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Mathematik (1914)

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Autor: Emil Lampe
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Titel: Mathematik
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aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band, Zehntes Buch, S. 69–92
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[1213]
Mathematik
Von Geh. Reg.-Rat, Dr. Ing. ehrenh., Dr. rer. nat. h. c., Dr. ph. Emil Lampe, Professor an der Technischen Hochschule in Charlottenburg
Herausgeber der Jahrbücher über die Fortschritte der Mathematik


Ein Überblick über die Schöpfungen der Mathematik bei einem einzelnen Volke und in dem beschränkten Zeiträume eines Vierteljahrhunderts hat zu berücksichtigen, daß diese Wissenschaft eine Entwicklung aufweist, die nach Jahrtausenden zählt, und daß sie an allen Stätten der Erde gepflegt wird, wo die Menschheit sich zur Höhe des philosophischen Denkens erhoben hat. Die zeitlichen und räumlichen Zusammenhänge müssen daher wenigstens angedeutet werden.

Am deutlichsten können diese Zusammenhänge dem Nichtmathematiker durch die Betrachtung solcher Vorgänge erläutert werden, die in gemeinsamem Wirken der Angehörigen einer Wissenschaft aus den verschiedenen Völkern ihre Wurzel haben.

Internationaler Wissenschaftlicher Katalog.

Für alle realen Wissenschaften wird durch die stetige Arbeit der Fachgelehrten in jedem Jahre eine solche Menge von Ergebnissen in einer großen Zahl von Druckschriften niedergelegt, daß auch eine nur oberflächliche Kenntnisnahme der Veröffentlichungen in der Urschrift für den einzelnen nicht mehr möglich ist. Die besonders in Deutschland zuerst ins Leben gerufenen Jahresberichte über die Fortschritte in den einzelnen Wissenschaften genügen zwar für die dringendsten Bedürfnisse, leiden aber an dem Mangel der Unvollständigkeit, weil nicht alle in den verschiedenen Ländern der Erde erscheinenden Arbeiten zur Verfügung der Berichterstatter stehen. Daher wurde auf Anregung der Londoner Royal Society nach längeren internationalen Verhandlungen, die besonders sich der kräftigen Förderung von Fr. Althoff zu erfreuen hatten, die Herausgabe eines „Internationalen Wissenschaftlichen Kataloges“ für alle realen Wissenschaften beschlossen. In diesem Katalog werden die Titel aller wissenschaftlichen Druckschriften nach sachlicher Ordnung zusammengestellt. Jede beteiligte Nation hat innerhalb ihres Gebietes durch ein hierzu eingesetztes Amt die Sammlung zu bewerkstelligen und dann das geordnete Material dem Zentralamt der Royal Society zu übermitteln. So ist für Deutschland das „Deutsche Bureau der Internationalen Bibliographie der Naturwissenschaften“ in Berlin (Enckeplatz 3) eingerichtet. Seit dem 1. Januar 1901 wird für 17 Einzelwissenschaften, unter denen die Mathematik an der ersten Stelle (A) steht, hier die Literatur der deutschen naturwissenschaftlichen Arbeiten gesammelt. Leider ist [1214] der Preis für die einzelnen, nicht gerade starken Bände, die je ein Jahr umfassen, so hoch, daß wohl nur wenige Privatleute imstande sind, diese Sammlung von Titeln aus ihrer Spezialwissenschaft zu erwerben.

Internationale Mathematiker-Kongresse.

Eine internationale Einrichtung, die für die Mathematik allein in Betracht kommt, sind die in den letzten Jahrzehnten abgehaltenen internationalen Mathematikerkongresse, von denen der erste 1897 in Zürich, der zweite 1900 in Paris, der dritte 1904 in Heidelberg, der vierte 1908 in Rom, der fünfte 1912 in Cambridge stattgefunden hat. Der wesentliche Nutzen solcher Kongresse besteht darin, daß die Fachgelehrten der verschiedenen Völker sich persönlich kennen lernen und ihre Gedanken im Gespräche austauschen können. Die gedruckten Verhandlungen der Kongresse ermöglichen es auch denen, die nicht anwesend gewesen sind, aus den gehaltenen Vorträgen sich ein Bild von dem Gange der Verhandlungen zu machen. Als eine gemeinsame Angelegenheit ist seit dem Kongresse in Rom die Frage über die Methode des Unterrichts in der Mathematik durch eine internationale Unterrichtskommission behandelt worden. Die Anregung hierzu ist von Deutschland ausgegangen, wo Felix Klein auf den Naturforscherversammlungen und in dem Vereine zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts seine volle Energie in nicht nachlassender Agitation für eine Reform dieses Unterrichtes eingesetzt hat. Ebenso haben sich diese Zusammenkünfte als förderlich für große Unternehmungen erwiesen, wie die Herausgabe der Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften, mit Einschluß ihrer Anwendungen, sowie die jetzt endlich verwirklichte Ausgabe der Werte von Leonhard Euler. In der Hauptsache sind aber doch die Anregungen, die der einzelne im Austausche der Gedanken mit gleichstrebenden Fachgenossen erhält, die greifbarsten Vorteile solcher Zusammenkünfte.

Deutsche Mathematiker-Vereinigung.

Ein Zusammenschluß der deutschen Mathematiker zu gemeinschaftlicher Arbeit hat sich durch die Bildung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung vollzogen. Nach manchen vorangegangenen Anläufen, unter denen besonders eine im April 1873 zu Göttingen stattgefundene Versammlung deutscher Mathematiker zu erwähnen ist, wurde bei der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Heidelberg 1889 infolge einer Anregung von Georg Cantor in der mathematischen Abteilung die Frage einer engeren Verbindung der deutschen Mathematiker auf die Tagesordnung der nächsten Versammlung in Bremen gesetzt und hier dann 1890 durch entsprechende Beschlüsse prinzipiell geregelt. Die Satzungen wurden endlich 1891 auf der Naturforscherversammlung in Halle angenommen; nach ihnen hält die unter dem Namen „Deutsche Mathematiker-Vereinigung“ gegründete Gesellschaft alljährlich ihre Sitzungen in Gemeinschaft mit der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte ab. Sie hat seit ihrer Stiftung eine reiche Tätigkeit entfaltet; ihre Mitgliederzahl betrug 769 nach dem Stande vom 1. Januar 1913.

[1215] Das Organ der Vereinigung trägt den Titel „Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung“; es brachte ursprünglich neben dem Geschäftsberichte und kurzen Wiedergaben der von den Mitgliedern auf der Jahresversammlung gehaltenen Vorträge hauptsächlich große Referate über den augenblicklichen Stand einzelner Gebiete. Um die Lebensfähigkeit der neuen Zeitschrift zu sichern, wurde es aber nötig, die Veröffentlichung auf eine breitere Basis zu stellen, und deshalb erscheint jetzt der Jahresbericht, der inzwischen aus dem Verlag von Georg Reimer in Berlin zu dem von B. G. Teubner in Leipzig übergegangen war, in Monatsheften und nimmt außer den vollständig wiedergegebenen Vorträgen der Jahresversammlungen und den im Auftrage der Vereinigung erstatteten Berichten besonders noch mathematische Gelegenheitsreden sowie Nekrologe, ferner Mitteilungen über die Verhandlungen in gelehrten Gesellschaften, Rezensionen und Personalnachrichten aus mathematischen Kreisen auf. Besonders wertvoll sind die erwähnten wissenschaftlichen Referate, die zum Teil den Umfang starker Bände erreicht haben, die wir hier aber nicht einzeln aufzählen können.

Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften.

Unter den Schöpfungen, die von der Deutschen Mathematiker-Vereinigung ins Leben gerufen sind, ist in erster Linie zu nennen die Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen, herausgegeben im Auftrage der Akademien der Wissenschaften zu Göttingen, Leipzig, München und Wien, in 7 Bänden oder 13 Teilen. Ursprünglich als einfaches Wörterbuch der Mathematik gedacht, in welchem die vielen technischen Ausdrücke dieser Wissenschaft genau definiert und erläutert werden sollten, wuchs das Werk unter den Händen des ersten Bearbeiters W. Fr. Meyer zu einem solchen Umfange, daß die Unmöglichkeit der Durchführung unter Festhaltung dieses beschränkten Planes sich zeigte; daher wurde der anfängliche Gedanke aufgegeben und auf der Naturforscherversammlung in Wien 1894 der Vorschlag einer enzyklopädischen Darstellung der ganzen Mathematik angenommen. Es kam hierbei unter anderm in Betracht, daß das geplante Werk in gewisser Weise eine sachliche Darstellung der Entwicklung der Mathematik im neunzehnten Jahrhundert zu geben hätte, also in dieser Hinsicht gewissermaßen eine Fortsetzung der Geschichte der Mathematik von Moritz Cantor geben sollte. Aus solchen etwas unbestimmten Vorstellungen heraus hat sich der endgültige Plan für die gegenwärtige Gestalt der Enzyklopädie entwickelt, die allmählich mehr und mehr in die Breite gegangen ist, und deren Vollendung mit Ungeduld erwartet, in absehbarer Zeit aber trotz der treibenden Kraft des Verlegers kaum erfüllbar scheint.

Bei der Inangriffnahme des Werkes wurde das Ziel in den folgenden Sätzen des Programms von 1895 ausgesprochen: Aufgabe der Enzyklopädie soll es sein, in knapper, zu rascher Orientierung geeigneter Form, aber mit möglichster Vollständigkeit eine Gesamtdarstellung der mathematischen Wissenschaften nach ihrem gegenwärtigen Inhalt an gesicherten Resultaten zu geben und zugleich durch sorgfältige Literaturangaben die geschichtliche Entwicklung der mathematischen Methoden seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nachzuweisen. Sie soll sich dabei nicht [1216] auf die sogenannte reine Mathematik beschränken, sondern auch die Anwendungen auf Mechanik und Physik, Astronomie und Geodäsie, die verschiedenen Zweige der Technik und andere Gebiete mit berücksichtigen und dadurch ein Gesamtbild der Stellung geben, die die Mathematik innerhalb der heutigen Kultur einnimmt.

Zur Durchführung dieses großartigen Unternehmens bedürfte es des gleichzeitigen Zusammenwirkens einer Reihe günstiger Umstände: der freudigen Begeisterung eines Stammes von Leitern, unter denen in erster Linie W. Fr. Meyer, H. Burkhardt, F. Klein zu nennen sind, denen sich bald W. Wirtinger, C. H. Müller, A. Sommerfeld, Ph. Furtwängler, E. Wiechert und K. Schwarzschild zugesellten; der frischen und flotten Mitarbeit der besten Kräfte zunächst aus Deutschland, dann aber auch aus den übrigen Kulturländern, von wo überall frohe Zustimmung zu dem begonnenen Werke sich hören ließ. Nicht zum mindesten aber wirkte die Verlagsbuchhandlung immer von neuem ermutigend und anfeuernd; ihr dem mathematischen Zweige vorstehender Inhaber A. Ackermann, dem die Förderung der mathematischen Literatur ein Herzensbedürfnis ist, wurde nicht müde, durch klugen geschäftlichen Rat und großartiges Entgegenkommen die vielen Schwierigkeiten wegräumen zu helfen, die sich dem Riesenwerke entgegenstellten. Und so läßt sich mit W. v. Dyck nach seinem Berichte vor dem internationalen Mathematikerkongreß zu Rom auch heute noch sagen, daß der frische Impuls des ersten Angriffs der Arbeit treu geblieben ist, daß das Werk in allen seinen Teilen in rüstigem Fortschreiten begriffen, wenn auch noch lange nicht zu Ende geführt ist. Die ersten erschienenen Lieferungen fanden einen solchen Beifall, daß die französischen Mathematiker es für angezeigt hielten, unter der Zustimmung der Verfasser der einzelnen Artikel und der Verlagsbuchhandlung eine französische Bearbeitung zu veranstalten. Die hierbei geleistete neue Arbeit kommt in vielen Erweiterungen, Umordnungen und Verbesserungen zur Erscheinung.

Im Anschluß an die Enzyklopädie sind dann auch noch zahlreiche selbständige Werke entstanden. Von der Verlagsbuchhandlung dazu aufgefordert, haben viele Verfasser der einzelnen Artikel ihre knappen Darstellungen, die ja auf kurze Zusammenstellung von Ergebnissen zu beschränken waren, in vollständigerer Weise zu ausführlichen Lehrbüchern erweitert, und die Verlagshandlung hat die so entstandenen Bücher nebst anderen, die auf ihre Anregung hin verfaßt wurden, bezeichnet als B. G. Teubners Sammlung von Lehrbüchern auf dem Gebiete der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen. Außerdem ist aus demselben Verlage die dreibändige Enzyklopädie der Elementarmathematik hervorgegangen, ein Handbuch für Lehrer und Studierende von H. Weber und J. Wellstein. Diese kleine Enzyklopädie wird durch ein noch nicht vollständiges Werk ergänzt: Grundlehren der Mathematik für Studierende und Lehrer, das nicht unmittelbar für den Unterricht bestimmt ist, aber durch eine wissenschaftlich strenge Bearbeitung der Elementarmathematik den Lehrer der Mittelschule mit dem zu behandelnden Stoffe näher bekannt machen soll.

Mathematische Gesellschaften und Zeitschriften.

Neben den großen Verbänden der Mathematiker, die im vorstehenden erwähnt sind, haben sich besonders in den Universitätsstädten zu gleichen [1217] Zielen kleinere Gesellschaften gebildet, von denen die Hamburger Mathematische Gesellschaft, die auch alljährlich ein kleines Heft von „Mitteilungen“ veröffentlicht, schon 1890 ihr 200jähriges Bestehen feiern konnte. Im Vergleich mit ihr sind die neuen Gesellschaften in Göttingen, Berlin, Straßburg, Breslau usw. sehr jung, übertreffen sie aber durch die Zahl ihrer Mitglieder und die Regsamkeit in den Sitzungen. Durch eine besonders große Zahl von Mitgliedern (271 am 12. Oktober 1912) ist die Berliner Mathematische Gesellschaft ausgezeichnet, die erst seit 1901 besteht. Sie gibt auch regelmäßig ihre Sitzungsberichte heraus, die den einzelnen Heften des Archivs der Mathematik und Physik angehängt werden. Die „Unterrichtsblätter für Mathematik und Naturwissenschaften“ sind seit 1895 das Organ des großen Vereins zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichtes. Sie erscheinen in Monatsnummern und bringen neben Besprechungen unterrichtlicher Fragen auch mathematische Originalartikel kleineren Umfanges und elementaren Inhaltes. Endlich erscheinen auch monatlich seit 1904 die „Mathematisch-naturwissenschaftlichen Blätter. Organ des Verbandes mathematischer und naturwissenschaftlicher Vereine an deutschen Hochschulen“. In ihnen werden außer den Vereinsnachrichten auch mathematische Aufsätze und Rezensionen mathematischer Werke abgedruckt.

Die vorstehend erwähnten deutschen periodischen Zeitschriften mathematischen Inhaltes sind in den 25 Jahren seit 1888 neu entstanden. Die alten großen und kleinen Zeitschriften sind in ihrer charakteristischen Art bestehen geblieben. Nur die „Zeitschrift für Mathematik und Physik“ hat sich umgewandelt in ein „Organ für angewandte Mathematik,“ das mit dieser ausschließlichen Bestimmung gefehlt hatte und besonders von den Lehrern der Technischen Hochschulen gewünscht wurde. Dafür hat das Archiv der Mathematik und Physik, das seit dem Tode seines langjährigen Schriftleiters R. Hoppe (1900) in den Teubnerschen Verlag übergegangen ist, unter einer neuen rührigen Leitung die Ziele zu vereinigen gesucht, welche Grunert bei der Gründung des Archivs vorschwebten, und die Schlömilch in der von ihm ins Leben gerufenen Zeitschrift für Mathematik und Physik auf andere Weise zum Teil verfolgte.

Geschichte der Mathematik.

Die historisch-literarische Abteilung der Zeitschrift für Mathematik und Physik, in der Moritz Cantor lange Jahre hindurch allein den historisch-mathematischen Studien eine beschränkte Zufluchtsstätte eröffnet hatte, ist in der von G. Eneström mit peinlicher Sorgfalt redigierten Bibliotheca Mathematica als eine würdige Zeitschrift für Geschichte der mathematischen Wissenschaften zum Gebrauch aller Historiker der Mathematik neu erstanden. Ursprünglich als Anhang der Acta Mathematica in Stockholm erschienen, ist die bedeutend erweiterte ausgezeichnete Zeitschrift, von der alljährlich ein Band erscheint, die Zentralstelle für alle Veröffentlichungen aus der Geschichte der Mathematik geworden, wo besonders auch viele kleine Personalnotizen ihren Platz finden.

Das große Lebenswerk von Moritz Cantor „Vorlesungen über Geschichte der Mathematik“ ist mit der Schlußlieferung des dritten Bandes, die 1898 erschien, vollendet worden, und schon drei Jahre später (1901) wurde der dritte Band in zweiter [1218] Auflage ausgegeben. Im Jahre 1829 geboren, wagte es der gefeierte siebzigjährige Historiker der Mathematik, der lange Zeit als einziger deutscher Universitätsprofessor das Fach der Geschichte der Mathematik vertreten hatte, nun nicht mehr, seine Darstellung über das erreichte Endjahr 1758 fortzuführen. Unter seiner Vermittlung und mit Unterstützung der Verlagsbuchhandlung B. G. Teubner gelang es aber, für den vierten Band, der die Periode von 1759 bis 1799 umfaßt, eine Reihe bedeutender Forscher zu gewinnen, von denen jeder die Geschichte eines einzelnen Gebietes bearbeitete, während Cantor selbst nur den kurzen Überblick über die behandelte Zeit im Schlußkapitel lieferte (S. 1077–1096). Dieser vierte Band der Vorlesungen über Geschichte der Mathematik schließt das monumentale deutsche Wert, das zwar immerfort kleine Ausbesserungen erfährt, die in der Bibliotheca Mathematica fortlaufend erscheinen, das aber für alle Zeiten als ein Denkmal eines deutschen Gelehrtenlebens gelten wird.

Neben diesem großen historischen Werke sind viele andere geschaffen worden, die das Interesse bekunden, welches der lange vernachlässigten Geschichte der Mathematik in Deutschland entgegengebracht wird. Zunächst sind die „Abhandlungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen“ zu nennen. In diesen einzeln ausgegebenen Heften ließ M. Cantor ursprünglich solche Beiträge erscheinen, die so umfangreich waren, daß sie in der historisch-literarischen Abteilung der Zeitschrift für Mathematik und Physik nicht Platz finden konnten; sie wurden damals als Supplemente zu dieser Zeitschrift bezeichnet. Gegenwärtig erscheinen sie als zwanglose Hefte einer selbständig veröffentlichten Sammlung. Bis 1912 wurden 30 solcher Hefte gezählt, von denen einzelne zu starken Bänden angewachsen sind. So umfaßt das Heft IX. die Festschrift zu M. Cantors siebzigstem Geburtstage, 657 Textseiten; das Heft XVI, Wölffings „Mathematischer Bücherschatz“ hat 416 Textseiten, und Zeuthens „Geschichte der Mathematik im 16. und 17. Jahrhundert“ als Heft XVII erreicht 434 Seiten.

Während diese Reihe historischer Arbeiten zuerst mit der Zeitschrift für Mathematik und Physik durch die Person von M. Cantor in Verbindung stand und damals hauptsächlich Einzelforschungen enthielt, sind aber auch manche andere zusammenfassende Darstellungen aus der Geschichte der Mathematik abseits von jener Zentralstelle geschaffen worden. Wir nennen nur folgende Werke: J. Tropfke, Geschichte der Elementar-Mathematik in systematischer Darstellung (2 Bände, Leipzig 1902 und 1903), A. v. Braunmühl, Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie (2 Teile, Leipzig 1900 und 1903), M. Simon, Geschichte der Mathematik im Altertum in Verbindung mit antiker Kulturgeschichte (Berlin 1909), S. Günther, Geschichte der Mathematik, I. Teil. Von den ältesten Zeiten bis Cartesius (Leipzig 1908), H. Wieleitner, Geschichte der Mathematik, II. Teil. Von Cartesius bis zur Wende des 18. Jahrhunderts. 1. Hälfte (Leipzig 1911). Diese wenigen Ausführungen müssen hier genügen, um eine Vorstellung vom regen Wirken der Forscher auf dem Gebiete der Geschichte der Mathematik zu geben, und wir wenden uns zu den Ausgaben der Werke großer Mathematiker.

[1219]

Ausgabe der Werke von L. Euler.

Die Feier der zweihundertsten Wiederkehr des Geburtstages von Leonhard Euler regte bei den Mathematikern der verschiedenen Länder, wo er gewirkt hatte, von neuem den Gedanken an, durch eine Gesamtausgabe der Werke dieses vielseitigsten und fruchtbarsten mathematischen Forschers des achtzehnten Jahrhunderts seine noch immer zu aussichtsvoller Tätigkeit anspornenden Gedanken leichter zugänglich zu machen. Die Schweizer gingen rüstig voran mit den Vorbereitungen zur Verwirklichung des Planes, der einem der größten Söhne seines Geburtslandes ein würdiges Denkmal zusicherte. Die tatkräftigste Unterstützung sowohl durch Bewilligung von Geldmitteln als auch durch opferwillige Mitarbeit wurde dem Unternehmen aus Deutschland gewährt. Die deutsche Mathematiker-Vereinigung schenkte eine namhafte Summe aus ihrem Vermögen; die meisten Bearbeiter der einzelnen Bände stellte Deutschland, und die Teubnersche Verlagsbuchhandlung vergrößerte ihre Verdienste um die Förderung der Mathematik durch die Übernahme der technischen Herstellung. In hervorragender Weise ist also Deutschland an der Vollendung dieser auf 40 Quartbände berechneten Gesamtausgabe der Eulerschen Werke beteiligt, von der bereits neun Bände fertiggestellt sind; wir statten dadurch unsern Dank dem Genius ab, der als Direktor der preußischen Akademie der Wissenschaften während der 26 Jahre seines reifen Mannesalters in Berlin seine hervorragendsten Schöpfungen vollendet hat.

Gesammelte Werke großer Mathematiker.

Von der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften wurde die Ergänzung der Werke von Gauß aus einem Nachlaß kräftig betrieben. Zu den sechs von E. Schering bearbeiteten Bänden sind in kurzer Folge die Bände VII, VIII und IX hinzugefügt, die manche Andeutungen über die Wege geben, auf denen der unvergleichliche Princeps mathematicorum zu seinen Ergebnissen gekommen ist. Der in Aussicht gestellte letzte Band soll biographisches Material bringen, das gegenwärtig bearbeitet wird.

Die übrigen in den letzten 25 Jahren veranstalteten Gesamtausgaben großer deutscher Mathematiker mögen kurz aufgezählt werden. Die preußische Akademie der Wissenschaften gab heraus die gesammelten Werte von C. G. J. Jacobi (7 Bände), C. W. Borchardt (1 Band), P. Lejeune Dirichlet (2 Bände), C. Weierstraß (4 Bände). Von dem letzteren stehen noch immer aus die lange versprochenen Bearbeitungen seiner Vorlesungen über elliptische Funktionen, allgemeine Funktionentheorie und Variationsrechnung. Die Herausgabe der Werke von L. Kronecker, von der 1899 Band III erschienen ist, stockt seit dieser Zeit; ebenso sind seine Vorlesungen bei dem dritten Bande (1903) stehen geblieben. Von der viel begehrten Ausgabe der Werke von E. E. Kummer verlautet nichts. Dagegen sind die Werke von L. Fuchs nach seinem Tode verhältnismäßig rasch erschienen (3 Bände 1904–1909). Die bayerische Akademie der Wissenschaften in München veröffentlichte 1897 die gesammelten Werke von O. Hesse (1 Band). Die gesammelten Werke von J. Plücker erschienen im Auftrage der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (2 Bände, 1895–1896). Von den gesammelten Werken [1220] von F. Neumann sind die Bände II und III (1906 und 1912) fertiggestellt, der erste Band harrt noch seiner Vollendung. Seine verschiedenen Vorlesungen über mathematische Physik waren schon vorher von verschiedenen seiner Schüler bearbeitet und veröffentlicht worden. Die sächsische Gesellschaft der Wissenschaften hat es veranlaßt, daß die gesammelten mathematischen und physikalischen Schriften von Hermann Graßmann durch Fr. Engel in drei Bänden (1894–1911) herausgegeben wurden. Ernst Scherings gesammelte mathematische Werke erschienen in 2 Bänden (1902 und 1909), ebenso die von Christoffel (1910) und von H. Minkowski (1911). Endlich werde auch erwähnt, daß H. A. Schwarz 1890 seine bis dahin erschienenen gesammelten mathematischen Abhandlungen im Umfange von zwei Bänden seinem Schwiegervater E. E. Kummer zu dessen achtzigstem Geburtstage gewidmet hat.

Ausgaben alter Mathematiker.

Die im vorstehenden gegebene Liste ist zu ergänzen durch die Anführung von Neuausgaben der klassischen antiken Mathematiker: Apollonii Pergaei quae graece exstant cum commentariis antiquis. Edidit et latine interpretatus est J. L. Heiberg (2 vol. Lipsiae, 1890/93), − Archimedis opera omnia cum commentariis Eutocii. Iterum edidit J. L. Heiberg (3. vol Lipsiae. Vol. I 1910, Vol. II 1913). − Euclidis opera omnia. Ediderunt el latine interpretati sunt J. L. Heiberg et H. Menge (12 Vol. Vol. I − XII: 1983−1895, Lipsiae). − Ptolemaei, Cl., opera quae exstant omnia ed. J. L. Heiberg (2 vol. 1898, 1903, 1907, Lipsiae). − Diophanti Alexandrini opera omnia cum graecis commentariis, Edidit et latine interpretatus est P. Tannery (2 vol. 1893, 1895. Lipsiae). − Heronis Alexandrini opera quae supersunt omnia (3 Bände, griechisch und deutsch. Bd. I von W. Schmidt, 1899. Bd. II von L. Nix und W. Schmidt, 1900. Bd. III von H. Schöne, 1903. Leipzig, B. G. Teubner).

Mathematische Professuren.

Bei dieser äußerlichen Darstellung der Lebensäußerungen der Mathematik auf deutschem Boden werde zuletzt noch auf die Vermehrung der Lehrstühle für diese Wissenschaft an den Universitäten hingewiesen. Während im Anfange des vorigen Jahrhunderts ein einziger Professor der Mathematik für eine Universität allen Bedürfnissen genügte, können selbst an den kleineren Hochschulen kaum noch zwei Professoren das leisten, was an mathematischen Vorlesungen gefordert wird. Die Mathematik hat so viele Zweige getrieben, daß der einzelne Forscher unmöglich in allen Gebieten mitarbeiten kann, sich vielmehr auf wenig umfangreiche Teile beschränken muß, um produktiv etwas zu leisten. Daher ist denn auch die Anzahl der Lehrstühle der Mathematik überall vergrößert worden. Unter allen Universitäten hat es die Georgia Augusta zu Göttingen verstanden, den Glanz des Thrones, auf dem der Princeps mathematicorum Gauß gesessen hat, blendend rein zu erhalten. Vier Ordinarien der Mathematik wirken an ihr mit jugendlicher Kraft, neben ihnen mehrere Extraordinarien und eine stets sich erneuernde Schar frischer und froher Privatdozenten. Dagegen muß die Berliner Universität sich trotz [1221] höherer Hörerzahl mit drei Ordinarien begnügen, die alle das sechzigste Lebensjahr überschritten haben, und neben diesen wirkt ein voll beschäftigter Extraordinarius nebst einem nebenamtlich fungierenden sowie ein einziger Privatdozent.




Mathematische Literatur.

Wenn wir im vorstehenden bei den äußerlichen Merkmalen eines regen, fruchtbaren Schaffens länger verweilt haben, so möge dies damit entschuldigt werden, daß wir meinten, es könne auf diese Weise auch der Nichtmathematiker eine Vorstellung von dem frisch pulsierenden wissenschaftlichen Leben unter den gegenwärtigen Jüngern der Mathematik erhalten. Die treibenden Gedanken der die Wissenschaft fördernden Arbeiten sind erst aus einer eingehenden Betrachtung der reichen wissenschaftlichen Literatur der Mathematik zu erkennen, einer Literatur, die in der bisherigen Darstellung kaum gestreift ist. Eine Übersicht hierüber gibt das Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik, dessen Leitung seit dem Jahrgang 1883 mir anvertraut ist. Gegenwärtig sind etwa 60 Mitarbeiter an diesem Werke tätig, um die kurz gehaltenen sachlichen Referate über die einzelnen Arbeiten zu liefern. Die Anzahl der Titel der in jedem Jahrgange angeführten Schriften geht jetzt über 3000 hinaus.

Fortentwicklung der Mathematik.

Bevor wir zu der Besprechung charakteristischer neuer Gedanken und Entdeckungen aus den letzten 25 Jahren übergehen, wollen wir eine allgemeine Bemerkung vorausschicken. Bei den Nichtmathematikern ist die Ansicht ziemlich allgemein verbreitet, die Mathematik sei eine in sich abgeschlossene fertige Wissenschaft lange erkannter Wahrheiten; es gebe in ihr nichts Neues zu schaffen. Es handle sich in erster Linie darum, sich diese Wahrheiten anzueignen und von ihnen Anwendung auf solche Probleme zu machen, die von den Naturwissenschaftlern gestellt oder künstlich von Mathematikern ausgeklügelt werden. Die Mathematik ist jedoch eine Wissenschaft von unbegrenzten Entwicklungsmöglichkeiten. Die Gebilde, mit denen der Mathematiker sich beschäftigt, sind Schöpfungen seines Geistes, gebunden an die allgemeinen Denkgesetze, angeknüpft, veranlaßt, erzeugt an und durch die Erfahrung, selbständig und unabhängig von der Anschauung durch in sich widerspruchslose Definitionen. Der Zusammenhang der mathematischen Gebilde mit der Wirklichkeit, der besonders in der Mechanik und in der mathematischen Physik bei ihren Begriffsbestimmungen zu behandeln ist, gehört seit den ältesten Zeiten zu den von den Philosophen betrachteten Grundfragen, die das Verhältnis vom Denken zum Sein, das Erkenntnisproblem betreffen. Und wie die Philosophie in den letzten Jahrzehnten durch ihren engen Anschluß an die rasch sich entwickelnden Naturwissenschaften einen neuen Aufschwung genommen hat, so ist auch die philosophische Auffassung der mathematischen Grundbegriffe in dieser Zeit bedeutend vertieft worden. Zwar sind die Hauptschriften der Philosophie der Mathematik nicht in Deutschland erschienen; aber die Aufsätze Poincarés, der durch seine innerste Natur dazu getrieben wurde, die mathematischen Grundbegriffe zu zergliedern und seine Gedanken in möglichst [1222] allgemein verständlicher Sprache zu entwickeln, sind in den beiden Büchern „Wissenschaft und Hypothese“ und „Wert der Wissenschaft“ durch die deutschen Übersetzungen in Deutschland allgemein bekannt und viel gelesen worden; sie geben eine Vorstellung von dem die Mathematik durchdringenden philosophischen Geiste der Epoche.

Bedeutung mathematischer Probleme.

Wie Hilbert in seinem berühmten Vortrage auf dem internationalen Mathematikerkongreß zu Paris 1900 bemerkt hat, sind es bedeutende Probleme, die den Fortschritt der mathematischen Wissenschaft bedingt haben. „Wie überhaupt jedes menschliche Unternehmen Ziele verfolgt, so braucht die mathematische Forschung Probleme. Durch die Lösung von Problemen stählt sich die Kraft des Forschers; er findet neue Methoden und Ausblicke; er gewinnt einen weiteren und freieren Horizont.“ Dadurch kommt er aber auch wieder auf neue Probleme, wie dies Moritz Cantor (1898) in dem Vorwort zur Schlußlieferung des dritten Bandes seiner Vorlesungen über Geschichte der Mathematik durch Ausführung des von Hilbert angedeuteten Bildes schildert: „Ich habe den Gipfelpunkt erreicht, den ich 1880 als Endziel genannt habe, und nachdem ich angelangt bin, geht es mir, wie es so vielen Reisenden in fremden Landen ergangen ist. Der Gipfel, den ich unter großer Anstrengung erklommen habe, erweist sich als Vorberg, und hinter und über ihm bleiben neue hohe Spitzen zu erreichen, neue und lohnende Ausblicke nach rückwärts wie nach vorwärts versprechend.“

Als ein Beispiel für die hier gegebene Schilderung diene die Schlußbemerkung zu Vivantis Bericht über den gegenwärtigen Stand der Theorie der ganzen transzendenten Funktionen. „Mancher dürfte denken, die von den ganzen Funktionen gebildete, enge Funktionenklasse sei bisher so sehr bearbeitet worden, daß ihre Erforschung bald erschöpft sein wird. Das kann nicht sein; in dem Entwicklungsgange der Wissenschaften erzeugt jede überwundene Schwierigkeit neue, härtere Schwierigkeiten, jede gelöste Frage neue, höhere Fragen. Als der Weierstraßsche Satz ans Licht trat, konnte man wohl glauben, es gebe nichts weiter über die ganzen Funktionen zu sagen, nachdem ihre allgemeine Form aufgestellt worden war; dagegen war die Weierstraßsche Formel eben der Ausgangspunkt zur Bildung einer neuen, blühenden Theorie, insofern als sie die Mannigfaltigkeit des Verhaltens der ganzen Funktionen hervortreten ließ und die Elemente zu einer Klassifikation derselben darbot. Später erledigte Picard durch seinen Satz ganz erschöpfend die sich von selbst darbietende Frage, ob es ganze Funktionen gibt, welche, analog wie ex, gewisse Werte nicht annehmen dürfen; und doch bildet dieser Satz nur das erste Glied einer langen, immer mehr und mehr sich ausdehnenden Kette von interessanten und fruchtbaren Untersuchungen. Ähnlich verhält es sich mit dem heutigen Stande unserer Theorie; das Errungene lehrt uns, was noch weiter zu tun übrig bleibt. Man muß die algebraische Richtung wieder aufnehmen, aus der man wohl nicht alles gezogen hat, was sie liefern kann. Der Gebrauch der kürzlich eingeführten mächtigen Untersuchungsmittel soll die Theorie der Funktionen von endlicher Ordnung verfeinern und vertiefen, und parallel derselben wird diejenige der Funktionen von unendlicher sowie [1223] der Funktionen von nullter Ordnung laufen, welche letzteren eine besondere Beachtung verdienen.“

So sind denn auch die letzten fünfundzwanzig Jahre für die Mathematik fruchtbar geworden durch die Verfolgung früher angedeuteter Wege, fruchtbar in der Entstehung neuer Ideen. Es soll der Versuch gemacht werden, dies an einigen Beispielen zu zeigen.

Zahlbegriff. Transfinite Zahlen.

Der einfachste Begriff der Arithmetik scheint der der Zahl zu sein, und doch ist er einer der schwierigsten, über den viel gestritten ist, der von mathematischer und philosophischer Seite wieder und wieder untersucht und zergliedert ist. Schon die Frage, ob die Kardinalzahl oder die Ordinalzahl den Ausgang für den Zahlbegriff liefere, ist lebhaft umstritten und so wenig geklärt, daß Picard in seinem Berichte über die Entwicklung der mathematischen Analysis und ihre Beziehungen zu einigen anderen Wissenschaften (Saint-Louis 1904) darauf verzichtet, hierüber etwas Endgültiges aussagen zu wollen. Bei den Erweiterungen des Zahlbegriffes zum Begriffe der inkommensurablen und der komplexen Zahlen sind so große Meinungsverschiedenheiten möglich, daß die beiden großen Mathematiker der Berliner Akademie Weierstraß und Kronecker darüber in einen nicht zu versöhnenden Gegensatz gerieten. Und dabei wurde zu derselben Zeit in der Auffassung des Zahlbegriffes von einem ihrer Schüler, Georg Cantor, der größte Fortschritt herbeigeführt, der nach Übereinstimmung aller jetzt lebenden Mathematiker seit langem gemacht ist. Die bezüglichen Arbeiten über transfinite Zahlen und Mengenlehre wurden schon in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts veröffentlicht, von Weierstraß mit Beifall aufgenommen, von Kronecker mit Unbehagen abgelehnt, und sie übten erst in der zur Besprechung stehenden Periode ihren Einfluß aus. Hilbert sagt hierbei in seiner Gedächtnisrede auf Minkowski:Minkowski verehrte in Cantor den originellsten zeitgenössischen Mathematiker zu einer Zeit, als in damals maßgebenden mathematischen Kreisen der Name Cantor geradezu verpönt war und man in Cantors transfiniten Zahlen lediglich schädliche Hirngespinste erblickte. Minkowski äußerte wohl, daß Cantors Name noch genannt werden würde, wenn man die heute – weil sie modisch sind – im Vordergrunde stehenden Mathematiker längst vergessen hat. Der Umstand, daß ein Mann wie Minkowski, der das exakte Schließen in der Mathematik gewissermaßen verkörperte, und dessen Sinn für echte Zahlentheorie über allem Zweifel war, so urteilte, ist der Verbreitung der Cantorschen Theorie, dieser ursprünglichen Schöpfung genialer Intuition und spezifischen mathematischen Denkens, wie sie mit Recht kürzlich ein jüngerer Mathematiker genannt hat, sehr zustatten gekommen.“

Die Mengenlehre als Grundlage der Analysis hat erst in den letzten Jahrzehnten allgemeine Anerkennung gefunden. An diesem Beispiele sehen wir, daß in der Wissenschaft ein fruchtbarer Gedanke gleich einem Samenkorn Zeit braucht, um Wurzel zu fassen und Blüten zu treiben, bis endlich reiche Früchte den Lohn für die zur Entwicklung aufgewandte Mühe lohnen.

[1224]

Zahlkörper.

Die Erweiterung der von den Mathematikern betrachteten Zahlen bis zum Begriffe des Zahlkörpers ist seit etwa hundert Jahren zu verfolgen; wie Hilbert in seinem musterhaften Bericht über die Theorie der algebraischen Zahlkörper (1897) sagt, ist die Theorie der Zahlkörper der wesentlichste Bestandteil der modernen Zahlentheorie geworden. „Das Verdienst, den ersten Keim für die Theorie der Zahlkörper gelegt zu haben, gebührt wiederum Gauß. Er erkannte die natürliche Quelle für die Gesetze der biquadratischen Reste in einer „Erweiterung des Feldes der Arithmetik“, wie er sagt, nämlich in der Einführung der ganzen imaginären Zahlen von der Form a + bi; er stellte und löste das Problem, alle Sätze der gewöhnlichen Zahlentheorie, vor allem die Teilbarkeitseigenschaften und die Kongruenzbeziehungen, auf jene ganzen imaginären Zahlen zu übertragen. Durch die systematische und allgemeine Fortentwicklung dieses Gedankens, auf Grund der neuen weittragenden Ideen Kummers gelangten später Dedekind und Kronecker zu der heutigen Theorie des algebraischen Zahlkörpers.“ Die hier kurz geschilderte Entwicklung dieser Theorie fand vor 1889 statt; aber sie stand nicht still. Gerade Hilbert und seine von ihm angeregten zahlreichen Schüler sowie sein Freund Minkowski nebst manchen modernen deutschen Mathematikern haben den begonnenen Ausbau dieser Theorie kräftig gefördert.

Großer Fermatscher Satz.

Es möge hier erwähnt werden, daß Kummer durch ein Problem den Anstoß zu seinen Schöpfungen erhielt, das Hilbert unter den gegenwärtigen Problemen der Mathematik in dem schon angeführten Pariser Vortrage bespricht, nämlich den Beweis des „großen Fermatschen Satzes“, daß die Gleichung an + bn = cn in ganzen Zahlen a, b, c, n, außer für n = 2, unmöglich ist. Bekanntlich hat der von Wolfskehl ausgesetzte Preis von 100 000 Mark für die Erbringung des Beweises viele Mathematiker und noch mehr Nichtmathematiker leider dazu veranlaßt, ihre Zeit, ihre Kraft und ihr Geld vergeblich zu opfern. Kummer hat seine bezüglichen durch lange Jahre fortgesetzten Arbeiten ja dadurch belohnt gesehen, daß er den gesuchten Beweis wenigstens für eine sehr große Anzahl von Fällen erbracht hat.

Zahlentheoretische Arbeiten von Minkowski.

Wir können hier nur einzelne Entdeckungen aus der Zahlentheorie erwähnen, um zu zeigen, daß bedeutsame Fortschrittte gemacht wurden, und weisen deshalb auf die glänzenden Resultate hin, die Minkowski seit seinem ersten Auftreten errungen hat. Nachdem er als achtzehnjähriger Student mit seiner Abhandlung „Grundlagen für eine Theorie der quadratischen Formen mit ganzzahligen Koeffizienten“ den „Grand Prix des Sciences Mathématiques“ von der Pariser Akademie errungen hatte, wandte er sich mit größtem Erfolge der Theorie der quadratischen Formen und der mit ihr zusammenhängenden Fragen zu. „Seine auf das spezielle Gebiet der quadratischen Formen gerichteten Untersuchungen erhalten mehr und mehr den großen Zug ins allgemeine und gipfeln schließlich in der Schaffung und dem Ausbau der Lehre, für die er selbst den treffenden Namen ,Geometrie der Zahlen‘ geprägt [1225] hat, und die er in dem großartig angelegten Werke gleichen Titels dargestellt hat … Minkowski ist es zu danken, daß nach Hermites Tode die Führerrolle in der Zahlentheorie wieder in deutsche Hände zurückfiel und, wenn man überhaupt bei einer solchen Wissenschaft, wie es die Arithmetik ist, die Beteiligung der Nationen an den Fortschritten und Errungenschaften abwägen will: wesentlich durch Minkowskis Wirken ist es gekommen, daß heute im Reiche der Zahlen die bedingungslose und unbestrittene deutsche Vorherrschaft statthat. Die Überzeugung von der tiefen Bedeutung des Begriffes eines konvexen Körpers, dessen Verwendung in der Zahlentheorie so erfolgreich gewesen war, hatte sich bei Minkowski immer mehr befestigt, und dieser Begriff bildet denn auch das Bindeglied zwischen denjenigen Arbeiten Minkowskis, die wesentlich zahlentheoretische Ziele im Auge haben, und seinen rein geometrischen Untersuchungen“ (Hilbert, Gedächtnisrede auf Minkowski).

Zahlentheoretische Arbeiten von Hensel.

In dem ersten (einzig erschienenen) Bande der Vorlesungen Kroneckers über Zahlentheorie hat K. Hensel den Gedanken Kroneckers zur Ausführung gebracht, die von Dirichlet stammenden analytischen Methoden der Zahlentheorie dort auseinanderzusetzen, wo sie begrifflich hingehören, nämlich schon am Anfange der Darstellung. Außer diesem Werke hat Hensel soeben ein größeres Buch über seine Theorie der p-adischen Zahlen veröffentlicht, d. h. solcher Zahlen, bei denen statt der Basis 10 der gebräuchlichen Zahlen die Basis p gesetzt ist. Diese Theorie „läßt den engen Zusammenhang zwischen den arithmetischen und den algebraischen Eigenschaften dieser Zahlen deutlich erkennen“, ein Ziel, dem sich der Verfasser durch langjährige Untersuchungen zu nähern gesucht hat. Die Ergebnisse solcher Forschung hat er in seiner „Theorie der algebraischen Zahlen“ (1908) niedergelegt.

Invariantentheorie.

Der Zahlentheorie nahe steht die Algebra. Die formale Algebra hatte seit den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der Invariantentheorie der Forschung ein ergiebiges Feld zur Ausbeute geliefert. Aronhold, Clebsch, Gordan, die in Deutschland mit frischer Kraft auf diesem Gebiete schöne Erfolge zu verzeichnen hatten, lenkten eine Schar begeisterter Nachfolger auf diese sehr mühsamen Untersuchungen. Da die Resultate der vielen Arbeiten allmählich sich ins Unübersehbare vermehrten, so veranlaßte die Deutsche Mathematiker-Vereinigung gleich nach ihrer Gründung W. Fr. Meyer zu einem ausführlichen Referate über das Gebiet; dieses erschien im ersten Bande des Jahresberichtes der Vereinigung (1894) unter dem Titel: „Bericht über die Fortschritte der projektiven Invariantentheorie“ und bildet einen starken Band, dessen Wert durch eine französische Übersetzung (1897) und eine italienische (1899) anerkannt wurde. Von den auf die Invariantentheorie innerhalb der neunziger Jahre erschienenen Arbeiten sind besonders die von “Hilbert“ hervorzuheben, weil sie die Fragen unter einem höheren Gesichtspunkte, nämlich dem der Funktionstheorie behandelten. Zu einer seiner Hauptabhandlungen über die Theorie der algebraischen Formen bemerkt W. Fr. Meyer [1226] in seinem Referate über diese Arbeit: „Der Verfasser ist zu den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung durch die Aufgabe geführt worden, die bisher nur für Systeme von binären und für die einfachsten ternären Formen nachgewiesene Existenz ,voller Systeme von Grundformen‘, durch welche sich alle weiteren invarianten Bildungen der Urformen ganz rational ausdrücken lassen, auf Systeme beliebiger Formen mit beliebigen Variabelnreihen auszudehnen. Indem er aber dieses sein erstes Ziel dadurch erreicht, daß er den Kern der Frage von dem engeren Gebiet der Invariantentheorie loslöst und als eine fundamentale Eigenschaft von unendlichen Systemen algebraischer Formen überhaupt statuiert, gelingt es ihm, darüber hinaus eine Reihe von Sätzen nachzuweisen, welche die von Kronecker einerseits, von Dedekind und Weber andererseits begründete Theorie der algebraischen Moduln weiterführen und zugleich bemerkenswerte Anwendungen auf Zahlentheorie, Algebra und Geometrie zulassen.“

Determinanten, Matrizen.

Die Determinantentheorie, deren Entstehung bis auf Leibniz zurückführt, ist in der zu besprechenden Periode besonders durch den sorgfältigeren Ausbau der Theorie der Matrizen auf eine höhere Stufe gebracht worden. Unter den hierher gehörigen Arbeiten sind vor allem die Abhandlungen von G. Frobenius zu nennen. Auf die Bedeutung dieser Untersuchungen für die Determinantentheorie hat unter anderem Hensel in seiner Bearbeitung der Kroneckerschen Vorlesungen über die Theorie der Determinanten nachdrücklich hingewiesen (Bd. I, 1903. Bd. II ist nicht erschienen). „Ein den Anforderungen der modernen Wissenschaft entsprechendes Lehrbuch der Determinantentheorie darf diese Untersuchungen (über das große Gebiet der Systeme oder Matrizen) jetzt um so weniger übergehen, als neuere Arbeiten von Frobenius gezeigt haben, wie wunderbar einfach sich mit ihrer Hilfe die wichtigen und schwer beweisbaren Resultate von Weierstraß und Kronecker über die Äquivalenz von Formenscharen ablesen lassen.“

Gruppentheorie.

Zu den formalen Teilen der Algebra gehört die Theorie der Substitutionsgruppen, deren Ausbildung vor der zu behandelnden Periode liegt. H. Weber sagt in seinem „Kleinen Lehrbuch der Algebra“ (1912): „Es sind hauptsächlich zwei große allgemeine Begriffe, von denen die moderne Algebra beherrscht wird. Die Existenz und Bedeutung dieser Begriffe konnte allerdings erst erkannt werden, nachdem die Algebra bis zu einem gewissen Grade fertig und zum Eigentum der Mathematiker geworden war. Erst dann konnte in ihnen das verbindende und führende Prinzip erkannt werden. Es sind das die Begriffe der Gruppen und des Körpers.“ Dieser Wertschätzung entsprechend ist die Gruppentheorie neuerdings sorgfältig gepflegt worden, in Deutschland besonders von Frobenius, seinem Schüler J. Schur und einigen anderen Mathematikern. Der Gruppenbegriff in seiner Erweiterung hatte schon vorher in den genialen Arbeiten von S. Lie über die Transformationsgruppen seine Macht erwiesen. Seine von Fr. Engel und G. Scheffers herausgegebenen, zusammenfassenden Werke sind in dem letzten Jahrzehnt des verflossenen [1227] Jahrhunderts erschienen und zeigen, wie der Gruppenbegriff in allen Teilen der Mathematik seine Herrschaft ausübt.

Algebra.

Der Inhalt des Teiles der Mathematik, der unter dem Namen Algebra begriffen wird, ist in dem zweibändigen Lehrbuche der Algebra von H. Weber zusammengefaßt (1898 u. 1899), das vielen jungen und alten Mathematikern als Richtschnur dient.

Die Bemühungen um die Fortführung der Auflösungen der algebraischen Gleichungen mußten sich nach der prinzipiellen Erledigung der allgemeinen Fragen bei den Gleichungen fünften Grades durch die erschöpfende Darstellung in F. Kleins Vorlesungen über das Ikosaeder und die Auflösung der Gleichungen fünften Grades (1884) natürlich zunächst auf die Gleichungen sechsten Grades konzentrieren. Die vorhandenen Analogien zwischen den Auflösungsmethoden für die allgemeine Gleichung fünften Grades und für die des sechsten Grades führte Klein dann in einer Abhandlung zum Dirichletbande des Crelleschen Journals (1905) durch. Die dazu nötigen Rechnungen vollendete zufolge einer Aufforderung von F. Klein sein wissenschaftlicher Freund P. Gordan in einer großen Arbeit der Mathematischen Annalen. Es kam hier darauf an, ein gewisses Gruppenproblem (das „Valentinerproblem“) rechnerisch in demselben Sinne zu bearbeiten, wie dies bei dem Ikosaederproblem für die Gleichungen fünften Grades von F. Klein geschehen war. In betreff der übrigen Arbeiten zur Algebra müssen wir uns damit begnügen, nur auf solche noch flüchtig hinzuweisen, die sich, wie die scharfsinnigen Untersuchungen von F. Mertens, mit einzelnen der viel umworbenen Klassen auflösbarer Gleichungen beschäftigen.

Algebraische Funktionen.

Den Übergang zur Betrachtung der Leistungen in der Analysis machen wir durch die „Theorie der algebraischen Funktionen einer Variabeln“, von der K. Hensel und G. Landsberg in ihrem so betitelten Werke (1902) sagen, es habe sich „den Forschern mehr und mehr die Überzeugung aufgedrängt, daß der leichteste und sicherste Eingang in diese Theorie durch eine wesentlich arithmetische Betrachtung der rationalen und der algebraischen Funktionen gewonnen werden kann, selbstverständlich unter organischer Einführung der hierher gehörigen Resultate aus der Funktionentheorie, welche ja in der von Weierstraß gegebenen Darstellung selbst arithmetischen Charakter besitzt. Bei dieser Problemstellung scheint diese Disziplin nahe verwandt mit der allgemeinen Theorie der algebraischen Zahlen und mit derjenigen der algebraischen Flächen; aber es zeigt sich, daß sie die einfachste und einheitlichste unter ihnen ist, und daß ihre Methoden vielleicht noch weiter führen und tiefer in das behandelte Gebiet eindringen, als dies in der höheren Arithmetik und in der Lehre von den algebraischen Flächen der Fall ist“.

Funktionentheorie. Schwarz.

Wie in der Schlußvorlesung dieses Werkes näher ausgeführt ist, stand die Entwicklung der Analysis in dieser Epoche unter dem stetig nachwirkenden Einflusse der beiden größten [1228] deutschen Forscher aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, Riemann und Weierstraß. Die Notwendigkeit der Strenge in der Beweisführung, die Weierstraß gefordert hatte, wurde in allen Gebieten der Analysis anerkannt. Sein Nachfolger H. A. Schwarz auf dem Lehrstuhl der Berliner Universität, der in seinen vor 1888 veröffentlichten Arbeiten Muster solcher Schärfe geliefert hatte, schult seine Schüler mit unermüdlichem Eifer in dieser Beziehung. In der Reihentheorie gab besonders A. Pringsheim den Ton an für die subtilsten Untersuchungen. Der Einfluß dieser strengen Richtung machte sich überall im Auslande geltend; doch müssen wir uns mit dieser Andeutung begnügen.

Schule von Riemann. Felix Klein.

In Riemannscher Weise mit einem Einschlage nach der Seite der formalen Algebra gingen Carl Neumann und Clebsch sowie des letzteren Freunde und Schüler Gordan, F. Klein, Brill, Noether und andere vor. Der klassische Bericht von Brill und Noether über die Entwicklung der Theorie der algebraischen Funktionen in älterer und neuerer Zeit (1894) ist ein Muster objektiver historischer Darstellung, die allen Forschungsmethoden gerecht wird. Der außerordentliche Einfluß, den F. Klein ausgeübt hat, tritt in den Veröffentlichungen seiner Universitätsvorlesungen zutage. Vollendete Durcharbeitung besitzen seine Vorlesungen über elliptische Modulfunktionen (2 Bände, 1890 u. 1892) und über die allgemeine Theorie der automorphen Funktionen (2 Bände, 1897 u. 1901–1911). In beiden Werken, besonders aber in dem zweiten hat der Bearbeiter R. Fricke durch selbständige Ergänzungen vorhandene Lücken ausgefüllt und für Abrundung des Ganzen Sorge getragen. In ähnlicher Weise ist das Werk über die Theorie des Kreisels entstanden (vier Teile, 1897–1910), von welchem A. Sommerfeld den letzten Teil überhaupt selbständig unter Heranziehung von Fr. Noether als Mitarbeiter verfaßt hat. Über den Kreis der unmittelbaren Zuhörer hinaus wirkte F. Klein durch die Verbreitung seiner autographierten Vorlesungshefte: Nichteuklidische Geometrie (2 Hefte, 1889/90). Höhere Geometrie (2 Hefte, 1892/93). Riemannsche Flächen (2 Hefte, 1891/92). Über die hypergeometrische Funktion (1893/94). Lineare Differentialgleichungen der zweiten Ordnung (1894). Ausgewählte Kapitel der Zahlentheorie (1895/96). Anwendung der Differential- und Integralrechnung auf Geometrie, eine Revision der Prinzipien (1901). Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus (2 Teile, 1908/09). Angesichts der Masse dieser Schriften müssen wir es uns versagen, die Anregungen zu charakterisieren, die von diesem vielseitigen, begnadigten, rührigen Lehrer und Forscher ausgegangen sind.

Variationsrechnung. Schule von Weierstraß.

Die nachhaltige Wirkung des Weierstraßschen Geistes in der zu behandelnden Zeit auf dem Gebiete der Funktionentheorie überall erkennbar, in keinem Zweige aber wohl deutlicher als in der Variationsrechnung, obschon die von Weierstraß hierüber gehaltenen Vorlesungen, die die alleinige Quelle für seine Theorie bilden, leider noch immer nicht herausgegeben sind. Im Sinne der Weierstraßschen Forderungen hat [1229] jedoch Kneser (1900) sein Lehrbuch der Variationsrechnung abgefaßt. Eine Vereinigung von Lehrbuch und Enzyklopädie stellen die ebenfalls die neueren Ansprüche befriedigenden „Lectures on the calcules of variations“ von Bolza dar, die 1909 in deutscher Bearbeitung erschienen sind. Wenig berührt von den neuen Gedanken ist die Variationsrechnung von Pascal geblieben (deutsch 1899). Von den nicht der jungen Schule angehörigen Mathematikern haben A. Mayer und G. v. Escherich wertvolle Beiträge zur Variationsrechnung geliefert. Hilbert ging in seinem Artikel „Über das Dirichletsche Prinzip“ auf den Zusammenhang der Variationsrechnung mit diesem viel behandelten, bestrittenen, aber doch so fruchtbaren Prinzip ein. Er beabsichtigte, an dem klassischen Beispiele der Frage nach der Existenz überall endlicher Integrale auf einer Riemannschen Fläche, die Riemann durch das Dirichletsche Prinzip zu beweisen versucht hat, darzulegen, „wie die modernen Hilfsmittel der Analysis und insbesondere die Variationsrechnung imstande sind, den der geometrischen und physikalischen Anschauung entnommenen Grundgedanken des Dirichletschen Prinzips in genauem Anschluß an die anschauliche Bedeutung desselben derart zu verfolgen, daß aus demselben ein streng mathematischer Beweis für die Existenz der Minimalfunktion entsteht.“

Differentialgleichungen. L. Fuchs.

Die hier angedeuteten Gedanken, welche Grundprobleme der Theorie der Differentialgleichungen betreffen, haben zahlreichen jüngeren Mathematikern Anlaß zu scharfsinnigen Untersuchungen gegeben, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Es genüge die Bemerkung, daß die Theorie der linearen Differentialgleichungen, welche in L. Fuchs einen hervorragenden Vertreter hatte, seit seinem Tode trotz der verschiedenen zusammenfassenden Lehrbücher nicht mehr die gleiche allgemeine und liebevolle Pflege fand. Sein bedeutender gleichstrebender Mitarbeiter auf diesem Gebiete L. W. Thomé folgte ihm 1910 ins Grab. Sein Schwiegersohn L. Schlesinger und sein Schüler J. Horn sind die freudigsten Arbeiter auf dem von ihm zuerst beackerten Felde der linearen Differentialgleichungen. Die Theorie der partiellen Differentialgleichungen, besonders ihre physikalischen Anwendungen mit Randwertaufgaben, erfreut sich dagegen einer großen Zahl erfolgreicher begabter Bearbeiter, und auch die Differenzengleichungen, werden neuerdings nicht mehr so sehr vernachlässigt, wie dies lange geschah.

Integralgleichungen. Hilbert.

Von den Differentialgleichungen hat sich dagegen das lebhafteste Interesse den Integralgleichungen zugewendet, deren Ausbau seit der grundlegenden Abhandlung von Fredholm (1903), dank dem entscheidenden Eingreifen von D. Hilbert, gegenwärtig die besten jungen Kräfte in Anspruch nimmt. Mit weitschauendem Blick erkannte Hilbert die Wichtigkeit des Gegenstandes und sprach seine treibenden Ideen gleich in der ersten Mitteilung der „Grundzüge einer allgemeinen Theorie der linearen Integralgleichungen“ aus (1904). Wir teilen die folgende charakteristische Stelle aus der Einleitung mit.

[1230] „Die nähere Beschäftigung mit dem Gegenstande führte mich zu der Erkenntnis, daß der systematische Aufbau einer allgemeinen Theorie der linearen Integralgleichungen für die gesamte Analysis, insbesondere für die Theorie der bestimmten Integrale und die Theorie der Entwicklung willkürlicher Funktionen in unendliche Reihen, ferner für die Theorie der linearen Differentialgleichungen sowie für die Potentialtheorie und Variationsrechnung von höchster Bedeutung ist … Meine Untersuchung wird zeigen, daß die Theorie der Entwicklung willkürlicher Funktionen durchaus nicht die Heranziehung von gewöhnlichen oder partiellen Differentialgleichungen erfordert, sondern daß die Integralgleichung es ist, die die notwendigen Grundlagen und den natürlichen Ausgangspunkt für eine Theorie der Reihenentwicklung bildet …Zugleich erhält dabei die Frage nach der Existenz der Eigenfunktionen eine neue und vollständigere Beantwortung … Durch Anwendung meiner Theoreme folgt nicht nur die Existenz der Eigenfunktionen im allgemeinsten Falle, sondern meine Theorie liefert zugleich in einfacher Form die notwendige und hinreichende Bedingung für die Existenz unendlich vieler Eigenfunktionen.“ Dem Beispiele dieses Meisters eiferten seine begeisterten Schüler mit glücklichstem Erfolge nach, sodann aber auch viele andere deutsche und ausländische Mathematiker.

Ausbau der allgemeinen Funktionentheorie.

In der allgemeinen Funktionentheorie wurde rüstig fortgearbeitet. Die von Riemann und Weierstraß stammenden fundamentalen Gedanken zogen bei ihrer Ausbreitung nun auch viele Kräfte des Auslandes in ihren Bann. In Frankreich streute der geniale Poincaré neue treibende Ideen aus, die eine Reihe talentvoller junger Mathematiker zur eifrigen Mitarbeit begeisterten und dann rückwirkend auf Deutschland einen anfeuernden Einfluß ausübten. Die Prinzipien der Analysis wurden sorgfältig erörtert, und die schon früher erwähnten Gebiete der ganzen transzendenten und der automorphen Funktionen wuchsen unter der liebevollen Pflege. Indem Poincaré den Namen „Fuchssche Funktionen“ und „Kleinsche Funktionen“ einführte, erkannte er mit seinem Gerechtigkeitssinne an, daß diese neuen Begriffe aus deutschen Arbeiten entsprossen waren. Ein näheres Eingehen auf die mannigfachen Fortschritte in den einzelnen Zweigen der Funktionentheorie müssen wir uns versagen; nur durch die Erwähnung einzelner literarischer Erscheinungen möge ein etwas lebensvolleres Bild erzeugt werden.

Aus dem Nachlasse von Riemann und aus Kollegienheften seiner Schüler sind zwei Ergänzungen zu seinen „Gesammelten Werken“ veröffentlicht: „Nachträge“, herausgegeben von M. Noether und W. Wirtinger, und „Vorlesungen über elliptische Funktionen“, herausgegeben von H. Stahl. – Unter dem bescheidenen Titel „Entwicklungen nach oszillierenden Funktionen und Integration der Differentialgleichungen der mathematischen Physik“ hat Burkhardt einen Bericht für die Deutsche Mathematiker-Vereinigung vollendet, der als ein Riesenwerk von 1804 Seiten durch die Verarbeitung aller bezüglichen Schriften eine Vorstellung von der Entwicklung der Funktionentheorie gibt. Die Theorie der elliptischen und der Abelschen Funktionen ist in verschiedenen zusammenfassenden Lehrbüchern dargestellt worden. F. Schottky besonders hat die Forschung [1231] im Gebiete der Abelschen Funktionen fortgesetzt. Wir nennen ferner die Bücher: H. Stahl, Theorie der Abelschen Funktionen (1906). W. Wirtinger, Untersuchungen über Thetafunktionen (1895). A. Krazer und F. Prym, Neue Grundlagen einer Theorie der allgemeinen Thetafunktionen (1892). A. Krazer, Theorie der zweifach unendlichen Thetareihen auf Grund der Riemannschen Thetaformel (1903). F. Prym und G. Rost, Theorie der Prymschen Funktionen erster Ordnung im Anschluß an die Schöpfungen Riemanns (1911).

Funktionen mehrerer Variabeln.

Wir wollen das weite Gebiet der Funktionentheorie nicht verlassen, ohne einen flüchtigen Blick auf die Theorie der Funktionen mehrerer Variabeln, vor allem der algebraischen Funktionen zweier Variabeln zu werfen, welche letzteren mit den tiefsten Untersuchungen über die algebraischen krummen Oberflächen zusammenhängen. Hier sind besonders die italienischen Mathematiker Enriques, Severi, Castelnuovo u. a. m. vorangegangen, in Frankreich Picard. Aber auch in Deutschland, wo M. Noether wohl der hervorragendste Forscher auf diesem Felde ist, sind solche Untersuchungen nicht vernachlässigt worden, und unter den jungen Mathematikern hat P. Koebe mit seinen schönen Uniformisierungsarbeiten einen verheißungsvollen Weg beschritten.

Prinzipien der Geometrie.

Die philosophische Vertiefung aller Grundbegriffe der Mathematik hat sich besonders in der Geometrie vollzogen. Schon vor 1889 hatte F. Klein in seinen „Vergleichenden Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen“ (1872) den Blick auf die Entstehung und die Zusammenhänge der geometrischen Begriffe gelenkt. Pasch brachte dann in seinen „Vorlesungen über neuere Geometrie“ (1882) den empirischen Ursprung der Geometrie zur vollen Geltung. Das Problem der axiomatischen Behandlung der Geometrie unter Voranstellung des Gruppenbegriffes hat S. Lie im dritten Bande seiner „Theorie der Transformationsgruppen“ (1893) in Angriff genommen. Veronese gab in seinen „Grundzügen der Geometrie von mehreren Dimensionen und mehreren Arten in elementarer Form entwickelt“ (deutsch 1894) einen streng synthetischen Aufbau der Geometrie von den ersten Grundlagen aus und setzte dabei das Stetigkeitsaxiom nicht durchgängig voraus. Den Versuch, die Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie zu einem einheitlichen Ganzen zu verarbeiten, machte W. Killing in seiner „Einführung in die Grundlagen der Geometrie“ (2 Bände, 1893 u. 1898). Durch die Wiederkehr des hundertsten Geburtstages von Lobatschefskij (1893) und von J. Bolyai (1902) sowie durch die Veröffentlichung von Dokumenten über die Ansichten von Gauß erhielten die Mathematiker neue Anregungen, sich mit diesen Prinzipienfragen zu beschäftigen. Als historische Schriften von nachhaltiger Wirkung erwiesen sich: „Die Theorie der Parallellinien von Euklid bis auf Gauß“ von P. Stäckel und F. Engel (1895) und „Nikolaj Iwanowitsch Lobatschefskij, zwei geometrische Abhandlungen, mit einer Biographie des Verfassers" von F. Engel (1899); der Briefwechsel zwischen Gauß und W. Bolyai, herausgegeben von F. Schmidt und P. Stäckel, sowie die neuen Ausgaben der Werke von Lobatschefskij und Bolyai.

[1232]

Hilbert’s „Grundlagen der Geometrie.“

Durchschlagend wirkten aber die Arbeiten von D. Hilbert über die Grundlagen der Geometrie, unter ihnen die als Teil der Festschrift zur Feier der Enthüllung des Gauß-Weber-Denkmals in Göttingen (1899) erschienene Abhandlung „Grundlagen der Geometrie“ (3. Aufl. 1909). In ihr und in mehreren späteren Artikeln legte der Verfasser klar und in logischer Schärfe die Genesis der mathematischen Begriffsbildungen auseinander. In dem Vortrage „Über die Grundlagen der Logik und der Arithmetik“ unterscheidet Hilbert die dogmatische, die empiristische, die opportunistische, die transzendentale und die axiomatische Methode. Die letztere hält er allein für geeignet zu einer strengen und befriedigenden Begründung des Zahlbegriffes. Nach ihr verfährt er auch bei der Entwicklung der Grundlagen der Geometrie, und diese Methode ist dann in anderen Gebieten der Mathematik von verschiedenen Forschern zugrunde gelegt worden. In dem zweiten Bande der Enzyklopädie der Elementar-Mathematik sagt J. Wellstein: „Das Verdienst des Hilbertschen Buches besteht in der klaren erkenntnistheoretischen Grundauffassung, in der scharfen Problemstellung und in den arithmetisch-geometrischen Methoden. Es ist leicht zugänglich, hat durch seine Methoden anregend gewirkt und wird voraussichtlich noch weiter wirken. “ Die lange Reche von Schriften, die an diese Veröffentlichung anknüpfen, bekundet die Richtigkeit dieser Bemerkung. Forscher wie H. Poincaré („Wissenschaft und Hypothese“) und F. Enriques („Probleme der Wissenschaft“) haben sich mit ihr auseinandersetzen müssen, und die Erkenntnistheorie hat durch diese mathematischen Überlegungen manche Aufklärung erhalten.

Nichteuklidische Geometrie.

Neben den verschiedenen Arten der schon früher unter dem Namen „nichteuklidisch“ behandelten Geometrien, deren Berechtigung durch die eben berührten Untersuchungen von neuem nachgewiesen wurde, sind infolge der vertieften Einsicht nun auch noch andere Geometrien ausführlich behandelt worden, bei denen eins der zum Aufbau der euklidischen Geometrie als notwendig erkannten Axiome fortgelassen wird: die nichtarchimedische Geometrie, die nichtpascalsche Geometrie usw.

Als Wert von hoher prinzipieller Bedeutung sind die „Grundlagen der Geometrie“ von F. Schur (1909) zu bezeichnen. „Vorbereitet durch Pasch, Veronese und Peano, hat seit Hilberts Grundlagen der Geometrie das Interesse für Untersuchungen über die Axiome der Geometrie so mannigfache Veröffentlichungen hierüber hervorgerufen, daß deren systematische Darstellung wohl gerechtfertigt sein mag. Erstens wird mehr als bisher eine axiomatische Begründung auch der nichteuklidischen Geometrie gegeben, und zweitens wird besondere Aufmerksamkeit der Tragweite der neu einzuführenden Axiome gewidmet.“

Kritik von E. Study.

Von reinigender Kraft in bezug auf Präzision versprechen die Schriften des Kritikers κατ εξοχην E. Study zu wirken. „Soweit unsere geometrische Produktion überhaupt Anspruch auf ernsthafte Würdigung hat, ist sie vorwiegend Raubbau. Die Erfolge Steiners und anderer mehr oder [1233] minder naturwüchsiger Talente scheinen einer für Autoren und Referenten gleichbequemen Art der Urteilsbildung Vorschub geleistet zu haben, wonach es in der Geometrie nur auf die ‚Hauptsache‘ ankommen soll, Präzision aber nicht Hauptsache ist … Hier könnte eine nicht bloß Anfängern überlassene Kritik und sich ihrer bewußte Kritik eine Milderung schaffen, jedenfalls das weitere Anwachsen der indigesta moles geometrica einschränken und auf Präzision gerichtete Arbeiten ermutigen“ (Rezension der „Vorlesungen über Differentialgeometrie“ von L. Bianchi). Hiermit möge es entschuldigt werden, aber auch durch die Knappheit des zur Verfügung stehenden Raumes, daß wir die vielen einzelnen Arbeiten nicht besprechen.

Analysis Situs.

Mit den allgemeinen Überlegungen über die Grundlagen der Geometrie stehen in einem gewissen Verbande die Betrachtungen über Topologie, wenn wir den Listingschen Ausdruck gebrauchen, oder über die Analysis situs, wie man jetzt die Lehre von den Gesetzen des Zusammenhanges, der gegenseitigen Lage und der Aufeinanderfolge von Punkten, Linien, Flächen, Körpern und ihren Teilen oder Aggregaten im Räume bezeichnet, abgesehen von den Maß- und Größenverhältnissen. Seit 1889 hat in Deutschland besonders W. v. Dyck sich mit hierher gehörigen Problemen beschäftigt. Die wichtigsten Untersuchungen hierüber sind im Auslande angestellt ( Poincaré, Heegaard ) und haben in Deutschland ein Echo gefunden. Die Theorie der Polyeder, soweit sie ihre Topologie betrifft, ist durch scharfsinnige Arbeiten deutscher Mathematiker weiterentwickelt worden, und in gleicher Weise hat sich die Theorie der projektiven Konfigurationen als ein fruchtbares Bild für Liebhaber kombinatorischer Spekulationen von schwieriger Veranschaulichung erwiesen. In beiden Gebieten hat E. Steinitz neue Probleme erfolgreich bemeistert.

Elementare Geometrie.

In der elementaren Geometrie hat die neuere Dreiecksgeometrie, die, ursprünglich in Deutschland entstanden, dann besonders in Frankreich gepflegt ist, belebend gewirkt. Außerdem hat die von Lemoine in Frankreich ersonnene Geometrographie den Anstoß dazu gegeben, daß auch in Deutschland der Vereinfachung geometrischer Konstruktionen eine erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt wird. In der Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht ist jetzt für solche Konstruktionen eine besondere Abteilung vorbehalten.

Darstellende Geometrie.

Die Betonung des Wertes graphischer Methoden für praktische und unterrichtliche Zwecke hat eine Vermehrung der Schriften über die darstellende Geometrie zur Folge gehabt. Abgesehen von den verschiedenen Lehrbüchern, die wir hier nicht aufzählen können, sind nur wenige Veröffentlichungen prinzipieller Natur erschienen. Wir nennen bloß die ausgedehnten Untersuchungen von G. Hauck über die trilineare Verwandtschaft ebener Systeme. Die von M. d’Ocagne zur graphischen Lösung von Gleichungen erdachte Nomographie fängt an, auch in Deutschland für Techniker bedeutsam zu werden, und [1234] die von C. Runge ersonnenen Methoden zur graphischen Lösung von Aufgaben über Differentialgleichungen und Fouriersche Reihen scheinen sich bei den Praktikern schnell einzubürgern.

Synthetische Geometrie.

Die neuere synthetische Geometrie hat in Deutschland als Hauptvertreter Th. Reye und R. Sturm, die trotz hohen Alters ihre klassischen Schriften vollendet haben. Reye hat in seiner Geometrie der Lage und in vielen zerstreuten Abhandlungen gezeigt, daß die reine Geometrie durchaus nicht abgeerntet ist, wie manche meinen, und R. Sturm hat in seinem vierbändigen Werke „Die Lehre von den geometrischen Verwandtschaften“ mit jugendlichem Eifer ein „ sorgfältig bearbeitetes und mit besonderer Klarheit geschriebenes Lehrbuch“ geschaffen, das überall von originalen Untersuchungen zeugt. Obgleich aber diese Forscher ein leuchtendes Beispiel für die jungen Mathematiker sind, und obschon E. Kötter in seinem großen Berichte über die Entwicklung der synthetischen Geometrie eine sorgfältige Übersicht über die seit dem sechzehnten Jahrhundert aufgehäufte Literatur, ein bequemes Mittel zur Verfolgung der rein geometrischen Arbeiten geschaffen hat, so ist doch ein Nachlassen in der Hervorbringung von Arbeiten aus der synthetischen Geometrie zu bemerken. Es ist zu befürchten, daß nach den Aufhören der akademischen Tätigkeit der beiden Senioren der synthetischen Geometrie auch die bei ihren Schülern sonst angeregten Schriften aus diesem Gebiete in der Literatur der Dissertationen und ähnlicher Veröffentlichungen verschwinden.

Analytische Geometrie.

Es liegt wohl auch in der Natur der Sache, daß die analytischen Methoden bei der Behandlung geometrischer Gegenstände mit der schnellen Entwicklung der Analysis sich als besonders wirksam erweisen, insofern sich ja die Ergebnisse der letzteren häufig direkt in ein geometrisches Gewand kleiden lassen. Ebensowenig wie bei der Besprechung der Analysis wollen wir etwa auf die Lehrbücher der analytischen Geometrie eingehen. Nur einzelne besondere Erscheinungen mögen kurz erwähnt werden. Eine recht vollständige Übersicht über die bisher behandelten Kurven gab G. Loria in seinem Werke: „Spezielle algebraische und transzendente ebene Kurven. Theorie und Geschichte“ (2. Aufl. 2 Bände, 1910 u. 1911). Ein ähnliches Werk von F. G. Teixeira ist nicht in Deutschland erschienen. Neben diesen umfangreichen Werken sind die beiden kleineren Bücher von H. Wieleitner zu beachten: „Theorie der ebenen algebraischen Kurven höherer Ordnung“ und „Spezielle ebene Kurven“. G. Scheffers lieferte eine „Einführung in die Theorie der Kurven in der Ebene und im Raume“. Zwei andere Bücher beziehen sich auf die Methodik der analytischen Behandlung: G. Kowalewski veranstaltete eine deutsche Ausgabe der „Vorlesungen über natürliche Geometrie“ von E. Cesàro, und R. Mehmke hat in seinem jüngst ausgegebenen ersten Teilbande der „Vorlesungen über Punkt- und Vektorenrechnung“ ein Werk begonnen, in welchem diese „höhere Entwicklungsstufe der analytischen Geometrie “ eine sachgemäße Darstellung erhält.

Die Theorie der algebraischen Kurven und der algebraischen Flächen hat gleichen [1235] Schritt gehalten mit der Theorie der algebraischen Formen und der algebraischen Funktionen. Aus der Fülle der einzelnen Erscheinungen können wir hier nichts Besonderes herausnehmen und näher besprechen.

Differentialgeometrie.

Die Differentialgeometrie ist ebenfalls liebevoll gepflegt worden. Von den Fragen, die in den letzten Jahrzehnten besonders auf der Tagesordnung gestanden haben, ist die Deformation der krummen Oberflächen zu nennen. Unter den deutschen Forschern erwies sich als Meister in der Behandlung dieser Frage der vor wenigen Jahren (1910) abgeschiedene J. Weingarten, der mit seiner Preisschrift „Sur la déformation des surfaces“ 1894 den großen Preis der Pariser Akademie errang, und dessen Name in den W-Flächen fortleben wird. Auch hier müssen wir uns mit diesen wenigen Bemerkungen begnügen, wollen aber doch zuletzt noch das eben erschienene Buch „Grundlagen der Differentialgeometrie“ von J. Knoblauch erwähnen, diesem unermüdlichen Forscher auf dem von zahllosen Formeln überwucherten Felde.

Liniengeometrie.

Die Liniengeometrie wurde in Fortsetzung der von Kummer und Plücker begonnenen, von F. Klein und Lie durchgeführten Untersuchungen nach vielen Richtungen weiter ausgebaut. Unter den deutschen Arbeiten ragt durch prinzipiell hochbedeutsame Eigenschaften das Buch von E. Study hervor: „Geometrie der Dynamen“. In ihm wird die Frage nach der konstruktiven Darstellung und Zusammensetzung von Dynamen, d. h. von Kräften, die einen starren Körper angreifen, als Ausgangspunkt genommen für tiefliegende Untersuchungen geometrischen, also rein theoretischen Inhalts.

Mehrdimensionale Geometrie.

Die Literatur der mehrdimensionalen Geometrie ist bedeutend gewachsen; die Schriften bewegen sich zum Teil in rein geometrischer Behandlungsweise (Schoute, in Sammlung Schubert, Bd. 35 u. 36), zum Teil aber in analytischer Methode – dieses weniger in Deutschland als in Italien. Die hierbei erhaltenen Zahlenergebnisse sind der abzählenden Geometrie zuzurechnen, einem Gebiete, das von H. Schubert durch das „Prinzip von der Erhaltung der Anzahl“ zu besonderer Tragweite geführt war. Neuerdings ist dieses „Prinzip“ von der Seite der streng kritisierenden Mathematiker scharf angegriffen, von der Seite der produktiv schaffenden, ebenso lebhaft verteidigt worden.

Geometrische Verwandtschaften.

Die Lehre von den geometrischen Verwandtschaften fällt, wenn man sie analytisch betrachtet, unter die Lehre von den Transformationen durch Substitution und ist sowohl unter diesem Gesichtspunkte, als auch (wie oben bei R. Sturm erwähnt) vom rein geometrischen aus vielfach behandelt worden. Wir weisen nur auf die Cremona-Transformationen hin. Recht ausgedehnte Arbeiten hierüber liegen von S. Kantor [1236] vor, der viele schöne Resultate gefunden hat; leider hat er durch Mangel an Präzision die Wirkung seiner Arbeiten abgeschwächt. Die hohe Bedeutung vieler Arbeiten über konforme Abbildung, die ebensosehr der Funktionentheorie angehören wie der Geometrie, möge zum Schlusse nur noch betont werden.

Wir dürfen uns eben nicht durch die bunte Mannigfaltigkeit der Gebilde der Geometrie dazu verlocken lassen, bei ihrer Anschauung länger zu verweilen. Ebensowenig dürfen wir das Gebiet der Anwendungen der Mathematik auf die mathematische Physik, besonders auf die Mechanik betreten, obschon hier die Macht der mathematischen Betrachtungsweise zur hellen Erscheinung kommt. Wir müssen uns eben damit begnügen, in einzelnen großen Zügen ein allgemeines Bild von dem ungeschwächt pulsierenden Leben in der mathematischen Forschung auf deutschem Boden zu zeichnen.

Schlußwort.

Beim Beginne der behandelten Periode lebten noch die Heroen unter den deutschen Mathematikern: Kummer, Weierstraß, Kronecker. Wir, die jetzigen alten Mathematiker, sahen mit Stolz auf sie, aber auch mit Sorge, weil wir nicht wußten, ob die deutsche Mathematik in der vordersten Reihe der Forschung sich würde behaupten können. Das flüchtige Bild, das wir entworfen haben, zeigt, daß zu solcher Besorgnis kein Grund vorhanden war. Und wenn auch inzwischen mancher von denen, auf welchen unsere Hoffnung beruhte, ins Grab gesunken ist, anderen die Kräfte vorzeitig versagt haben, so ist doch gegenwärtig eine Schar talentvoller aufstrebender Forscher in Deutschland an der Arbeit und gibt uns die frohe Hoffnung, daß das Volk der Denker auf dem mathematischen Felde des reinen Denkens weiter in der ersten Reihe der vorwärtsstrebenden Völker bleiben wird. Solche jugendlichen Forscher einzeln zu nennen, habe ich absichtlich vermieden. Möge nach abermaligem Verlaufe eines Vierteljahrhunderts die feste Zuversicht, mit der wir auf sie blicken, durch die inzwischen gemachten Entdeckungen bestätigt werden!