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Predigten für die festliche Hälfte des Kirchenjahres/Am 2. Advent 1834

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Am 2. Advent.
(Nürnberg 1834.)


Luc. 21, 25–36. Es werden Zeichen geschehen an Sonne, Mond und Sternen; und auf Erden wird den Leuten bange sein und werden zagen; und das Meer und die Wasserwogen werden brausen. Und die Menschen werden verschmachten vor Furcht und vor Warten der Dinge, die kommen sollen auf Erden, denn auch der Himmel Kräfte sich bewegen werden. Alsdann werden sie sehen des Menschen Sohn kommen in der Wolke, mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wenn aber dieses anfähet zu geschehen, so sehet auf und hebet eure Häupter auf, darum, daß sich eure Erlösung nahet. Und er sagte ihnen ein Gleichnis: Sehet an den Feigenbaum und alle Bäume, wenn sie jetzt ausschlagen, so sehet ihr es an ihnen und merket, daß jetzt der Sommer nahe ist. Also auch ihr, wenn ihr dies alles sehet angehen, so wisset, daß das Reich Gottes nahe ist. Wahrlich, ich sage euch: Dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß es alles geschehe. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht. Aber hütet euch, daß eure Herzen nicht beschweret werden mit Fressen und Saufen und mit Sorgen der Nahrung, und komme dieser Tag schnell über euch. Denn wie ein Fallstrick wird er kommen über alle, die auf Erden wohnen. So seid nun wacker allezeit und betet, daß ihr würdig werden möget, zu entfliehen diesem allen, das geschehen soll, und zu stehen vor des Menschen Sohn!
 Wir sehen in diesem Evangelium denselben Heiland in Seiner majestätischen Wiederkunft zum Gerichte, welchen wir vor acht Tagen arm und demütig zu Seinem Leiden in Jerusalem einreiten sahen. Wir sahen vor acht Tagen den Anfang Seines Erlösungswerkes, heute die Vollendung. ER ist A und O, Anfang und Ende. Wer will Seine Herrlichkeit| ausreden? – Lasset uns Ihn schauen in Seiner großen Pracht, damit wir uns um so mehr freuen auf Weihnachten. Denn ER kam ins Fleisch, um uns von den Schrecken des jüngsten Tages zu erlösen!

 Du aber selbst, o treuer Heiland, schließ auf die Herzen, damit sie wohl und seliglich vernehmen! Thu auf meinen Mund, hüte meine Worte, daß sie nicht von Dir verirren, und segne sie, daß sie Frucht schaffen zum ewigen Leben! Amen.




 1. Die Zukunft JEsu zum Gerichte und ihre Vorboten sind schrecklich. – Die Vorboten sind diese: Der Himmel Kräfte bewegen sich, – es geschehen Zeichen an Sonne, Mond und Sternen, – das Meer und die Wasserwogen brausen, – den Leuten auf Erden ist bange, sie zagen, sie verschmachten vor Furcht und Warten der Dinge, die kommen sollen auf Erden. –

 Ja, es wird in Erfüllung gehen, was geschrieben ist Ps. 96, 11–13. „Himmel freue sich und Erde sei fröhlich! Das Meer brause und was darinnen ist. Das Feld sei fröhlich und alles, was darauf ist, – und lasset rühmen alle Bäume im Walde – vor dem HErrn. Denn ER kommt, denn ER kommt zu richten das Erdreich. ER wird den Erdboden richten mit Gerechtigkeit und die Völker mit Seiner Wahrheit!“ – Als JEsus in Jerusalem einritt, sangen Ihm die Menschen Hosianna. Wenn ER wiederkommt, wird Himmel und Erde und Meer, Sonne, Mond und Sterne ein Hosianna singen, ein lautes, mächtiges Hosianna, vor welchem allen Menschen das Hosianna vergehen wird. Wenn im Sommer ein schweres Gewitter kommen will, geht vor ihm her eine dumpfe Schwüle: die Schwächlinge auf Erden fühlen sich matt, und eine Bangigkeit erfüllt sie; – auf die dumpfe Schwüle folgen dann einige Windesstöße, daß alle Fahnen knarren und alle Thüren krachend auf und zu springen; – der Mensch eilt in sein Haus und schließt hinter sich zu, die Straßen werden leer, die Kinder sammeln sich um die Mutter, wie Küchlein unter die Flügel der Henne, ein sehnsüchtig Flehen steigt aus der beklemmten Brust – und auch von den Tieren sucht ein| jedes seinen Ort. Das ist eine Weissagung auf die Vorboten des jüngsten Tages. Wenn zwei Donnerwolken unterm Himmel solche Stille und Bangigkeit auf Erden anrichten können: was wird’s sein, wenn die Himmel und ihre Säulen sich jauchzend neigen und die Erde sich von ihren innersten Eingeweiden heraus freut, daß ihre Grundsteine springen und die Gebirge hüpfen. Ja, da wird das Volk verschmachten vor Angst, und ehe kommt, der da kommen soll – angebetet sei Sein herrlicher Name! –
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 Wie aber erst, wenn ER nun kommt? wenn Seine Erscheinung wie ein Blitz in einem Augenblick allen Bewohnern der Erde ins Auge blinkt? wenn ER auf Wolken und Engelwagen einreitet in das beweinenswerte Jerusalem, in die bejammernswerte Welt? wenn ER Seine Kraft und Herrlichkeit an sich trägt, wie Panzer und Waffe? wenn Seiner Augen Winken Blitze und Seiner Lippen Worte Donner sein werden? wenn Seiner Engel Fittige, Seiner Cherubim Flügel Ihm zu Ehren tönen – und ihre unsterblichen Stimmen, wie großer Wasser Rauschen, singen: „Ehre sei Gott in der Höhe!“ wenn dazu die Wasserwogen bis zum Himmel brausen – und die Erde dazu Amen bebt? Ha! wie wird die Angst so tödlich werden und doch nicht töten können! wie werden die Menschen umsonst mit ihren Händen ihre Augen decken! wie werden sie und ihre Könige und Großen so einig werden, zu heulen vor Angst und Schrecken! – Was aber unter allem das Fürchterlichste sein wird, ist das, daß der kommende HErr kein anderer ist, als der Menschensohn, JEsus Christus. Seine Wunden werden leuchten! Sie haben diesen JEsus oft verschmäht, Seiner Wunden herrliche Kraft verspottet; ach! sie haben wider diesen Gesalbten getobt, wenn sie durften oder konnten. Und nun kommt ER! Sie schauen Ihn, in den sie gestochen haben, – und ER ist ihr Richter. Welch eine Traurigkeit, großer Gott! Unter allen Traurigkeiten zu nennen eine Traurigkeit der Welt, welche den Tod bringt, – nicht eine göttliche Traurigkeit, welche eine Reue wirkt, die Niemand gereut! Sie bereuen, wie einst Esau, ihre Sünde – aber ihre Reue, ob sie gleich ewig währt, hilft ihnen doch nichts.| Denn JEsus kommt ohne Sünde – Seine Versöhnten sind versöhnt, die aber dann nicht versöhnt sind, haben ewig keinen Teil mehr an Ihm und Seinem Heil! – Vor solcher Traurigkeit des jüngsten Tages behüt uns, lieber HErre Gott! Gieb uns hier Buße und Glauben, denn dort ist’s zu spät!

 2. Dennoch, dennoch, so schrecklich das ist, – ist’s doch nur, oder hauptsächlich nur, für die Welt schrecklich. Für die Erlöseten JEsu Christi werden die Vorboten Seiner Erscheinung voll Trostes, die Erscheinung selber voll Wonne sein!

 Der HErr weiß wohl, was für Seine Kirche gut ist, so lange sie auf Erden ist – nämlich Trübsal und Druck. Darum giebt ER ihr aus der Fülle Seiner Liebe viele Trübsal und vielen Druck. ER legt ihr eine Last nach der andern auf und demütigt sie treulich. So gut indeß solcher Druck ist, so sehnt sich doch die Kirche fort und fort nach einem Zustand, in welchem sie nicht mehr des Druckes bedarf, um demütig zu werden. Ach! ihre Last wird ihr oft schwer – sie schmachtet nach Erlösung und senkt oft vor Traurigkeit das Haupt, daß die Erlösung so lange verzeucht. Für sie nun sollen die Vorboten des jüngsten Tages tröstlich sein! – Wenn dieses anfängt zu geschehen, spricht der HErr, dann hebet eure Häupter auf! Dann senk’ sie nicht mehr, liebe Kirche! dann atme auf unter deiner Last, – dann schöpfe frischen Atem! Wenn die Welt triumphirt, wenn sie ihres Glücks sich freut, hat es die Kirche schlimm: denn dann läßt sie ihren Übermut an der Kirche Gottes aus! Wenn aber der HErr nicht mehr vornehmlich Seine Kirche züchtigt, wenn Seine Hand schwer wird über den Kindern dieser Welt, dann will er seiner Kirche ein wenig Ruhe vor ihnen gönnen. – Wenn aber die Vorboten Seiner Wiederkunft die Welt erschrecken und auf ihr lasten, dann ist ER gesonnen, Seiner Kirche ewige Ruhe zu schaffen. Dann spricht ER: „Deine Erlösung ist nahe!“

 Freilich wird auch die Kirche jene schrecklichen Ereignisse vor dem jüngsten Tage mit hohem Ernst betrachten! Auch ihren Kindern wird das Herz schlagen, auch sie werden den letzten Kampf, den Todeskampf der Welt, mitkämpfen – aber| alles Trostes voll. Denn die Erlösung ist nahe. Lange hat sie gebetet: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns vom Übel!“ Nun kommt Erhörung. Sie hat erfahren, was Versuchung ist, – sie weiß, was Erlösung von allem Übel sagen will. Darum kämpft sie getrost den letzten Kampf. Ein Sterbender, welcher seiner Seligkeit gewiß ist und weiß, daß ihn von derselben nichts mehr trennt, als der Jordan des Todes, geht mutig in den Strom und spricht: „Dein Stecken und Stab trösten mich!“ Also auch die Kirche im Todeskampf der sichtbaren Welt. Sie fühlt sich von Gott getröstet – sie trägt die letzten Schrecken geduldig, in der Kraft dessen, welcher spricht: „Ich bin bei dir!“ Ihr Herz wird immer ruhiger, immer freier, immer größer – und die Wellen ihrer Sehnsucht steigen höher und sind mächtiger, als die Meereswogen! Während die Welt heulet, singt sie laut: „Komm bald, HErr JEsu!“ Ach! sie hat von Anfang an so gesungen und geweissagt – aber dann am lautesten. „Sollte Gott Seine Auserwählten nicht erhören, die zu Ihm Tag und Nacht rufen?“ „Ich will sie erretten in einer Kürze!“ spricht der HErr (Luc. 18, 7).

 Siehe, wenn nun nach diesen Wintermonaten der Frühling wiederkommt, dann schlagen die Bäume aus – es wird alles grün und lieblich, – die Blüten weiß und roth mit ihrem süßen Duft versichern’s, daß der Sommer nah ist. Wenn nun bald die Zeit kommt, daß der Himmel Kräfte sich bewegen und der alte Himmel seine Sterne abschüttelt vor dem Morgenwind, in welchem der Aufgang aus der Höhe erscheint, – abschüttelt, wie ein Baum seine Blüten, – wenn das Meer und die Wasserwogen brausen, wie wenn das Eis der Ströme geht, wenn’s Frühling wird, – wenn die Erde bricht, wie Eis: dann wird Gott den Seinen geben, dies alles freudenvoll anzuschauen, wie im Frühling die Blütenbäume, wie die Kinder einen Weihnachtsbaum im Winter. Frühlingshoffnung, Hoffnung eines ewigen Frühlings kommt in die Kirche. Sie bereitet sich, sie schmückt ihren Glauben, macht ihre Stimme hell und singt: „Hosianna dem, der da kommt!“

 Und welch ein Jubel wird es werden, wenn ER nun erscheint| in Seiner Herrlichkeit, – wenn Seine Wunden ein strahlendes Zeugnis geben, daß ER des Menschen Sohn ist? daß ihr Erlöser ihr Richter ist, ihr Richter, der, welcher sie, sie und sie und bis in den Tod geliebt und aus lauter Liebe zu sich gezogen hat? Da wird in Erfüllung gehen, was St. Petrus 1. Petr. 1, 8. 9 spricht: „Wenn nun offenbaret wird JEsus Christus, welchen ihr nicht gesehen und doch lieb habet, – und nun an Ihn glaubet, wiewohl ihr Ihn nicht sehet: so werdet ihr euch freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude!“

 Dann wird der ewige Bräutigam Seiner erlösten Kirche in Seiner Zukunft entgegenrufen: „Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin, die Blumen sind hervorkommen im Lande. Der Lenz ist herbeigekommen und die Turteltaube läßt sich hören in unserm Lande. Der Feigenbaum hat Knoten gewonnen, die Weinstöcke haben Augen gewonnen und geben ihren Geruch: steh auf, meine Freundin, und komm, steh auf und komm her!“ (Hohel. 2, 10–13). Da wird wonnevoll die Kirche Gottes predigen und rufen: „Mein Freund ist mein, ist ewig mein, und ich bin ewig sein!“

 Ja denn, Gottes Volk, sei getreu im Kampf bis dorthin. Denn dort wird dich, o arme Schar, nicht mehr hungern, noch dürsten; es wird auch nicht auf dich fallen die Sonne oder irgend eine Hitze. Denn das Lamm wird dich weiden und leiten zu den Lebenswasserbrunnen, – und Gott wird abwischen alle Thränen von deinen Augen! Halleluja!

 3. Dies, meine lieben Seelen, ist gewiß; die Welt mag denken oder sagen, was sie nach ihrem Unverstand sagen will und kann. Es ist gewiß, und wenn’s am wenigsten geglaubt wird, plötzlich, unvermutet wird’s hinausgehen.

 Was in unserm Textescapitel geweissagt wird, ist gewiß. Denn es hat schon angefangen erfüllt zu werden. Der HErr weissagt nämlich nicht allein das letzte Ende der Welt, sondern von Seiner Himmelfahrt bis zu Seiner Wiederkunft zum Gericht, d. i. von der auf Seine Himmelfahrt folgenden Zerstörung Jerusalems bis auf die Zerstörung der Welt geht| die Weissagung. Und wie ER gesagt hat: „Wahrlich, ich sage euch, dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß es alles geschehe!“ Und wahrlich, noch war das damals lebende Menschengeschlecht nicht gestorben, noch lebten viele, sehr viele, welche den HErrn gesehen hatten, da fing das Geweissagte an, hinauszugehen – Jerusalem wurde zerstört, wie es in unserm Text steht. Wie nun der eine Teil der Weissagung von der Zerstörung Jerusalems in Erfüllung ging und gewiß geworden ist, so wird der andere von der sichtbaren Wiederkunft des HErrn zum Gericht auch hinausgehen und gewiß werden. Der eines sah, sah auch das andere; der jenes hinausführte, wird auch dies hinausführen.
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 Ferner! Wer sähe es diesem Himmel an, der über uns sich wölbt, wie über unsre Väter vor fast sechstausend Jahren, der für die Ewigkeit gebaut zu sein scheint, – wer sähe es ihm an, daß seine Kräfte sich bewegen, und er zusammengerollt werden kann und wird, wie eine Buchrolle? Wer sähe es dieser Sonne, wer den Sternen an, welche von Ur an von allen Menschen getreu erfunden wurden in Auf- und Untergang, und alle Zeit und Stunden an dem Ort gefunden wurden, wohin sie gehörten, – wer sieht es ihnen an, daß sie den Schein verlieren, daß sie herabfallen können, daß eine Zeit kommen wird, wo sie ausgeleuchtet haben und ihre Leuchte und Licht verlischt? – Und diese Erde? die Saat- und Erntezeit, Sommer und Winter erlitten hat sechstausend Jahre, – die ihre Frucht gab zu seiner Zeit und Sabbath und Ruhe hielt, wenn sie’s gethan: – ist’s nicht fast unglaublich, daß sie ihre Stätte verlieren – wanken – im Feuer aufgehen, vernichtet werden soll? – – Und im Gegenteil, was ist doch ein Wort. Giebt’s etwas Flüchtigeres, etwas Vergänglicheres? Wenn’s gesprochen wird, schallt es – und wenn die Lippen sich schließen, ist’s still, als wäre nie ein Ton in dieser Stille gewesen. – Und doch und doch behauptet der ewige Prophet JEsus Christus, daß Berg und Hügel weichen, – daß Himmel und Erde vergehen werden; „aber der Bund Meines Friedens weicht nicht und Meine Worte vergehen nicht.“ Das schwache Wort des HErrn, wie’s scheint, – ist| mächtig und stark – und überwindet die Zeit der Welt. Seine Verheißungen trügen nicht. ER hat’s gesagt: ER kommt – ja! ER kommt! So muß es auch geschehen! Sein Verweilen ist ein Eilen. – ER verzeucht nicht, sondern ER ist unterweges!

 Unvermutet wird ER da sein. Laß sein, daß die Welt zu den Worten des HErrn lacht: – nicht die Kirche, die Welt hat es zu büßen, obwohl wir ihr ein Besseres gönnten. Nicht der Kirche, aber der Welt wird jener Tag zum Fallstrick werden.

 Brüder! habt ihr schon einmal an des Voglers Werk gedacht? Siehe! in aller Stille bereitet er seinen Strick und Netz und verbirgt es vor der Vögel Augen. Nachdem er sein Netz gelegt hat, geht er weg in einen stillen Winkel – und weder er noch sein Netz ist sichtbar. Darauf träumen alle Vögel im Gebüsch, sie seien allein und kein Feind in der Nähe; sie fliegen und hüpfen hiehin und dahin – ohne Ahnung, üben die Stimmen so klar. Und wenn sie am fröhlichsten und unbesorgtesten sind, da zieht der Vogler sein Netz zu, und die Freude hat geendet. Wenn es den Vögeln also geht, so muß man Mitleid haben. Wenn aber die Welt einst in die Netze des jüngsten Tages kommt, so kann man sie nicht bedauern, denn sie weiß, was da kommen wird und achtet’s nicht. Sie ist bei allem gerühmten Verstande dennoch unverständiger, als die Vögel. – Wenn ein Hausvater in einer Welt, wo Dieberei daheim ist, sein Hab und Gut dem Diebe aussetzt, alles offen stehen läßt, so ist er ein Thor. Denn der Dieb kann kommen. Wenn aber die Welt des jüngsten Tages nicht achtet, so ist sie thörichter, als thöricht; denn ihr ist aufs Gewisseste angesagt, daß ein Dieb kommt – und nur die Stunde ist verschwiegen, wann er kommt. – Ein schwangeres Weib kann der Stunde der Wehen nicht entrinnen, könnte sie’s und thäte es nicht, so litte sie verdienter Maßen ihren Schmerz. Die Welt aber kann den Wehen des jüngsten Tages entgehen, es ist hier Weg und Hülfe gezeigt und angeboten: sie will nicht! Ein schwangeres Weib glaubt, daß eine Versuchungsstunde für sie komme und kann| ihr nicht entrinnen; für die Welt kommt sie, es ist ihr gesagt und angekündigt, sie kann entrinnen – aber sie glaubt, es käme keine, so sucht sie nicht zu entrinnen, bereitet sich auch nicht. Sie sollte alle Augenblick und Stunden sich bereiten, weil alle Augenblick Gefahr sein könnte. Sie verliert die Zeit und scherzt. Sie redet von Aberglauben und Thorheit, sie verlacht den Glauben der Kirche, heißt ihn einen Ueberrest finstrer Zeiten. Sie verblendet und verstockt sich selbst – sie will nichts wissen von einem Ende, nichts von einem jüngsten Tage. Der HErr sagt: zur Zeit, da ER keinen Glauben mehr finden werde, werde ER kommen. Der Abfall ist da, kein Glaube mehr auf Erden. – Die Zeit ist ernst und schwer, wie Schwüle vor dem Gewitter – und die Welt ist und bleibt, was sie zuvor war, die arme, blinde, sichere, bedauernswerte Welt!

 4. Wohlan denn! will die Welt also – ach! wir bedauern sie, es ist uns leid, daß sie sich, obwohl finster an Erkenntnis, für sehend hält; aber wir können es ja nicht ändern. So will ich denn, meine Teuren, an euch noch einige Worte richten, wie sie mir mein Text an die Hand giebt, an euch, die ihr etwa nicht ungeneigt seid, dem Worte Gottes zu gehorchen.

 Im Namen JEsu ermahne ich euch hiemit: „Seid wacker,“ wachet! Wenn eins unter euch lau geworden ist im Glauben, wenn es, wie die Jungfrauen allesamt, eingeschlafen ist, weil der Bräutigam verzeucht zu kommen, so ruf’ ich ihm jetzt zu: „Wachet!“ Wach auf noch zu rechter Zeit, – erkenne, daß wer in der Welt und mit der Welt, ohne Gott und Christus, in Sünden lebt, der lebt nicht, der schläft, – denn das Leben ist allein in Gott, der nimmer schläft, noch schlummert und allen Seinen Kindern verleiht, gleich Ihm zu wachen! Schlafet nicht, träumet nicht: die Zeit, aufzustehn vom Schlafe, ist da! –

 Im Namen JEsu ermahne ich euch: „Betet!“ Wer nicht wacht, kann nicht beten, – wer schläft, d. i. wer in der Sünde versunken ist und dadurch von Gott losgetrennt, der findet keinen Weg zu Ihm, der ist Ihm nicht nahe! Macht| euch los: es ist genug, daß ihr die vorige Zeit hinbrachtet im Schlummer des Fleisches: „Wachet nun! betet!“ Es ist nicht möglich, daß ein Mensch dem jüngsten Tage entfliehe, – es kann auch kein einziger vor Ihm erscheinen, der Hoffnung hat, zu stehen! Sind vor dem HErrn in Gethsemane, da sein Antlitz von blutigem Schweiße troff, Häscher und Feinde in den Staub gesunken, konnte dort kein Sünder stehen vor dem Gedemütigten: wie wird man vor Ihm stehen können, wenn ER kommt in Seiner Herrlichkeit, fressend Feuer vor Ihm her, die Widerspenstigen zu verzehren! – Nähmst du dann Flügel der Morgenröte und flöhest ans äußerste Meer, auch dort ist jüngster Tag! Bettetest du dir in die Hölle: ER ist auch dort! Seine Strafhand ist allüberall! – Es sei denn, daß ER gnädig sei und will aus Gnaden einen und den andern entfliehen und vor sich bestehen lassen: so kann Niemand errettet werden. Darum bete, bete – zu dem, der für dich starb! Bete um Buße und Glauben, damit du Ihn fröhlich schauen könnest! Wer den Namen des HErrn anruft, wird selig werden! Wer zum HErrn kommt, wird nicht hinausgestoßen! Dring betend zu Ihm hin – laß Ihn nicht, bis ER dir deine Schuld vergeben, ewiges Leben, Friede und Freude geschenkt hat. Bist du hier losgesprochen, so bist du’s dort auch; denn ER ist nicht ein Mensch, daß ER lüge, noch ein Menschenkind, daß Ihn etwas gereuen könnte! Bete also, bete, so lang Betens Zeit ist! Es kommt eine Zeit, da lernt nicht mehr beten, wer’s noch nicht kann! Bete, bete!
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 Ferner! Im Namen JEsu, des heiligsten Richters der Welt, der nicht des Sünders Tod will, sondern daß er sich bekehre und lebe: in Seinem Namen, in Seiner Liebe warne ich euch vor Wohlleben! Beschwert euch nicht mit Fressen und Saufen! Denkt nicht, daß das etwa bloß denen gesagt ist, welche offenbar in Speise und Trank ausschweifen. Es ist auch denen gesagt, die als solche nicht bekannt sind! die heimlich über das Maß thun! auch denen, die zwar nicht so über das Maß thun, daß sie dem Tiere gleich werden, aber doch so, daß sie häufig zu Gebet und Wachen untüchtig werden. Wohlleben macht träg zum Gebete und nimmt die Nüchternheit| der Seele weg, welche zum Wachen nötig ist. – Es scheint ein kleines Laster, wer sich dem ergiebt! Aber es ist groß, denn es kann einen um Seele und Seligkeit bringen! Vor dem HErrn, der für unsre Seelen sorgt, ist’s groß: darum warne ich euch in Seinem Namen: gebt euch dem Wohlleben nicht hin!

 Auf gleiche Weise aber, wie das Wohlleben, verhindern auch die Sorgen der Nahrung am Wachen und Beten. Sie machen ängstlich und stören durch Beängstigung die Nüchternheit der Seele. Sie hindern das Vertrauen – und ohne Vertrauen kann man nicht beten. Sorget also nicht, was ihr essen oder trinken wollet, oder womit euch kleiden: dafür sorgt Einer, dem es nicht schwer wird. Trachtet aber am ersten nach dem Reiche Gottes und Seiner Gerechtigkeit, so wird euch das andere alles zufallen! Sorget für eure Seele, fraget nach dem Wege des Friedens und nach der ewigen Heimath. Solche Sorgen machen los von der Erde und heben aufwärts, solche Sorgen machen das Auge hell und das Herz geneigt zum Gebet. Siehe! in dem Namen dessen, der erhöhet ward von der Erde, um euch zu sich zu ziehen: in Seinem Namen rufe ich euch in eure Seelen – und warne: „Sorget nicht!“

 Brüder! Auf! die Herzen zu dem, der einst sichtbar kommen wird – und unsichtbar allezeit uns umgiebt! Sein dereinstiges schreckliches Kommen wird euch blos darum vor die Augen gemalt, damit ihr Sein unsichtbares Kommen im Worte desto mehr beachtet! Es ist euch in die Hand gelegt, was ihr wählen wollet: ob einst den gestrengen Richter, der die Person nicht ansieht, oder jetzt das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt! Nehmt ihr Ihn hier als Lamm – so ist ER euch dort im Lande der Erlösung! Nehmt ihr Ihn hier nicht, wie ER hier sich geben will und muß, als blutenden, Seelen stillenden, Frieden bringenden Erlöser, – ach! dann ist ER euch dort ein reißender Löwe! – Ach! Seine Gerichte sind furchtbar! – Wer glaubt es? O JEsu, JEsu! Warne, – gieb Buße, – gieb Vergebung, – gieb Glauben – oder das Volk geht verloren! JEsu, JEsu! Amen.




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