Die Gartenlaube (1883)/Heft 25
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No. 25. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Dramatisierung vorbehalten.
Die Hochzeitsreise.
„Wann wir zurückkehren wollen von unserer ‚Hochzeitsreise‘?“ erwiderte die junge Frau. „O Du lieber, einziger Mann, nur noch ein Weilchen! … Mir ist zuweilen, als würde ich auf Wolken in den Himmel getragen!“
„So bist Du Deiner Gefangenschaft noch nicht überdrüssig?" scherzte er weiter. „Es ist doch wirklich gruselig hier – festgeschlossene Gardinen und tief herabgelassene Rouleaux … dazu ein Kerkermeister, der Dich keinen Augenblick aus den Augen läßt –“
„Ein Tyrann bist Du freilich. Aber es muß wohl wahr sein, was man sagt: ‚Die Frauen lieben die Tyrannei der Liebe.‘ Sprich selbst: können wir noch glücklicher sein?“ …“ Bei diesen Worten rückte die junge Frau ihr niedriges Kinderstühlchen in beste Plauderdistance und legte den Kopf an die Brust des Gatten. „Kommst Du nicht zu mir, so komme ich zu Dir! … Und was ich gelernt habe in den paar Tagen!“
„Ja, die Liebe ist die beste Lehrmeisterin, wie Du die beste Schülerin!“
„Wie lange ist’s doch her, daß wir verheirathet sind? Acht, nein, neun Tage. Du glaubst gar nicht, was ich in der Zeit schon selbstständig geworden bin! …“
„Aber die Eltern! Wir müssen ihnen doch endlich Nachricht geben. Sie werden sich vermuthlich schon ängstigen. Laß uns einmal überlegen, ob es nicht besser ist, wir treten morgen Mittag bei ihnen an?“
„O, nur noch ein paar einzige, himmlische Tage, lieber – Mann.“ Das große Wort wollte immer noch nicht flüssig über die Lippen. Scheu, Stolz und Schalkhaftigkeit vereinigten sich darin, und sein Aussprechen allein konnte die neugebackene Frauenwürde verrathen. „Sie erwarten uns ja auch noch gar nicht!“ setzte sie mit überzeugender Lebhaftigkeit hinzu. „Allerdings dürfen sie sich auch unsertwegen nicht ängstigen …“
„Wollen wir vielleicht Tante Bertha in’s Geheimniß ziehen? Sie könnte wenigstens auf indirecte Weise Mama’s Sorge beschwichtigen.“
Die junge Frau sann einen Augenblick nach, dann sagte sie:
„Nein, Gustav – Tante Bertha ist ein Engel, aber sie ist eine alte Jungfer und würde uns doch nicht verstehen. Dazu muß man lieben und jung verheirathet sein. Ueberdies könnte sie plaudern, oder sich vielmehr bei ihrer Peinlichkeit wider Willen verrathen. Mir fällt soeben etwas Anderes ein.“
„Nun?“
„Ich muß Vetter Fritz antworten, er hat uns jedenfalls längst in Heidelberg erwartet. Ich schreibe nun gleichzeitig an Mama und füge den Brief bei. Fritz aber giebt ihn in Heidelberg zur Post.“
„Potztausend, Du wirst ja im Ehestande unternehmend und erfinderisch. Von dieser Seite kenne ich Dich noch gar nicht!“
„Du bist aber doch mit mir einverstanden?“
„Aufrichtig gestanden: es würde mir lieber sein, wir stellten uns einfach morgen vor. Ich glaube, es ist besser, wir lüften selbst den Schleier, ehe ein Zufall ihn uns entreißt.“
„Das ist ja ganz unmöglich – wie sollte man uns entdecken? Ich begreife Deine Skrupel nicht … Auch ist es nur recht und billig, daß Du Dich mir jetzt fügst, wie ich mich anfangs Dir gefügt habe.“
„Nun – meinetwegen. Mir selbst ist unsere Zweisamkeit nur erwünscht!“
Die junge Frau hatte bereits die Schreibmappe zur Hand genommen und schrieb:
„Liebe Eltern!
Wir sind gesund und amüsiren uns natürlich köstlich auf unserer Hochzeitsreise.“
Bis hierher hatte sie mit flüchtiger Hand geschrieben, die folgenden Sätze sprach sie laut und voll übermüthiger Neckerei, indem sie dieselben aber auch gleichzeitig niederschrieb:
„Er, mein einziger Mann, will durchaus noch ein tüchtiges Stück in die Weite, und ich gehe mit ihm bis an’s Ende der Welt. Ach, es ist ja himmlisch, verheirathet zu sein! Aengstigt Euch nicht um uns und gedenkt in Liebe
Eurer überglücklichen Kinder.“
Der Brief wurde couvertirt, adressirt und in ein zweites Couvert gelegt.
In letzterem befand sich gleichzeitig ein Brief Mariens an Fritz, mit der Bitte, die Einlage zurück und an ihre Adresse zu besorgen.
Der junge Ehemann übernahm es, den Brief sofort selbst in den Briefkasten zu legen. Er that es seelenvergnügt, denn die aufrichtige Freude, die Marie an ihrem stillen, häuslichen Alleinsein empfand, schmeichelte seiner Eitelkeit und bezauberte ihn von Neuem. Aber als der Brief still und lautlos der Hand entglitt, konnte er doch nicht umhin, ein gewisses unklares Gefühl von Besorgniß zu empfinden. … Es war ihm unwillkürlich, als ob er ein Geschoß absende, das sausend die Luft durchschnitt, dessen Zielpunkt aber dem Auge unsichtbar blieb.
Die Hochfluth des Gefühls war im Verebben.
Seit gestern beschäftigte sich der Assessor wieder mit den Pandekten. Er wollte versuchen, wie es sich arbeite, wenn Marie mäuschenstille neben ihm saß, eine Handarbeit in den Händen.
„Hier ist mein Platz – wer will ihn mir rauben?“ hatte sie gesagt. „Wozu hat man denn einen Mann?“
Es dauerte zwar ein Weilchen, ehe er sich daran gewöhnte, sie ohne Gefahr für seine Aufmerksamkeit neben sich zu sehen. Aber man gewöhnt sich zuletzt an Alles und nicht am schwersten an das Gute!
Es fehlte ihm indessen ein Band des justinianischen Rechts, und – wie gewöhnlich – just der, dessen er eben bedurfte. Darum nahm er Hut und Stock, um ihn sich aus der Bibliothek zu holen. Zum ersten Male blieb die junge Frau längere Zeit allein.
Sie putzte und rieb wieder die spiegelblanken Möbel und schürte das Feuer im Kamin, damit er es bei seiner Rückkehr behaglich finde. Da – in das Prickeln und Knistern der wieder auflebenden Flamme, tönte plötzlich von draußen ein Glockenruf.
Die junge Frau erschrak heftig.
Wer mochte es sein? Gustav konnte unmöglich schon zurückkommen, auch trug er einen Schlüssel bei sich, mit dem er selbst die Vorzimmerthür öffnete. Und der schnurrbärtige Hausgeist war gründlich instruirt, nur leise zu klopfen. Er war nicht umsonst lange Jahre Studentenfactotum gewesen, und wußte auf allerlei verfängliche und unverfängliche Dinge mit bewundernswerther Schlauheit und Geistesgewandtheit einzugehen. Besuch aber war bis jetzt nicht gekommen, da Jedermann das Paar auf der Hochzeitsreise wußte.
Und so hatte selbst der Vicewirth, unten in der Hinterstube der Parterrewohnung, keine Ahnung von der freiwilligen Gefangenschaft des liebenden Paares oben im ersten Stock, obgleich er gelegentlich und „von Amtswegen“ wie ein richtiger unverfälschter Hauswirth allenthalben umherzustöbern pflegte. Er war zwar dem Stiefelputzer bei solcher Gelegenheit ein paarmal auf der Treppe begegnet, hatte aber angenommen, daß derselbe nur gekommen sei, um das Lüften der Zimmer zu vollziehen, zu welchem er vermuthlich Auftrag erhalten hatte.
Da – wieder tönte die Glocke, diesmal etwas ungeduldig. Marie nahm all ihren Muth zusammen und ging, um draußen nachzusehen.
Zu ihrer Ueberraschung sah sie durch die Glasfenster der Entréethür draußen auf dem Treppenflur eine junge Dame stehen, und hinter ihr einen mit Gepäck schwer beladenen Dienstmann. Sie öffnete langsam und etwas verblüfft, und hieß das junge Mädchen mehr mit den Augen als mit Worten eintreten. Diese schien eine directe Aufforderung auch kaum zu erwarten, sondern frug kurz und bestimmt:
„Ist Onkel Gustav, Herr Assessor Kerner, zu Hause?“
Marie betrachtete ihren Gast noch immer verwundert von Kopf bis zu Fuß, und hatte dabei die Frage überhört. Die Kleine schien indessen mit dem Zünglein gut zu Fuß zu sein und wiederholte dieselbe schnell, indem sie gleich Weisung gab, das Gepäck im Vorzimmer niederzulegen.
Die junge Frau wurde dafür immer verlegener. Den Fall, daß sie Jemand Auskunft geben müsse über ihren beiderseitigen Verbleib, hatte sie noch gar nicht in Betracht gezogen.
„Ja – nein – er ist eigentlich verreist!“ stotterte sie endlich. „Auf der Hochzeitsreise!“
„Er ist – verreist?“ frug das junge Mädchen hocherschrocken zurück.
Und dabei war das Lachen, was der eigentliche Charakter ihrer Züge zu sein schien, schnell genug aus dem jungen Antlitz verschwunden.
„Ja, verreist – schon seit zwei Wochen.“
„Du lieber Gott, was soll ich denn nun anfangen?“
Der Ton klang klagend und anklagend zugleich. Ja, jetzt tropften sogar zwei Thränen die Wangen herab, die theils wirkliche Sorge, theils anspruchsvoller Eigensinn den Kinderaugen auszupressen schienen. Lachen und Weinen schien dem jungen Gaste gleich lose zu sitzen. Dennoch frug sie dreist weiter:
„Er kehrt aber bald zurück?“
Marie war in neuer Verlegenheit, was sie antworten sollte. Aber – welche Veranlassung hatte sie denn überhaupt, einer in’s Haus Geschneiten Rede zu stehen? Wo hinaus sollte denn das Ding? … Es kam über sie wie Unmuth.
„Ich muß zu ihm, ach Gott, er ist ja mein einziger Schutz! Ich habe Niemand als ihn!“ brach jetzt das junge Mädchen in wirkliche Klage aus.
Plötzlich schien Marie ein Licht aufzugehen. Hatte nicht die Kleine vom „Onkel Gustav“ gesprochen?
„Sie sind?“ frug sie.
„Käte Melzer.“
Die Sache war nun aufgeklärt, wenigstens theilweise. Das junge Mädchen war wirklich die Nichte und Mündel des Assessors, und zwar die hinterlassene Tochter seiner vor zwei Jahren verstorbenen verwittweten Schwester. Der Gatte hatte ihr oft von seinem hübschen Pflegling erzählt und wie er denselben einem renommirten großen Pensionat anvertraut habe.
Herzlich, fast mütterlich, streckte darum die junge Frau dem Gast jetzt die beiden Hände entgegen und zog ihn aus dem dämmerigen Vorzimmer an das milde, aber volle Licht des behaglichen Wohnzimmers.
„Seien Sie uns herzlich willkommen, liebe Käte,“ sprach sie mit Freundlichkeit, „doch ums Himmels willen – wie kommen Sie, wie kommst Du hierher?“
Das junge Mädchen hatte die Augen getrocknet und sah sich neugierig und fast ein wenig mißtrauisch um, bis ihr prüfendes Auge an einer halbverblichenen Photographie ihrer verstorbenen Mutter hängen blieb. … Sie war also wirklich an Ort und Stelle. Aber der Onkel war verreist. Und doch mußte sie zu ihm, dem einzigen Verwandten, um ihm ihr Herz auszuschütten. Wer mochte die junge Dame sein, die sie jetzt so freundlich empfing? Wahrhaftig – ungefähr ebenso hatte sie sich die neue Tante vorgestellt. … Aber das war ja unmöglich – sie waren ja Beide auf der Hochzeitsreise.
„Wann kehrt der – Onkel zurück?“ frug sie von Neuem, indem Besorgniß und Kummer abermals die Oberhand zu gewinnen schienen.
Marie war inzwischen zu raschem Entschluß gekommen. Sei der Zusammenhang wie er wolle: sie mußte ihre neue Verwandte unter allen Umständen jetzt bei sich behalten und Schwester- oder vielmehr Mutterstelle an ihr vertreten. Das Incognito ihres Aufenthaltes mußte ihr gegenüber fallen.
„Der Onkel ist ausgegangen und wird bald zurückkommen – ich bin die neue Tante – wir kennen uns schon par renommée.“
„Also doch!“
„Aber vor allen Dingen, wie kommst Du hierher?“
„Ach, das ist eine schreckliche Geschichte!“ rang es sich schwer aus der jungen Brust.
„Schreckliche Geschichte? Wieso?“
„Ach, ich kann’s nicht sagen – es ist unmöglich.“
In der jungen Frau stieg unwillkürlich ein neues Mißtrauen empor. Aber es schwand gar bald wieder vor der Unschuld und Treuherzigkeit, mit welcher Käte sie aus großen Kinderaugen anblickte. Dennoch – irgend ein kleines, pikantes Abenteuer war immerhin sehr wohl möglich. … Wenn sie auch selbst niemals in einem Pensionat gewesen war, so wußte sie doch durch ihre Freundinnen von allerlei allerliebsten kleinen Geschichten, die sich dicht unter den Augen selbst ganz gewissenhafter Lehrer dort zuzutragen pflegen.
„Irgend Jemand – ein Mann, vielleicht Dein Musiklehrer – hat Dir eine Liebeserklärung gemacht?“ sondirte sie deshalb.
„O nein, nein – wenn’s weiter nichts wäre!“
„So rede doch! Es wird so schlimm nicht sein!“
„Ach nein, ich kann’s nicht sagen. Es ist zu schlimm!“
Marie war mit ihrem Latein zu Ende und sprachlos. Da, zu guter Stunde, trat Gustav zurückkehrend ein, leise und vorsichtig, um nicht gehört zu werden.
Seine Ueberraschung über den unerwarteten Gast war durchaus nicht geringer, als die seiner Frau. Als stellvertretender Untersuchungsrichter verstand er das Inquiriren aber schon besser.
„Du bist ausgekniffen, Käte!“ sagte er mit aufgelegter Amtsmiene.
„Ja, nein – ausgekniffen nicht, aber davon gelaufen – [399] vor der ganzen Schule, ganz öffentlich, und mit Sack und Pack,“ räumte Käte beschämt ein.
„Weshalb, Kind?“
„Weil – weil – ach, es ist zu schrecklich, Onkel Gustav, ich kann’s nicht sagen, was wird die Tante von mir denken?“
Der Assessor runzelte jetzt mit wirklichem Ernste die Stirn.
„Rede, Käte,“ sagte er nicht unfreundlich, aber sehr bestimmt.
„Ich will Dir’s in’s Ohr sagen, Onkel Gustav.“
„Nun – meinetwegen!“
„Weil, weil – ich immer so großen – Hunger hatte!“
Der Assessor lachte laut.
„Und die Butterbrode waren zu klein?“
Käte nickte nur stumm.
„Das ist freilich in Deinem Alter ein Fehler. Trotzdem bist Du hübsch gewachsen, fast so groß, wie Deine liebe Mama war. Nun, vorerst bleibst Du hier – natürlich! – später werde ich Dich an einen Ort bringen, von dem Du mir nicht wieder davon laufen darfst! Von der Größe und Schwere der Butterbrode werde ich mich zu Deinem Troste indessen vorher überzeugen. Jetzt – hier – schneide sie Dir selbst, nach Deinem Geschmack.“
Auf Kätchen’s hübschem Gesichtchen war allmählich aller Sonnenschein der sechszehn Jahre zurückgekehrt.
„Ich darf also bei Euch bleiben,“ rief sie erfreut. „Ach, es ist so wunderhübsch hier. Aber warum habt Ihr alle Rouleaux herabgelassen? Es sieht ja aus, als ob Ihr nicht zu Hause wäret?“
„Das sind wir auch nicht!“ lachte der Assessor, „wenigstens nur für Dich. Das Andere verstehst Du nicht und brauchst Du nicht zu wissen.“
Mit Hülfe Herrn Ledermann’s, des Stiefelputzers, wurde in einem Hinterstübchen bald Quartier für den Gast geschaffen, woselbst sich Käte mit Cartons und Pappschachteln zu einem längern Besuche einrichtete. Der Assessor legte selbst Hand an, aber er war etwas nachdenklich geworden.
„Wir werden unser Incognito aufgeben müssen, liebe Marie,“ sagte er überlegend. „Der Wildfang schafft uns Unruhe im Hause, und wird uns am Ende verrathen. Spätestens übermorgen wollen wir die Eltern besuchen, auch werde ich mich noch heute dienstlich als wieder eingetroffen melden. … Unsere Zweisamkeit ist ohnehin gestört!“
Marie war zu verständig, um nicht die Ansicht des Gatten zu theilen. Sie sagte nur:
„Du hast Recht, wie immer!“
Wenn der Assessor in Betreff Kätchen’s überhaupt noch einen Zweifel gehegt hätte, so würde ihn der Appetit, mit dem sie beim Thee in das größte Butterbrod hineinbiß, eines Bessern belehrt haben.
Am andern Tage ging der Assessor ganz wie gewöhnlich seinen Geschäften nach. Auf dem Landgericht begrüßten ihn die Collegen natürlich als soeben zurückgekehrt, und da er die Zeit etwas versäumt hatte und die Parteien warteten, so ließ er sich alles ruhig gefallen. Ueberhaupt hatte er nicht die Absicht, sich in irgend welche Erklärungen oder Erörterungen einzulassen. Daß man sich auf einer Hochzeitsreise gut amüsirt, wird stillschweigend angenommen, und die es nicht gethan haben, pflegen es nicht zu sagen.
Mit Kätchen’s Beihülfe hatte Marie einstweilen ihr erstes Kochdebut gegeben. Und obgleich die Suppe aus Uebermaß an Liebe stark versalzen und die Sauce etwas angebrannt war, blieb der Assessor doch liebenswürdig genug es nicht zu bemerken. Später, beim Kaffeetrinken, malte man sich aus, wie man morgen wohl empfangen werden würde. Großmama würde vermuthlich die erste sein, die dem Entschluß des Zuhausebleibens Anerkennung zollte. … Morgen! So nah der morgende Tag, daß er uns fast die Stirn berührt, und doch kann jede einzelne Minute des spannlangen Zeitraumes ein Hinderniß bringen! Denn nur die kurze, gegenwärtige Minute ist ja unser Eigenthum! Schon über der allernächsten Zukunft schwebt eine dunkle Wolke, aus deren Schatten all die kleinen neckischen Zufallskobolde hervortauchen können, die uns ärgern und uns hohnlachend Steine zwischen die Füße rollen. Diese kleinen Zufälligkeiten sind die dienenden Geister und Helfershelfer des Weltenschicksals, aber die Tyrannen des Einzelnen, und kommen in mannigfachster Gestalt, unscheinbar und harmlos …
„Wird nicht schon wieder draußen geklingelt?“ frug die junge Frau, indem sie die hübsche, kleidsame Straßentoilette vor dem Pfeilerspiegel beendete.
Gustav war schon gegangen, um draußen nachzusehen, und kehrte alsbald mit – Vetter Fritz zurück. Seit gestern war er nach glücklich absolvirtem Examen von Heidelberg eingetroffen und wohnte wie immer im Hause seines Onkels, des Stadtraths, bei welchem er erzogen war. Cousin und Cousine waren wie Geschwister aufgewachsen und hatten sich vor Jahren, als Marie eben ihre Puppen in die Ecke gestellt hatte, natürlich sterblich in einander verliebt. Darüber war nun aber viel Wasser geflossen. Marie hatte Gustav kennen gelernt, und der Vetter war Student und ein flotter Bursch geworden, und damit nach seiner augenblicklichen Meinung das Höchste, wozu es ein Mann bringen kann. Was über diesen Gipfelpunkt des Lebens hinauslag, dünkte ihm schon Niedergang, Verfall. Dennoch war er selbst auf diesem Höhepunkte des Lebens mit der kleinen Cousine in verwandtschaftlicher, fast geschwisterlicher Liebe innig verbunden geblieben und kam, um sie wiederzusehen. Und zwar als neugebackener Doctor.
„Du hast uns doch nicht etwa verrathen, Fritz?“ frug Marie nach der ersten herzlichen Begrüßung.
„Zum Kukuk, ich werde doch nicht! Ueberdem ist die Idee classisch und nachahmungswürdig. Apropos, wer ist die junge Dame? Wollt Ihr nicht die Güte haben, mich vorzustellen?“
„Herr Studiosus med., wollte sagen: Herr Doctor Fritz Ruprecht, Fräulein Käte Melzer – unser erster Gast!“ stellte der Assessor das Paar einander mit Feierlichkeit vor.
„Laß ich mir gefallen – solch erster Gast ist glückbringend!“ meinte der neugebackene Doctor, indem er sich gegen die junge Dame verneigte.
Käte machte einen regelrechten Tanzstundenknix und erröthete bis zu den Simpelfransen herauf, die wie leichtgeschwungene dunkle Pinselstriche auf der hübschen Stirn lagen und sie reizend kleideten, indem sie ihre Bestimmung, „zu versimpeln“, dabei allerdings leider verfehlten. Unwillkürlich schlug sie mädchenhaft die blitzenden Augen nieder, denn die bebrillten Augen des jungen Doctors waren wie zwei scharfzielende Gewehrläufe minutenlang und fest auf sie gerichtet – sie fühlte fast den Blick.
„Doch ehe ich’s vergesse, Miezchen,“ wandte er sich endlich wieder an die Cousine, „ich habe nach Eurem Beispiel Eure Alten natürlich gleichfalls tapfer angelogen – hoffentlich werdet Ihr mit mir zufrieden sein!“
„Wie so?“ frug etwas beängstigt Marie.
„Nun, die Tante machte große Augen, als ich ihr erzählte, daß Ihr schwerlich vor sechs Wochen zurück wäret. Ich glaube, ich habe es ihr leidlich plausibel zu machen gewußt, daß Ihr Euch auch einmal den italienischen Frühling ansehen wolltet. … Nach Sicilien sind sie bestimmt, eulenspiegelte ich weiter, und der Merkwürdigkeit wegen vermuthlich auch auf kurze Zeit nach Algier hinüber –“
„Welcher Unsinn!“ warf Marie verdrießlich ein.
„‚Wenn man heutigen Tages nur einigermaßen mit Auszeichnung reisen will, so darf man sich eben kein nahes Ziel wählen, beste Tante‘, gab ich selbst dazu meine unmaßgebliche Ansicht, mit der sie indessen keineswegs einverstanden schien,“ fuhr Vetter Fritz unbeirrt fort. „Ihr braucht Euch also mit der Rückkehr keineswegs zu übereilen – Niemand erwartet Euch jetzt …“
„Sie werden also um so freudiger überrascht sein, wenn wir morgen antreten,“ sagte Gustav. „Es drängt mich jetzt fast dazu. … Jetzt, denke ich, machen wir aber unsern gewöhnlichen Spaziergang – die Damen sind ja bereits in Toilette.“
Draußen athmete Alles hochaufschlagende Frühlingslust. Es hat von jeher eine von allen Dichtern ausgebeutete Wechselwirkung zwischen Lenz und Liebe bestanden: auch Gustav und Marie vermochten sich ihr nicht zu entziehen. Der kleine Verdruß, den die Eulenspiegeleien des Vetters bei der jungen Frau hervorgerufen hatten, war schnell genug vergessen. Beide sehnten sich aus den Häusermassen der Vorstadt hinweg und schlugen gleich am Anfang der Promenade einen Nebenweg ein, der die Gärten und Häuser, welche sich an jener in ununterbrochener Reihe entlang ziehen, [400] seitwärts liegen läßt. Bald wurde es ein einfacher Feldweg. Zwei Wagen konnten einander nur ausbiegen, wenn jeder mit einem Rade empor holpernd den Ackerrand streifte … Dafür stieg aber die Lerche dort jubilirend und in unmittelbarster Nähe der Spaziergänger zum Himmel auf, als sei sie eine Botin der jungen Ehegatten und von ihnen abgesandt, dem Schöpfer ihren Dank zu bringen.
Am Wege lagen große Steine verstreut und Marie setzte sich darauf nieder, um die Veilchen zu ordnen, die sie unterwegs gesammelt hatte. Noch standen die blauen Frühlingsblümchen einzeln und frierend und sorgsam in schützendes Grün gehüllt am Rasenrain, aber Marie besaß das scharfe, echt weibliche Auge für das Kleine und hatte sie dennoch zu finden gewußt … Und da der Stein just eben für zwei groß genug war, so saß der Assessor bald neben ihr.
Aber auch das andere Paar, das vorausgeschritten war, hatte bald einen Platz gefunden, auf dem es mit einander ausruhen konnte.
Zuerst hatte der Vetter gemeint, daß ihn Cousine Marie unverantwortlich vernachlässige, noch mehr als bei seinen verschiedenen Ferienbesuchen während ihres Brautstandes. Aber schon nach einer Viertelstunde war ihm die Vernachlässigung sehr angenehm. Käte plauderte so allerliebst und sah dabei noch allerliebster aus. Auch war es nur seine Schuldigkeit, dem armen Kinde, das niemals „Dritte im Bunde“ war, die Zeit etwas zu vertreiben. … Er erzählte von der lustigen Heidelberger Studienzeit, und der junge Doctor, der mindestens zur Hälfte noch in den Burschenstiefeln steckte, sprach gewohnheitsmäßig dabei ganz commentmäßig, ohne zu bedenken, daß man sich auf solche Weise eben nicht mit jungen Damen zu unterhalten pflegt. … Aber Käte begriff ihn vollkommen. Sie wußte sofort, was „ochsen“ und „Silentium“ heiße, und daß das „Kameel“, von dem ihr Begleiter redete, zweibeinig sei, und verstand ihn überhaupt wie ein „Commilitone“.
„Wo sind die Kinder? Erst haben sie’s so eilig und laufen eine Meile voraus, und nun gehen sie wieder so langsam, daß sie zurückbleiben,“ frug Marie auf dem Nachhausewege. „Sie haben sich doch nicht etwa verkrümelt?“
„Dort sind sie ja – kaum zehn Schritt. Käte strahlt vor Vergnügen über den ersten Courmacher. Ich hoffe wenigstens, daß es der erste ist. … Wenn ich übrigens nur erst wüßte, was ich eigentlich mit dem Wildfang anfangen soll!“
Marie, die sich umgesehen und die Aufmerksamkeit bemerkt hatte, mit welcher der junge Mann seine Partnerin unterhielt, sagte lächelnd:
„Frag den Vetter, der ‚Doctor‘ wird Rath wissen!“
„Treffe ich Dich auf der Fährte?“ lachte laut der Gatte. „Willst Du Heirathen stiften? … Erst jetzt weiß ich bestimmt, daß Du glücklich bist,“ setzte er mit einem verstohlenen Händedruck hinzu. „Was meinst Du dazu, wenn ich das Kind Tante Bertha übergebe?“
„Der Gedanke ist vortrefflich!“
„So läßt sich die Sache vielleicht schon morgen arrangiren?“
„Ich zweifle nicht daran,“ entgegnete Marie mit Ueberzeugung. „Ich werde schon morgen mit Tante Bertha sprechen.“
Mittlerweile war man wieder in die Stadt gelangt. Vor einem stattlichen Kaufladen blieb der Assessor einen Augenblick stehen und frug:
„Wollen wir nicht Fritzens ‚Doctor‘ heute Abend durch eine Maibowle feiern?“
„Gern!“
„Nun, so werde ich ganz hausväterlich selbst Waldmeister und Apfelsinen hier einkaufen. Gehe Du einstweilen mit dem Pärchen dort voraus, um die Gläser zurecht zu stellen.“
„Ich sage Dir, Alter, es sind Ratten zwischen dem Gebälk.“
„Nein, es sind keine Ratten!“
„Was soll’s denn sonst sein?“
„Weiß ich’s? Ratten und Mäuse sind’s aber nicht, wenigstens keine vierbeinigen.“
„Schon seit einigen Tagen hab’ ich’s gehört. Noch erst gestern Abend – Du schnarchtest schon wie eine Baßgeige – hört’ ich deutlich Spectakel von oben herab – es schleppte etwas über den Dielenboden der Zimmer im ersten Stocke. Ich schrie laut auf – Du aber schnarchtest weiter. … Da lief mir die Gänsehaut über den Rücken, und ich steckte den Kopf unter die Decke. Wenn’s keine Ratten und Mäuse sind, so – spukt’s!“
„Unsinn! – Gegen Gespenster, die mit Stiefeln und derb wie Unsereiner umhergehen – hörst Du’s, Alte? wie jetzt eben wieder – hilft am besten die – Polizei.“
„Willst Du sie holen?“
„Erst will ich selbst nachsehen. Warte mit dem Schlafengehen, bis ich zurückkomme, vielleicht muß ich wirklich noch zur Polizei.“
Dabei hatte der würdige Herr Nährkorn, Vicewirth der großen Miethscaserne, in welcher Assessor Kerner seine Familienwohnung gemiethet hatte, die kleine scharfleuchtende Handlaterne angezündet und einen derben Krückstock zur Hand genommen. Der Stock war ursprünglich der handfeste Stiel eines armen, von Wind und Wetter zerzausten Parapluies, denn Herr Nährkorn war eigentlich seines Zeichens ein ehrsamer Schirmmacher und gewissermaßen selbst ein Entoutcas, der es vortrefflich verstand, den Hausbewohnern gegen klingendes Douceur allerlei kleine Dienste zu leisten und sie vor Unannehmlichkeiten und Gefahren, als da sind: Bettler und Vagabonden etc., „zu beschirmen“ … Und so that er auch jetzt nur seine Schuldigkeit, wenn er dem wiederholten unerkärlichen Lärme oben in der Wohnung des neuen, aber abwesenden Herrn Miethers nachzuspüren ging. Selbst der vorsorglichen Gattin, der mit einem Male wieder ganz „gruselig“ wurde, würde es schwerlich gelungen sein, ihn von dem Wagnisse abzuhalten.
In der Sommerfrische.
Der Tag ist bereits erschienen, an dem die Sonne in das Zeichen des Krebses getreten ist und den Anfang des Sommers verkündet hat.
Das wohlbekannte reactionäre Wahrzeichen in dem himmlischen Thierkreise scheint zu dieser Zeit auch auf die Menschheit zu wirken und ruft alljährlich eine kleine rückschrittliche Bewegung im Leben der Völker hervor. Die Cultur des neunzehnten Jahrhunderts ist unter Anderem auch dadurch besonders charakteristisch, daß sie die großen Städte ungeahnt schnell wachsen läßt und das platte Land entvölkert. Nur im Beginn des Sommers wird ihr Lauf geändert, auf wenige Wochen entvölkern sich die Städte, eine Völkerwanderung in entgegengesetzter Richtung greift um sich, aus der Gassen bedrückender Enge fliehen Tausende in Gottes freie Natur. Doch diesem Siege des Krebszeichens werden keine Thränen nachgeweint, jubelnd vielmehr begrüßt ihn die Menschheit, denn das ist wahrlich eine „gesunde Reaction“, deren Zeugen wir werden.
Und welche Ziele hat sich dieser buntgemischte Menschenschwarm gesteckt?
Die vornehmsten unter diesen Reiselustigen sind ohne Zweifel die Touristen von Fach. Sie führen sich manchmal sogar als „Weltbummler“ auf, und ihr Reisedrang ist erst dann befriedigt, wenn sie rund um die Erde gesegelt und gefahren sind. Doch mit ihnen können wir uns hier nicht befassen, ihnen genügt nicht ein Sommer zur Ausführung ihrer Pläne. Die übrigen Touristen suchen mit Vorliebe das Hochgebirge auf, die Alpen und die Karpathen sind das Ziel ihrer Wünsche, wo sie auf den höchsten Gipfeln ihre Fahnen aufpflanzen. Die Zahl dieser Herren ist größer, als man gewöhnlich denkt; belehrt uns doch die Statistik, daß allein die deutschen Touristenvereine über 40,000 Mitglieder zählen.
Einem anderen Ziele streben diejenigen entgegen, die aus gesundheitlichen oder Mode-Rücksichten die zahlreichen Orte aufsuchen, an welchen aus den Spalten und Klüften der Erde heilende [401] Quellen springen oder an denen die brandende See ihre Wogen bricht. Das sind die Badereisenden aus Noth und Lust, und ihre Zahl ist noch gewaltiger. Mustern wir nur flüchtig die Curlisten der verschiedensten Bäder unseres Vaterlandes, die Summe der Curgäste wird sich wohl auf Hunderttausende belaufen.
Aber weit größer ist noch die Schaar Derjenigen, die einfach der Stadt den Rücken kehren, um lediglich in frischer Waldluft Erholung von den Strapazen der Arbeit zu suchen. Das sind Sommerfrischler, über welche uns keine Statistik vorliegt, die aber, wie Jeder es aus eigener Erfahrung weiß, sich in dem Zeitalter [402] der billigen Eisenbahnfahrten vermehren wie Sand am Meere und Sterne am Himmel.
Der Tourist pflegt mit einem ganzen Apparate an Hülfsmitteln zu reisen, er führt den Rucksack, den Eispickel, die Schneekamaschen u. dergl. mit sich; der Badereisende gelangt unter ärztliche Obhut und muß nach strengen Vorschriften seine Lebensweise regeln; nur der Sommerfrischler rückt ohne bestimmte Ordre in’s Feld. Er ist an keine Rücksichten gebunden und freut sich seiner Freiheit.
Und doch sollte gerade er nicht vergessen, daß auch das Leben in der Sommerfrische so eingerichtet werden muß, daß er auch wirklich den Zweck der Reise erreicht, den Körper von Neuem stärkt und die etwas getrübte Geistesfrische wiedererlangt. Die Sache ist an und für sich so einfach, daß die Meisten den richtigen Weg instinctmäßig finden. Wer aber öfters Sommerfrischen besucht hat, der weiß auch, daß es leider gar viele Ausnahmen von dieser Regel giebt, und an diese ohne ihr Wissen Fehlenden mögen unsere Worte gerichtet sein.
Da sehen wir zunächst Familien, die gleich bei der Wahl des Ortes schwere Fehler begehen. Die Reise wird namentlich wegen der Frau und der Kinder unternommen. „Wohin wenden wir uns?“ wird im Familienrathe gefragt. „Doch nicht in ein kleines Gebirgsnest,“ lautet die gedrückte Antwort. „Dort fehlt es an allem Comfort, dort wird das Essen auch nicht gut sein.“ „Aber in ein Bad brauchen wir nicht zu reisen,“ erhebt sich von anderer Seite der Einwand. „Die Bäder sind theuer, und wir können unsern Zweck mit billigeren Mitteln erreichen.“ – „Ja, an ein renommirtes, großes Bad denke ich auch nicht,“ entgegnet die lebenslustige Hauspartei. „Es giebt aber so viel Orte, die gerade ein Mittelding zwischen einem Bade und einer Sommerfrische bilden, wo auch die Gegend schön ist und alle Bequemlichkeiten der großen Stadt nicht fehlen. Ein solcher Ort wäre für uns wie geschaffen.“
Und diese Partei siegt. Man fährt in irgend einen Ort, der womöglich das Rendez-vous der fashionablen Welt bildet, der nicht durch seine Bade-Anstalten, sondern lediglich durch den mehr oder weniger großen Comfort seiner Einrichtungen berühmt ist. Die lebenslustige Partei des Hauses amüsirt sich und sieht nicht die Schattenseiten eines derartigen Aufenthaltes. Man sollte denken, daß für die Kinder vor allem ein ungebundenes freies Austummeln in Wald und Flur nöthig wäre. In dem gewählten Orte geht aber dies nicht gut an. Es schickt sich nicht, daß die Kinder frei umherlaufen, Hans darf nicht etwa einmal mit zerrissener Hose heimkehren, und Gretchen muß hübsch manierlich und gemessen spazieren gehen, das verlangt man von einem Mädchen. Nur den allerkleinsten Familienmitgliedern, die noch im Sande spielen, bleibt ihr Vergnügen unbenommen, sonst ist dieser Sommeraufenthalt für Mama und die anderen Kinder weiter nichts, als eine forcirte Toiletten-Parade.
Schließlich kommt die Familie müde und abgespannt von der Reise wieder, und nun heißt es: „Gott sei Dank, daß wir wieder da sind! Wie schön ist es doch daheim!“
Ja, warum hat der verehrliche Familienrath nicht einen anderen Beschluß gefaßt? Warum zog man nicht in eine Sommerfrische, in welcher Familien ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben, welche auf den „Staat“ wenig achten und nur vernünftiger Weise ihren Kindern und ihrer Gesundheit leben? Hans hätte mehr gesehen und wäre kräftiger bei guter gesunder Hausmannskost geworden, Gretchen hätte wohl ein blühenderes Gesichtchen heimgebracht, und Mutter und Vater hätten im Schooße der Familie die wahre, einzige Erholung gefunden, welcher sie bedürfen.
Wir haben im Leben hundert Mal diesen Fehler begehen sehen, und sind da nicht die Worte berechtigt:
Junge Mütter, die ihr in der Gesellschaft noch glänzen wollt, spart die Toilette für den Winter in der Stadt auf, dort im Theater, auf den Bällen und in Concerten bringt der Mode Opfer. Wenn ihr aber die Stadt verlassen habt, um in freier Natur Erfrischung und Neubelebung zu suchen, so werfet alles Gekünstelte und Gemachte von euch ab und lebt naturgemäß und ungebunden. Ihr gebt etwas auf den Schein. So bedenkt, daß keine Anmuth reizender erscheint als die, welche uns das freie natürliche Leben verleiht.
Hat man wirklich die echte und rechte Sommerfrische gewählt, so ergiebt sich der naturgemäße Lebenswandel von selbst. Trotzdem aber wollen wir an dieser Stelle einige Rathschläge für den Sommerfrischler im Gebirge ertheilen, die wir dem anerkennenswerthen Büchlein „Handbuch des alpinen Sport“ von Julius Meurer entlehnen:
Der Sommerfrischler soll früh aufstehen und sieben Uhr als die späteste Stunde der Reveille annehmen, so schnell als möglich soll er hinaus in’s Freie eilen, denn die würzige balsamische Luft des frühen Morgens ist das köstlichste Heilmittel für einen geschwächten, gestörten Organismus, und für zerrüttete und irritirte Nerven giebt es schwerlich ein stärkenderes, kräftigenderes Mittel als solche frische freie Morgenluft im Hochgebirge. Befindet man sich an einem See, so soll man für den Morgenspaziergang die Nähe des Sees meiden und aufwärts, womöglich etwas abseit des Sees, mehr der Höhe zueilen, um über jene feuchte Dunst- und Nebelschicht, die sich Morgens stets über jeden See ausbreitet, zu kommen. Nach einem Spaziergange von ein bis zwei Stunden, je nach der Individualität, kehre man nach Haus zurück – ein frugales zweites Frühstück wird jetzt schon ganz willkommen sein. Gegen elf Uhr unternehme man eine kleine Promenade und zwar entgegen dem Morgenspaziergange, der stets in lebhaftem energischem Schritte ausgeführt werden sollte, gehe man gegen Mittag ganz con amore, sozusagen bummelnd, am besten im Walde auf und ab. Die Sonne steht jetzt im Zenith und die harzige Atmosphäre der Nadelwälder kommt alsdann am besten zur Geltung, und auch diese ist ja von so vorzüglichem Einflusse auf den Organismus; ohne echauffirt zu sein, wird man somit zwischen 12 und 1 Uhr zum Speisen gehen und gewiß eines guten Appetits nicht ermangeln.
Nach dem Speisen halte man getrost die beliebte Siesta, am besten im schattigen Waldesdunkel, nach Belieben aber auch im Zimmer. Um 3 Uhr aber möge man wieder zu einem tüchtigen Spaziergange bereit sein.
Hat man nun Nachmittags einen mehrstündigen tüchtigen Spaziergang gemacht, dann verbringe man den Abend nach Belieben; ist man frühzeitig aufgestanden und hat man sich durch die verschiedenen Spaziergänge jene wohlthätige körperliche Ermüdung geholt, so wird man ohnehin das Lager nicht allzu spät aufsuchen, und der Schlaf wird dann auch nicht auf sich warten lassen.
Correspondenz, Romane lesen und dergleichen wichtige oder unwichtige Dinge verschiebe man getrost auf die Regentage, die ja leider niemals ausbleiben. Die schönen sonnigen Tage aber nütze man in oben angedeuteter Weise aus, und ein so verbrachter Aufenthalt von drei, vier, fünf oder mehr Wochen in hoher Gebirgsluft wird ganz bestimmt nicht allein von den wohlthätigsten Folgen begleitet sein, sondern auch noch herrlichen und reichlichen Genuß bieten.
Daß er möglichst vielen unserer Leser zu Theil werde, das wünschen wir ihnen von Herzen am heurigen Sonnenwendtage.
Eine neue classische Stätte Alt-Weimars.
Die classische Literaturepoche, die in Weimar ihren Mittelpunkt hatte, hat die Stadt an der Ilm, ihr Schloß und ihren Park, ihr Goethe- und Schiller-Haus, ihre Bibliothek etc. für alle Zeit zu classischen Stätten reicher Erinnerungen geweiht. Ihnen reiht sich jetzt in treuer Wiederherstellung eine neue an, die um so bedeutungsvoller uns erscheinen muß, als sie das Wesen, Leben und Walten der Begründerin des Musenhofs, der geistvollen und liebenswürdigen Herzogin Anna Amalia, uns lebendig veranschaulicht.
Wendet man sich vom Schiller-Hause dem Theater zu, so erblickt man ein die Schiller-Straße abschließendes alterthümliches Gebäude, dessen Seitenflügel den Theaterplatz begrenzt und dessen Dach mit Urnen und einer Amorettengruppe geschmückt ist. Vor hundert Jahren war die Umgebung des Hauses freilich eine [403] wesentlich andere als heute. Damals schloß sich an dasselbe ein freundlicher Garten. Damals stand auch von den Häusern dem Schiller-Hause gegenüber noch kein einziges, es floß vielmehr dort im „Schützengraben“ der Bach offen dahin, und mit mehreren Baumreihen besetzt zog sich an dem nachmaligen Wohnhause Schiller’s vorüber die „Esplanade“ bis zu jenem Hause, das damals noch neu war und zu den ansehnlicheren Gebäuden der kleinen Stadt gehörte. Der Geheime Rath von Fritsch hatte im Jahre 1767, als er sich vermählte, zum Empfange seiner jungen Gattin das Haus erbaut. Als aber am 6. Mai 1774 das Residenzschloß ein Raub der Flammen geworden war, beeilte er sich, seiner verehrten Herzogin dieses Haus zur Verfügung zu stellen, Während der Erbprinz Karl August das neu erbaute und noch unvollendete Landschaftshaus, welches später Fürstenhaus genannt wurde, zu seiner Wohnung wählte, bezog die Herzogin das Haus an der Esplanade und fand sich dort bald behaglicher, als vorher in den weiten Räumen der Wilhelms-Burg. Sie behielt diese Wohnung auch dann, als sie im nächsten Jahre die Regierung in die Hände des Sohnes legte, ja sie hat dieses Haus, welches seitdem den Namen Witthums-Palais führte, fast dreiunddreißig Jahre lang bis zu ihrem Tode bewohnt.
Wohl pflegte sie im Frühling und Sommer meist in Ettersburg und Tiefurt zu verweilen, wo in Frohsinn und Ungezwungenheit, von Liebhabertheater und geistigem Verkehr belebt, die Tage und Wochen idyllisch dahinflossen. Die übrige Zeit des Jahres aber brachte sie, fern aller Einmischung in die Staatsgeschäfte und frei von äußerem Zwang und lästigen Förmlichkeiten, zu Weimar in der einfachen Häuslichkeit dieses Palais bei heiterer Geselligkeit zu.
Obgleich als Braunschweiger Prinzessin nach der damaligen Sitte der Höfe in Vorurtheil gegen alles Deutsche erzogen, aber im Umgang feingebildeter Menschen aufgewachsen, hatte sie sich, neben ihrer echten Humanität, neben inniger Freude an der Natur und warmer Liebe zu Kunst und Wissenschaft, zugleich einen deutsch-nationalen Sinn und lebhafte Sympathie für nationale Geistesentwickelung bewahrt. So war sie einst in die Residenzstadt an der Ilm eingezogen, so hatte sie, die junge Wittwe, als Vormünderin und Regentin, während sturmbewegter Zeit segensreich gewirkt, so mit schöpferischem Geiste aus dem damaligen, an Kleinstädtern reichen, an geistigem Interesse armen Weimar unter Heranziehung bedeutender Männer, vor allem Wieland’s, einen Musensitz geschaffen, der die Augen von ganz Deutschland auf sich lenkte. Jetzt von den Regierungssorgen befreit, konnte sie sich in stiller Zurückgezogenheit der Pflege der Künste und Wissenschaften, und insbesondere ihrer leidenschaftlichen Liebe zu Musik und Literatur ganz und voll hingeben. Sie that es mit der ihr angeborenen Lebhaftigkeit, Liebenswürdigkeit, Lebenslust und Milde, und wurde mit ihrem großen Sohne das Centrum jenes Kreises genialer Geister, welche Karl August in Weimar versammelte. Mit Recht konnte daher Wieland in einem noch ungedruckten vertrauten Briefe an seinen Schwiegersohn, den berühmten Philosophen K. L. Reinhold, vom 4. September 1802 von der Herzogin Amalie sagen: „eine Bessere in ihrer Art und von ihrem Stande giebt es wohl schwerlich auf diesem Erdenrund.“ Mit Recht konnte er von ihr singen:
„Sie würd’ als Schäferin
Die Flur entzücken;
Sie würd’ als Königin
Die Welt beglücken;
Doch immer würd’ in ihr
Sie selbst geliebt.“
Goethe charakterisirt sie ebenso treffend wie kurz als „vollkommene Fürstin mit vollkommen menschlichem Sinn und Neigung, zum Lebensgenuß.“ In Ettersburg, in ihrem Tiefurt und im Witthums-Palais wurde und blieb sie der Mittelpunkt der seltensten Vereinigung von Männern und Frauen, die ohne Ansehen der Geburt nur durch Geist und Gemüth allein Hoffähigkeit und Zutritt bei ihr fanden. Die vertrautesten von allen aber waren die geistvolle Hofdame Fräulein von Göchhaufen und Wieland, zumal erstere mit im Palais und letzterer seit 1803 in der Nähe desselben wohnte.
„Ich bin,“ schrieb der gute Alte an Reinhold, „von der Herzogin Amalie kaum dritthalbhundert Schritte und vom Komödienhause nur fünfzig bis sechszig entfernt.“
Von seinem Fenster aus konnte er seine Fürstin in den Gartenanlagen am Palais lustwandeln sehen. Der feinsinnige Gelehrte und Dichter stand mit ihr seit seinem Eintritt in Weimar und bis zu ihrem Tode in lebhaftem Gedankenaustausch, wie über antike Werke so über die modernen Literaturerscheinungen.
Das Palais mit seiner Pflege der Künste, mit seinen edeln geselligen Freuden sollte aber auch gar trübe Tage erleben, und diese Tage sollten für die Herzogin verhängnißvoll werden. Am 14. October 1806, dem Tage der Jenaer Schlacht, verließ auf inniges Bitten der edeln regierenden Herzogin Louise die Herzogin-Mutter Amalie mit ihrer Enkelin Prinzessin Karoline die Stadt Weimar und flüchtete über Erfurt und Göttingen nach Kassel. Von Sehnsucht getrieben, kehrte sie am 30. October nach Weimar zurück. Sie fand das schwerste Unglück und Elend vor. Zwar hatte das Palais selbst, da es bald eine Sauvegarde bekam, während der brutalen Plünderung der Stadt wenig gelitten, nur die dort aufbewahrten Kunstschätze und die Kellervorräthe waren von der Einquartierung theilweise geschädigt. Aber die ganze furchtbare Katastrophe, das grenzenlose Unglück, das über Deutschland und zumal über Weimar und über ihre eigene Familie so plötzlich hereingebrochen war, hatte die Herzogin auf das Tiefste erschüttert. Hören wir Goethe’s rührenden Bericht:
„In diesen letzten Zeiten, da der unbarmherzige Krieg uns endlich und sie ergriff, da sie, um eine herzlich geliebte Jugend aus dem wilden Drange zu retten, ihre Wohnung verließ, eingedenk jener Stunden, als die Flammen sie aus ihren Zimmern und Sälen verdrängten, nun bei diesen Gefahren und Beschwerden der Reise, bei dem Unglück, das sich über ein hohes verwandtes, über ihr eigenes Haus verbreitete, bei dem Tode des letzten einzig geliebten und verehrten Bruders, in dem Augenblick, da sie alle ihre auf den festesten Besitz, auf wohlerworbenen Familienruhm gebauten jugendlichen Hoffnungen, Erwartungen von jener Seite verschwinden sah: da scheint ihr Herz nicht länger gehalten und ihr muthiger Geist gegen den Andrang irdischer Kräfte das Uebergewicht verloren zu haben. Doch blieb sie noch immer sich selbst gleich, im Aeußeren ruhig, gefällig, anmuthig, theilnehmend und mittheilend, und Niemand aus ihrer Umgebung konnte fürchten, sie so geschwind aufgelöst zu sehen. Sie zauderte, sich für krank zu erklären, ihre Krankheit war kein Leiden, sie schied aus der Gesellschaft der Ihrigen, wie sie gelebt hatte.“
Am 10. April 1807 entschlief sie, und der geistvolle Fernow sprach nur das allgemeine Gefühl aus, als er dem Ausdruck der tiefsten Trauer die Worte beifügte: „Sie wußte den Fürsten und den Menschen in sich zu vereinigen. Sie zog die besseren Geister an, wo sie sie fand. Wir wollen uns glücklich preisen, daß wir in dieser Zeit gelebt und diese Fürstin gekannt haben; eine bessere sehen wir nicht wieder, auch ihres Gleichen nicht.“
Das Witthums-Palais stand verwaist. Die Räume desselben dienten zeitweise der Loge, eine Zeit lang dem Landtag und dessen Präsidenten, später dem Lese-Museum, und Weimars größter Künstler, der Landschaftsmaler Friedrich Preller, schuf hier, von echter Kunst und homerischem Geiste beseelt, jene einzig-schönen Odyssee-Bilder, deren Ausführung das Weimarische Museum als dessen höchste Zierde schmückt. Viele Gegenstände, die einst diese Räume gefüllt hatten, waren in andere Schlösser und Kunstsammlungen, sowie in das Theater übergegangen. Doch die ehemalige Wohnung der Herzogin Amalie sollte in all der alten traulichen und behaglichen Einrichtung, als treues Bild ihrer Zeit neuerdings wieder erstehen. In pietätvoller Verehrung für seine Ahnin und die klassische Weimarische Epoche, deren Mittelpunkt sie mit ihrem großen Sohne war, hat der Großherzog Karl Alexander seit den letzten Jahren die Wiederherstellung des Witthums-Palais in den Zustand, als Anna Amalie es bewohnte, betrieben und hat mit genauer Kenntniß der Einzelheiten Alt-Weimars unter Beistand des Hausmarschalls Grafen Wedel diese schwierige Ausgabe gelöst. Aus den großherzoglichen Schlössern, den Kunstsammlungen und dem Theater sind fast alle die Möbels und Bilder, die zu Amaliens Zeit deren Wohnräume schmückten, wieder herbeigeschafft und, so weit möglich, treu dem damaligen Standort wieder ausgestellt und geordnet worden. So geben nun diese Zimmer uns wieder ein Gesammtbild von dem Heim, in welchem Herzogin Amalie einst gelebt und gewaltet hat. Mit dankenswerther Munificenz ist auch diese neue klassische Stätte Alt-Weimars dem Besuche des Publicums geöffnet. Treten wir ein!
[404] Ein freundlich helles Treppenhaus empfängt uns, in welchem durch sinnig angebrachte Medaillonbilder das Andenken Friedrich Prellers gefeiert wird. Wir gelangen zunächst in das Speisezimmer der Herzogin. Mit der grünen Holztäfelung, den grünen Vorhängen und gleichfarbigen Stühlen, den großen Wandleuchtern, dem schwarzen, eine Büste tragenden Ofen und dem alten, mit der Abbildung einer Ilm-Partie gezierten Ofenschirm macht dieses Zimmer einen gemüthlichen, anheimelnden Eindruck. Auf einem marmornen Spieltische stehen alte schöne Armleuchter, auf einem andern Tische eine große Urne, auf dem Tische vor einem Spiegel ein kleiner Obelisk, kleine Urnen, bronzene Figuren und andere Tafelaufsätze und Nippsachen, die zum Theil wohl die Herzogin von ihrer italienischen Reise heimgebracht hatte. Die eine Wand wird von einem sehr anmuthigen und schönen Kniebild der Mutter der Herzogin geschmückt.
Die unbegreifliche Kälte und Abneigung, welche die Mutter gegen ihre Tochter bekundete, hat diese mit Liebe und liebevollem Andenken erwidert. Der Hauptschatz dieses Zimmers aber ist das prächtige Bild des jugendlichen Friedrich’s des Zweiten, welches der große Preußenkönig selbst seiner Nichte, der Herzogin Amalie, geschenkt hat. Es stellt ihn in blauem Kleide, mit Stern, an einem Tische stehend, dar.
Es dürfte kaum ein zweites Bild existiren, welches Geist, Genie und Charakter des jungen Königs so treffend wiedergiebt wie dieses. Der Herzogin war es lieb und theuer, und mit freudigem Stolze pflegte sie dasselbe den sie Besuchenden zu zeigen.
Die beiden folgenden, in rother Seide und rothen Möbeln elegant ausgestatteten Zimmer versetzen uns mitten in den Kreis der bedeutenden Persönlichkeiten, die den Weimarischen Musenhof bildeten.
In dem nächsten, dem Empfangszimmer, finden wir ein treffliches Bild des durch seine launigen Dichtungen, seine Liebenswürdigkeit und Zerstreutheit bekannten Freundes der Herzogin, des Oberhofmeisters von Einsiedel, in den Ecken Büsten von Knebel’s und des Fräuleins von Göchhausen. In dem folgenden, dem Dichter-Zimmer, die Portraits Wieland’s, Goethe’s, Herder’s und Schiller’s, in einer Ecke eine Büste Karl August’s als Knabe, und an der Hauptwand ein großes, reizendes Bild der Herzogin selbst. In weißem Atlaskleid sitzt sie lesend neben dem Clavier, während ihr kleiner Hund an ihr in die Höhe springt. Mit ihren großen, geistreichen Augen sieht sie vom Buche auf und den Beschauer so lebhaft an, als wenn sie in Wirklichkeit lebte.
Wie einfach sie lebte, veranschaulicht in wahrhaft rührender Weise das anstoßende Gemach, es ist das Schlaf- und Sterbezimmer der Herzogin. Die Wände mit grüner Seide bedeckt und mit den Bildern der nächsten braunschweigischen und weimarischen Verwandten geziert, auf einem halbrunden sogenannten Kommodchen eine alterthümliche Uhr und Nippsachen, hat dieses kleine Zimmer den Charakter des Inniges und Traulichen. In einer Nische ein einfaches Bett (ehemals als Himmelbett eingerichtet), daneben auf einem Tischchen ein Paar rothe, gestickte Schuhe der Herzogin, mit den damals üblichen hohen Absätzen, über dem Bett ein kleines Bild ihrer Mutter und ihm gegenüber die Bilder ihrer Kinder: ein allerliebstes Bild Karl August’s als Kind, ein Bild von ihm als Militär und ein Portrait ihres in den Jugendjahren „von der Parze entrissenen“ Sohnes, des Prinzen Constantin, dem die trauernde Mutter im Tiefurter Park ein Denkmal errichtet hat. Wenn sie Morgens die Augen öffnete, fiel ihr erster Blick auf die Bilder ihrer lieben Kinder.
Neben dem Schlafzimmer befindet sich das ebenso enge wie einfache Toilettenzimmer. Zahlreiche kleine Masken- und Costümbilder, historisch interessante Darstellungen der Ruinen des niedergebrannten Weimarischen Schlosses, italienische Landschaften u. dergl. m. zieren das Gemach. Ein Kniebild der Herzogin zeigt sie im reiferen Alter, in Morgen-Toilette, mit ernstem Gesichtsausdruck. Es finden sich ferner hier ein sehr hübsches Wachs-Relief Karl August’s, eine Silhouette der Herzogin und in einem Glaskasten ein Fächer von ihr, ihr Spazierstock und zahlreiche andere Reliquien.
Wir treten auf den schmalen Corridor heraus. Die Wände desselben sind mit kleinen Landschaften, z. B. Ansichten vom „Stern“ im Weimarischen Parke, namentlich aber mit Portraits der Damen geschmückt, mit denen als den Zierden des Musenhofs die Herzogin so gern verkehrte. Jedem Besucher werden zwei Gemälde unvergeßlich bleiben, die hier gegenüber hängen. Auf der einen Seite die höchste Zierde des fürstlichen Liebhabertheaters, die erste Iphigenie, Goethe’s Freundin und Geliebte, die große und edle Künstlerin Corona Schröter, in anmuthiger Schönheit, in weißem, blauverziertem Gewande, den Kopf leicht auf die klassisch schöne Hand gestützt, im reichen Haare geschmackvollen Perlen- und Federschmuck. Sie war die Hof- und Kammersängerin der Herzogin Amalie. Ihr gegenüber das musterhaft gemalte Portrait einer andern berühmten Frau der weimarischen Glanzepoche: eine Dame von üppiger, vollerblühter Schönheit, mit blondem, leicht gepudertem Haare, mit blauen Altgen voll Geist und sinnlichem Reize und mit lächelndem Munde. Es ist die Geliebte Schiller’s, welche auf den Dichter und seine Dichtungen so starken Einfluß geübt hat, welche auch in der Gesellschaft regelmäßig ihren Platz neben ihm hatte, welche auch bisweilen von Herzogin Amalie gemeinschaftlich mit Schiller, wie zwei Personen, die nun einmal zu einander gehören, nach Tiefurt eingeladen wurde – es ist die Freundin Goethe’s, Herder’s, Jean Paul’s, die ebenso geistreiche als tiefunglückliche Frau Charlotte von Kalb.
Wenden wir uns nach dem oberen Stocke des Hauses, so gelangen wir in drei Zimmer, in denen die Herzogin dem geistigen Verkehre und der Pflege der Künste sich hingab, ein jedes in seiner Art von besonderer Bedeutung. Das erste, der sogenannte Ecksalon, in elegantem Blau gehalten, hat ein noch wohlerhaltenes Deckengemälde von Oeser. Schöne Vasen mit Leuchter schmücken das Zimmer; das werthvolle Bild eines englischen Malers, die Rückkehr Friedrich’s des Zweiten und seiner Generäle von der Parade darstellend, und mehrere Familienbilder zieren die Wände. Besonders aber erfreuen uns prächtige italienische Landschaften, z. B. der Wasserfall des Belino bei Terni u. a. m. Sie gehören wohl mit „zu den Bildern und Zeichnungen, welche die Herzogin aus Italien als ewig süße Erinnerungen der schönen da verlebten Zeit mitgebracht hatte“, und welche Sophien von La Roche, der sie dieselben gezeigt, nachher zu dem Ausrufe veranlaßten: „wie viel Geist und Geschmack des Wahren, Großen und Schönen liegt in der Auswahl der Gegenstände dieser Bilder und Zeichnungen!“
Frau von La Roche gedenkt auch eines „prächtigen, in der feinsten und vollkommensten Mosaik gearbeiteten Gemäldes des Triumphbogens von Constantin“, das Papst Pius der Sechste der Herzogin zum Andenken geschenkt habe. Leider scheint dies Kunstwerk unter den jetzigen Kunstschätzen des Palais nicht enthalten zu sein. Wir werden durch ein schönes Medaillonbild Goethe’s, „von J. Ph. Melchior nach dem Leben modellirt 1775“, durch viele reizende Gegenstände aus der Zeit Alt-Weimars entschädigt. Manche davon waren als Andenken an die Herzogin in Privatbesitz übergegangen und sind nun zu Bereicherung der Palaissammlung in dankenswerther Weise zurückgegeben worden. Von besonderem Interesse ist eine von Herrn Justizrath Gille zu Jena hierher verehrte Tasse mit einem Miniaturbildchen, das die Herzogin Amalie, Fräulein von Göchhausen und die Herren von Einsiedel und von Wolfskeel beim Kartenspiele darstellt – ehemals ein Geschenk Amaliens an von Wolfskeel – und ein sprechend ähnliches kleines Medaillonbild der Herzogin aus dem Besitze des Fräuleins Obstfelder zu Weimar.
In diesem Salon hatte die Herzogin ihre geistig belebten Gesellschaften, hier verlebte sie in edler Geselligkeit, in vertrautem Verkehre mit den berühmten Männern und Frauen, welche Weimar zu einem Sitze der Musen umgeschaffen hatten, und im Genusse der neuesten Produkte der Literatur glückliche Stunden.
„Unsere Herzogin ist eine recht wackere Frau und es lebt sich recht gut in ihrer Gesellschaft,“ schrieb Schiller am 10. Oktober 1803 an Körner. Der Letztere verkehrte damals in ihrem Cirkel bei ihrem Besuche Dresdens, und sein Bericht darüber an Schiller dient auch zur Veranschaulichung ihrer weimarischen Gesellschaften.
„Die Herzogin hat viel Sinn für feinern Lebensgenuß und ist sehr gutmüthig dabei. Einsiedel ist ein gebildeter Mann, mit dem sich allerlei sprechen läßt. Auch die Göchhausen mag ich recht gern. Sie hat sehr hübsche Attentionen, den ungezwungenen Ton immer zu erhalten, und paßt recht gut zu ihrer Stelle. Kurz, wenn ich in Weimar lebte, ich würde viel in diesem Cirkel sein.“
Vielleicht gab es aber auch wohl Momente, die jenes Bild boten, das die Gräfin Henriette von Egloffstein von den Tiefurter [405] Gesellschaften der Herzogin so anschaulich mit den Worten gezeichnet hat:
„Vermöge der zwanglosen Freimüthigkeit, womit Jeder in Gegenwart der Herzogin Amalie seine individuellen Ansichten aussprechen und vertheidigen durfte, knüpften sich zwischen den hochbegabten Besuchern die geistreichsten Unterhaltungen an, doch gingen diese nur allzu oft in heftige Diskussionen über, bei welchen Wieland’s launenhafte Krittelei, Herder’s persiflirender beißender Witz, sowie Knebel’s unbezähmbare Leidenschaftlichkeit, vor Allem aber Goethe’s dictatorisches Genie kräftig hervortraten und den Streitenden nicht selten scharf verletzende Worte auf die Zungen legten, die den stets vorhandenen Brennstoff in den Gemüthern so gewaltsam anfachten, daß selbst Amaliens Gegenwart und ihre versöhnende Milde nicht hinreichten, die hoch auflodernden Leidenschaften zu dämpfen.“
Das nächste Gemach mit dem kleinen Malertische ist das Malzimmer der Herzogin. Mit Eifer versuchte sie sich in dieser Kunst. Zu Goethe’s „Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“ malte sie im Verein mit Goethe und Kraus das Gemälde vom „Bänkelsänger“, das nach dem Zeugniß des Fräuleins von Göchhausen „von Kennern und Nichtkennern für ein rares und treffliches Stück Arbeit gehalten wurde“, und sandte später eine kleine Copie desselben nach Frankfurt an Frau Rath „für das Weimarische Zimmer“. Die talentvolle Schauspielerin Christiane Neumann („Euphrosyne“) wurde als Göttin der Gerechtigkeit, als welche sie in ihrem zehnten Jahre einen Prolog von Schiller gesprochen, von der Herzogin in Oel gemalt.
Das dritte Zimmer war das Musikzimmer der Herzogin. In Braunschweig hatte sie an Fleischer einen tüchtigen Lehrer der Musik gehabt und nährte ihr ganzes Leben hindurch eine leidenschaftliche Liebe zu dieser Kunst. Sie war nicht nur Kennerin der Musik, sie componirte auch selbst. Die Arien zu Goethe’s „Erwin und Elmire“ sind ihr Werk. Als Zeugen dieser musikalischen Studien und Genüsse der Herzogin finden sich hier noch ihre schöne Laute, ihre reich decorirte, doch jetzt saitenlose Harfe, und ihr Clavier, das lange Zeit im Theater bei Proben gedient haben soll, nun aber die alte Stelle wieder eingenommen hat. Ein Heft Noten von Haydn liegt auf dem alten Clavier. Es ist, als ob die Herzogin an den Schöpfungen des Meisters sich soeben erst ergötzt, soeben erst das Zimmer verlassen hätte.
Wir treten endlich in den Saal. In einfach-schöner architektonischer Gliederung, in rothmarmorirter Stückarbeit, mit einer erhöhten Decke, die mit einem großen Gemälde von Oeser geschmückt ist, ist der Saal nicht nur trefflich erhalten, sondern bietet auch in seiner ganzen Ausstattung, in treuer Durchführung des Stiles jener Zeit einen wohlthuenden harmonischen Anblick.
Hier veranstaltete die Herzogin jene Concerte, in denen ihre Kammersängerin Corona Schröter seit ihrem Eintritt in Weimar (16. November 1776) mitwirkte und mit ihrem meisterhaften Gesange die Herzen gewann. Hier erfreute sich Amalie bisweilen dramatischer Aufführungen, z. B wiederholt der „stolzen Basti“ von Gotter, und öfters auch des bunten Maskenscherzes, der zu den liebsten Neigungen der lebenslustigen Fürstin gehörte. Hier war es aber auch, wo Goethe im Jahre 1813 die vollendet schöne Rede zu Wieland’s Todtenfeier hielt, an welche jetzt eine in diesem Saale ausgestellte Büste Wieland’s sinnig mahnt. Hier schuf später Meister Preller seine genialen Odyssee-Bilder. Und als die Wiederherstellung des alten Heims der Herzogin Amalie ihrem Urenkel gelungen war, veranstaltete er, wie zur Feier dieser Vollendung, am 20. Februar 1882 in diesem Saale ein Costümfest, das mit einer Schäferquadrille aus dem Zeitalter des Rococo, mit Anmuth, Lust und Scherz, im Sinne der lebensfrohen Herzogin Amalie deren einstige Räume wieder belebte.
Wir haben unsern Rundgang vollendet, doch unmöglich können wir das Witthums-Palais verlassen, ohne noch einen kleinen Corridor, der mit vielen italienischen Landschaften (zum Theil wohl ebenfalls Erinnerungen an Rom) geschmückt ist, durchschritten und die beiden anstoßenden Mansardenzimmer besucht zu haben. Sie sind mit Herder’s Stuhl, Arbeitspult und Tisch, und mit vielen seltenen Bildern von Personen, die zu dem Kreise der Herzogin gehörten und in deren Palais verkehrten, angefüllt.
Aber mehr als alle diese Gegenstände müssen die Zimmer selbst interessiren; waren sie doch die Wohnung der treuesten Freundin Amaliens, des körperlich unschönen, weil verwachsenen, aber geistvollen und witzigen Fräuleins von Göchhausen, der „Thusnelda“, wie ihr Scherzname lautete. In diesen beiden freundlichen Zimmerchen pflegte sie jeden Sonnabend Vormittag eine bald größere, bald kleinere Gesellschaft zum sogenannten Freundschaftstage zu versammeln, an dem auch von Einsiedel, Heinr. Meyer, Böttiger, Bertuch und Andere, bisweilen auch Wieland, zu lebhafter geistiger Unterhaltung sich einfanden. Hier wurden auch die dramatischen Ausführungen für die Herzogin vorbereitet. Hierher lud sich Goethe, als im Jahre 1800 der Herzogin Amalie zu ihrem Geburtsfeste eine Ueberraschung bereitet werden sollte, bei den Hofdamen zum Frühstück, und zwar auf Punsch ein, versammelte die Personen, denen er Rollen zugedacht, um sich und dictirte dem Fräulein von Göchhausen die verschiedenen Rollen in die Feder, während er selbst im Zimmer gravitätisch auf- und abschritt. War eine Rolle bis auf einen gewissen Punkt dictirt, so mußte sie sofort memorirt und mit der entsprechenden zweiten probirt werden, wobei Goethe auf das Lebhafteste antrieb und vorspielte. So wurde in zwei Vormittagen Goethe’s Festspiel „Paläophron und Neoterpe“ fertig. Fast wäre noch im letzten Augenblick Alles am Gelbschnabel und Naseweiß gescheitert, da die dazu gewählten Kinder sich die Nasenmasken durchaus nicht anhängen ließen; doch Goethe wußte Rath: rasch wurden ein paar Kinder vom Theater eingeübt, und zu höchster Freude der Herzogin Amalie wurde das Festspiel glücklich aufgeführt.
Wir aber, indem wir von diesem erinnerungsreichen Heim der kunstsinnigen Herzogin Amalie scheiden, gedenken des schönen Wortes Leonorens in Goethe’s „Tasso“:
„Die Stätte, die ein guter Mensch betrat,
Ist eingeweiht; nach hundert Jahren klingt
Sein Wort und seine That dem Enkel wieder!“
Gebannt und erlöst.
Da wurde leise die Thür geöffnet, und ein Frauenkleid
rauschte auf dem Teppich des Fußbodens. Werdenfels wandte
sich um, und jetzt schwanden Düsterheit und Schatten aus seinen
Blicken, sie strahlten auf in leidenschaftlichem Glücke, als er seine
Braut eintreten sah.
Anna hatte die Trauer abgelegt, die sie so lange getragen, und es war, als sei damit auch jener strenge Ernst, jene stolze Kälte gewichen, die sie mit einer solchen Unnahbarkeit umgaben vor fremden Augen. Die hohe schlanke Gestalt in dem hellen Gewande glitt wie eilt Sonnenstrahl in das danke Gemach, und in dem sonnigen Lächeln, mit dem sie Raimund begrüßte, ging selbst jener Zug energischer Willenskraft unter, der sonst ihrem Antlitz das Gepräge lieh. Es war das glückselige Lächeln des Weibes, das wochenlang um den Geliebten gebangt und gezittert hat und ihn nun endlich genesen, gerettet sieht.
„Ich habe soeben Nachricht von meinem verwaisten Rosenberg erhalten,“ sagte sie. „Man kann sich dort gar nicht in meine lange Abwesenheit finden, und auch meine kleine Lily fängt an, sich wieder nach Hause zu sehnen. Wir werden an die Rückkehr denken müssen.“
Sie sprach die letzten Worte mit einem gewissen Zögern, und in der That fuhr Raimund mit dem vollen Ausdruck des Schreckens empor.
„Du willst fort? Du willst mich verlassen?“
„Bin ich nicht lange genug bei Dir gewesen? Der Arzt hat Dich bei seinem heutigen Besuche für genesen erklärt. Du bedarfst meiner Pflege nicht mehr.“
„So bedarf ich Deiner Nähe! Ich kann sie nicht entbehren, selbst auf Stunden nicht!“
Die junge Frau schüttelte lächelnd den Kopf bei dieser leidenschaftlichen Versicherung, aber sie widersprach nicht, sondern trat an die offene Glasthür, welche nach dem Altan hinausführte.
„Es weht heute eine wahre Frühlingsluft draußen,“ sagte sie. „Sieh nur, wie das Abendroth dort oben verglüht.“
Raimund trat gleichfalls an die Thür, es war in der That nicht kühl, trotz der späten Stunde, und die Ranken des Epheu, der den Altan und das Mauerwerk umflocht, regten sich nur leise im Abendwinde.
Es war das alte Bild voll düsterer, wilder Großartigkeit, ringsum nur Felsen, Tannen und Schneegefilde. Die Eisjungfrau hielt noch überall ihre weißen Schleier gebreitet, noch stand ihr krystallenes Reich in unverminderter Pracht, aber es fehlte der eisige Hauch, der dies Reich geschaffen und ihm die Dauer gegeben hatte, es fehlte die starre Todesruhe darin und das Todesschweigen.
Das Abendroth wob seine rosigen Schleier um die weißen Schneegipfel und der höchste von allen, die Geisterspitze, die allein noch den Abschiedsgruß der scheidenden Sonne empfing, stand in dunkler Purpurgluth, einsam und mächtig, wie der Riesengeist des Gebirges, vor dem sich all die anderen Häupter neigen. Dort oben war noch alles Glanz und Licht, während das Thal sich schon in blauen Nebelduft zu hüllen begann.
Der Frühling hatte seinen ersten Boten in das Hochgebirge entsendet – der Südwind war gekommen! Er wehte durch die Thäler, er schwang sich auf die Höhen und über die Schneegefilde, und unter seinem weichen warmen Hauche lösten sich die eisigen Fesseln des Winters.
Voller und mächtiger als sonst kam das Brausen des Bergstromes aus der Tiefe, aber jetzt war er nicht mehr das einzige Leben in einer erstorbenen Welt, jetzt verhallte sein Ruf nicht mehr einsam in schweigender Oede, von allen Seiten ringsum kam raunend und flüsternd die Antwort zurück. Aus allen Felsen und Klüften tönte es geheimnißvoll wie von tausend erwachenden Stimmen, die sich erst leise, wie noch im Traume regten. Es tropfte, rieselte, rauschte überall – der Schnee begann zu schmelzen.
Anna brach zuerst das minutenlange Schweigen das eingetreten war.
„Die Geisterspitze grüßt uns heute in seltener Pracht,“ sagte sie hinaufdeutend. „Es ist, als ob verborgene Flammen in ihrem Innern loderten, der ganze Berg erscheint wie in Gluth und Licht getaucht."
Raimund’s Blick war der Richtung des ihrigen gefolgt und hing jetzt gleichfalls an dem dunkelglühenden Gipfel.
„Und es ist doch nur Eis und Schnee da oben auf dem unzugänglichen Throne der Eisjungfrau. Sie duldet es nicht, daß man ihr in das Antlitz schaut, das habe ich erfahren, als ich mich einst in den Klüften der Geisterspitze – verirrte.“
„Wußtest Du denn nicht, daß sie unwegsam sind? Was suchtest Du dort oben?“
„Den Tod!“ sagte Werdenfels schwer und dumpf.
„Raimund!“
„Ja, Anna, ich habe ihn damals gesucht und ersehnt, weil ich es nicht für möglich hielt, ein ganzes langes Leben hindurch die Last zu tragen, die das Unheil einer einzigen Stunde auf mich gewälzt hatte. Mit zwanzig Jahren hält man es für so leicht, ein Ende zu machen mit all der Qual und dem Elend, aber das Leben weiß uns festhalten. Ich wurde aufgefunden, erstarrt und besinnungslos, aber ich erwachte doch und mußte weiter leben.“
„Und was – was trieb Dich hinauf in jene Eisklüfte?“
Die Frage kam leise, bebend von den Lippen der jungen Frau, und ebenso klang die Antwort Raimund’s.
„Fragst Du endlich darnach? Ich habe seit Wochen darauf gewartet, aber Du schwiegst immer, Du wußtest immer abzulenken. Ich sah es deutlich, Du wolltest nichts hören.“
„Ich durfte ja nicht! Der Arzt hatte es mir zur strengsten Pflicht gemacht, Dir jede Aufregung fern zu halten, er forderte die vollste Ruhe als erste Bedingung Deiner Genesung, und ich wußte nur zu gut, daß jede Berührung der Vergangenheit einen Sturm in Deinem Innern entfesseln würde. Jetzt aber bist Du genesen –“ sie drückte die Hand gegen die Brust, und ein tiefer Athemzug rang sich daraus empor, „laß mich die Wahrheit hören!“
Raimund schwieg, aber er legte den Arm um seine Braut und zog sie an sich, während sein Auge mit banger unruhiger Frage das ihrige suchte, als fürchte er ein erneutes Zurückweichen, doch Anna legte mit voller inniger Hingebung das Haupt an seine Schulter.
„Fürchte nichts, Raimund! Was ich hören werde, ich schaudere nicht mehr davor zurück. Das war zu Ende in dem Moment, wo ich Dich von Gefahr und Tod bedroht wußte. Da fühlte ich, daß es nur eins giebt, was ich nicht ertragen kann – Dich zu verlieren! Und wenn es Schuld und Fluch ist, was Du mir zu bekennen hast, trennen wird es uns nicht mehr. Ich theile Deine Zukunft, ich will auch die Vergangenheit mit Dir theilen.“
Raimund preßte sie an sich, doch nur einen Moment lang, dann ließ er sie aus den Armen. Die krampfhafte Heftigkeit dieser Bewegung zeigte, wie nothwendig die Schonung bisher noch gewesen war.
„Du hast mehrere Jahre im Pfarrhause von Werdenfels gelebt,“ sagte er endlich. „Hörtest Du nie eine Anklage gegen mich?“
Anna schüttelte verneinend den Kopf.
„Deinen Vater klagte man an, aber Haß und Furcht hatten ja so manches Märchen über ihn erfunden, das unglaublich klang, ich glaubte auch dies nicht, und Gregor sprach niemals darüber. Von Dir war kaum jemals die Rede. Du lebtest ja immer auf Reisen, und wenn Du wirklich einmal nach dem Schlosse kamst, so vermiedest Du es, Dich im Dorfe zu zeigen. Ich hatte Dich niemals gesehen, und der Freiherr von Werdenfels, dem wir in Venedig begegneten, war mir ein Fremder, bis auf den Namen.“
„Ich begreife es,“ sagte Raimund düster. „Damals schürte Vilmut den Haß noch nicht, er wußte, daß bei dem Charakter meines Vaters alsdann die blutigen Conflicte nicht ausbleiben konnten, und daß der Schaden auf Seiten seiner Pfarrkinder [407] bleiben würde. Der damalige Gutsherr fragte nichts nach der allgemeinen Feindschaft, er verlachte sie und trat sie zu Boden. Ich war anders geartet!“
Er schwieg einige Secunden lang, und sein Blick verlor sich wieder in die Weite. Das Abendroth dort über den Schneegipfeln zerfloß allmählich und auch die Gluth der Geisterspitze wurde matter und matter, die Abendschatten stiegen aus dem Thale bis hinauf zu den Höhen.
„Du hast meinen Vater oft genug schildern hören,“ begann Werdenfels von Neuem. „Er war eine harte, gewaltsame Natur, ein rücksichtsloser Vertreter der Privilegien seines Standes, und selbst als die neue Zeit sich drohend zu regen begann, wollte er nichts von Nachgiebigkeit und Einlenken hören. Er verachtete die revolutionäre Bewegung, die sich bald auch unter den Bauern kundgab, und vermaß sich, er werde ihr auf seinen Gütern die Spitze bieten.
Ich war damals kaum zwanzig Jahr und hatte noch viel von der Unselbstständigkeit des Knaben, denn ich war in vollster Abhängigkeit, in einem beinahe sclavischen Gehorsam erzogen. Der Vater liebte mich nicht, weil ich ihm so unähnlich war, und ich fürchtete ihn nur. Ich ersehnte die Zeit, wo ich Werdenfels verlassen sollte, um die Universität zu beziehen, wie der Gefangene die Freiheit ersehnt, aber wenige Monate vorher trat die Katastrophe ein.
Bei der Unbeugsamkeit des Gutsherrn kam es bald genug zum offenen Kriege mit unseren Bauern. Es gab damals kaum irgend eine Autorität mehr, die Leute konnten und durften sich Alles erlauben und trotzten darauf. Sie forderten alle möglichen Zugeständnisse, und als diese ihnen verweigert wurden, drohten sie mit Gewalt. Mein Vater wurde von allen Seiten gewarnt, aber vergebens; anstatt einzulenken, schleuderte er der wild erregten Menge eine höhnische Herausforderung entgegen, die sie vollends zur Wuth reizte. Man machte Anstalt, sich des Schlosses zu bemächtigen, aber mein Vater spottete über die Versuche, den Eingang zu erzwingen. Er bewaffnete die gesammte Dienerschaft und erklärte, er werde die ‚rebellische Bande‘ züchtigen.
Aber nur zu bald wurde ihm und uns Allen der ganze furchtbare Ernst unserer Lage klar. Die Diener zeigten sich feig und unzuverlässig, die in der Eile getroffenen Vertheidigungsmaßregeln hielten dem wiederholten Anstürmen nicht Stand, und wenn es wirklich zum Kampfe kam, mußten wir der Uebermacht erliegen. Was uns dann bevorstand, war nicht schwer zu errathen bei dem bis zum Wahnsinn gereizten Haß der Angreifer. Sie hätten uns erbarmungslos niedergemacht, für uns handelte es sich um Leben und Tod.
Mein Vater, so wenig er den Tod fürchtete, so fest er entschlossen war, sich bis zum letzten Athemzuge zu vertheidigen, hätte doch ein derartiges Unterliegen nicht ertragen. Ihm war es schon Entehrung, von solchen Händen zu fallen. Ich sah, wie seine Stirn sich immer drohender umwölkte, wie er die Zähne zusammenbiß und über irgend einem finsteren Entschlusse brütete. Ich wagte es sonst niemals, ihm mit einem Rathe zu nahen, und er hätte mich auch nicht gehört, jetzt versuchte ich es.
‚Wir können das Schloß auf die Dauer nicht halten, Du siehst es,‘ sagte ich, ‚und auf die Diener ist kein Verlaß, sie lassen uns im Stich, wenn es ernstlich zum Kampfe kommt. Laß uns den Rückzug antreten, so lange es noch möglich ist. Die kleine Mauerpforte führt unmittelbar nach dem Schloßberg, die Gebüsche sind dort dicht genug, daß wir unbemerkt hinab gelangen können. In wenigen Minuten sind wir in der Meierei, wo wir Pferde finden, und können von dort nach Buchdorf. Was uns von den Dienern folgen will, nehmen wir mit, die Anderen haben nichts zu fürchten, denn man sucht nur uns allein.‘
‚Rückzug? Flucht?‘ fuhr mein Vater auf. ‚Du wagst es, mir eine so schmähliche Feigheit zuzumuthen?‘
‚Wo Einer gegen Zehn steht, ist der Rückzug keine Feigheit. Du hast oft genug Deine Soldaten in der Schlacht geführt, würdest Du sie nicht zurückgezogen haben vor einer solchen Uebermacht?‘
‚Das war ein ehrlicher Krieg und ehrliche Feinde, hier handelt es sich um eine aufrührerische Rotte. Man soll nicht sagen, daß der Freiherr von Werdenfels solchem Gesindel gewichen, daß er vor seinen Bauern und Tagelöhnern geflohen ist.‘
‚Sollen die letzten Freiherren von Werdenfels fallen von den Händen dieser Tagelöhner? Täusche Dich nicht, Vater, Du hast keine Gnade geübt, Du wirst auch keine finden, und was auch mit uns geschehen mag, das Schloß fällt jedenfalls in ihre Hände.‘
‚Schweig!‘ rief mein Vater, indem er wüthend mit dem Fuße stampfte. ‚Das Schloß fällt nicht, sage ich Dir, und ich weiche nicht vom Platze. Ich werde dieser rebellischen Bande die verdiente Antwort geben, sie sollen an den Werdenfels denken! Du nimmst einstweilen meine Stelle ein, ich komme sogleich zurück!‘
Er wandte sich von mir und rief seinen Jäger, dem er befahl, ihm zu folgen. Ich wußte mir seine Worte nicht zu deuten, aber ich fürchtete irgend eine Verzweiflungsthat. Der Jäger hatte einst im Regimente unter meinem Vater gedient und war ihm später auf seine Güter gefolgt. Er war der Vertraute seines Herrn und diesem blindlings ergeben, aber er galt für einen rücksichtslosen und gewissenlosen Menschen, der zu jeder That fähig war. Ich hatte in jener Minute nicht Zeit, darüber nachzudenken, denn ich mußte meinen Posten bei der Vertheidigung einnehmen.
Da trat in dem Lärmen und Toben draußen eine Pause ein. Die Angreifer schienen sich zu berathen und planmäßiger vorgehen zu wollen als bisher, gleich darauf meldete mir einer der Diener, man suche Reisig zusammen, offenbar in der Absicht, die Eingangsthore, die bisher den Stößen und Hieben Widerstand geleistet hatten, durch Feuer zu zwingen. Das war eine neue, furchtbare Gefahr, und ich eilte, meinen Vater davon zu unterrichten.
Er hatte sich mit dem Jäger in sein Arbeitszimmer eingeschlossen, aber gerade als ich nahte, wurde die Thür geöffnet, und ich hörte noch seine letzten Worte:
‚Die Verantwortung trage ich allein! Jetzt sieh zu, daß Du unbemerkt durch die Mauerpforte und den Schloßberg hinunter gelangst, und hüte Dich, daß Du unten im Dorfe nicht gesehen wirst. Vor allen Dingen aber beeile Dich, denn wir halten das Schloß keine Stunde mehr!‘
‚Verlassen Sie sich auf mich, gnädiger Herr!‘ klang die Stimme des Jägers in gedämpftem Tone. ‚Also die Scheune hinter dem Hofe des Eckfried!‘
Er öffnete die Thür vollends und trat heraus, aber er fuhr zurück, als er mich erblickte. Ich war der Sohn seines Herrn und konnte doch hören, was dieser mit ihm verhandelte, aber er warf mir einen seltsam scheuen Blick zu, sah dann umher, ob Niemand sollst in der Nähe war, und eilte hastig an mir vorüber. Jetzt trat auch mein Vater heraus.
‚Was thust Du hier?‘ herrschte er mich an. ‚Warum bist Du nicht auf Deinem Posten geblieben?‘
Ich berichtete kurz, was draußen geschah, und sprach meine Befürchtung aus, daß man das Schloß anzünden wolle; er lachte auf mit schneidendem Hohne.
‚Recht so, laß sie es nur versuchen! Eine Weile halten die Eichenthüren noch Stand und bis dahin werde ich uns Luft schaffen. Sei ohne Sorge, Raimund, in einer halben Stunde ist die ganze Rotte zersprengt und zerstoben, es bleibt kein Einziger mehr am Platze, darauf gebe ich Dir mein Wort.‘
Mir stieg eine unbestimmte Ahnung von etwas Schrecklichem auf, obgleich ich den Zusammenhang nicht errathen konnte, und mit stockendem Athem fragte ich:
‚Was hast Du dem Jäger befohlen?‘
‚Was Du später erfahren wirst. Jetzt komm, wir sind draußen nöthig.‘
‚Was hast Du dem Andreas befohlen, Vater?‘ rief ich in steigender Angst.
Er trat dicht an mich heran und dämpfte die Stimme, aber sein Ton wie sein Antlitz verriethen kalte, erbarmungslose Entschlossenheit:
‚Still, nicht so laut! Ein Anderer darf das nicht hören. Es giebt nur ein Mittel, uns und das Schloß zu retten, und auf den Andreas kann ich mich verlassen. Wenn da unten im Dorfe Feuerlärm entsteht, stürzt Alles hinunter, um zu löschen, und wir gewinnen Zeit und halten das Schloß, bis die Hülfe aus der Stadt kommt, die mir schon zugesagt ist. So starre mich doch nicht so an, als ob ich von Sinnen wäre! Es sind ja nur ein paar Scheunen, die in Flammen aufgehen sollen.‘
[408]
Von der rheinischen Landstraße.
Während in manchen Gegenden unseres deutschen Vaterlandes die anheimelnden Bilder des Verkehrs- und Volkslebens von der großen Heerstraße verschwinden, erhalten sich am Rhein noch einige eigenthümliche Beförderungsmittel in ureigenster Gestaltung. Zwar begegnet man am Strome selbst nur noch bei kleineren Schiffen dem „Halfterer“ auf den sogenannten Leinpfaden, jenen Pferdezügen, welche die Lastschiffe, an lange Schiffstaue gespannt, stromauf befördern, wie dies in früherer Zeit besonders im Bingerloch vor den Felsensprengungen in sehr erheblichem Maße geschehen mußte.
Seltener wird das dürftige Gespann des wandernden Blechschmiedes (Klempner, Spengler) auf den rheinischen Straßen, und nur der Herbst zeigt uns noch die den Rhein-Orten eigenen Büttenwagen und Kufen für den Traubentransport auf ihrem zweiräderigen Untergestell, oder eine fahrende Traubenmühle als rheinische Eigenthümlichkeit. Dagegen „halftert“ man am Main und an der Lahn noch häufig den Lastkahn und nicht selten trifft der Reisende hier auch noch den düsteren Zigeunerwagen, der seine Insassen anscheinend sehr zwecklos in den gesegneten Fluren und an den Rebhängen hin von Ort zu Ort trägt. Lustig aber schmettert noch immer in den Seitenthälern des Stromes und über die Höhen desselben das Horn des Postillons, trotz Eisenbahn und Dampfboot, und es tragen diese an und für sich harmlosen Erscheinungen nicht wenig zu dem eigenartigen Eindruck bei, den der Tourist am Rhein von Land, Leuten und Leben empfängt.
„Es steht ein Wirthshaus an dem Rhein,
Da kehren alle Fuhrleut’ ein!“
singt das Volkslied. Der prächtige Strom sah früher einen Fuhrverkehr an seinen Ufern, wie wohl sonst keine Landesstrecke im deutschen Vaterlande. Die römische Heerstraße, welche Mainz, Bingen, Coblenz und Köln verband, war in die seitlichen Uferberge am linken Rheinufer offenbar mit gewaltiger Kraftanstrengung gesprengt, ohne Pulver und Dynamit, während das rechte Ufer nachweislich nie eine zusammenhängende Verkehrslinie für Fuhrwerk besaß. Um so mehr drängte es sich drüben, und einzelne Orte waren – wie St. Goar, Coblenz –- regelmäßige Ausspannorte für die Kaufmannszüge zu den Messen in Leipzig, Nürnberg und Frankfurt. Und welche Lasten an Kaufmannsgut und Traß (Bimstein) schleppte der Fuhrverkehr in’s Niederland hinab, welche Lasten vom Meeresstrande drunten in Holland hinauf in das mittlere Deutschland, ja bis zu den Alpen! War doch der Schiffsweg oft genug durch niedrigen Wasserstand und die Stromschnellen des Bingerlochs, des wilden Gefährts bei Bacharach und der Bank bei St. Goar verschlossen.
Da mochte wohl das Lied entstehen von dem Wirthshaus am Rhein, in dem alle Fuhrleut’ einkehren. Spricht doch auch der kaufmännische Orden in St. Goar (vergl. „Gartenlaube“ 1868, S. 238) für diesen Waarentransport und Wagenverkehr, der oft genug durch gesetzlich vorgeschriebenes Umladen belastet war, ein Umladen, welches nach weiser Fürsorge den Ortseinwohnern Verdienst und der betreffenden kleinstaatlichen Landescassa Tribut schaffen sollte. Mußte doch beispielsweise in St. Goar von den geladenen Gegenständen stets ein Theil als Steuer für Wegunterhaltung abgeliefert werden.
Da kamen die kecken Dampfer im Jahre 1817 (der erste von London) und rissen einen Theil des Verkehrs an sich, dann die Eisenbahnen rechts und links des Stromes und nun endlich gar die mächtigen Schlepper und die – Tauerei. Der hochauf mit seltener Geschicklichkeit geladene Frachtwagen verschwand mehr und mehr, selbst die sogenannten Marktschiffe konnten nicht mehr der Concurrenz der Dampfkraft widerstehen, und nur das St. Goarshausener Marktschiff fährt alter Ueberlieferung getreu noch heute hinauf zur Frankfurter Messe, beladen mit Wein und – Einmachzwiebeln.
[409] Einzelne ursprüngliche Räderfahrzeuge haben sich indessen noch nicht verdrängen lassen, und dienen sie auch nur dem Kleinverkehr, so bieten sie immerhin doch noch Interesse genug, um ihrer Erscheinung einige Worte zu widmen. Es sind die „Dippewagen“ und die „Körbewagen“.
Der Dippewagen (Dippe, Topf) ist eine Landeseigenthümlichkeit des Rheingebietes. Vom Fuße des Westerwaldes herab, aus dem „Krug- und Kannenbäckerlande“ (vergl. „Gartenlaube“ 1855, S. 148; 1867, S. 108) führt er das nöthige Töpfergeschirr den Haushaltungen zu, und da er besonders die schweren steinernen Geschirre herbeischafft, welche die „rührig waltende Hausfrau“ zum Einmachen der Gurken, der Früchte, wohl auch des nationalen Sauerkrauts (Kappes) bedarf, so erscheint er zumeist gegen den Herbst hin, hier und da auch im Frühjahr, um den Winterbruch im Hausrathe zu ergänzen.
Da steht denn in dem Rheindörfchen auf der Hauptstraße – häufig auch noch in den größeren Städten des Rheines, besonders zur Zeit der Messen und Jahrmärkte – der hochaufgeladene „Dippewagen“, und die sorgsame Hauswirthin sucht dort den Ersatz für den abgängigen Hausrath, sorgsam prüfend, ob das „Dippe“ auch hübsch ganz ist. Dies geschieht durch starkes Aufklopfen auf den hoch empor gehaltenen Topf, nicht selten mit dem Ehering, und weithin schallt der helle Ton des so untersuchten Steingeräthes.
Es sind allerdings nur Kleinhändler, welche jetzt noch diesen Hausirhandel betreiben, denn für den eigentlichen Fabrikanten, der früher mit solchen Wagenladungen weit hinaus in’s Land zog, bietet sich durch Bahnverkehr und Waggonverladung heute Gelegenheit genug, seine Waare an den Mann oder an die Hausfrau zu bringen. Kaum daß noch ein kleiner Fabrikant selbst mit seinem Gespann hinausfährt, um seine gewerbliche Leistung, häufig „Koblenzer Geschirr“ genannt, höchsteigen zu verschleißen.
Droben in Höhr, in Grenzhausen, in Wirges, wo die Millionen unserer steinernen Mineralwasserkrüge gefertigt werden, ist die Heimath der Dippebäcker, der Ort, wo das „Steinzeug gebacken“, das heißt gebrannt wird.
Die weiße Thonmasse, welche im Brand grau wird. wird da droben durch Smalte[1] mit Malereien geschmückt, Malereien, die früher sehr bedeutend, dann durch den Rückgang des Kunstgewerbes sehr primitiv waren, sich nach und nach aber einer künstlerischen Zeichnung wieder zu nähern beginnen. Die äußere Glasur wird durch Verdunstung von Kochsalz in Hitze erzeugt, das heißt in Oefen gebrannt. Die während des Brennens entstehende Chlorentwickelung verflüchtigt alle oberflächlichen Eisenbestandtheile, wodurch sich die in Zeichnungen aufgetragene Smalte zu einem schönen Kobaltblau herausbildet.
Es sind wohl ein halb Dutzend Ortschaften, welche von der Krugbäckerei leben, und fast alle Versuche, die heilsamen Wasser des quellenreichen nassauer Ländchens in Flaschen zu versenden, scheiterten bisher an der Sorge um die Existenz jener Orte, welche in der Kannenbäckerei ihre Haupterwerbsquelle finden.
Mit nicht genug hervorzuhebender Sorgfalt hat denn auch die Regierung Preußens in Grenzhausen-Höhr eine keramische Fachschule errichtet, an deren Spitze der sehr tüchtige Direktor und Lehrer Herr Heinrich Meister steht. Diese Schule soll den jungen Leuten die Möglichkeit erschließen, ihr Handwerk mehr in kunstgewerblichem Sinne auszubeuten, und heute schon bringen Höhr und Grenzhausen Gegenstände hervor, die zum Schmuck unserer in neuerer Zeit wieder altdeutsch eingerichteten Gemächer wesentliche Ziergegenstände bilden. Daneben wird indessen das Nothwendige zum Hausbedarf für die kleineren Fabrikanten stets seinen Verkaufswerth behalten. Durch Haltbarkeit, Sauberkeit und [410] nützliche Verwendbarkeit werden die einfachen „Steindippen“ immer ihren Zweck erfüllen.
Jetzt schon dreht der Töpfer (am Rhein früher Ullner, Häfner genannt, daher der Name des ehemaligen Töpferdorfes Ulinhausen, Aulhausen bei Aßmannshausen) droben im Kannenbäckerlande seine Erzeugnisse zum Theil mit Maschinen, während bis vor nicht langer Zeit die ganze Anfertigung unter furchtbarer körperlicher Anstrengung – auch die Anfertigung der Millionen Mineralwasserkrüge – mit der Hand und den Beinen mittelst der Töpferscheibe geschah.
Da kommt denn nun der Kleinhändler hinauf, ladet seinen Wagen voll und hinab geht’s in’s Land, so lange der Vorrath reicht, oder besser, so lange der Wagen nicht geräumt ist.
„Na, Madammche, macht ’r kein’n Kappes inn? Hei – dat sein Dippe. Guckt emol do – so schien hatt’ er noch kein’ gesien! Nemmt Eich – ’s is Ausverkauf – mer brauche Geld – halb geschenkt! Der da – gelt? Der gefällt Eich? Der hält Kinner und Kinneskinner aus!“ so ruft der mundfertige Verkäufer und läßt zwei mächtige Krüge mit Gewalt an einander stoßen, um ihre Unverwüstlichkeit, ihre Unzerbrechlichkeit klarzustellen.
Die Industrie indessen, welcher der „Dippewagen“ sein Dasein verdankt, darf durchaus nicht unterschätzt werden.
Höhr hat wohl an vierzig Fabriken von Steingutwaaren, Grenzhausen nahe ebenso viel, die Orte Hilgert, Baumbach, Ransbach, Nauert, Wirges, Mogendorf, Alsbach und andere leben von dieser Industrie, die jährlich erzeugten Krüge rechnen nach Millionen, die Töpfe und Trinkgefäße nach Hunderttausenden, ganz abgesehen von den Steingutröhren, Thonpfeifen u. dergl. m. – Das Kneten des Thones, das Backen der Töpfe war den Römern schon bekannt. Die Arbeit, welche später durch die Erfindung der Töpferscheibe erst eigentliche Gestaltung erfuhr, ist uns entweder eben durch die Römer an den Rhein gebracht worden, oder sie war – wie einzelne Grabfunde beweisen dürften – schon vor denselben am Rhein bekannt. Das sechszehnte und siebenzehnte Jahrhundert entwickelte eine Industrie in jenem Krugbäckerländchen, deren musterhafte Leistungen zwar zum Theil mit der Zeit verloren gingen, die aber heute wieder – wie erwähnt – durch alle Mittel der Schulung angestrebt werden. Ein deutscher Töpfer erfand im dreizehnten Jahrhundert in Schlettstadt die Bleiglasur, wodurch die gebrannten Töpfe undurchdringlich wurden, das sechszehnte Jahrhundert brachte die Erfindung der Zinnglasur, und als im Jahre 1709 Böttcher in Meißen das Porcellan – „erfand“, war Wien 1720 die zweite, Höchst am Main 1740 aber die dritte Erzeugungsstätte für das ungleich feinere Porcellangeschirr, dem die roheren Krüge und Kannen indessen immerhin verwandt sind.
Droben aber an den Thonlagern der Montabaurer Höhe, in jenen sogenannten Kannenbäckerdörfern, erzeugte trotz des Porcellans die Töpferei gleichzeitig Geschirre, welche noch heute mit schwerem Geld aufgewogen werden und deren für die Folge zu erwartende Gediegenheit hoffentlich die Krugbäckerei bald wieder zum ausgesprochenen Kunstgewerbe erheben wird. Der „Dippewagen“ ist aber der unscheinbarste Verbreiter dieser Industrie, einfach und bescheiden freilich – aber von unendlichem Werthe ist seine Ladung für den Hausstand und für die Verfertiger, durch seine nutzbringende und Baarmittel schaffende Fracht. –
Der Rhein, so lachend seine Ufer und Rebengehänge den Wanderer und Beschauer auch grüßen, verbirgt nichts destoweniger durch seine Berge manch ernstes Bild dem Auge des flüchtig Reisenden. Nicht überall da droben wächst der gesegnete Rüdesheimer! Auf den Höhen des Taunus müht sich noch heute der Nagelschmied um wenige Pfennige, rauh ist der Hunsrück, unwirthlich der Westerwald in manchen Strecken, und die Eifel – kämpft oft genug mit der dringendsten Noth. Da greift denn die Industrie zu allen möglichen Gewerben, und da an den Ufern des Rheins und seiner Nebenflüsse die Weide heimisch, so entwickelt sich auch die Korbflechterei in einzelnen Orten. Ja, während drunten die Weide geschnitten wurde, kam sie erst verarbeitet von den Höhen wieder herab. weil droben der Lohn gering und Arbeitskräfte genug vorhanden. So bringen der Hunsrück Weidengeflechte, die Mainniederungen Körbe aller Art in den Kleinhandel, und da am Erzeugungsorte nicht Absatz genug, setzt sich der Körbehändler auf sein leichtes Gefährt und fährt hinaus, was daheim nicht verwerthet werden kann.
Am Niederrhein, auf der Eifel, im Taunus hat man seit kurzer Frist die Wichtigkeit der Korbweide und ihrer Cultur erkannt, und die an den Flußufern durch ein gewisses Raubsystem verminderten Weidenpflanzungen werden eben jetzt wieder mit großer Fürsorge ergänzt. Brauchen doch viele Gegenden des Rheines die Weide zum Binden des Weinstocks an die Pfähle.
Man hat aber auch ferner erkannt, wie sehr das Land und überschüssige Arbeitskraft der Korbflechterei nutzbar gemacht werden können, und wieder ist kein Landesstrich auch für den Absatz der Korbgeflechte so geeignet, so geschaffen, dürfen wir sagen, wie der Rhein. Braucht doch allein die königlich preußische Brunnenverwaltung zu Selters als Packmaterial nahe 3000 Körbe für Mineralwasser jährlich, ganz abgesehen von den vielen anderen Heilquellen; werden doch aus den am Rhein liegenden Gemeinden bei St. Goarshausen und Braubach für den Obsttransport (Kirschen, Aprikosen und Aepfel) nahe 20,000 Körbe in guten Jahren verwendet, den Bedarf der Traubenpackung und für den Weinbergsbetrieb selbst gar nicht gerechnet. Es kann angenommen werden, daß allein am Mittelrhein rund 60,000 bis 65,000 Mark an gewöhnlichster Korbwaare gebraucht wird. Der Korbwagen aber (der „Kerbwage“ im Dialekt), wie ihn unser Bild zeigt, bringt heute noch die Erzeugnisse einfacher Flechterei aus der Mainniederung und vom Hunsrück herab in die Städte und ist auf den rheinischen Landstraßen eine so häufige Erscheinung wie der „Dippewage“.
Gerade jetzt bereitet sich eine Umwälzung nicht nur in der Weidencultur, sondern auch in der Flechtkunst am Rhein vor. So schreibt Bürgermeister Krahe in Prummern (Reg.-Bez. Aachen) in dem von ihm herausgegebenen Lehrbuch der rationellen Korbweidencultur: „Die Korbweidenanlagen und die Korbflechterei sind für die Gegend (Roer-Wurm-Niederung) zur reichen Nährquelle geworden. Eine jährliche Bruttoeinnahme von 220,000 Mark, wie sie von den vorhandenen 564 Hectar Weidenhegern amtlich nachgewiesen ist, sowie eine Jahreseinnahme von mehr als 350,000 Mark Arbeitsverdienst der 962 Flechter, das fördert den Wohlstand wesentlich, namentlich bei einer Bevölkerung, die größtentheils aus Kleinbauern besteht.“
Wie der Generalsecretär des Vereins der Nassauischen Land- und Volkswirthe, Herr W. E. Müller, in einem besonderen Berichte über den Gegenstand mittheilt, versicherte ihn der Bürgermeister Esser in Bracheln, „daß durch die Entwickelung des Flechtgewerbes die frühere Armuth und das Unwesen der Bettelei gänzlich beseitigt worden und Wohlstand an deren Stelle getreten sei“.
Diese Erfahrungen haben einen gewichtigen Anstoß auch für den rührigen Taunusclub in Frankfurt gegeben, um den höher gelegenen Taunusorten diese Industrie zu verschaffen. Auf Veranlassung des Vorsitzenden dieses Clubs, des Herrn Hauptmann außer Dienst Haus in Frankfurt, richtete der genannte Verein, die Nothstände berücksichtigend, welche in den Jahren 1879 und 1880 den oberen Taunus heimsuchten, eine Flechtschule in Grävenwiesbach unter zuvorkommender Beihülfe des dortigen Pfarrers Deißmann ein, beschaffte baare Mittel und Material, pflanzte Stecklinge, rigolte Land zu dem Zwecke, bestellte einen Flechtmeister – kurz, schuf der Gegend eine neu aufblühende Industrie. So sind schon mehrere hundert Ar Landes mit Hunderttausenden von Weidenstecklingen bepflanzt und die Resultate für die Weiden- und Flechtindustrie sind heute schon ganz wesentliche.
Hauptmann Becker in Königstein rief die Macht der Presse durch anregende Aufsätze zu Hülfe, die königliche Regierung trat mit baarem Beistande hinzu, und gegenwärtig schreitet diese, man dürfte sagen wiedererwachte Flechtindustrie in neuen Bahnen rüstig vorwärts, Armuth verscheuchend, Hülfe leistend, Arbeitsamkeit fördernd und Gutes nach allen Seiten verbreitend.
Bezog doch bis heute der Regierungsbezirk Wiesbaden den größten Theil seines enorm hohen Bedarfes an Weiden und Flechtwerk von auswärts, während im Taunus allein Hunderte von Morgen feuchtes und schlechtes Land vorhanden sind, die landwirthschaftlich gar keinen oder doch nur wenig Nutzen abwerfen, während der Boden sich gerade für diesen Anbau trefflich eignet. Darum, fröhlicher Rheinwanderer, der du die Reize des Stromes nicht allein von dem Dampfer des Rheines aus bewunderst, [411] sondern rüstig deine Straße schreitest, triffst du einen „Dippe- oder Kerb’-Wage“ auf dieser Wanderung am Stromufer, so gedenke der beiden Industrien, welche bestimmt sind, da droben das Elend und den Kummer zu scheuchen, gerade da – wo du diese angesichts des lachenden Bildes, welches dich umgibt, am wenigsten suchst. Die unscheinbaren Gefährte sind die bescheidensten Vertreter und Verbreiter der – Arbeiten bedürftiger Stammesgenossen.
Blätter und Blüthen.
Ein verschollenes Grab. Dass die Stadt, aus der allwöchentlich unsere „Gartenlaube“ hinausgeht in die weite Welt, daß Leipzig mit dem gesamten Entwickelungsgange unserer neuern deutschen Literatur unzertrennlich und in ganz besonders hervorragendem Maße verknüpft ist, wem von unseren Lesern wäre es unbekannt?
Lebten doch fast die sämmtlichen Heroen des deutschen Parnasses längere oder kürzere Zeit innerhalb der gastfreundlichen Mauern von „Klein-Paris“, und war doch namentlich auch Altmeister Goethe, der spätere „unsterbliche Olympier“, in seiner Jugend drei Jahre hindurch akademischer Bürger der Universität der alten Lindenstadt, der er Zeitlebens ein freundliches und wohlwollendes Gedenken bewahrt hat.
Schon hier in Leipzig sollte dem damals kaum siebenzehnjährigen Frankfurter Patriciersohn und angehenden Poeten ein sonniger Liebesfrühling erblühen. Jeder Literaturkundige kennt des jugendlichen Wolfgang Goethe’s Beziehungen zu Käthchen Schönkopf, eine anfänglich nicht unerwidert gebliebene Herzensneigung, deren sich noch der mehr als siebenzigjährige Dichtergreis in seiner Selbstbiographie „Wahrheit und Dichtung“ dankbar erinnerte.
Käthchen – bei Goethe heißt sie bekanntlich „Aennchen“ – war um volle drei Jahre älter als ihr Verehrer; der Vater bewirthschaftete in dem Hause Brühl Nr. 79 (umittelbar neben dem „Goldenen Apfel“) ein kleines Gast- und Weinhaus und war mit einer Frankfurterin verheirathet, was vermuthlich ein Grund mehr war, den jungen Studiosus schon aus landsmannschaftlichen Rücksichten gewissermaßen als Glied der Familie zu betrachten.
Bald genug gestaltete sich die Bekanntschaft zwischen den beiden jungen Leutchen zu einem förmlichen Liebesverhältnisse. Aennchen war „jung, hübsch, munter, liebevoll und angenehm“, und Goethe sah sie täglich ohne Hindernisse, da er Mittags dort aß und Abends seinen Wein trank. Man sang miteinander und man spielte Komödie, sogar „Minna von Barnhelm“ wurde aufgeführt. Mit der Zeit jedoch sollte diese schöne Harmonie durch einen Mißklang gestört werden, an dem der junge Goethe sich selber die Schuld beimessen mußte.
„Ich ward,“ heißt es in „Wahrheit und Dichtung“, „von jener bösen Sucht befallen, die uns verleitet, aus der Quälerei der Geliebten eine Unterhaltung zu schaffen und die Ergebenheit eines Mädchens mit willkürlichen und tyrannischen Launen zu beherrschen. Durch unbegründete und abgeschmackte Eifersüchteleien verdarb ich mir und ihr die schönsten Tage. Sie ertrug es eine Zeit lang mit unglaublicher Geduld, die ich grausam genug war aufs Aeußerste zu treiben. Allein zu meiner Beschämung und Verzweiflung mußte ich endlich bemerken, daß sich ihr Gemüth von mir entfernt habe. Es gab schreckliche Scenen unter uns, bei welchen ich nicht gewann, und nun fühlte ich erst, daß ich sie wirklich liebe und daß ich sie nicht entbehren könne. Meine Leidenschaft wuchs und zuletzt trat ich in die bisherige Rolle des Mädchens. Es war zu spät: ich hatte sie verloren, und die Tollheit, mit der ich meinen Fehler an mir selbst rächte, indem ich auf mancherlei unsinnige Weise in meine physische Natur stürmte, hat sehr viel zu den körperlichen Uebeln beigetragen, unter denen ich einige der besten Jahre meines Lebens verlor. Schon früher hatte ich meine Unart deutlich genug wahrgenommen. Das arme Kind dauerte mich wirklich, wenn ich sie so ganz ohne Noth von mir verletzt sah. Ich stellte mir ihre Lage, die meinige und dagegen den zufriedenen Zustand eines andern Paares aus unserer Gesellschaft so oft und so umständlich vor, daß ich endlich nicht lassen konnte, die Situation zu einer quälenden und belehrenden Buße dramatisch zu behandeln. Daraus entsprang die älteste meiner übrig gebliebenen dramatischen Arbeiten, das kleine Stück: ‚Die Laune des Verliebten‘, an dessen unschuldigen Wesen man zugleich den Drang einer siedenden Leidenschaft gewahr wird.“
So war denn der Riß zwischen dem jungen Paar unheilbar geworden, ein kurzer Liebestraum war ausgeträumt, und Käthchen Schönkopf, die Verkannte, wandte ihr Herz einem andern Manne zu. Es war das, wie man weiß, der Dr. jur. Kanne, ein angehender praktischer Jurist, dem unser Dichter selbst das Zeugniß eines ebenso achtbaren wie zu den schönsten Hoffnungen berechtigenden jungen Mannes ausstellt und der denn auch wirklich bald nachher Goethe’s „Aennchen“ als seine Gemahlin heimführte.
Wo nun hat Käthchen Schönkopf ihre letzte Ruhestätte gefunden?
Wir freuen uns, unsern Lesern bezüglich dieser Frage mit einer durchaus verläßlichen Auskunft dienen zu können, und laden sie ein, uns zu einer kurzen Wanderung auf Leipzigs alten Johannis-Friedhof zu begleiten.
Dafern es überhaupt zulässig ist, von einer Stätte des Todes zu sagen, daß sie „auf dem Aussterbe-Etat stehe“, so dürfen wir diesen Ausdruck unbedenklich auf den gedachten, unmittelbar hinter der Johannis-Kirche gelegenen Gottesacker anwenden. Die Leipziger Stadtverwaltung hat unlängst seine allmähliche Auflassung beschlossen, ein anfänglicher Park wird mit der Zeit an die Stelle des einstigen Friedhofes treten und schon ist mit der Umwandelung der ehemaligen ersten Abtheilung desselben in eine Art von Square der Anfang gemacht worden, wobei man jedoch die Grabmonumente aller irgend denkwürdigen Toten in wohlverstandener Pietät unangetastet gelassen hat. Durchschreiten wir diese gegenwärtig im Entstehen begriffene Parkanlage, so gelangen wir an den nunmehrigen Anfang des eigentlichen Friedhofes. In die zweite Abtheilung desselben eingetreten, biegen wir sofort rechts ab und lenken unsere Schritte bis ziemlich in die Ecke, da, wo der Weg ein fast rechtwinkliges Knie bildet, um hier vor einem an zwei hochstämmigen Birken kenntlichen alten Erbbegräbnisse Halt zu machen. Die Rückseite desselben trägt folgendes Epitaphium als Überschrift:„Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben.“
Unmittelbar darunter befindet sich die so vielfach übliche eiserne Tafel, auf welcher die Namen sämtlicher Toten, deren Gebeine hier Aufnahme gefunden, mit goldenen, jetzt freilich ziemlich verwitterten Lettern verzeichnet sind. Unter diesen Namen nun begegnen uns auch die folgenden:
des K. S. Oberhofgerichts, der Juristenfacultät und des Raths
zu Leipzig Beisitzer, auch Proconsul,
geb. zu Wolkenstein d. 22. Dec. 1744, gest. d. 20. Febr. 1806.
Anna Katharina Kanne, geb. Schönkopf,
dessen Ehegattin,
geb. zu Leipzig d. 22. Aug. 1746, gest. d. 20. Mai 1810“
Dies also ist die Stelle, wo unseres großen Goethe’s erste Jugendliebe an der Seite des Gatten ihre letzte Ruhestätte gefunden, wo dasjenige weibliche Wesen, welches dem jugendlichen Dichter zu seiner frühesten dramatischen Arbeit, der „Laune des Verliebten“ Veranlassung gab, einer „fröhlichen Urständ“ entgegenschlummert. Käthchen Schönkopf ist volle zweiundzwanzig Jahre vor dem Freunde ihrer Jugend heimgegangen – sie ruhe in Frieden.
Nur wenige Tage noch, und wiederum sind wir vor dem Feste der Sommersonnenwende angelangt. Leipzigs Bewohner begehen in alter, frommer Sitte ihr Johannis-Fest und die Ruhestätten der Toten schmücken sich überall mit den Blüthen des Frühlings. Auch die vorstehenden Zeilen wollen ein solcher Johannis-Totenkranz sein, ein Kranz, den die „Gartenlaube“ niederlegt auf das verschollene Grab in der Ecke. Und wenn über Jahr und Tag die Zeit kommt, wo auch diese Abtheilung des alten Friedhofes verschwinden und einer heiteren Parkanlage Platz machen muß, so wird, so hoffen wir, die Stelle, deren wir hier gedachten, nicht spurlos der Vergessenheit überantwortet werden; gilt doch auch von Käthchen Schönkopf das trostreiche Wort:
„Ein Strahl der Dichtersonne fiel auf sie,
So hell, daß er Unsterblichkeit ihr lieh!“
Wichtig für die Berufswahl! Soeben ist ein Werkchen erschienen, welches vielen jungen und älteren Leuten, welche in den Staatsdienst zu treten beabsichtigen, in vielfacher Beziehung gewünschte Auskunft ertheilen kann. „Die Berufswahl im Staatsdienste“ ist der Titel dieses in der C. A. Koch’schen Verlagsbuchhandlung in Leipzig erschienenen Buches, das von dem Geheimen Rechnungsrevisor und Rechnungsrath am Rechnungshofe des deutschen Reichs A. Dreger auf Grund amtlicher Quellen herausgegeben wurde. Es ist, wie schon der Titel besagt, eine Zusammenstellung der wichtigsten Vorschriften über Annahme, Ausbildung, Prüfung, Anstellung und Beförderung in sämmtlichen Zweigen des Reichs- und Staats-, des Militär- und Marinedienstes, sowie über die wissenschaftlichen Erfordernisse, die Ausbildung und Prüfung der Aerzte, Apotheker, Thierärzte und Zahnärzte, als auch der Maschinisten und Steuerleute in der Handelsmarine.
Den Nutzen und die Zweckmäßigkeit dieses Buches wollen wir hier nur an einigen Beispielen erläutern. Nehmen wir an, daß ein Vater seinen Sohn in dem Postdienst unterbringen möchte. Die Bedingungen, unter welchen die Annahme seines Sohnes erfolgen müßte, sind ihm jedoch unbekannt. Er schlägt also in dem genannten Büchlein den betreffenden Abschnitt nach und erfährt auf Seite 48, daß die Annahme in diesem Dienst als Posteleve oder Postgehülfe erfolgen kann. Da er nun seinen Sohn für die höhere Postcarrière ausbilden lassen will, so interessiren ihn nur die für die Posteleven bestimmten Bedingungen:
Zunächst findet er an dem angegebenen Orte den Grad der Schulbildung genau angeführt, welchen der betreffende Bewerber erlangt haben muß, ferner erfährt er, daß derselbe nicht unter 16 Jahren und nicht über 25 Jahre alt sein darf, daß von ihm eine Caution im Betrage von 900 Mark zu erlegen ist etc.
Der Eleve muß im Allgemeinen im Stande sein, sich während der Ausbildungszeit ohne Beihülfe aus der Postcasse zu erhalten. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, denjenigen Eleven, welche ihre Aushülfe an einem nicht selbstgewählten Orte erhalten, bei vorhandener Bedürftigkeit und tadelloser Führung zu den Kosten des Unterhaltes von Zeit zu Zeit mäßige Beihülfen zu gewähren. Tagegelder erhält er nur dann, wenn er den Dienst eines unentbehrlichen, vollbeschäftigten Hülfsarbeiters versieht. Erfolgt die Verwendung an dem selbstgewählten Aufenthaltsorte, so werden dafür erst vom zweiten Dienstjahre ab Tagegelder gewährt, innerhalb des ersten Dienstjahres indeß nur zeitweilige Beihülfen bewilligt.
Wir sehen hier von der Ausführung der anderen über die spätere Dienstzeit Auskunft ertheilenden Abschnitte ab und fügen nur noch hinzu, daß der Postaspirant auch über seine zukünftige pecuniäre Einnahme aus [412] dem Buche Annäherndes erfahren kann. Am Schlusse des betreffenden Kapitels auf Seite 53 ist nämlich zu lesen:
Das Einkommen der Beamten der Post- und Telegraphenverwaltung beträgt: 1) für die Oberpostdirectoren 7000 bis 8000 Mk., 2) für die Oberpost- und Posträthe 4200 bis 6000 Mk., 3) für die Postcassenrendanten 3600 bis 4200 Mk., 4) für die Postcassierer 3000 bis 3600 Mk., 5) für die Oberpostdirections- und Obertelegraphensecretäre 2100 bis 3600 Mk., 6) für die Bureauassistenten, Oberpost- und Obertelegraphenassistenten 1500 bis 2400 Mk., 7) für die Vorsteher von Post- und Telegraphenämtern erster Classe 2400 bis 4800 Mk., 8) für die desgleichen zweiter Classe 1650 bis 3000 Mk., 9) für die Vorsteher von Postämtern dritter Classe (Postverwalter) im Durchschnitte 1125 Mk. bis 1800 Mk., 10) für die Post- und Telegraphensecretäre 1650 bis 3000 Mk., 11) für die Post- und Telegraphenassistenten 1050 bis 1800 Mk., neben freier Wohnung oder dem gesetzlichen Wohnungsgeldzuschuß.
Ein anderer Vater wünscht seinen Sohn zum Matrosen in der deutschen Marine ausbilden zu lassen. Er muß ihn also in die Schiffsjungen-Abtheilung bringen, welche die Bestimmung hat, Matrosen und Unterofficiere für die kaiserliche Marine auszubilden.
Auf Seite 46 erhält er darüber folgende Auskunft:
Die Ausbildung als Schiffsjunge dauert drei Jahre. Nach Ablauf von drei Jahren werden die Schiffsjungen, die genügende Ausbildung vorausgesetzt, als Matrosen, respective Obermatrosen eingestellt. Die Zöglinge haben die Verpflichung, nach Ablauf von drei Jahren, für jedes Jahr ihrer Ausbildung – außer der Erfüllung der allgemeinen gesetzlichen Militärpflicht – noch anderweite zwei Jahre der kaiserlichen Marine zu dienen, mithin eine neunjährige active Dienstzeit zu leisten. Die Meldung zur Aufnahme in die Abtheilung muß persönlich bei dem Bezirkscommandeur des Landwehrbataillons seiner Heimath erfolgen. Der Einzustellende muß am 1. April des Jahres, in welchem die Einstellung erfolgen soll, das vierzehnte Lebensjahr vollendet, darf das siebenzehnte Lebensjahr aber noch nicht überschritten haben, muß vollkommen gesund und kräftig sein und bei einem Alter von mindestens vierzehneinhalb Jahren mindestens eine Größe von 1,42 Meter und einen Brustumfang von mindestens 0,69 Meter haben. Bei einem Alter über fünfzehn Jahren muß die Größe 1,47 Meter, der Brustumfang 0,73 Meter betragen. Der Knabe muß leserlich und ziemlich richtig schreiben, ohne Anstoß lesen und die vier Species rechnen können.
In derselben Weise sind in dem vorliegenden billigen Werkchen (Preis 2 Mark) alle Branchen des Reichsdienstes bearbeitet, und indem wir den hohen Nutzen einer derartigen Zusammenstellung anerkennen, möchten wir darauf dringend hinweisen, daß ein solches Nachschlagebuch in Gymnasial-, Realschulen und öffentlichen Volksbibliotheken und in Lesehallen nicht fehlen dürfte.
Zum Johannis-Tage.
Auf den Alpen, fern im Süden,
Flammen die Johannis-Feuer.
Alte Sitte, die geblieben
Aus der Väter Zeit bis heuer.
Sonnenwende! – Morgengrauen! –
Eines Friedhofs heil’ge Schauer
Seh’ ich fern. – Die Augen thauen
Ueber mir in stiller Trauer.
Kränze tragen heut die Leute
Auf die Gräber, ihnen theuer.
Neue Sitte, schöner heute
Noch als die Johannis-Feuer.
Weil’ im Geiste an den Grüften
Einer lieben, lieben Todten.
Schmetternd auf zu blauen Lüften
Steigen Lerchen, Lenzesboten.
Lenz und Jugend! Tod und Leben! –
Glück und Trauer, war’s vergebens?
Kann mir keiner Deutung geben
Von dem Räthsel dieses Lebens? –
Bist du ganz mir denn entschwunden,
Ganz und immer mir entschwebet?
Nein, in weihevollen Stunden
Lebst du, wie du einst gelebet.
Noch die Hand mir sanft sich leget
Auf die heiße Stirn; wie ehe
Deine Lippe sich beweget,
Und den Mund umzuckt ein Wehe.
Was du liebtest, was du lebtest,
In mir ist es unverloren;
Was du fühltest, was du strebtest,
Wird in mir nun neu geboren:
Dein Beglücken, dein Verschönen,
Deiner Anmuth sanftes Weben,
Und vermählt mit meinen Tönen
Tracht’ ich andern es zu geben.
Nichts verschwindet in die Leere,
Kein Gedanke, kein Empfinden,
Kein Atom im Wüstenmeere.
Nur die Formen wechseln, schwinden.
Nein! – Es ist nur halb getroffen:
„Lang die Kunst und kurz das Leben“.
„Lang die Kunst“, so wahr wir hoffen:
„Ewig, ewig doch das Leben“!
Pillnitz im Juni. C. Th. Sch.
Das erste allgemeine deutsche Kriegerfest wird vom 1. bis 3. Juli dieses Jahres in Hamburg gefeiert. Die außerordentliche nationale Bedeutung dieses Festes verdient im ganzen deutschen Reiche die höchste Beachtung und wärmste Theilnahme. Es ist nicht zu viel behauptet, wenn ein Programm sagt: Das Volksheer in seiner innigen Verschmelzung aller Stände und Berufsclassen, in seiner strengen Mannszucht, in seiner Liebe zu Kaiser und Reich ist die Grundlage gegen zerstörende Elemente der Gesellschaft, und die ungemein zahlreiche Betheiligung aus den 10,000 Kriegervereinen aus allen Gauen Deutschlands ist Beweis dafür, daß das Volk die Bedeutung des Festes erfaßt, das vor Allem idealen Zwecken gewidmet ist, den humanitären Bestrebungen der großen Kriegerverbände ihre Weihe verleiht und durch das Andenken an den siegreichsten Kampf unseres Volkes die Vaterlandsliebe in Allen frisch beleben und, wo dies leider nothwendig sein sollte, wieder neu erwecken wird.
Den Millionen, welche diesem Feste nicht beiwohnen können, bietet sich wenigstens die Gelegenheit, es daheim mitzufeiern, indem sie sich in den Besitz der „Officiellen Festzeitung“, des „Officiellen Festprogramms“, des „Festzug-Albums“, des „Andenken an das erste deutsche Kriegerfest“ und der „Officiellen Congreß-Verhandlungen“ setzen, die sämmtlich bei F. H. Nestler und Melle tn Hamburg erscheinen werden.
sind noch eingegangen: Aus Moskau durch Herrn Arthur Man M. 192,30; aus Leche Linden, Houghton Co, Michigan, Amerika, durch Herrn William Hagen M. 556; Franz Rust in Alleghany M. 20.
Indem wir unsere Sammlung hiermit definitiv schließen, bemerken wir, daß dieselbe in Summa M. 11,476,51 betragen hat, welcher Gesammtbetrag dem Comité übersendet worden ist.
Kleiner Briefkasten.
G. J. in L. „Ein unwandelbarer Freund“ und „neunjähriger Abonnent der ‚Gartenlaube‘“ – und thut uns das Aergerniß an, trotz unserer schon so oft wiederholten Abmahnungen, ohne Nennung seiner Adresse unsere Gefälligkeit zu beanspruchen. Wird denn das nie ein Ende nehmen, nachdem schon Hunderte solcher Zuschriften in den Papierkorb geflogen sind? – Da er abseits vom Weltverkehr lebt, so sei ihm, ausnahmsweise, geantwortet, daß seine „Münze“ ein sogenannter, wahrscheinlich auch in Silber ausgeprägter Geschichtsthaler ist; über das betreffende Sprachlehrsystem ertheilt der Sanders’sche Artikel auf S. 346 der „Gartenlaube“ Nr. 21 wohl genügende Auskunft.
Ein Abonnent in Bfld. Schwindel.
B. D. Auf Ihre Anfrage, das Eierlegen betreffend, erhalten wir von unserm Mitarbeiter Dr. Karl Ruß folgende Auskunft: „Kein Vogel legt an einem Tage zwei Eier. In der Regel, das heißt bei den meisten Arten, geschieht das Eierlegen nur einen Tag um den andern, bei wenigeren, kleineren täglich, bei noch anderen in weiteren Zwischenräumen. Nur in höchst seltenen, ganz abnormen Fällen und wahrscheinlich immer in Folge eines krankhaften Zustandes des Eierstockes kommt es vor, daß ein Vogel an einem Tage zwei Eier hervorbringt. Wenn also die Behauptung aufgestellt worden, daß ein Huhn am ersten Tage ein Ei, am folgenden zwei Eier gelegt, dann einen Tag übergeschlagen und das Legen in dieser Weise regelmäßig fortgesetzt habe, so erkläre ich ganz entschieden, daß die Angabe auf Irrthum oder gar auf Täuschung beruhe.“
Mit nächster Nummer schließt das zweite Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere. Die Verlagshandlung.
- ↑ Smalte, ein durch Kobaltoxydul stark blau gefärbtes Glas, welches gemahlen als Farbe benutzt wird.