Matrosen im Segelexercitium und demnächst auf die in der Bedienung des Geschützes verwendet werden. An eine irgendwie genügende Unterrichtung im Schießen mit dem Kleingewehr und im Infanteriedienst am Lande konnte nicht gedacht werden.
Wo es nun zum Entern kam, d. h. wo ein Schiff sich im Gefecht Seite an Seite mit dem Gegner legte, um diesen im Kampfe Mann gegen Mann zu bewältigen, da führten die Matrosen vorzugsweise blanke Waffen. Säbel, Enterbeile, Piken und Dolche, gelegentlich auch Pistolen. Die Vorbereitung der Enterung, d. h. die möglichste Säuberung derjenigen Stellen des feindlichen Schiffes von den Vertheidigern, wo geentert werden sollte, mußte deshalb Leuten zufallen, welche eine bessere Ausbildung im Gebrauch der Schußwaffe erhalten hatten, als das bei den Matrosen der Fall sein konnte, also Soldaten. Und wo an feindlichen Küsten Landungen ausgeführt werden sollten, da mußte auch eine im Infanterie-Dienste geübtere Truppe den Kern des Landungscorps bilden. Deshalb war es nothwendig, den Kriegsschiffen neben den Matrosen noch am Lande erzogene und gut ausgebildete Soldaten mitzugeben.
Aber auch ein anderer Umstand machte die Installirung einer größeren Anzahl wohldisciplinirter, zuverlässiger Mannschaften an Bord, namentlich der englischen Kriegsschiffe, nothwendig.
Wir haben erwähnt, daß die Matrosen der englischen Marine theils freiwillig, theils mit List und Gewalt angeworbene Leute, ohne jegliche voraufgegangene Disciplinirung waren. Solche gegen ihren Willen zum Seedienste gezwungene und oft genug auch noch schlecht verpflegte und ebenso schlecht behandelte Menschen, unter denen sich auch viele Abenteurer, Vagabonden, ja oft sogar Verbrecher befanden, trugen naturgemäß den Keim der Unzufriedenheit und die Neigung zu Widersetzlichkeit und offener Meuterei in sich, und gegen den Ausbruch solcher Meutereien den Commandanten und die Officiere zu schützen, war ebenfalls eine der Ursachen dazu, daß sämmtliche Kriegsschiffe der englischen Flotte mit der Anzahl ihrer Besatzung entsprechend starken Detachements von „marines“ (Seesoldaten) besetzt wurden. Ein Schiff von 120 Kanonen und 1100 Köpfen Besatzung hatte beispielsweise eine ganze Compagnie, eine Fregatte ein Detachement von 60 bis 80 Seesoldaten an Bord. Uebrigens haben diese „marines“ oft genug die bis in die letzten Jahrzehnte hinein in der englischen Flotte sehr häufigen Meutereien der Matrosen nicht allein nicht immer unterdrücken können, sondern auch – trotz des Hasses, der dort zwischen „bluejackets“ und „lobsters“ (Matrosen und Seesoldaten, wobei lobster, Hummer, der Spitzname der Seesoldaten, ihrer rothen Uniform wegen, war) herrschte und zum Theil noch herrscht – sogar gelegentlich an denselben Theil genommen.
Für unsere Marine war zur Zeit ihrer ersten Entwickelung die englische Marine naturgemäß das Muster, nach dem wir den Dienst an Bord unserer Kriegsschiffe normirten, und so kam es denn, daß, als wir in den Besitz größerer Schiffe, Fregatten und Corvetten gelangten, auch die Commandirung von Seesoldatendetachements an Bord solcher Schiffe, wie dieselbe in England üblich, unwillkürlich bei uns Nachahmung fand.
Im Laufe der Zeit stellte sich nun aber heraus, daß es nicht zweckmäßig ist, Schiffen, welche große überseeische Reisen machen, fast nur unter Segel fahren und einen im Verhältnisse zu ihrer Besatzungsstärke beschränkten Wohnraum für letztere bieten, eine Anzahl von Mannschaften mitzugeben, deren Verwendung, da sie zur Bedienung der Segel nicht gebraucht werden können und dürfen, eine ganz einseitige ist. Auf der andern Seite aber werden unsere Matrosen, seitdem der vorige Chef der Admiralität, von Stosch, die Führung der Marine übernommen, militärisch so ausreichend vorgebildet, daß sie ebenso gut wie die Seesoldaten zum Wachdienst und, mit hinreichender Aussicht auf Erfolg, auch als Infanteristen bei Landungen gegen halb- oder uncivilisirte Völkerschaften – denn um solche handelt es sich bei in’s Ausland detachirten Schiffen in der Regel nur – verwendbar sind. Und eines Schutzes unserer Officiere gegen die eigenen Matrosen hat es in unserer Marine, Gott sei dank, nie bedurft und wird es niemals bedürfen!
So wurden denn vom Jahre 1873 an nur auf den eigentlichen zu Geschwadern verbundenen Schlachtschiffen Seesoldaten-Detachements eingeschifft. Und daß dieses geschieht, hat seine gute Berechtigung.
Die Zahl der Matrosen nämlich, welche im Falle einer Mobilmachung unserer Flotte allein für die Besetzung der Schiffe mit seemännischem Personal erforderlich ist, ist eine so große, daß wir nicht darauf rechnen können, sie bei plötzlich ausbrechendem Kriege stets zur Hand zu haben; und in einem solchen Falle leistet uns das Seebataillon gute Dienste, indem es die Schlachtschiffe (Panzer-Fregatten und -Corvetten) mit Detachements von 60 bis 120 Mann versieht, welche theils als Hülfsnummern an den Geschützen, theils als Scharfschützen Verwendung finden.
Für ersteren Zweck werden die Seesoldaten in Exercirbatterien am Lande in der Bedienung der Schiffsgeschütze ausgebildet, und für den letzteren Zweck macht sie ihre sorgfältige und vorzügliche Ausbildung im Schießen ganz besonders geeignet. Denn bei der heutigen hohen Vollendung in der Schußweite und Trefffähigkeit unseres Infanteriegewehres wird im Seegefechte sehr bald der Moment eintreten, wo geübte Schützen mit gutem Erfolge gegen die auf Deck stehenden feindlichen Officiere und die Bedienungsmannschaften der Geschütze Verwendung finden können.
Das ist die Aufgabe, welche dem Seebataillon, nicht als geschlossene Truppe, sondern in Detachements, an Bord unserer Schiffe zufällt.
Am Lande versieht dasselbe gemeinsam mit den Mannschaften der übrigen Marinetheile (Matrosen- und Werft-Divisionen), respective in der Garnison stehenden Infanterietruppen, den Garnisonwachtdienst.
Das Seebataillon hat im Laufe der Zeit einige Veränderungen in seiner Uniformirung erfahren (weiße Kragen statt der blauen etc.), als deren letzte die Verleihung eines schwarzen Haarbusches auf dem Czako zu verzeichnen ist, welcher die schon sehr [236] hübsche Uniform in gefälliger Weise hebt und abschließt. Es ist auch in Bezug auf seinen Erfolg eine der schönsten Truppen, die man sehen kann. Ueberall, wo dasselbe als Truppe auftritt, kann es in äußerer Erscheinung und Ausbildung nur den vortheilhaftesten Eindruck machen, und wenn das Seebataillon auch, außer dem oben Angeführten, eine directe Bedeutung für die Marine nicht hat, so bildet dasselbe immerhin einen nicht unwichtigen Theil und eine Zierde derselben.
Blätter und Blüthen.
Die Richard Wagner-Häuser (S. 220 und 221). Ueber das Wagner-Theater, das Mittelbild unserer Illustration, finden die Besitzer der früheren Bände der „Gartenlaube“ im Jahrgang 1873 erst S. 59 Angaben über den ersten Plan Wagner’s, der nur auf einen ähnlich wie bei großen Musikfesten für den einmaligen Zweck aufgeführten Holzbau hinauslief; aber schon S. 515 sehen wir den fertigen Bau des „Tempels der Zukunftsmusik“ im Bilde vor uns. So ist es äußerlich auch geblieben. Doch ist das Bühnenhaus bekanntlich erst 1876 zu völliger Vollendung gediehen.
Das Geburtshaus Richard Wagner’s erkennt der Gast Leipzigs leicht an der Lage, dem Ausgang der Hainstraße in den Brühl gegenüber, ferner an dem Steinbild des ruhenden Löwen über der Thür, nach welchem es, gemäß der alten Sitte, auch Privathäusern bezeichnende Namen zu geben, das Haus zum rothen und weißen Löwen genannt wurde. Es führt jetzt die Hausnummer 88.
Das Sterbehaus unseres großen Tondichters in Venedig, der Palast Vendramin-Calergis, ist der neuen Auszeichnung, die ihm durch solch einen Todesfall geworden, würdig. Er wird ziemlich allgemein als der edelste und schönste aller Paläste Venedigs anerkannt. Mit seiner Erbauung durch Pietro Lombardo wurde (1481) der erste entscheidende Schritt auf der neuen Bahn der Frührenaissance gethan: „das Erdgeschoß mit korinthischen Pilastern, die zwei oberen Geschosse mit korinthischen Säulen und prächtig durchgebildeten zweitheiligen Rundbogenfenstern; über Gesimse, Säulen und Pilaster, Friese, Fenstereinfassungen, Brüstungen und Balcone eine festlich heitere weißmarmorne decorative Hülle“ (Th. Gsell-Fels „Italien in 50 Tagen“). Nicht weniger vorzüglich ist die Lage des Palastes in der Nähe des Bahnhofs und der nächsten Wasserverbindung mit dem Festlande, dem Canareggio. Auch diese Wahl einer venetianischen Wohnung zeugt von dem allseitig feinen Geschmack des deutschen Meisters.
Die Vignette unseres Artikels schmückt Richard Wagner’s nach eigenem Geiste erbautes und eingerichtetes Wohnhaus in Bayreuth, das vielbeschriebene „Wahnfried“ mit seiner allbekannten Inschrift:
Hier, wo mein Wähnen Frieden fand
Wahnfried
sei dies Haus von mir genannt.
Das schon durch seine Vornehmheit das Auge fesselnde Gebäude befindet sich auf dem Wege zur Eremitage und trägt auf der vorderen Wand ein Sgraffitto-Bild, welches die Gestalt von Wotan, dem Helden des „Ring der Nibelungen“, links von ihm aber die Gestalt der Schröder-Devrient, rechts die der Gattin Wagner’s mit ihrem Sohne Siegfried zeigt. Im Garten am Hause ist die Stätte, die Wagner schon vor Jahren zu seiner Gruft bestimmt hatte.
Ueber die zwölf Artikel, welche unser Blatt dem Leben und Wirken Richard Wagner’s gewidmet hat, giebt das „Vollständige Generalregister der ‚Gartenlaube‘“ die nöthigen Hinweisungen.
Allen Brustleidenden zur Warnung! Seit einiger Zeit sind an uns von vielen Unglücklichen, die an Lungenschwindsucht leiden, Anfragen gerichtet worden, ob uns oder unseren medicinischen Beiräthen Näheres über die „neuentdeckte sibirische Pflanze Homeriana“ bekannt sei, welche gegenwärtig in den Annoncen vieler Blätter als vorzügliches Heilmittel gegen die Lungentuberculose angepriesen wird. Die meisten dieser Anfragen haben wir brieflich im warnenden Sinne beantwortet, da sich aber dieselben in letzter Zeit massenhaft häuften, so glaubten wir, hier einer mit großem Aufwande und nicht ohne Geschick betriebenen Reclame, die auf die Unwissenheit und Leichtgläubigkeit der Kranken speculirt, gegenüber zu stehen, und hielten es für unsere Pflicht, in Bezug auf diese „neue“ Wunderpflanze eine öffentliche Warnung zu erlassen. Wir wußten, daß der im Kampfe gegen den Geheimmittelschwindel so sehr verdiente „Ortsgesundheitsrath der Haupt- und Residenzstadt Karlsruhe“ schon unterm 27. Januar d. J. folgende Bekanntmachung erlassen hat:
„Unter der Ueberschrift ‚Zur Heilung der Lungentuberculose‘ wird seit einiger Zeit durch Reclamen und Inserate in hiesigen und auswärtigen Blättern eine angeblich bisher unbekannte, nach ihrem Entdecker ‚Homeriana‘ genannte sibirische Pflanze als untrügliches Heilmittel gegen Schwindsucht den Leidenden empfohlen.
Bei der Untersuchung der Pflanze, die wir kommen ließen, erwies sich dieselbe als Polygonum aviculare, Vogelknöterich, welcher bekanntlich an Wegen, auf Aeckern und in Gärten bei uns in großer Menge wächst und die angepriesene Heilwirkung nicht im Entferntesten besitzt.
Die ‚Homeriana‘ ist von der sogenannten ‚Centralen Vertriebsstelle diätetisch-hygieinischer Erzeugnisse‘ des J. Kirchhöfer in Triest zu beziehen. Ein Paket von allerhöchstens 10 Pfennig Werth kostet 2 Mark. Wir warnen vor diesem Schwindel.“
Wir wandten uns daher an den genannten Ortsgesundheitsrath mit der Bitte, uns das ausführliche Resultat seiner Untersuchungen einsenden zu wollen, und erhielten von demselben eine zweite vom 21. März dieses Jahres datirte Bekanntmachung, in welcher trotz des haltlosen Einwandes des Kirchhöfer die Homeriana als Vogelknöterich erklärt wird und welches mit den Worten schließt:
„Um Vertrauen zu erwecken, giebt Kirchhöfer an, er habe die Homeriana dem Reichsgesundheitsamt zur Begutachtung vorgelegt; dies hat sich bestätigt, das Reichsgesundheitsamt lehnte jedoch die Begutachtung, wie vorauszusehen, ab. Als ärztliche Autorität, von welcher die Homeriana empfohlen sei, wurde in den Kirchhöfer’schen Reclamen Prof. Dr. Schnitzler in Wien angeführt. Dieser Arzt verwahrte sich jedoch alsbald gegen solchen Mißbrauch seines Namens, indem im Gegentheil nach den von ihm gemachten Beobachtungen mit der Homeriana, welche nichts anderes als der bekannte Vogelknöterich sei, keinerlei Resultate erzielt würden.
Eine Cur mit dem völlig nutz- und werthlosen ‚Heilmittel‘ dauert 60 Tage und kostet nicht weniger als 75 Franken. Nachdem wir die Pflanze wiederholt einer Prüfung durch Sachverständige unterworfen haben, müssen wir unser früheres Urtheil in vollem Maße aufrecht erhalten, daß die Reclamen des J. Kirchhöfer ein betrügerischer Schwindel sind.“
Zwei Riesen im Kampf, gleich furchtbar wild,
Sie kämpfen ohne Schwert und Schild,
Sie beginnen mit Sturmwindsingen
Ein gar gewaltiges Ringen.
Des Schlangenleibs hochragendes Haupt
Mit feurigen Wolken geschmückt, so schnaubt
Das Dampfroß zischend und dröhnend,
Den König Winter verhöhnend.
Da breitet den wallenden Mantel aus
Und fähret daher im Schneesturmbraus
Der Monarch mit eiszackiger Krone,
Voll Rache hohnlachend dem Hohne.
Das fauchende Roß speit Feuer und Dampf,
Es perlet am Leib ihm der Schweiß vom Kampf;
Doch der König stemmt überlegen
Im kalten Trotz sich entgegen.
Und keiner wanket und keiner weicht. –
Doch siehe – in höchster Noth erreicht
Des Kampfes Getös der Menschen Stätten,
Und sie eilen herbei zu rechten und retten.
König Winter ist Allen schon lange verhaßt,
Das Dampfroß Allen ein trauter Gast:
Ihm helfen nun Schaufeln und Besen.
So ist es ja immer gewesen.
Kleiner Briefkasten.
J. F. in Madrid. Unsern lieben Landsleuten können wir die Beruhigung geben, daß, wie viele Wörter unserer Sprache wir auch dem Auslande entlehnt haben, das Wort Halle ein uraltes Eigenthum unserer Nation ist. Seine älteste Bedeutung, die wir schon im Altsächsischen, Altnordischen, Angelsächsischen und ebenso im Niederdeutschen und Englischen wiederfinden, gilt noch heute und ist die eines offenen Baues mit einem nur auf Säulen oder Pfosten ruhenden Dache oder eines von Säulen getragenen Vorbaues. Das Wort „Halle“ gehört zu den nach Naturlauten gebildeten Wörtern (Onomatopoëtica nennt sie der Gelehrte), insofern damit ein „wegen des Mangels innerer, auch wohl äußerer Wände hallendes Gebäude“ bezeichnet wird. Solche Wörter bildet bekanntlich am liebsten das Kind, das den Hund „Hauhau“, die Ziege „Mekmek“, die Kuh „Muh“ nennt. Aber auch die Schriftsprache ist nicht arm an dergleichen Wörtern, wie z. B. Sausen, Klingel, Kukuk, Schnurre, Glucken, Donner, Krach etc. Für die Thatsache, daß wir für unsere Sprache allerdings etwas starke Anleihen in der Fremde gemacht haben, kann uns der Umstand trösten, daß unsere Nachbarn, und sogar die Franzosen, auch aus unserem Sprachschatz Manches haben brauchen können. Ohne unser Bollwerk hätten sie noch heute keine Boulevards, ohne unsere Buttel kein Bouteille; ihre Soldaten gehorchen dem Commando „Halt!“ wie die Deutschen, und wer in Paris ein Glas „Kohlensaures“ genießt, freut sich doch, daß die Bude, vor der er steht, die Firma „Trinquehalle“ führt.
A. X. in Breslau. Ihr Gedicht ist zu gut für den Papierkorb, aber nicht gut genug für den Abdruck. Ueben Sie weiter, hüten Sie sich jedoch, dem Lobe „guter Freunde“ zu glauben.
N. N. in Köln. Ihre Gabe von 10 M. für den Invaliden Salzer in Albernau („Gartenlaube“ Nr. 11) ist demselben zugesandt worden.
H. Schmidt in Frankfurt a. M. und A. Hocke in Hildesheim. Zu demselben menschenfreundlichen Zweck 3 M. und 6 M. Unsern Dank den edlen Gebern!
Abonnent in Lang–. Jahrgänge 1880 und 1881 der „Gartenlaube“ können Sie zum Preise von 6,40 M. für den Jahrgang erhalten.
Rob. G. in Berlin. Ihren Wunsch, die Schilderung der Flucht Kinkel’s aus Spandau (Jahrgang 1863, Nr. 7 bis 10) jetzt noch einmal abzudrucken, können wir nicht erfüllen.
- ↑ Dieselbe erscheint im Verlage von Alexander Köhler in Dresden, den wissenschaftlichen Theil redigirt Oberlehrer Thüme, den praktischen ein eifriger Pilzzüchter, Gärtner Moritz Gössel. Das in der That höchst dankenswerthe Unternehmen, das auch die volkswirthschaftliche und sanitätspolizeiliche Seite eingehend behandeln und beleuchten wird, ist den Naturfreunden, Pilzliebhabern und insbesondere den Landwirthen, Forstbeamten und Lehrern nicht genug zu empfehlen. Die Zeitschrift führt in guten Buntdruckbildern die für das praktische Leben wichtigsten Pilze vor und verfolgt als Hauptzweck die mykologischen Kenntnisse immer mehr zu verbreiten und zu erweitern, damit einerseits keine eßbaren Schwämme in Wäldern, Haiden und Wiesen verderben und andererseits die Bevölkerung vor dem Genuß schädlicher Pilze gewahrt bleibe. Sodann widmet sie sich wissenschaftlichen Forschungen und, wie schon oben angedeutet, der künstlichen Pilzzucht in eingehendster Weise. Man darf dem jungen Unternehmen um so wärmer das Wort reden, als am Redactionspult wie im Verlagscontor desselben Angesichts der noch sehr bescheidenen Interessentenzahl eine nur geschäftliche Absicht kaum vorhanden sein kann.
- ↑ Mycelium, Pilzmutter, das bei der Keimung aus den Sporen zuerst sich entwickelnde Organ des Pilzes, in der Regel durch ein fadenförmiges Aussehen charakteristisch.
- ↑ Arminius starb im Jahre 21 nach Christus.
- ↑ Nach der neu erscheinenden Sammlung „Historische Meisterwerke der Griechen und Römer in vorzüglichen deutschen Uebertragungen“ (Leipzig, E. Kempe), auf die wir alle diejenigen hinweisen, welche, ohne die alten Sprachen zu kennen, sich in den Geist classischer Geschichtsschreiber vertiefen möchten.D. Red.
- ↑ Die Römer theilten die Zeit vom Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang in vier Nachtwachen (vigiliae) ein.