Ob-Ost/Das Gottesländchen

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Ob. östliche Presse Ob-Ost
von Fritz Hartmann
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X. Das Gottesländchen
Hannover, den 30. November.

Von Kurland solle ich Dir besonders eingehend schreiben? Ich tue es gern. Auch mir ist das Gottesländchen ans Herz gewachsen.

Beim Verlassen Litauens ändert sich die Landschaft. Du glaubst nach Ost- oder Westpreußen zu kommen. Stellenweise aber wird man sogar an die lieblichen Täler Thüringens erinnert.

Mit dem Lande ändern sich die Leute. Der Pole, der Litauer und der Weißrusse verschwinden; der Jude tritt fast ganz zurück. Dafür taucht der Lette auf, und in den Städten wird unser geliebtes Deutsch zur beherrschenden Umgangssprache.

Freilich war dies Gebiet immer schwach besiedelt, und gegenwärtig sind zwei Drittel seiner Bewohner entweder verschleppt oder entwichen. Nur gegen 200000 sind noch da; davon ein Zehntel Deutsch-Balten.

Die Letten sind dem Stamme nach den Litauern verwandt. Allein ihre Sprache ist älter [79] und soll sich seit fünf Jahrtausenden nicht entwickelt haben. Sie verhalte sich zum Litauischen wie etwa Latein zum Wortschatze Dantes. Vielleicht trifft dies auch für den Wohllaut zu. Denn klangschön ist sie wahrlich nicht.

Allerdings ist der Lette kein reiner Slawe geblieben, sondern hat sich immer wieder mit finnischen Esthen gekreuzt. Von Art ist er schmeidig und angenehm, allein leicht bestimmbar; daher ohne Verlaß. Im Gegensatz zum Litauer zieht er dem Dorfe das Einzelgehöft vor; „Gesinde“ genannt. Das ist ein unslawischer, ein germanischer Zug. „Colunt discreti ac diversi, ut fons ut nemus ut campus placuit.“

Es ist überhaupt ein Bauernvolk. Erst in jüngster Zeit haben sich Ansätze zu einem Mittelstande entwickelt. Früher wurden diese durch die deutsche Oberschicht gehindert, die wie Öl über dem Wasser schwamm.

Ein steifnackiges Geschlecht, diese Balten! Siebenhundert Jahre ist’s her, seit die „Aufsegelung“ ihre Vorväter auf diese Scholle verpflanzte. Westfälische Kreuzritter, bremische und lübische Hansestädter. Aber sie sind heute noch ganz so deutsch wie jene. Jede Vermoskowiterung ist [80] an ihnen fehlgeschlagen. Ja es kam vor. daß russische Adelsgeschlechter, die in Kurland ansässig wurden, in dieser deutschen Luft selber verdeutschten. Die baltischen Städte unterscheiden sich in nichts von den unsrigen. Mitau mutet wie Weimar an; Goldingen an der Rummel – jenem Wasserfall der Windau, wo man die springenden Lachse in der Luft fängt – magst Du Dir etwa wie Helmstedt vorstellen, und Libau ist so eine Art Ostsee-Husum.

An der Petersburger Hoftafel wird eines Tages wieder über den Baltentrotz geklagt. Alexander III. braucht aber gar nicht noch mehr gereizt zu werden. Er ist zorngeladen bis zum Kehlkopf. Schließlich preßt er ein Brötchen in seiner harten Hand zusammen und ruft drohend: „Wie diese Semmel will ich sie zerdrücken.“ Es fliegt ein Engel durch den Saal und er nimmt sich Zeit. Eine ganze Weile währt es, bis gewandte Hofherren bekniffen ein anderes, ein deckendes Obenhin-Gespräch angezettelt haben. Mitten in diesem aber sagt plötzlich Maria Paulowna, die mutige Mecklenburgerin, mit dem Finger weisend: „Majestät, sehen Sie doch bloß, die Semmel hat ja ihre Gestalt wieder angenommen.“

[81] Dies Stückchen ist mir in Kurland mehrfach erzählt worden. Die Balten sind stolz auf die bewiesene Rückensteife. Ich saß bei Tisch neben einem bekannten Baron. Er hat als russischer Rittmeister während des Türkenkrieges zweimal den Balkan überschritten und später in der Heimat einen hohen Verwaltungsposten bekleidet. Seine Tante ist von Nikolaus I. auf Nikolaus II. – im ganzen sechzig Jahre – Hofdame am Zarenhofe gewesen. Trotzdem hat sie nie Russisch gelernt! Selbst Alexander III. mußte Deutsch zu ihr sprechen.

Überhaupt die Frau! Ehre ihr! Sie ist die eigentliche Deutscherhalterin der Balten. Sie hat im Kampf um die Völklichkeit den Mann unablässig gestärkt und gestachelt. Sorglich hütete sie den Nachwuchs vor der gefährlichen Sprachmengerei. Ein Rheinländer erzählt von den deutschen Familien Petersburgs: „Kauderwelschen die Kinder deutsch-russisch, so ist’s ein reichsdeutsches, sprechen sie fehlerfrei, dann aber unfehlbar ein baltisches Haus.“ In der Unterdrückungszeit gründeten die Frauen Vereine, schufen Jugendhorte, Ferienkolonien, Mädchenkurse, Heimstätten, Leihbüchereien; ohne Unterschied des Standes wurden sie nicht müde, [82] Stammesstolz und Abscheu gegen Überläufertum wachzuhalten.

Nach Kriegsausbruch mußten Mann und Frau auf der Straße stumm nebeneinander hergehen. Deutsches Gespräch war ja streng verpönt; Russisch konnte der weibliche Teil nicht; Französisch oder Englisch jedoch hätte jeder horchende Schutzmann rundweg für Deutsch erklärt.

Unsagbares haben die Balten heldenmütig getragen. Die lutherischen Pastoren wurden verschickt; die alten ehrenfesten Richter wichen russischen, die Recht und Unrecht nach der Handsalbe bemaßen. Als aber in den Schulen die russische Staatssprache eingeführt wurde, gründete die Ritterschaft sofort deutsche Privatanstalten und trug ohne Murren deren schwere Kostenlast für ihr geliebtes Volkstum.

Nicht minder hatten ihre Söhne die Ohren steif zu halten. Hier die deutsche Gymnasialausbildung und daneben noch die stark abweichende russische um der Berechtigungen willen. Auch sie bestanden die schwere Probe mit Stolz und Ehren.

Viele Adelssitze sind jetzt verwaist. Gar mancher Medem, Reutern, Osten-Sacken, Rahden [83] oder Hahn harrt in Sibirien einer dunklen Zukunft entgegen. Die Verschickungsgründe waren in Rußland stets wohlfeil und zumal bei diesen Männern, die nie anders sprachen, als sie dachten, spottleicht zu finden.

„Teile und herrsche“ sagte sich der Russe. So hatte er im Baltenlande die empfänglichen Letten gegen die Deutschen verhetzt. Anarchistische Wühler zogen umher, die Tagelöhner aufreizend gegen die Gutsbesitzer, den Halmlosen auf fettes Hofsland begehrlich machend. Die Revolution brach aus, überall flog den Baronen der rote Hahn aufs Dach. Wir waren zu Gast auf Schloß Neuenburg beim Freiherrn von der Recke. Das Haus ist jedem Deutschen merkwürdig durch die Erinnerung an Elise, die Entlarverin Cagliostros, die Freundin Tiedges, die gefühlvolle Dichterin und gütige Frau. Sein einer Flügel wurde damals vernichtet; seltene Stücke gingen mit ihm in Flammen auf. Noch heute stehen diese Räume halbfertig. Der Krieg hat die Vollendung des Wiederausbaues gehindert. Während es in den anderen Zimmern so typisch nach feinem Tee mit Zitrone duftet, herrscht dort der Geruch alten Brandes und frischer Tischlerarbeit.

[84] Kurz vor der Räumung Mitaus hat noch der General Potagow auf dem Marktplatz ein Hoch auf die „herrliche lettische Nation“ ausgebracht, die nicht ruhen werde, bis der letzte Deutsche niedergeschlagen sei. Er selbst hatte es zu eilig mit der eigenen Sicherheit, als daß er sich ans Vernichtungswerk machen konnte. Wie aber wäre es gekommen, wenn unsere Truppen ihm mehr Zeit gelassen hätten?

Den Mitauer Bankdirektoren wurde zuletzt befohlen, alle Depositen nach Riga zu schaffen. Sie sorgten bei Nacht und Dunkel, daß die Einleger ihre Guthaben abhoben und anderen Morgens war nichts mehr einzuliefern.

Als die Deutschen einrückten, sanken allenthalben die vorschriftsmäßigen russischen Firmenschilder. Aber siehe da: hinter ihnen tauchten die alten deutschen aus milderer Zeit wieder auf. Die Geschäftsinhaber hatten sie einst nicht entfernt, nur überkleidet. Nie hatten sie verzweifelt, daß dem moskowitischen Winter doch noch ein deutscher Frühling folgen werde. Und er kam.