Ein Jahrhundert kleinrussischer Litteratur
Kleinrussische Novellen von Olga Kobylanska |
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Das kleinrussische Volk, welches die Hauptmasse der Bevölkerung in der russischen Ukraine, dem östlichen Teile Galiziens, der Bukowina und den angrenzenden Gebieten Ungarns bildet, ist eines der Stiefkinder der Geschichte. Früh schon wurde es der staatlichen Selbständigkeit beraubt, es unterlag den beiden mächtigen stammesverwandten Nachbarn, den Polen und Russen. Politisch zerrissen und unterdrückt, brütete das Volk dahin in dumpfer Ergebenheit und seiner selbst unbewußt, während die höheren Schichten sich bald bemühten, ihren Herren, den Polen und Russen, sich zu assimilieren. So schien es Jahrhunderte lang, als sei jede litterarische Bewegung, abgesehen von der reichen alten Volkspoesie, welche im Munde des Volkes fortlebt, bei den Kleinrussen erstorben; ja, die Sprache selbst, die ja nur [II] noch die Sprache der ungebildeten Bauern geblieben, schien in ihrer Existenz in Frage gestellt. Als im Jahre 1818 die erste Grammatik der kleinrussischen Volkssprache herausgegeben wurde, fügte der Verfasser erklärend hinzu, daß dies aus rein historischem Interesse geschehe, denn die kleinrussische Sprache sei im Aussterben begriffen, eine nicht lebendige und nicht tote Sprache. Doch als diese Worte geschrieben wurden, da waren die ersten Schritte zur Wiedererweckung der kleinrussischen Litteratur bereits gethan.
Das erste Werk, welches – abgesehen von einigen früheren Versuchen, die jedoch meist ungedruckt blieben und nicht genügende Beachtung vor der Öffentlichkeit fanden – in kleinrussischer Sprache erschien und dabei Anspruch auf litterarischen Wert machen konnte, war die Travestie der Vergilschen Aeneis von Iwan Kotlarewski. Das war im Jahre 1798 – und im Jahre 1898 da wurde allerorten, wo Kleinrussen wohnen, in Kiew, Odessa, Lemberg, Czernowitz u. v. a., das Andenken jenes ersten kleinrussischen Dichters und der hundertste Geburtstag der kleinrussischen Litteratur als hoher Festtag begangen.
Sehen wir, was diese Litteratur in ihrem ersten Jahrhundert geschaffen hat.
Zunächst jene Aeneis, deren erste Auflagen in Petersburg erschienen. Der Dichter hatte die Anregung dazu in einer russischen Bearbeitung von Blumauers „Aeneis“ gefunden, aber die Art, wie Kotlarewski [III] seinen Stoff behandelte, läßt sein Werk im Lichte der Geschichte als eine grundlegende That erscheinen. Zum ersten Male wurde hier das Volkstümliche, das Nationalkleinrussische mit voller Kraft zu seinem Rechte geführt, und von nun an nahm die kleinrussische Nation selbständig Teil an den gesamt-europäischen litterarischen Bewegungen. Nicht nur, daß hier zum ersten Male die Sprache des kleinrussischen Volkes mit Erfolg in die Litteratur eingeführt wurde, während man sich bisher einer Sprache bedient hatte, welche aus polnischen, großrussischen und vorwiegend altkirchenslawischen Bestandteilen zusammengeflickt war, auch das Volk selbst tritt hier treu und lebendig auf die Bühne. Denn die ganze Geschichte von den trojanischen Helden, den bunten antiken Götterhimmel benutzt Kotlarewski nur, um unter ihrer Maske seine eigenen Volksgenossen zu schildern. So sind die Götter mit Zeus an der Spitze nichts anderes als die kleinrussischen, polnischen und russischen Adligen und Beamten, die sorglosen Herren des arbeitenden Volkes, die in Saus und Braus dahinleben und keine höheren Ideale kennen als Essen und Trinken, und Trinken vor allem, während Aeneas und seine Gefährten echte fahrende Kosaken sind, welche in ihren Schiffen die Lieder der alten Saporoger singen von der Herrlichkeit ihres Sicz. – Wohl hat ein Kritiker Kotlarewski einen strengen Vorwurf daraus gemacht, daß er das kleinrussische Leben nur im Spott und von der lächerlichen Seite behandle, doch ganz [IV] zu Unrecht; denn mit dem, was er in diesem heiteren Gewande erzielen will, ist es dem Dichter heiliger Ernst, und überall leuchtet herzliche Humanität und wahre Liebe zum Volke hervor. Kotlarewski, welcher, im Jahre 1769 in Poltawa als Sohn eines kleinen Beamten geboren, im Jahre 1838 als Major und Leiter einer Erziehungsanstalt in seiner Heimat starb, ist auch der Schöpfer des nationalen Dramas geworden. Dies letztere stand damals in Kleinrußland noch ganz im Banne des Kirchentums, etwa auf der Stufe der mittelalterlichen Mysterien. Auch hier trat Kotlarewski als bahnbrechender Neuerer auf, indem er mit mächtigem Griff sein kleinrussisches Volk und kleinrussisches Leben auf die Bühne stellte. Und noch heute wird seiner „Natalka Poltawka“ und dem „Moskauer Zauberer“ in kleinrussischen Theatern zugejubelt.
So wird Kotlarewski nicht nur als Begründer der Litteratur, sondern auch als Erwecker des nationalen Bewußtseins in seinem Volke gefeiert. Ja, es lassen sich in seinem Werke im Keime bereits jene Züge erblicken, welche die gesamte kleinrussische Litteratur fernerhin charakterisieren: die scharfe Betonung des Nationalen, die schwärmerische Kosakenromantik, die streng demokratische Volkstümlichkeit. Dieser demokratische Zug, welcher sich in allen slavischen Litteraturen bemerkbar macht, liegt bei den Kleinrussen besonders fest begründet in den äußeren Verhältnissen. [V] Denn da die wenigen Vertreter der höheren Schichten, der Intelligenz dem eigentlichen Volke in Sitte und Sprache fast völlig entfremdet waren, so mußte die nationale Litteratur sich vornehmlich an die Bauern als alleinige Stütze wenden, und eine große Zahl ukrainischer und galizisch-ruthenischer Dichter ist auch selbst aus dem Bauernstande hervorgegangen. Die ukrainische Litteratur ist eine Bauernlitteratur von Geburt, und sie hat auch durch fremde Einflüsse sich in ihrem Wesen nicht wandeln lassen; daher spielte in ihr das Bauerntum seine natürliche Rolle, schon Jahre bevor man in West-Europa sich auf diesen für die litterarische Welt fast vergessenen Stand zu besinnen begann und bevor die russische Litteratur sich zu voller, starker Selbständigkeit hindurchgerungen hatte.
Jahre vergingen, ehe die Arbeit Kotlarewskis recht ihre Wirkung that und Nachfolger zu zeugen vermochte. Und als diese sich fanden, da bestand, wie das ja so zu kommen pflegt, die Nachfolgerschaft nur in täppischer, oberflächlicher Nachahmung, welche nicht die Kraft besaß, sich in Geist und Herz des Meisters hineinzuleben.
Zu eigener Bedeutung erhob sich aus der Schule Kotlarewskis Petro Artemowski-Hulak, der Sohn eines Geistlichen aus dem Gouvernement Kiew, welcher von 1790 bis 1866 lebte und in seinen Fabeln und Satiren die kleinrussische Litteratur durch feine künstlerische Gebilde bereichert hat. Besonders bezeichnend [VI] ist seine Geschichte „Der Herr und der Hund“, in welcher der Hund, der für alle seine Treue nur gequält und geschlagen wird, der Repräsentant des kleinrussischen Volkes ist. Zu hoher Entfaltung brachte die satirische Fabel in den dreißiger Jahren Eugen Hrebinka (1812 bis 1848).
Alle Zeitgenossen überragte jedoch Gregor Kwitka-Osnowjanenko (1778 bis 1843), welcher, aus einer Charkower adligen Gutsbesitzerfamilie stammend, sich schließlich, nachdem er sich im Militär- wie Zivildienst versucht hatte, sodann einige Jahre im Kloster zugebracht, von allem anderen unbefriedigt der Litteratur zuwandte. Er verließ die bis dahin vorherrschende Form der Humoreske und Satire und schuf in seinen Erzählungen, welche vom warmen Hauche tiefen Gefühls durchweht sind, das allerdings zuweilen als Sentimentalität erscheint, Bilder aus dem Leben des Volkes voll packender Natürlichkeit und Wahrheit. Auch einige volkstümliche Theaterstücke von Kwitka gelangten zu großer Popularität. Vor allem aber durch seine Erzählungen, welche überall gerade wegen ihrer Lebenswahrheit offene Herzen fanden, übte er einen außerordentlichen Einfluß auf sein Volk aus, welches seine Werke zu den Perlen heimischer Litteratur zählt.
Neue Stoffe, die nationale Geschichte und Tradition des kleinrussischen Volkstums, kamen gegen Ende der dreißiger Jahre zur Geltung, und zwar im Zusammenhang [VII] mit dem allgemein europäischen Entwickelungsgange der Litteratur. Das Zeitalter der Romantik brachte in der polnischen und russischen Litteratur eine schwärmerische Begeisterung für die Ukraine und das alte Kosakentum. In Polen bildete sich eine ganze ukrainische Schule. Deren glänzendste Vertreter sind Anton Malezewski mit seiner tragischen Erzählung aus der Ukraine „Maria“, Sewerin Goszzynski, welcher in seiner erschütternden Dichtung „Das Schloß von Kaniow“ (Zamek kaniowski), das grausige Bild eines kleinrussischen Bauernaufstandes im 18. Jahrhundert schildert, und der feine, zartlyrische Bohdan Zaleski, welcher seine zauberhafte Dichtung „Der Geist der Steppe“ (Duch od stepu) mit den Worten voll glühender Heimatbegeisterung beginnt:
Mich auch, Mutter Ukraine,
Mich auch hat sie, ihren Sohn,
Mit dem Lied genährt am Busen …
Zauberin, im Morgendämmer
Ahnend mein ätherisch Leben
In der Zukunft fernem Reich,
Sprach sie mild und zärtlich weich:
„Warte du mein Kind, Rusalka!
Milch der Lieder, Mark der Blumen
Nähr’ zum Flug den schwachen Leib;
Meines Ruhmes Sonnenzeiten
Leih als Bilder seinen Träumen!
Daß in Gold und Azur ihm
Regenbogengleich erblühen
Alle Sagen meines Volkes.“ …
[VIII] Doch auch andere, nicht eigentliche „Ukrainer“ wie der phantasiegewaltige polnische Romantiker Julius Slowacki mit seiner von Byronschem Geiste erfüllten poetischen Erzählung von dem Kosakenhetman Zmija und der große russische Romantiker Puschkin, sodann Nikolai Gogol, der im Gouvernement Poltawa geboren wurde und dessen Vater, Wassili Afanasjewitsch Gogol, sich selbst in der kleinrussischen Litteratur durch einige Komödien bethätigt hat, konnten sich dem Zauber der Ukraine nicht entziehen. Und wirklich, kein anderes Land bietet der Romantik ein reicheres Feld als jene Ukraine mit ihren weiten, ewigen Steppen, die bis zum blauen Meer sich dehnen, „wo Hügel sich an Hügel reiht, und jeder Hügel ist ein Grab,“ ein Grab und zugleich ein Denkmal der wilden, ruhmreichen Vergangenheit, da die Kosaken unter ihren tapfren Atamanen gegen Polen, Russen und Tataren fochten, die Saporoger in ihren leichten, flinken Booten bis vor die Kaiserstadt Konstantinopel fuhren und den Feind der Christenheit in seinem goldenen Palast erbeben machten, da die Tschumaken frei das Land durchzogen und der stolze Kosak keinen Herrn über sich erkannte.
Natürlich konnte diese Romantik gerade auf die eigentlichen Nachkommen jener alten Kosaken, das kleinrussische Volk, ihre Wirkung nicht verfehlen, und im Munde der neuen kleinrussischen Dichter erwachten die Lieder und der Geist der Sänger, der Teorbaspieler der Vorzeit, zu neuem, frischem Leben. [IX] Zu diesen kleinrussischen Romantikern gehört zunächst Ambrosius Metlynski (1814 bis 1870), dessen melodische Lieder wehmütig über den Ruinen der Vergangenheit klagen und schwärmerisch vom Ruhme des alten Kosakentums singen. In derselben Richtung bewegen sich einige Werke von Artemowski-Hulak und die Balladen von Borowikowski.
Zur höchsten Blüte entfaltete sich die kleinrussische Romantik, die kleinrussische Poesie überhaupt, in Taras Schewtschenko. Taras Schewtschenko wurde am 9. März (25. Februar) 1814 als Sohn eines Leibeigenen des Kiewer Gutsbesitzers Engelhardt geboren. Nach einer außerordentlich traurigen Kindheit – schon im Alter von 8 bis 9 Jahren wurde er Waise – wurde er im Jahre 1832 von seinem Herrn bei einem Petersburger Maler in die Lehre gegeben. Hier lenkte er die Aufmerksamkeit von Petersburger Künstlern auf sich, welche, unterstützt von dem berühmten Dichter Shukowski, im Jahre 1838 seinen Loskauf ermöglichten. Nun besuchte Schewtschenko die Akademie und wurde einer der Lieblingsschüler des Geschichtsmalers Brylow (Brüllow). Seine Thätigkeit teilte sich jedoch zwischen Malerei und Poesie. Im Jahre 1840 gab er seine erste Gedichtsammlung heraus unter dem Titel „Kobzar“ (Der Spielmann), welche ihm sofort den ersten Rang in der kleinrussischen Litteratur erwarb. Nachdem er 1844 als freier Künstler in die Heimat zurückgekehrt war, ereilte ihn dort im [X] Jahre 1847 ein trauriges Geschick: er wurde als Mitglied eines kleinrussisch-patriotischen Geheimbundes, welcher die Aufhebung der Leibeigenschaft, eine freie Verbrüderung aller Slaven u. a. als Ziel verfolgte, verhaftet, unter das Militär gesteckt und als gemeiner Soldat nach dem Orenburger Gonvernement, fern an die Grenze Asiens geschickt. Dabei war ihm streng verboten, zu schreiben! Nach zehn Jahren des Elends wurde er endlich auf Fürsprache von Petersburger Freunden freigegeben, doch seine physische Kraft war gebrochen; nachdem er abermals, im Jahre 1859, seine Heimat aufgesucht, starb er am 10. März (26. Februar) 1861. Bei Kaniew am Dnjepr wurden seine Gebeine beigesetzt, mitten in der weiten Steppe seiner Ukraine, wie er es gewünscht, ein neuer Grabhügel, der sich an die vielen andern des ukrainischen Landes reiht, in denen die ruhmreichen Söhne des kleinrussischen Volkes schlummern. Und zu ihnen gehört Schewtschenko wie kein andrer. Für sein Volk ist er der Sänger, der Genosse seiner Leiden, der Tröster und Führer; für die Weltlitteratur ist er eine der eigenartigsten und anziehendsten Dichtergestalten.
In Schewtschenkos Liedern liegt die Seele des kleinrussischen Landes und des kleinrussischen Volkes. Und diese Seele spricht in ihnen frei und ungekünstelt, in der schlichten, herzlichen Sprache des Naturkindes, und doch voll tiefer, zartester Empfindung und Poesie, voll der melancholisch süßen Innigkeit des slavischen [XI] Volksliedes. Ja, Schewtschenkos Poesie ist echte Volkspoesie. Und das ist das Große und Seltene an Schewtschenko. Seine Dumki sind nicht Gedichte, welche der Dichter in kluger Erkenntnis des Volkes dessen Verständnis angepaßt hat, es sind Lieder, die, aus dem Herzen des Volkes geflossen, mit urkräftiger Gewalt wieder zum Herzen des Volkes gehen. „Die Poesie Schewtschenkos“, so sagt sein Freund und Gefährte Kostomarow, „ist die Poesie des ganzen Volkes, doch nicht nur die, welche schon das Volk selbst in seinen namenlosen Schöpfungen, den Volksliedern und Dumen gesungen hat, es ist die Poesie, welche das Volk selbst würde anstimmen müssen, wenn es mit selbständiger Schöpferkraft ununterbrochen nach seinen ersten Liedern fortfahren wollte zu singen; oder vielmehr, es war die Poesie, welche das Volk wirklich angestimmt hat durch den Mund seines Auserwählten, seiner wahrhaft leitenden Persönlichkeit.“ Wohl sang auch Schewtschenko wie die anderen ukrainischen Romantiker von dem Ruhme der Vorzeit, den Kämpfen der freien Kosaken, den blutigen Bauernaufständen der Haidamaken, wohl träumte auch er über den Grabhügeln der Ahnen und lauschte dem Winde, der bald sanft, bald in wildem Brausen sein düsteres Lied durch die Steppe singt, doch über dem Versenken in die Vergangenheit verlor er nicht den Blick für das Leben der Gegenwart, und das traurige Geschick der Volksgenossen um ihn wirkte nicht minder auf seinen [XII] Geist und auf sein Gemüt als die Erinnerung der glanzvollen, in verschönendem Lichte gesehenen Tage der alten Kosakenherrlichkeit. Und dem Volke, mit dem er verwachsen bis in die innersten Fasern seines Wesens, dem allein er angehören wollte, ihm hat er sein ganzes Lebenswerk gewidmet, ihm hat er sein Glück, ihm hat er das höchste der Güter, die Freiheit zum Opfer gebracht. Sein Ideal, das in voller Schärfe und Klarheit aus seinen Liedern leuchtet, war ein freies kleinrussisches Volk, edel an Herz und Geist. Die Verwirklichung dieses Ideals erhoffte er von der Durchführung des panslavistischen Gedankens, doch, wohl verstanden, nicht jenes Panslavismus, den russische Regierungskreise zum willkommenen Vorwand einer Raub- und Eroberungspolitik auszubeuten sich bemühen, nein, frei und brüderlich sollen alle Slaven sich vereinen, „Söhne der Sonne Gerechtigkeit“.
Diese Ideen waren es, welche auch jener Verein ukrainischer Patrioten, die „Brüderschaft des heiligen Kirill und Method“, verfolgte, deren hervorragendste Mitglieder neben Schewtschenko Kostomarow und Kulisch waren. Auch sie fielen im Jahre 1847 der Verfolgung der russischen Regierung zum Opfer und erlitten eine mehrjährige Unterbrechung ihrer Thätigkeit, so daß durch jene Gewaltmaßregel die kleinrussische Litteratur etwa ein Jahrzehnt lang lahm gelegt war. Kostomarow (1817 bis 1885) hat sich, außer einigen geschichtlichen Dramen und Gedichten, hauptsächlich [XIII] durch seine Arbeiten auf dem Gebiete der Geschichte und Ethnologie, mit denen er eingehende Studien der Volkspoesie verband, um die kleinrussische Litteratur und die nationale Sache hervorragende Verdienste erworben. Ein großer Teil seiner historischen Werke ist zwar in russischer Sprache erschienen, aber die überwiegende Mehrzahl behandelt doch rein kleinrussische Stoffe.
Ein buntes, wechselvolles Bild bietet die Thätigkeit Panko Kulischs. Im Jahre 1819 geboren, lebte er bis 1897, und in seinem langen Leben hat er sich auf allen Gebieten der Litteratur versucht und immer mit reichem Erfolge. Doch seine Vielseitigkeit hat eine starke Schattenseite: sie erstreckte sich auch auf seine Anschauungen und Überzeugungen. Ursprünglich als Freund Schewtschenkos und Kostomarows zum Kreise der Brüderschaft Kirill und Method gehörig, hat er später, obwohl selbst Nachkomme eines alten Kosakengeschlechtes, den Ruhm der Kosaken in mehreren historischen und belletristischen Werken heftig angegriffen und die ganze Kosakenromantik zu vernichten getrachtet. Er that das jedoch aus Liebe zum gemeinen Volke, das von den Kosaken auch nicht wenig zu leiden hatte. Kulisch war kein streng objektiver Historiker, kein umsichtiger Politiker, doch blieb er bei allem bis zu seinem Tode ein treuer Sohn der Ukraine. Ein Meister der kleinrussischen Sprache, veröffentlichte er in derselben seinen besten [XIV] historischen Roman aus dem 17. Jahrhundert „Der schwarze Rat“, sodann kleinere Erzählungen, Dramen, lyrische und epische Dichtungen, übersetzte viele Werke von Shakespeare, Byron u. a.
Nachdem die Verfolgung der Mitglieder der Brüderschaft Kirill und Method nachgelassen, und nachdem der Krimkrieg in ganz Rußland eine Umwälzung der Gesinnungen hervorgerufen hatte, die zur Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 führte, trat ein neuer Aufschwung der kleinrussischen Bewegung ein, man gründete Sonntagsschulen und gab Volksbücher heraus. Großen Eindruck machten durch die Tiefe des Gefühls und Lebendigkeit der Darstellung die Erzählungen aus dem Volksleben von Marko Wowtschok (Opanas Markowitsch), welche vornehmlich das leidenvolle Dasein der leibeigenen Bauern schilderten. Einige von diesen Erzählungen übersetzte Turgenjew, der ja auch in seinen eigenen Werken für die Befreiung der Bauern kämpfte, in die großrussische Sprache. Des weiteren traten in dieser Zeit hervor die Erzähler Danilo Mordowetz (geboren 1830), Hanna Barwinok, die Gattin Panko Kulischs, Alexander Storoshenko, dessen Werke sich durch feine Psychologie und fröhlichen volkstümlichen Humor auszeichnen, der Fabeldichter Hlibow, Rudanski u. a.
Die ungehemmte Entwickelung der kleinrussischen Litteratur sollte jedoch nur ein kurzer Sonnenblick bleiben, denn gerade als die Aufhebung der Leibeigenschaft [XV] neue Hoffnungen erweckte, und als die neuen Verhältnisse viel eifrige und ungestörte Arbeit erforderlich machten, damit diese liberale That auch wirklich dem Volke Nutzen bringe, da huben von neuem die Verfolgungen wie der Polen so auch der Kleinrussen an, welche von Jahr zu Jahr immer schärfer wurden. 1863 wurden die Kiewer Sonntagsschulen aufgehoben, der Gebrauch der kleinrussischen Sprache in den Volksschulen wurde verboten, und im Jahre 1876 wurde durch kaiserlichen Ukas kurz und bündig verkündet: „Im ganzen Reiche ist der Druck von Werken in kleinrussischer Sprache, seien es eigene oder übersetzte, verboten!“ Die wenigen Ausnahmen, welche zugelassen werden sollten, sind gänzlich belanglos. So wurde die kleinrussische Litteratur in der Heimat, der Ukraine, völlig obdachlos gemacht. Sie flüchtete sich nun hinüber nach dem österreichischen Galizien und der Bukowina, wo, wie wir weiter unten sehen werden, auch schon unter den Ruthenen im Anschluß an die ukrainische Bewegung eine junge kleinrussische Litteratur sich heranbildete. Natürlich konnte von einem über Äußerlichkeiten hinausgehenden Erfolge jener harten Maßregel keine Rede sein, und in den achtziger Jahren griff denn auch in der russischen Regierung eine mildere Stimmung Platz, so daß wenigstens kleinrussische Theater geduldet wurden. Aber auch heutzutage, da das Erscheinen belletristischer Werke in kleinrussischer Sprache gestattet ist, [XVI] unterliegt diese Litteratur in Rußland noch einer strengeren Zensur als die russische selbst. So kommt es denn, daß die kleinrussische litterarische Bewegung noch jetzt ihr eigentliches Zentrum in den österreichischen Gebietsteilen hat. Die führenden Geister der ukrainischen Litteratur in den siebziger und achtziger Jahren sind Lewytzki-Netschuj, Konyski, Myrnyj und Schtschoholew. Iwan Lewytzki-Netschuj, geboren 1838, ist einer der beliebtesten Erzähler der kleinrussischen Litteratur. Er führt in alle Schichten der Gesellschaft, läßt die verschiedensten Typen seines Volkes ihr Wesen zeigen; wir sehen den Bauer in seiner armseligen Hütte, den Arbeiter in der Fabrik, wir lernen die Kreise der Gebildeten kennen, die Ideen, welche sie bewegen. Bald sind es Bilder voll tiefer Tragik, bald leicht und fröhlich hingeworfene Skizzen. Und auch der Tradition brachte Lewytzki seinen Tribut, indem er in seinen „Saporogern“ wieder die alten romantischen Zeiten erstehen ließ. In derselben Richtung bewegen sich auch die Werke des äußerst rührigen Alexander Konyski (1836–1900). Eine schärfere Betonung der sozialen Momente, kraftvollen Protest gegen alle Bedrücker des Volkes finden wir in den Erzählungen von Panas Myrnyj, welcher mit Vorliebe das in Mühsal und Not sich dahinschleppende Bauernvolk mit seinem wilden, ohnmächtigen Grimm gegen die Herren zum Gegenstand seiner lebensvollen, psychologisch scharfen und [XVII] treuen Schilderung wählt. Dazwischen tönen die Lieder Jakob Schtschoholews, welcher zunächst noch ganz nach seinen Jugendeindrücken und im Sinne der älteren romantischen Schule dichtete. Im Jahre 1824 geboren, lernte er während seiner Studentenzeit in Charkow noch Männer wie Artemowski-Hulak, Metlynski, Kostomarow kennen; er widmete sich nach Beendigung seiner Studien dem juristischen Dienste, welcher ihn zwar viel mit dem Volke in enge Berührung brachte, aber auch viele Jahre hindurch seine ganze Zeit und Kraft in Anspruch nahm. Nach einigen jugendlichen Anfängen beginnt seine dichterische Thätigkeit wieder nach langem Schweigen gegen Ende der siebziger Jahre und setzt sich bis in das letzte Jahrzehnt fort. In seinen späteren Dichtungen wendet er, dem Geiste der Zeit folgend, seinen Blick dem Leben und den Bedürfnissen des Volkes in der Gegenwart zu und verleiht ihnen ein mehr soziales Gepräge. Noch kurz vor seinem Tode, zu Beginn des Jahres 1897, gab Schtschoholew seine letzte Gedichtsammlung heraus.
Höher als bei anderen slavischen Völkern hat sich bei den Kleinrussen das Volksdrama entwickelt; gehört doch schon zu den ersten Äußerungen des kleinrussischen litterarischen Lebens das gefeierte Drama Kotlarewskis „Natalka Poltawka“ und ist doch das Theater im russischen Gebiete das freiste Mittel für den ukrainischen Dichter, zu seinem Volke zu sprechen. Mit besonderem Erfolge bethätigt sich auf diesem Gebiete Iwan [XVIII] Tobylewitsch (Karpenko-Karyj, geboren 1845), welcher in seinen Dramen, zuweilen mit volkstümlichem Humor, treffliche realistische Bilder der sozialen Zustände seiner Heimat entwirft. Nach ihm sind ferner zu nennen M. Kropywnytzki, Starytzki, Myrnyj.
Wie bereits kurz angedeutet, blieb die in der Ukraine beginnende rege litterarische Bewegung der kleinrussischen Nation nicht auf das russische Gebiet beschränkt, sie riß auch die unter etwas anderen Verhältnissen lebenden Stammesgenossen in Galizien und der Bukowina mit sich fort. Den ersten Anstoß zu einer nationalen kleinrussischen Litteratur gab hier im Verein mit einigen Freunden der Geistliche Markian Schaschkewitsch, welcher, im Jahre 1811 geboren, seine Thätigkeit gegen Ende der dreißiger Jahre begann, wo er einen kleinrussischen Almanach, „Die Russalka vom Dniestr“, herausgab, welcher im Jahre 1837 noch in Budapest gedruckt werden mußte. Jedoch starb Schaschkewitsch schon 1843, und viele seiner ehemaligen Mitkämpfer und Nachfolger, wie Jakob Holowatzki, A. Mohylnytzki, N. Ustyjanowitsch, verließen später wieder die Sache ihrer Jugend. Auf die endlosen und unerquicklichen Kämpfe zwischen den verschiedenen Parteien, welche teils den Anschluß an Polen, teils das Aufgehen der kleinrussischen Nation in der gesamtrussischen verlangten, während die kleinrussisch-nationale Partei, die Ukrainophilen, meinten, zusammen mit den ukrainischen Kleinrussen eine eigene Nation und Litteratur [XIX] bilden zu können, unabhängig von den Polen und unabhängig von den Russen, auf diese Kämpfe, welche auf litterarischem Gebiet mit dem Streit um das Alphabet begannen, will ich hier nicht näher eingehen, denn endlich, in den sechziger Jahren, nach einer traurigen Zeit völliger Dürre auf dem Felde der Litteratur, erhob sich die nationale Poesie von neuem, indem sie frische Kräfte sog aus den Werken Schewtschenkos und der anderen ukrainischen Dichter. Gewiß giebt es noch heute eine russische Partei in Galizien, aber trotz kräftigster Unterstützung von russischer Seite kann sie doch neben der nationalen und demokratischen kleinrussischen Volkspartei, welche schon außerordentlich viel zur Hebung und Erweckung der Bauern, wie auch zur Förderung der Litteratur gethan hat, nicht aufkommen. Im Jahre 1868 wurde der Verein „Proswita“ (Aufklärung) gegründet und 1873 die „Gesellschaft im Namen Schewtschenkos“. Diese letztere ist im Jahre 1892 in eine wissenschaftliche Gesellschaft umgewandelt worden, welche gewissermaßen eine kleinrussische Akademie der Wissenschaften darstellt; die von ihr herausgegebenen „Mitteilungen“ bringen eine Fülle von gediegenen wissenschaftlichen Studien. Die Schewtschenko-Gesellschaft giebt auch seit dem Jahre 1898 eine trefflich geleitete Monatsschrift „Literaturno-naukowyj Wistnyk“ (Litterarisch-wissen- schaftlicher Bote) in Lemberg heraus.
Ihren Führer und Meister fand die neu erstehende [XX] kleinrussische Litteratur in den österreichischen Gebietsteilen in Jurij Fedkowitsch (Josef Hordynski). Im Jahre 1834 in der Bukowina als Sohn eines Beamten geboren, trat Fedkowitsch 1852 in den Militärdienst, den er im Jahre 1863 als Offizier wieder verließ. Frühzeitig mit der deutschen Sprache und Poesie bekannt geworden, schrieb er seine ersten lyrischen Gedichte in deutscher Sprache, bis ihn ein kleinrussischer Patriot veranlaßte, sich der Sprache des eigenen Volkes zu bedienen. So trat Fedkowitsch in die kleinrussische litterarische Bewegung ein, unter deren hervorragendste Vertreter er sich reihen sollte. Seine Gedichte und Erzählungen, erstere zum Teil unter dem Einflusse Schewtschenkos, zeichnen sich durch unverfälschte Natürlichkeit, tiefes, mitfühlendes Verständnis des Wesens seines huzulischen Volkes und eine klingende, von Poesie durchglühte Sprache aus. Von herzlicher Liebe zu den Menschen und zu der schönen Natur seiner Heimat durchdrungen, gehören sie zu den besten Werken volkstümlicher Litteratur. Fedkowitsch starb im Jahre 1888. Ihm schließen sich an: Isidor Worobkewitsch (Danilo Mlaka), K. Ustyjanowitsch, G. Cehlynski, welche sich auch auf dem Gebiete des Dramas hervorgethan.
Einen weitgehenden Einfluß auf die Entwickelung der kleinrussischen Litteratur übte in den letzten Jahrzehnten durch seine wissenschaftliche und publizistische Thätigkeit, ähnlich wie früher Kostomarow, Michael [XXI] Dragomanow aus. Ein geborener Ukrainer, verließ er, als in den siebziger Jahren die Verfolgungen der kleinrussischen Schriftsteller in der russischen Ukraine immer unerträglicher wurden, die Heimat, wo er eine Professur an der Kiewer Universität bekleidete, und verlegte seinen Wirkungskreis nach Galizien, später in die Schweiz und schließlich nach Bulgarien, wo er im Jahre 1895 als Professor an der Sofianer Hochschule starb. Dragomanow hat durchaus in modernem Geiste auf seine Landsleute gewirkt, hat sie in unermüdlicher, hingebender Arbeit mit allen modernen Geistesströmungen Europas bekannt gemacht.
Der Hauptvertreter und Vorkämpfer dieser von Dragomanow vorbereiteten, in modernen Bahnen vorwärts schreitenden Litteratur ist der Galizier Iwan Franko (geboren 1856). Auch Franko ist der Sohn eines Bauern, und wie die besten unter seinen Vorgängern hält er mit Stolz und mit ganzer Seele zum Bauernvolke. In allen Zweigen der Litteratur ist er in erstaunlicher Vielseitigkeit hervorgetreten und mit zäher Bauernenergie kämpft und arbeitet er unermüdlich für sein Ideal: die Befreiung seines kleinrussischen Volkes aus jeder Art der Unterdrückung und Unfreiheit. Kaum je aber tritt in seinen künstlerischen Werken das Wirken für dieses Ideal in störender, predigthafter Weise hervor; durch die realistische Kraft der Darstellung erreicht er meisterhaft sein Ziel: er ist ein Tendenzdichter im guten Sinne des Wortes. In seinen Erzählungen [XXII] bringt er Typen aus allen Klassen der Gesellschaft zur Darstellung, immer in dem Streben, seine Menschenbrüder „zu bessern und zu bekehren“, und als er am Ende des Jahres 1898 auf eine fünfundzwanzigjährige litterarische Thätigkeit zurückblickte, da wurde ihm von Vertretern aller Stände aufrichtiger Dank als schönste Gabe dargebracht. Doch ist Franko nicht blindlings auf die realistische Schule eingeschworen, und viele seiner zarten, empfindungstiefen Gedichte, sowie manche romantisch-phantastische Erzählung zeugen von seinem eigenartigen, schulfreien Wesen. Neben seinen zahlreichen belletristischen Werken hat Franko sich ferner auch durch eine ganze Reihe wissenschaftlicher Arbeiten auf dem Gebiete der Philologie und Geschichte seiner Nation reiche Verdienste erworben.
Neben Franko, welcher seine ganze Kraft der Sache des leidenden und gedrückten Bauernvolkes widmet, stellt sich als führende Persönlichkeit, in der sich der Geist der modernen kleinrussischen Litteratur verkörpert, Olga Kobylanska, in welcher im Besonderen die Sache der Frauen eine begeisterte Kämpferin findet. Im Jahre 1865 in der Bukowina geboren, erhielt Olga Kobylanska den dortigen Verhältnissen entsprechend eine fast ausschließlich deutsche Erziehung. So schrieb sie, wie ihr Landsmann Fedkowitsch, ihre ersten litterarischen Versuche in deutscher Sprache, und erst durch die Bekanntschaft mit den kleinrussischen Patriotinnen Natalie Kobrynska [XXIII] und Sophie Okuniewska – die erste Kleinrussin, welche den medizinischen Doktorgrad erwarb – wurde sie in die litterarische Bewegung ihrer Nation hinübergezogen. Das Schicksal des Weibes, des zur Hilflosigkeit verurteilten, beschäftigte von je ihr Fühlen und Denken aufs innigste. Das Wort „nur ein Weib“ genügte ihr nicht, und rücksichtslos fordert sie für das Weib volle Freiheit und unverkümmertes Recht auf Leben und Liebe. Dies Verlangen kommt ihr nicht aus sozialpolitischer Weisheit, es lodert mit Naturgewalt aus mitfühlendem, heißem Herzen, und das nicht zum Schaden des poetischen Wertes ihrer Schöpfungen, wenn auch die Klarheit der praktischen Schlüsse darunter leidet. Das giebt den Grundzug der Gedanken und Gefühle, welche in ihren Erzählungen leben, in denen sie uns in psychologisch feiner und scharfer Darstellung Anteil nehmen läßt an den schmerzvollen Kämpfen des entgegen den Vorurteilen und Gesetzen, entgegen der Not des Lebens nach Freiheit ringenden Weibes, das in diesem Kampfe an der eigenen eingeborenen Hilflosigkeit oder an der Übermacht der äußeren Gewalten meist erliegen muß. Nur für die Künstlerin und für das starke Bauernweib, das unkultivierte Kind der Berge, findet sie den Weg zur Freiheit. Bei dem unwandelbaren Triebe zur Freiheit, zum Individualismus, der im innersten Wesen der Dichterin sich gründet, ist es natürlich, daß Nietzsche auf sie einen starken Eindruck machen mußte, und [XXIV] Spuren seines Einflusses finden sich nicht selten in ihren Werken. Das Verlangen nach stolzer Freiheit ist es auch, das ihr die Liebe zu der majestätischen Gebirgsnatur der Heimat, in der sie erwachsen ist, tief im Herzen wurzeln läßt. In ihr erhebt sie sich zu reinster, urgewaltiger Poesie. Es sind ihre besten Schöpfungen, in denen sie die Schicksale ihrer Menschen mit dem Leben der Natur innig ineinanderwebt. Und auch ohne Menschen bietet diese ihr dramatischen Stoffes genug, um bewegte, farbenreiche Bilder aus ihr zu gewinnen. Selten ist es einem Dichter gelungen, das geheime Leben des Waldes bis in seine verborgensten Regungen menschlichem Empfinden so nahe zu bringen, wie Olga Kobylanska es gethan, in höchster Vollendung in der Schilderung der Schlacht zwischen den hundertjährigen Riesen der freien, stolzen Berge und dem kleinen, gewinnsüchtigen Menschenvolk, das sich mit ruchloser Hand an der heiligen Größe des Urwaldes vergreift. Wohl öffnet sie ihr Herz auch der Not des Tages und den Leiden der Kleinen, wie sie ein paar treffliche Bildchen aus dem mühseligen Dasein der Bauern gezeichnet, doch ist es das Große und Freie in der Menschenseele wie im Leben der Natur, bei dem sie am liebsten verweilt, und die Aristokratin des Gemütes ist ihre Lieblingsheldin. Den Gedanken, welcher für ihr weiteres Schaffen bestimmend geworden ist, spricht sie aus in den Worten: „es scheint mir, daß man besonders im Leben des einfachen Landmannes auch [XXV] anderen Erscheinungen begegnen kann, als Hunger, Not, Stumpfheit und dergl.“ und „daß, wenn man die Augen seiner Seele gut offen hält, man auch an Alltagstagen und im Alltagsleben mehr sehen kann, als man bis nun zu sehen gewohnt war“. – Daß die Dichterin, welche alle Bewegungen der Seele und des Geistes des modernen Menschen im Innersten selbst durchlebt, der nicht nur Liebe und Verständnis für alles Leben um sie gegeben ist, sondern auch das träumerische Sehnen, welches die empfängliche Seele in erdenferne, geheimnisvoll lichte Räume der Phantasie erhebt, ihre Empfindungen und Stimmungen mitunter in symbolistischen Tönen ausströmen läßt, stört nicht die Einheit ihres dichterischen Wesens.
In praktischer Thätigkeit an der Spitze der kleinrussischen Frauenbewegung in Galizien steht Natalie Kobrynska (geboren 1855), welche zugleich auch auf belletristischem Gebiete zu den besten Kräften der kleinrussischen Litteratur gehört. Scharf und wahrhaftig schildert sie in ihren Erzählungen das Wesen und das Schicksal des Weibes, mit Vorliebe in den ruthenischen Priesterfamilien – ihr Vater wie ihr Mann waren unierte Geistliche – das hilflose Unverständnis der Alten gegenüber dem modernen Geiste, das Ringen der Stärkeren unter den Jungen nach den Gütern und Idealen dieses Geistes der Zeit. Und nicht nur für die wirtschaftliche und individuelle Selbständigkeit der Frau tritt sie ein mit aller Energie, auch die der [XXVI] ökonomisch und politisch unfreien Bauern verficht sie in treuer Darstellung der gegenwärtigen Zustände. In letzter Zeit hat sich Natalie Kobrynska der psychologischen Erforschung der rätselhaften, geheimnisvoll an der Schwelle des Bewußtseins stehenden Regungen der Menschenseele zugewandt, die sie, verwoben mit phantastischen Volksmärchen, in poesievoller Harmonie zu spiegeln sucht. Auch sie ergeht sich neuerdings zuweilen in dekadent-symbolistischen Nebelwelten.
Noch eine ganze Reihe beachtenswerter Talente stellt die kleinrussische Frauenwelt der Litteratur: den Genannten, Hanna Barwinok, Olga Kobylanska, Natalie Kobrynska, schließen sich an: Olena Ptschilka, die Schwester Dragomanows, und ihre Tochter Lesja Ukrajinka (Larissa Kossatschiwna, geboren 1872), welche neben eigener zarter Lyrik auch vorzügliche Übertragungen Heinescher Gedichte geliefert hat, Dnjiprowa Tschajka (Wasyliewska), Ludmilla Starytzka, Julie Schneider.
Unter der beträchtlichen Schar der jüngeren Mitstreiter und Nacheiferer Frankos, welche ihren Sammelpunkt in der oben genannten Zeitschrift „Literaturnonaukowyj Wistnyk“ finden, haben sich geachtete Namen erworben: Boris Hrintschenko, W. Samijlenko, M. Kocjubynski, Ossip Makowej, Andrij Tschajkowski, Timotej Bordulak, Bohdan Lepkyj, W. Schtschurat, u. v. a. Zu weitester Anerkennung hat sich unter ihnen neuerdings binnen kurzer Frist der junge Galizier [XXVII] Wasyl Stefanyk emporgeschwungen. Auch sein Held ist der Bauer, den er uns in jeder Lage seines eintönigen und doch an Mühsalen so reichen Daseins in meist düsteren Szenen greifbar vor Augen stellt. In unübertrefflicher Schärfe, gedrungener Kraft wirft er seine Skizzen hin, gleichsam blitzartig den Vorgang, den er uns zeigen will, erhellend.
Wir haben jetzt ein Jahrhundert litterarischer Arbeit in flüchtigen Bildern an uns vorüberziehen lassen, einer Arbeit, welche in ununterbrochenem Kampfe gegen widrige äußere Verhältnisse von einem Volke geleistet wurde, das sich erst von neuem zu eigenem Leben emporringen mußte. Und nicht nur durch rohe Gewaltmaßregeln drohte der kleinrussischen Litteratur Gefahr, auch der machtvoll sich ausbreitenden russischen Litteratur gegenüber mußte sie mit aller Kraft ihre Stellung wahren; war es doch von Alters her keine so seltene Erscheinung, daß geborene Ukrainer ihr Talent ganz in den Dienst der russischen Litteratur stellten. Wir haben gesehen, daß die Entwickelung aus bescheidenen Anfängen vorwärts gegangen ist, die in jenen enthaltenen Keime zu Blüten entfaltend, welche ihre Lebenssäfte aus dem ewigfrischen Boden des Volksgeistes ziehen. Und das ist die Eigenart der kleinrussischen Litteratur: sie ist vielleicht diejenige, welche am wenigsten sich von dem Ideenkreise der großen Masse des einfachen Volkes entfernt hat, welche am urwüchsigsten die Gedanken und Gefühle, welche dieses Volk von Bauern bewegen, [XXVIII] zum Ausdruck bringt, doch nicht etwa im kindlichen Stammeln des Naturmenschen, sondern in künstlerisch vollwertigen Werken. Kwitka, Schewtschenko, Wowtschok, Fedkowitsch und eine ganze Reihe anderer bis in den Kreis der Jüngsten hinein, vor allem Franko, Kobylanska und Stefanyk, das sind Dichtergestalten, welche einer jeden Litteratur Ehre machen würden, und welche der kleinrussischen durch ihre eigenartigen, selbstsicheren Schöpfungen das volle Recht einer litterarischen Nation erworben haben, das Recht, als selbständiges Glied in der großen Gemeinde der Weltlitteratur geachtet zu werden.
Schwerin i. M., 4. September 1901.