Meister Jeremias
Der Schneidermeister Jeremias Lump saß am Sylvesterabend in seiner engen Dachstube auf dem gelb gestrichenen, tannenen Werktisch und bemühte sich eifrig, beim trüben Scheine der alten, mit einem zerbrochenen Cylinder geschmückten Petroleumlampe das letzte Knopfloch eines dicken, braunen Winterüberziehers einzufassen. Es war noch ziemlich früh; in der Schneiderwohnung aber würde es, wenn die Lampe nicht gebrannt hätte, stockfinstere Nacht gewesen sein. Das machten die hohen Giebel der engen Gasse, auf welche die kleine Lebensbühne des Meisters Jeremias hinausschaute. Er hatte sie oft verwünscht, diese blauschindeligen Dächer, diese qualmenden, rußbedeckten Schornsteine, die ihm das liebe, goldene Sonnenlicht so unerbittlich einkerkerten und nur zuweilen einen dünnen, flüchtigen Strahl auf seinen Werktisch springen ließen. Ja, er hatte diese dunkelnden Dächer oft verwünscht, zumal im Winter, wo er durch den großartigen Petroleumconsum zu einer Mehrausgabe gezwungen wurde, die seinem Verdienst eine empfindliche Wunde schlug. Manchmal aber hatte er sich auch über sie gefreut: wenn er im Frühling oder Sommer durch das enge, von den Händen seiner Tochter Lieschen mit duftenden Geranium- und Epheugardinen behangene Fenster auf die alten Dächer schaute, wie [874] wohl that ihm dann das milde, durch das saftige Grün der Blätter gedämpfte Licht, wie wohl der Anblick der Spatzen und Tauben, die sich auf dem glänzenden Spielplatz herumtrieben und von den wurmstichigen Gesimsen die ausgestreuten Brodkrumen wegnaschten! Und erst des Nachts, wenn der Mond die blanken Schindeln in eine flüssige, bläulichweiße Metallmasse zu verwandeln schien – wie gern blickte er dann durch das kleine enge Fenster hinaus und sah Hitzepitz, seinen getreuen Kater, lustige schwindlige Promenaden ausführen.
Jeremias Lump hatte sich in allen Fährlichkeiten des Lebens eine gewisse humoristische Ader zu wahren gewußt. In den letzten Tagen aber schien ihn dieselbe zur großen Betrübniß Lieschen's gänzlich verlasse zu habe. Der Rock, den er da vor sich hatte, gehörte dem Küster von St. Agatha, der morgen, am heiligen Neujahrstage, in diesem neuen Kleidungsstück Gott seine würdige Persönlichkeit beim Hochamte als wohlgefälliges Brandopfer entgegenbringen wollte. Der Rock mußte also heute noch abgeliefert werden. Schon zweimal vierundzwanzig Stunden hatte der alte Meister seine runzligen, kunstfertigen Finger ununterbrochen über den braunen Tüffel gleiten lasse. Eine Nähmaschine besaß er nicht, und würde er auch, selbst wenn er sie besessen, nicht angewendet haben – „aus Princip nicht!“ wie er zu sage pflegte. Jeremias war ein geschworener Feind der Nähmaschine. Er hielt es mit der alten, soliden Handarbeit, und damit hielt es der Küster ebenfalls – darum hatte der ihm auch den neuen Winterüberzieher in Auftrag gegeben.
Zu jeder anderen Kalenderzeit würde Jeremias durch seine gelungene Kunstleistung entschieden beglückt gewesen sein. Aber heute! – Die letzten zwei Thaler, die er von den Ersparnissen des verstrichenen Sommers erübrigt, waren vor ein paar Tagen heimlich dazu verwendet worden, Lieschen, die mit dem Neujahrstage auch ihren Geburtstag feierte, Stoff zu einem neuen Sonntagskleide zu kaufen. Er mußte ihm doch etwas zum Geburtstage schenken, dem guten, treuen Kinde, und das Kleid hatte es schon lange nöthig, so nöthig wie Brod. Die große Flasche Punschsyrup, die er seit der Verheirathung mit seiner lieben Frau - sie lag nun schon sieben Jahr auf dem Kirchhof die Selige! – in Gesellschaft seines geliebten Töchterleins und einiger guten Freunde am Sylvesterabend regelmäßig leerte, stad diesmal noch im Schaufenster des gegenüberwohnenden Colonialwaarenhändlers, der Gänsebraten, den Lieschen so schmackhaft mit Kastanien und Aepfelschnitzeln zu schmoren wußte – das hatte sie von ihrer Mutter gelernt! – lag noch beim Geflügelverkäufer, und er, Jeremias Lump, der ehrbare Schneidermeister, der sich ordnungsmäßig vom Lehrling zum Gesellen, vom Gesellen zum Meister emporgeschwungen, der seine vorgeschriebenen drei Jahre in ehrlicher Arbeit auf der Wanderschaft zugebracht und noch nie eine Naht genäht hatte, die von selbst wieder aufgegangen, er hatte nur noch sieben und einen halben Silbergroschen – nach Mark und Pfennigen rechnete er nie – baares Geld in der oberen Kommodenschublade liegen. Der Küster bezahlte sehr unpünktlich; auf den Arbeitslohn für den Ueberzieher konnte er also nicht rechnen.
Jeremias warf über die runden Gläser seiner uralten, aus der Spitze seiner knochigen Nase hockenden Hornbrille einen verstohlenen, flüchtigen Blick auf seine blonde Tochter. Die saß am unteren Ende des Werktisches auf einem rohen Holzstuhl und stickte an einem Teppich für das Tapisseriegeschäft, für das sie, seit sie aus der Elementarschule entlassen war, beständig arbeitete. Einen Augenblick stieg in Lump der gottlose Gedanke auf, sein Kind zu fragen, wie viel es für die Arbeit erhalte und wann es den Lohn verlangen könne, aber entrüstet über sich selbst, drängte er diese Idee sofort wieder zurück. Wußte er doch, daß das Mädchen mit jedem Stich, den es da machte, auch ein lange ersehntes Glück zusammennähte; hatte er doch selbst ihm ein- für allemal gesagt, daß jeder Groschen, den es durch eigene Arbeit verdiene, zu seiner Aussteuer benutzt werden sollte. Er selber hatte ja nichts außer dem Wenigen, was er mit Nähnadel, Scheere und Bügeleisen erwarb, und Fritz, der Steinhauergeselle, Lieschen's Bräutigam, hatte auch nichts. Mit schmerzlich verzogenem Munde kraute Meister Jeremias sich mit der mageren Linken hinten in dem grauen Haarbüschel, der wie ein altes verwittertes Strohdach über seine schäbige Cravatte herunterhing, und wischte sich mit dem wachs- und staubgeschwärzten Zeigefinger der Rechten unter seiner Hornbrille über die Augendeckel. Er wußte nicht, wie es eigentlich kam, aber der Gedanke an den Punschsyrup, den Gänsebraten und Lieschen's Stickerei machte ihn so confus, daß er den Ueberzieher wie in einen wogenden Nebel gehüllt erblickte. Gewaltsam raffte er sich empor und nähte das Knopfloch fertig. Dann schritt er zum feurig leuchtenden Ofen, nahm den glühenden Bolzen heraus, schob diesen mit der verbogenen Feuerzange in das Bügeleisen, bügelte die Knopflöcher, nachdem er sie mit einem Mund von Wasser etwas angefeuchtet, glatt, hing den Rock, mit dem Futter nach außen, an das Kleiderreck und legte sich, so lang er war – er war aber nicht sehr lang, der Alte – mitten unter die Tuchabfälle und Flicklappen auf den Werktisch.
„Weck’ mich um sieben Uhr, Lieschen!“ sagte er.
„Soll ich Dir ein Kopfkissen holen, Vater?“
„Nein.“
Jeremias krümmte die dünnen Beine zusammen, legte den Kopf, gegen die Tischplatte geneigt, auf die beide Vorderarme, sodaß Lieschen sein Gesicht nicht sehen konnte, und weinte.
Das kam von den schlechten Geschäftsverhältnissen, von der fabrikmäßigen Nähmaschinenarbeit, die einem ehrlichen, soliden Handwerksmann den letzten Bissen Brod fortschnappt! Hatte er jemals in einem Winter so wenig Arbeit gehabt, jemals in seinem Leben in einem ganzen lieben langen Jahre so wenig erübrigt? Flickarbeit, ja die kam vollauf, aber ein neuer Anzug oder ein neuer Ueberzieher, Sachen, an denen noch etwas zu verdienen war, die konnte er zählen. Hätte er mehr zu thun gehabt, er würde etwas Anderes gethan haben, als dem frommen Wühlhuber seinen Paletot zu machen. Er hatte auf den Küster nie besonders viel gehalten. Seit vorigem Herbst aber, wo er im „Goldenen Lümmel“ mit ihm so hart an einander gerathen, war seine Abneigung gegen ihn noch gewachsen. Jeremias hatte an dem betreffenden Abende eines seiner politischen Lieblingsthemata: die ungerechte Vertheilung der Glücksgüter, erörtert, worauf der dicke Küster, ein salbungsvolles Gesicht schneidend, mit einer Lieblingsphrase des städtischen Wochenblättchens bemerkte: Jeremias sei „socialdemokratisch angehaucht“ und werde wohl auch einmal, wie Bebel und Liebknecht, mit dem Zuchtpolizeigefängniß Bekanntschaft machen. Jeremias war darauf in eine entrüstete Philippica ausgebrochen. Er hatte betheuert, daß das Zuchtpolizeigefängniß in unserer Zeit für einen ehrlichen Kerl gar keine Schrecken mehr besitze, hatte es für eine Ehre erklärt, „socialdemokratisch angehaucht“ zu sein, und sich dann über Berechtigung und Ziele der deutschen Socialdemokratie in einer so beredten, bierbegeisterten Weise ausgesprochen, daß die Mäuler der friedliebenden Stammgäste sich immer weiter öffneten, der Küster, ohne sein Glas zu leeren, mit einer bezeichnenden, auf Jeremias gemünzten Handbewegung nach der Stirn heimwärts eilte und der Henkel des Bierseidels, womit Jeremias seine Rede-Absätze laut aufklopfend interpunktirte, schließlich bei einem gar zu pathetisch auf den Tisch gestoßenen Ausrufungszeichen zerbrochen in seiner Hand stecken blieb.
Unrecht hatte der fromme Wühlhuber mit seiner Bemerkung nicht. Er hatte Recht. Jeremias aber hatte auch Recht. Jeremias, der im Jahre Achtundvierzig, eine alte Vogelflinte von seinem seligen Vater in der Hand, auf einer leibhaftigen Barricade gestanden, der Lassalle vor Gericht gesehen und den herrlichen Professor Gottfried Kinkel in einer Volksversammlung sprechen gehört – Jeremias war jetzt der Socialdemokratie mit Leib und Seele ergeben, und wenn er keinem socialdemokratischen Vereine angehörte oder den „Vorwärts“ nicht hielt, so lag das lediglich daran, daß ein solcher Verein in Schwatzhausen nicht existirte und er für das genannte Partei-Organ das Abonnementsgeld nicht erschwingen konnte. Dafür hingen aber über seiner Kommode um den zerbrochenen Rasirspiegel in säuberliche Lithographie – er hatte sie vom Schulmeister Muger gegen ein paar Flickarbeiten in Zahlung genommen – die Portraits von Kinkel, Freiligrath, Struve, Hecker und Lassalle. Dafür standen aber auf seinem Kleiderspind neben Schiller's sämtlichen Werken – die „Phantasie an Laura“ konnte er noch von seinem Brautstand her wörtlich auswendig – dem Gebetbuch seiner seligen Frau und Lieschen's Schulbüchern drei ganze Jahrgänge der Kölner „Rheinischen Zeitung“ von 1847, 1848 und 1849, sowie ein dicker, mit starker schwarzer Knopfseide zusammengehefteter Band revolutionärer Flugschriften, Aufrufe, Reden und Gedichte. Dafür aber lag in der mittleren Kommodenschublade, wozu er den Schlüssel stets in seiner linken Westentasche trug, unter den Hemden [875] seiner seligen Frau, neben der sorglich in einem Schächtelchen geborgenen Nationalcocarde, ein fleckenlos gehaltenes Heft, von dessen Existenz selbst Lieschen nie etwas erfahren hatte. „Das Unrecht des Rechts!“ so stand in langen altfränkischen Lettern auf dem Umschlag. Jeremias hatte die Vorarbeiten zu diesem verborgenen Geistesschatz schon seit 1849 begonnen, wo sein bester Freund und Wandergenosse, Peter Flink, unter der Anklage des Widerstandes gegen die Staatsgewalt zwei Jahre festgesetzt, dadurch in seinem Handwerke ruinirt und schließlich ohne Entschädigung, wegen Beweismangels, wieder entlassen und zur Auswanderung nach Amerika gezwungen wurde. Keine ungerechte Anklage, keine Inconsequenz und Härte des Strafgesetzes, wovon die im „Goldenen Lümmel“ gehaltenen beiden Zeitungen Meldung brachten, entging seit jener Zeit den Augen Lump’s. Er sammelte diese Nachrichten so gewissenhaft, wie ein Goldgräber den Goldstaub, eine Braut die Liebesbriefe des Bräutigams und ein zum ersten Male amtirender Pfarramtscandidat seine Gedanken. In unbewachten Stunden suchte er dann aus der Fülle des vorliegenden Materials die schroffsten Fälle aus, klebte dieselben auf und versah sie mit säuberlich geschriebenen Randbemerkungen. Das Endresultat dieser Sammlung bildete eine: „Der Zukunftsstaat im Rechtszeitalter“ betitelte Abhandlung, eine Arbeit, die niemals fertig wurde und sich aus einzelnen, abgerissenen, monatelang von einander entfernten, zwar confusen und barocken, aber unstreitig neuen und eigenartigen Gedanken und Einfällen zusammensetzte. Dieses Manuscript war Jeremias’ bestes Eigen. Was dem Geizhals sein Arnheim, dem Minister sein Portefeuille, dem Bischof sein Krummstab, das war Jeremias Lump sein „Unrecht des Rechts“. Er bewahrte das Manuscript nicht in einem Secretär oder Pulte auf – es schlummerte friedlich unter den Hemden seiner Seligen – er bot es auch keinem Verleger zum Druck an, und doch war er vernarrter in dasselbe, als ein Poet in sein erstes Bändchen halbflügger Jugendgedichte.
Von der Existenz des Heftes wußte, wie gesagt, außer ihm selbst keine sterbliche Seele; der Inhalt desselben aber war nichtsdestoweniger in Lump’s Umgangskreisen mehr oder minder bekannt; denn Jeremias fielen die guten Gedanken nicht von selbst in den Schoos; wie Lessing mußte er sie „durch allerlei Röhren und Druckwerk“ aus sich herauspressen, aber gerade die Schwierigkeit der Geburt machte ihm seine Geisteskinder noch lieber, prägte sie seinem Gedächtniß nur noch fester ein, und häufig genug brachte ihn das Citiren seines geliebten revolutionären Gedankenschatzkästleins bei den abendlichen Sitzungen im „Goldenen Lümmel“, die er namentlich in der letzten Wochen übermäßig lange ausdehnte, mit seinen Freunden und Bekannten heftig an einander. Des Meisters Schwiegersohn in spe hatte sich sogar vor drei Wochen bei ähnlichem Anlaß zu der verwegenen Aeußerung hinreißen lassen, mit einem so verbissenen alten Socialdemokraten wolle er nichts mehr zu schaffen haben. Fritz hatte sich seitdem auch wirklich ganze vierzehn Tage nicht auf der Werkstatt sehen lassen.
Alle diese Thatsachen, Erinnerungen und Erlebnisse, gewürzt und durchzogen von dem Dufte des mangelnden Gänsebratens, tanzten Jeremias jetzt durch den trüben, müden, duselnden Kopf und, halb ungewiß, ob er das letzte Knopfloch an dem neuen Ueberzieher fertig eingefaßt habe oder nicht, entschlief er.
Ihm träumte, er sei gestorben und er flöge nun glattrasirt, wie es nur an besonders hohen Feiertagen bei ihm vorkam, im weißen Leichenhemde, sein „Unrecht des Rechts“ unter dem Arme, gen Himmel, dem heiß ersehnten Ideallande der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit entgegen. Er flog gerade über Schwatzhausen, seiner Vaterstadt, empor und blickte erstaunt auf die blauen Dächer, die grünen Alleen und den breiten klaren Strom, der an der Stadtmauer vorbeifloß. Wie oft hatte er an seinem Ufer gesessen und geangelt! Und die Kirchthurmspitze von St. Agatha, mit dem angrenzenden Treppengiebel des „Goldenen Lümmel“, wo er so manchen Schoppen Bier geleert – wie merkwürdig herrlich sich das Alles von oben ausnahm! Es that ihm ordentlich leid, daß das Schöne ihm so schnell aus den Augen schwand. Aber mit Blitzesschnelle ging’s aufwärts, an der Sonne und den Sternen vorbei durch eine, wie ein umgekehrter erweiterter Trichter sich emporspitzende prächtige Waldschlucht, deren Bäume – das Wasser lief ihm im Munde zusammen! – dicht mit Braunschweiger Würsten, Schinken, Aachener Printen, gebratenen Gänsen und Punschsyrupflaschen belaubt waren, bis unter ein zweites, schöneres, anscheinend größeres, helleres Himmelsdach. Die Sterne und Planeten dieses Firmamentes hatten die buntesten Farben und Formen. Sie flammten gelb, grün, roth, blau, braun, schwarz und weiß, violett und bronzen, in Quadrat-, Dreieck-, Ring-, Raketen- und Guirlandengestalt, ein Feuerwerk, wie Jeremias so herrlich es nie gesehen, selbst nicht vor fünfundzwanzig Jahren, bei dem ersten und letzten Schwatzhausener großen Sängerfeste. Immer weiter, wohl eine halbe Stunde, flog der todte Schneidermeister durch diesen Zauberhimmel, bis er schließlich in einen Strom blendend rothen, wie vom Winde bewegten Lichtes kam, dessen Wellen ihn sanft emportrugen vor eine riesige, von oben bis unten mit glänzenden, nagelneuen Ducaten beschlagene Thür.
Prüfend betastete er das Ducatenthor mit den Händen. Es waren leibhaftige, echte Ducaten; er merkte es genau, wenn er auch nur einmal in seinem Leben, und das war an seinem Hochzeitstage, wo die Mutter ihm das Stück als Heckepfennig schenkte, einen solchen besessen hatte. Lange blieb ihm aber zur Bewunderung des Goldthores nicht Zeit; denn kaum hatte er es ein paarmal prüfend auf- und abgetastet, als es mit einem gewaltig dröhnenden Tone, welcher aus einer mächtigen Baßtuba zu kommen schien, aufsprang und sich sofort wieder hinter ihm schloß. Jeremias stand in einer mit tausend Engeln gefüllten, edelsteinbesäeten, säulengetragenen, hochgewölbten Vorhalle. Sie war wohl zwanzigmal so hoch, wie das Chor der St. Agatha-Kirche. Am Eingange saß auf einem rothen Plüschstuhle an einem kleinen, perlmuttereingelegten Tischchen, wie sie der Schreinermeister Burr, Jeremias’ Nachbar, so theuer verkaufte, ein alter, verschrumpfter Greis mit einem mächtigen Schlüsselbunde vor sich.
„Ah, Jeremias Lump!“ sagte der Greis, „bist Du auch da?“
„Zu dienen!“ erwiderte Jeremias unter tiefer Verbeugung, als ob er den Hut lüften wollte, nach seinem Kopfe greifend. „Habe ich die Ehre, Seine Gnaden Herrn Sanct Peter – –“
„So ist mein Name!“
„Wo ist denn meine Frau, gnädiger Herr Petrus?“
„Deine Frau? Ja, die ist im Frauenhimmel.“
„Im Frauenhimmel?“ echote Jeremias erstaunt. „Giebt es denn hier für die Weiber einer besondern Himmel?“
„Natürlich!“ versetzte Petrus. „Sonderbar, daß Du das nicht weißt. Wenn Du aber Dein Weib einmal sehen willst, so soll’s Dir vergönnt sein.“
Der Heilige winkte einem nebenan stehenden Engel, welcher Jeremias unverzüglich beim Arme nahm und ihn durch die Halle über eine hohe Marmortreppe an eine kleine Thür führte, in deren Mitte ein Schiebfenster sich befand.
„Sieh’ hin!“ sagte der Engel. Jeremias guckte durch das kleine Fenster und erblickte in einem endlosen, mit starkem Gänsebratendufte gewürzten Saal tausend und abertausend weißgekleidete Frauen auf goldenen Bänken, phantastische Handarbeiten machend, wozu sie Lieder sangen, so seltsam hell, so überirdisch kräftig, daß er fast betäubt davon wurde. Je länger er hinschaute, desto unermeßlicher schien ihm der Raum, desto zahlreicher die versammelten Weiberschaaren. Die letzten Reihen erblickte er nur als weißen Nebel, woraus hier und da, wie aus einer Weihrauchwolke, ein paar verschwommene Köpfe sichtbar wurden. Die Unendlichkeit des Saales erfüllte ihn mit einem gewissen Grauen, welches nur durch die stumme Befriedigung darüber gemildert wurde, daß die himmlischen Arbeiterinnen keine einzige Nähmaschine benutzten. In einer der mittleren Reihen saß auch seine Frau.
„Evchen!“ rief Jeremias. „Evchen! Evchen!“ rief er noch einmal aus Leibeskräften. Aber Evchen hörte und sah nicht.
„Die kennt mich ja gar nicht mehr,“ sagte Jeremias, dem Engel zugewendet.
„Das darf Dich nicht wundern,“ versetzte dieser. „Die seligen Geister dieser Orte sind aller Erinnerung an die Erdenwelt bar.“
„In welchen Himmel komme ich denn?“ fragte Jeremias.
„Du? – Du kommst wahrscheinlich in den Armenhimmel.“
„Wie viele Himmel giebt es denn eigentlich hier?“
„Das weißt Du auch nicht? Sechs Himmel haben wir. Einen für die genialen Menschen, einen für die Talentvollen und einen für die Armen im Geiste, und zwar für beide Geschlechter immer einen besonderen – das macht zusammen: sechs.“
„Und ich soll in den letzten?!“ rief nun Jeremias etwas gereizt.
„Ja, es sei denn, daß Du auf Erden eine besonders hervorragende geistige That vollbracht hättest.“
[876] „Eine besondere That, Herr Erzengel?!“ schmunzelt Jeremias. „Na, dann schauen Sie einmal her!“ und mit einer energischen Bewegung hielt er dem seligen Geiste sein Manuscript unter die Nase. „Da glaube ich denn doch, daß ich mindestens unter den Talentvollen ein Plätzchen bekomme.“
„Ich kann irdische Handschriften nicht lesen,“ erwiderte der Engel, nachdem er einen flüchtigen Blick auf das Heft geworfen hatte. „Kennst Du hier Jemanden, der Deine Schrift zu beurtheilen vermöchte?“
„Ja natürlich!“ rief Jeremias. „Fähren Sie mich nur zu Ferdinand Lassalle oder zum Professor Gottfried Kinkel – doch nein, der ist noch nicht todt. Also zu Herrn Lassalle, wenn ich bitten darf – der ist auch gewiß der Beste.“
Stillschweigend schwebte der Engel mit unserem Meister durch einen weiten Park, aus dessen Gebüschen Paradiesvögel und Papageien flatterten und herrliche Fontainen Punschsyrup in die Höhe spritzten, bis zu einer dichten Laube. Diese bildete den Eingang zu einem andern Saale, der ebenfalls mit seligen Geistern ausgefüllt war. Statt aus Gold waren die Bänke hier uns Rubinen, aus faustgroßen Smaragden und Topasen zusammengesetzt, und die darauf Sitzenden sangen nicht, sondern declamirten in einer unverständlichen Sprache. Der Engel schritt hinein. Jeremias wollte ihm folgen, wurde aber wie von einem unüberwindlichen Drucke an der goldenen Schwelle zurückgehalten.
Nach einer kurzen Weile trat der Himmelsbote wieder heraus in die Laube, hinter sich Lassalle. Sonderbar, so lange Lassalle noch im Saale war, trug er ein ebenso blaues Gewand wie alle anderen dort Anwesenden, leuchteten seine Züge und seine Hände ebenso weiß. Kaum aber. hatte er die Schwelle überschritten, als er dieselben schwarzen Beinkleider und denselben tadellosen Frack trug, welche schon bei der Gerichtsverhandlung in Düsseldorf, wo Jeremias ihn zuerst erblickte, dessen bekleidungskünstlerische Bewunderung in so hohem Maße erregt hatten. Ein penetranter merkwürdig natürlicher Gänsebratenduft schien an Stelle des Lichtstromes getreten zu sein, welcher den berühmten Agitator eben umfloß.
„Etwas Neues?“ fragte Lassalle.
„Jawohl!“ sagte der Engel und überreichte ihm Jeremias’ Manuscript. „Ich erbitte mir Dein Urtheil darüber.“
Lassalle durchblätterte das Heft flüchtig und versetzte dann: „Das ist crasser Unsinn. Du mußt den Mann in’s Purgatorium sperren. Er hat sich eine verrückte Grille in den Kopf gesetzt.“
„Was?“ schrie Jeremias; „Unsinn? Verrückte Grille? Einsperren? – Wie können Sie so etwas – sagen, Herr Lassalle? Wollen Sie denn vielleicht leugnen, daß unsere gegenwärtigen Rechtszustände im Allgemeinen total unhaltbar sind, daß dem unschuldigen durch das Gesetz geschädigten Staatsbürger noch immer keine Entschädigung wird, daß die Herrschaft des Capitals, die Classenwirthschaft, das Fabrikwesen, die Nähmaschinen jeden ehrlichen Handwerker, der es mit der soliden Handarbeit hält, in’s Elend stürzen? Haben Sie nicht selbst in Düsseldorf –“
Lassalle gab dem Engel das Manuscript zurück und sagte:
„Laß es verschwinden!“
Der Engel trat mit dem Fuße leicht auf den Boden. Durch den Tritt entstand ein Loch, woraus eine lodernde Flamme emporschlug, sodaß Jeremias entsetzt zur Seite sprang, aus den Flammen aber tauchte das lachende Gesicht eines gehörnten Teufels hervor, dem der Engel das „Unrecht des Rechts“ in den weit aufgesperrten Rachen schlenderte. Dem Schneidermeister wankten die Kniee. Lassalle wandte sich zum Fortgehen.
„Aber erlauben Sie, Herr Lassalle!“ kreischte Jeremias auf und faßte den Davonschreitenden mit dem Muthe der Verzweiflung am Frackzipfel. „Das ist denn doch ein Bischen stark! Wenn das Recht sein soll –“
„Laß mich in Ruhe!“ rief Lassalle. „Du bist hier im Himmel und nicht auf der Erde. Was kümmern mich Deine verrückten Allotria? Meinst Du vielleicht, Du könntest Deine dummen Gleichheitsideen und Rechtsbegriffe auch hier an den Mann bringen und mit Socrates, Dante, Goethe und Luther an einem Tische sitzen? Da irrst Du Dich doch gewaltig. Ungenügsame Menschen! Wollt Ihr auf der Erde schon einen Himmel haben, so begehrt Ihr hier noch einen besseren, und gäbe man ihn Euch, Ihr würdet bald wieder nach einem angenehmeren verlangen. Ach, auch ich strebte leider einmal, Euch zu helfen. Eure wirklichen und, was noch mehr, Eure eingebildeten Leiden zu mildern – aber sehr mit Unrecht! Euch Menschenkindern ist nie geholfen, weil Ihr meist Euch selbst nicht helft, weil Ihr nie Selbstbeschränkung, kein Pflichtbewußtsein, keine Erkenntniß besitzt. Thörichter Mann Du! Hättest Du, anstatt Deine Zeit mit den dummen Schmierereien zu vertrödeln und im ‚Goldenen Lümmel‘ Deine Hosen durchzurutschen“ – Jeremias, an seine Schneiderehre gefaßt, schaute unwillkürlich nach seinem hinteren Menschen, erblickte aber nur sein Leichenhemd – „hättest Du in an den schönen unbenutzten Stunden Flickarbeit gemacht, so könntest Du Dir jetzt zwei Gänse kaufen und eine Flasche Punschextract dazu. Dann brauchtest Du heute, am heiligen Sylvesterabend, nicht Pellkartoffel mit Häringen zu essen. Es ist ja eine Schande. Ein ordentlicher Arbeiter, der tüchtige, solide Handarbeit macht, und dann auf Sylvesterabend Pellkartoffel mit Häringen!“ –
Lassalle verschwand. Dem armen Schneidermeister waren die Thränen in die Augen gestiegen. Er schämte sich vor dem Engel und wollte sein Taschentuch herausziehen und sich die Nase zu putzen suchte aber wieder vergebens nach seinem Beinkleide.
„Komm in’s Purgatorium!“ sagte der Engel.
Jeremias trat drei Schritte zurück. Er wußte zwar nicht ganz genau, was das Purgatorium war, aber er verband mit dem Worte instinctiv den Begriff eines abgeschlossenen, Freiheitsentziehung bedingenden Raumes.
„Fällt mir gar nicht ein,“ sagte er entschlossen. „Heute ist Sylvesterabend und morgen Lieschen’s Geburtstag, und ich muß Lieschen ein neues Kleid schenken und muß auch noch die Knopflöcher glatt bügeln. Zudem, Herr Engel, gestehe ich Ihnen, daß es mir hier durchaus nicht gefällt. Wo einen die Frau nicht einmal wieder erkennt und so merkwürdig mit fremdem Eigenthum umgegangen wird, wo alles, was im Wochenblättchen steht, so schnurstracks herumgedreht wird und man nicht einmal seines Lebens sicher ist, da soll doch lieber gleich ein heiliges Schockmillionen –“
Aber er konnte den Fluch nicht aussprechen; denn kaum hatte er ihn auf den Lippen, als alles um ihn her in stockfinstere Nacht versank und er aus unmeßbarer Höhe in sausender Courierzugsschnelligkeit herunterwirbelte, immer tiefer, tiefer und tiefer, bis er mit seinen bloßen Füßen am Schwatzhausener Stromufer mitten in einem Distelstrauch zur Erde gelangte und mit einem lauten „Au!“ in die Höhe fuhr.
„Was ist Dir, Vater?“ hörte er die silberne Stimme Lieschen’s in sein Ohr klingen.
Schwer aufathmend schaute Jeremias mit blinzelnden Augen um sich. Wahrlich, da lag er auf seinem geliebten Werktisch, mitten unter den Flicken, auf seinen Füßen der Kater, sein zärtlicher Hitzepitz, der im Uebermaß animalischen Wohlbehagens nochmals seine spitzen Krallen in des Meisters Socken hakte, an einer Wiederholung seines Liebesbeweises aber durch einen wohlgezielten Fußtritt gehindert wurde.
Da lag er – da stand das wackelige Kleiderspind, die Kommode und der geborstene Ofen, und hinter dem Ofen das hölzerne Ellenmaß. Da hingen noch die altersgelben Lithographien der Revolutionshelden und die grünen Laubgardinen an dem kleinen Fenster; da waren die Schindeldächer und schwarzen Schornsteine, die das Wintermondlicht jetzt mit einem magischen, wunderbar sanften Glanze überschüttete. O, wie schön war es doch! Wie schön! Wahrhaftig, es war schöner als im Himmel!
„Du hast lange geschlafen, Vater,“ sagte Lieschen. „Ich wollte Dich eben wecken; denn es ist beinahe acht Uhr, und Du weißt, heut ist Sylvesterabend. Ich muß doch den Werktisch noch etwas abräumen!“
„Ja natürlich, Kind,“ murmelte Lump verwirrt, wischte sich den Schweiß von der Stirn und krabbelte sich mit seinen mageren Armen und Beinen vom Tische.
„Der Küster hat seinen Rock schon holen lassen. Die Magd hat fünf Thaler auf Abschlag mitgebracht. Den Rest bekämest Du nach Neujahr, ließ der Küster sagen.“
„Fünf Thaler?!“ rief Meister Lump. „Wo sind sie?“
„Hier, auf der Kommode!“
In einem Sprunge war Jeremias an dem alten Möbel und bedeckte mit einer raubthierartigen Bewegung die aufgezählten Thalerstücke mit beiden Händen Nie hatte ihm ein Tagelohn [878] solche Freude gemacht. Ueberwältigt von den durch einander fluthenden Empfindungen, die ihm fast den Athem in der Brust zusammenpreßten, mußte er sich ein paar Secunden an die alte Kommode lehnen, dann aber entrang sich seinem Munde ein lautes:
„Hurrah, Kind! Nun können wir heute Abend doch unsere Gans essen und unseren Punsch trinken! Nun will ich aber doch gleich –“
Und hastig nach seiner Kappe greifend wollte der alte Meister mit Jünglingseile zum Zimmer hinaus.
Aber welch eine Zaubergewalt nagelte ihn auf einmal an den Boden und ließ ihn mit abgesperrten Augen nach der offenen Thür des anstoßenden Wohnzimmers starren? Waren es nicht Männerstimmen, die daraus hervordrangen? –
„Vater,“ sagte Lieschen leise und legte ihren runden Arm um seine Schulter, „der Gänsebraten ist fertig, und auch der Punsch, und Fritz und Fritzens Vater sind auch da. Und der Fritz hat auch drei Flaschen Brauneberger mitgebracht; denn Fritz ist gestern Meister geworden und –“
Aber Lieschen wurde am Weitersprechen verhindert; denn Fritz trat mit seinem Vater in die Werkstätte und nahm den alten Schneidermeister bei der Hand und schüttelte diese so herzlich, daß Jeremias vor Schmerz und Freude die Augen überliefen Und nachdem dann das wichtige Tagesereigniß und die daraus folgenden Consequenzen mit lauter Stimme wirr durch einander dem Alten in die Ohren posaunt worden und er Fritz und das liebe Töchterchen geküßt und dem letzterer sein Geburtstagsgeschenk, das neue Kleid, überhändigt hatte, schritten die vier armen glücklichen Menschen in’s Wohnzimmer und bewunderten die dort von Fritz und seinem Vater aufgestapelten Herrlichkeiten.
Jeremias aber, bevor er sich zu Tische setzte, schritt unter dem Vorwande, eine andere Jacke anziehen zu wollen, in die Werkstätte, nahm aus der mittleren Kommodenschublade – er fand es blindlings – sein „Unrecht des Rechts“ heraus und überlieferte es resignirt dem Feuermunde des geborstenen Arbeitsofens. Weder an jenem Abende, noch bei anderen Gelegenheiten hat er seine geliebten oppositionellen Weltverbesserungsideen wieder ausgekramt. Jenen Sylvestertraum aber hat er desto häufiger erzählt, und der Küster - mit welchem er in der Folge ganz gut Freund wurde – bezeichnete denselben stets als einen Finger Gottes.
Er hatte ihn nicht vergebens geträumt, den sonderbaren Traum, der socialdemokratische Schneidermeister. In emsiger, unverdrossener Thätigkeit, die nur durch’s Alter und die von Lieschen ihm geschenkten munteren Enkel manchmal unterbrochen wurde, füllte er sein Leben bis an sein seliges Ende mit solider Handarbeit aus, und eine besondere Freude gewährte es ihm, wenn er den Pfahlbürgern Schwatzhausens Sonntags Abends im „Goldenen Lümmel“ sozusagen aus eigener Anschauung versichern konnte, daß es im Himmel keine Nähmaschinen gäbe.