Zum Inhalt springen

RE:Epikuros 4

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
(Weitergeleitet von RE:Epikuros)
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
korrigiert  
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
der athen. Philosoph 342-271 v. Chr.
Band VI,1 (1907) S. 133155
Epikur in der Wikipedia
GND: 118530585
Epikur in Wikidata
Bildergalerie im Original
Register VI,1 Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|VI,1|133|155|Epikuros 4|[[REAutor]]|RE:Epikuros 4}}        

4) Sohn des Neokles, aus dem attischen Demos Gargettos, und der Chairestrate, angeblich dem Geschlecht der Philaiden entstammend (Metrodor bei Diog. Laert. X 1), wurde geboren auf Samos, wohin sich sein Vater als Teilnehmer einer Kleruchie im Jahre 352/1 begeben hatte (Strab. XIV 638. Philochoros bei Dionys. de Din. 13 p. 665, 1) und neben seiner Landwirtschaft eine Elementarschule betrieb (Strab. a. a. O. Tim. frg. 51 Diels). Geboren Anfang 341, am 7. Gamelion des Archon Sosigenes (Apollodor bei Diog. Laert. X 14), verlebte E. seine Kindheit auf Samos. Er hatte drei Brüder, Neokles, Chairedemos, Aristobulos, die sich später seiner Schule anschlossen und in brüderlicher Liebe und Eintracht mit ihm lebten. Zu der Mutter hatte er ein inniges Pietätsverhältnis. Ein Brief an sie ist durch die Inschrift von Oinoanda erhalten (Bull. hell. XXI 1897). Später, schon vor seiner Ephebie, begab sich E. nach Teos (Strab. XIV 638), ohne Zweifel, um die dortige Schule des Nausiphanes zu besuchen, die damals große Anziehungskraft auf die bildungsdurstige Jugend ausübte (Sextus adv. math. I 2). In diese Zeit das Schülerverhältnis zu Nausiphanes zu verlegen, wird auch durch E.s Äusserung frg. 114 Us. empfohlen, daß er den Nausiphanes μετὰ μειρακίων (also selbst als μειράκιον gehört habe. Es liegt auch nahe, E.s Behauptung, daß er im Alter von 14 Jahren zu philosophieren begonnen habe (frg. 179 Us.). mit der Übersiedlung nach Teos in Verbindung zu bringen. Der Aufenthalt daselbst würde in die J. 327/24 fallen. Der Unterricht des Nausiphanes war nicht ein ausschließlich philosophischer, sondern gipfelte, von Mathematik und demokriteischer Naturphilosophie ausgehend, in rhetorischer Unterweisung. Ohne Zweifel verdankte E. diesem Lehrer seine erste Bekanntschaft mit der atomistischen Lehre, an die er später seine eigene Lehre anknüpfte. Wenn er ihm gleichwohl keine dankbare Erinnerung bewahrte und sogar in Briefen an seine Schüler (frg. 114. 230 Us.) in verächtlichen Ausdrücken von ihm redete, so sind wir nicht berechtigt, dieses Verhalten mit seinen Gegnern auf blosse Originalitätssucht zurückzuführen (Sextus adv. math. I 3 ὑπὲρ τοῦ δοκεῖν αὐτοδίδακτος εἶναι), sondern müssen es teils aus persönlichen Gründen, teils aus dem Umstande ableiten, daß E. die von Nausiphanes gepflegte Polyhistorie und besonders die Beschäftigung mit Mathematik und Rhetorik grundsätzlich verwarf. Schon vorher hatte er in seiner Heimat Samos den Platoniker Pamphilos gehört (E. selbst bei Diog. Laert. X 14. Cic. nat. deor. I 72), über den er sich ebenfalls geringschätzig äußerte. In seinem achtzehnten Lebensjahre, 323 v. Chr., kam E. nach Athen, nicht um daselbst seine philosophischen Studien fortzusetzen, sondern um als Ephebe die gesetzlich vorgeschriebene militärische Ausbildung zu erhalten. Er hat damals schwerlich bei einem der großen athenischen Lehrer (in der Akademie lehrte Xenokrates, Aristoteles war in Chalkis, Diog. Laert. X 1) Vorlesungen gehört. Demetrios Magnes gegenteilige Behauptung hinsichtlich des Xenokrates (Diog. Laert. X 13) wird auf bloßer Vermutung beruhen. Für [134] seine philosophische Entwicklung ist dieser athenische Aufenthalt ohne Bedeutung. Das folgende Jahr, 322 v. Chr., war für die Angehörigen E.s verhängnisvoll, indem durch Perdikkas die attischen Kleruchen aus Samos vertrieben wurden. Neokles siedelte mit den Seinigen nach Kolophon über, und dahin ist E. von Athen aus zu der Familie zurückgekehrt. Es folgten nun für E. die eigentlichen philosophischen Lehrjahre, in denen er sich, ohne die Anleitung eines bedeutenden Lehrers, ganz selbständig mit den philosophischen Problemen beschäftigte. Wenigstens ist uns nichts über Lehrer E.s in diesen entscheidenden Entwicklungsjahren überliefert, und sein später zur Schau getragenes Bewußtsein, das Beste sich selbst zu verdanken, wird eben darin seinen Grund haben, daß er zwar als μειράκιον Anregungen empfangen hatte, in den Jahren aber, die unter normalen Verhältnissen der Philosophenschule hätten gehören sollen, durch die Verarmung der vertriebenen Familie auf Selbststudium angewiesen war. Die Auffassung von Wesen und Aufgabe der Philosophie, die den E. von vornherein bei seinem Streben und Forschen leitete, war die praktisch-eudaemonistische. Sich und die übrige Menschheit von den Schmerzen und Leiden zu befreien, die er allgemein verbreitet sah, und zu dem Glück, das die Natur dem Menschen vergönnt hat, den Weg zu finden und zu zeigen, war das vorherrschende Motiv seiner Philosophie. In seinem 32. Lebensjahre, 310 v. Chr., glaubte er mit sich selbst soweit im reinen zu sein, daß er als philosophischer Lehrer auftreten könnte (Diog. Laert. X 14. 15. Suid. s. Ἐπίκουρος). Er gründete in Mytilene eine Schule, die er einige Zeit später nach Lampsakos und im fünften Jahre ihres Bestandes, unter dem Archon Anaxikrates (307/6), also im Sommer 306, nach Athen verlegte. Der Aufenthalt in Lampsakos war epochemachend für die Entwicklung der Schule. Denn hier gelang es dem E., eine grosse Zahl treuer Anhänger zu gewinnen, die auch später in Athen den Kern seines Schülerkreises bildeten, unter ihnen die reichsten und angesehensten Jünglinge der Stadt, Leonteus und Idomeneus (Strab. XIII 589). Auch seinen bedeutendsten Schüler, Metrodoros von Lampsakos, hat er bereits damals gewonnen. Der letztere und Idomeneus scheinen die materielle Ausstattung und Versorgung der Schule übernommen zu haben (frg. 130 Us. Athen. VII 279f). Auch Kolotes, Polyainos und Themista, die Gattin des Leonteus, werden sich schon damals dem E. angeschlossen haben. Bei der Übersiedlung nach Athen im J. 306 haben die meisten Schüler den Meister begleitet, andere sind in Lampsakos zurückgeblieben. Mit den letzteren hat E. dauernde Beziehungen unterhalten. Es gab Briefe E.s πρὸς τοὺς ἐν Λαμψάκῳ φίλους (frg. 108. 109). Auch hat er zwei- oder dreimal von Athen aus Reisen unternommen, um sie und andere in den Städten Ioniens ansässige Schüler und Anhänger zu besuchen (frg. 176 Reise nach Lampsakos in Begleitung des Pythokles, Hermarchos und Ktesippos; frg. 189 Gefahr des Schiffbruchs auf einer Fahrt nach Lampsakos; δὶς ἢ τρὶς τοὺς περὶ τὴν Ἰωνίαν τόπους πρὸς τοὺς φίλους διαδραμόντα Diog. Laert. X 10).

In Athen erwarb er bald nach seiner Übersiedlung [135] für 80 Minen (Diokles bei Diog. Laert. X 11) das Gartengrundstück, das nicht nur als Schullocal, sondern auch als gemeinsame Wohnstätte der Schulgenossen diente (συνεβίουν αὐτῷ ἐν τῷ κήπῳ Apollod. a. a. O.) und der Schule den Namen gab. Zu der Schulgemeinschaft E.s gehörten auch Sclaven, wie jener erst durch das Testament E.s freigelassene Mys, an den er mehrere Briefe richtete (frg. 152–154), und Frauen, teils als Gattinnen seiner Schüler, wie Themista, die Gattin des Leonteus, teils als Hetaeren, wie Leontion, Nikidion, Mammarion und andere. Die Mitglieder der Schule sind durch ihren unbedingten Glauben an die welterlösende Kraft der Lehre des Meisters ebenso eng unter einander verbunden, wie gegen die übrige Welt abgeschlossen. Dem Meister weihen sie eine Verehrung, die sich gelegentlich zur Anbetung steigert. Kolotes war es, der, von einem Vortrage E.s begeistert, ihm zu Füssen fiel und ihn als Gott anbetete (frg. 141); und derartige Überschwenglichkeiten wurden von E. keineswegs mit der nötigen Strenge zurückgewiesen. Überhaupt artete die Innigkeit, mit der sich die Jünger des Propheten im Bewußtsein ihres gemeinsamen seligmachenden Glaubens an einander anschlossen, vielfach in gegenseitige Überschätzung und Beweihräucherung aus, zu der die schroffe und ungerechte Verurteilung aller Aussenstehenden, selbst der anerkannten Grössen der griechischen Wissenschaft, die Kehrseite bildete. Das hochmütige Absprechen über fast alle Philosophen der Vergangenheit und der Gegenwart und nicht minder über die Vertreter der Einzelwissenschaften, für welches der Meister selbst das Beispiel gab, wurde auch von seinen Schülern und sogar von den Frauen geübt. Die unbedingte Hingabe an die Lehre des Meisters zog der eigenen wissenschaftlichen Betätigung der Schüler von Anfang an enge Grenzen und machte auch in den folgenden Generationen eine Weiterentwicklung der Lehre durch freie Forschung unmöglich. Es konnte sich in der Schriftstellerei der Epikureer immer nur darum handeln, Behauptungen des Schulstifters weiter auszuführen und zu begründen oder gegen die Lehren der andern Schulen polemisch zu verfechten. Diese unbedingte Gläubigkeit hat E. durch sein ganzes Verhalten und durch die Macht seiner bedeutenden Persönlichkeit mit vollem Bewußtsein seinen Schülern aufgezwungen. Er hat zu ihnen mehr die Stellung eines Religionsstifters und Propheten als eines wissenschaftlichen Lehrers eingenommen. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht, daß er seine Schüler, nicht nur die Anfänger, sondern auch die Vorgeschritteneren, veranlasste, gewisse kurz zusammenfassende Darstellungen seiner Lehre wörtlich auswendig zu lernen und sich immer gegenwärtig zu halten (Diokles bei Diog. Laert. X 12 und E. selbst im Brief an Herodotos p. 3 u. 31 Us.). Der Geburtstag E.s wurde jährlich am 10. Gamelion (nicht am 7.‚ dem wirklichen Tage seiner Geburt) von der Schulgemeinde schon bei seinen Lebzeiten feierlich begangen. Außerdem bestimmte er in seinem Testament, daß am zwanzigsten jeden Monats (εἰκάδες) für ihn und Metrodoros eine Erinnerungsfeier stattfinden sollte (Plin. n. h. XXXV 5). Nur einmal ist es vorgekommen, daß sich ein Schüler E.s von ihm abwendete und [136] aus einem Anhänger ein erbitterter Gegner desselben wurde: Timokrates, der Bruder des Metrodoros. Da der Zweck der Lehre E.s nicht in theoretischer Wahrheitserkenntnis, sondern in einer bestimmten Art der Lebensführung lag, welche die ungestörte Gemütsruhe verbürgen sollte, so forderte E. auch von seinen Schülern, dass sie seiner Lehre entsprechend leben sollten. Hierfür ist besonders bezeichnend die von E. selbst aufgestellte Lebensnorm frg. 211 sic fac omnia, tamquam spectet Epicurus (vgl. frg. 210). Die Lebensweise des Epikureerkreises war, den Vorschriften der Lehre entsprechend, einfach. In Speise und Trank sollte man mit dem Naturgemäßen und leicht zu Beschaffenden auskommen lernen. Sinnliche Ausschweifungen waren durchaus verpönt (frg. 158. 181. 182). In dem Zusammenleben der Schule und in der Beschäftigung mit der Lehre sollte man volle Befriedigung finden und nach den Freuden der Welt, nach Reichtum, Ehre, Ansehen und Macht nicht begehren. So vermied auch E. selbst, vor die Öffentlichkeit zu treten und den Beifall der Menge zu suchen. Ignotus ipsis Athenis fuit, circa quas delituerat (Sen. ep. 79, 15). Die Schule sollte ein Hafen des Friedens sein, in dem man vor den Stürmen des Weltlebens geschützt war und sein unruhiges Getöse nur von Ferne vernahm: λάθε βιώσας. Darum wurde auch vor allem von den Jüngern gefordert, den Trieb zu praktischer Betätigung im öffentlichen Leben als eine unnötige πολυπραγμοσύνη zu unterdrücken. E. selbst widmete den grössten Teil des Tages dem Studium, der Schriftstellerei und der Korrespondenz mit den auswärtigen Freunden. Nur so erklärt sich die ungeheure Masse der von ihm hinterlassenen Schriften (πάντας ὑπερβαλλόμενος πλήθει βιβλίων Diog. Laert. X 26). Er war von Jugend auf kränklich. Frg. 190 ist von Wassersucht (ἀσκίτης, ὕδρωψ) die Rede, In seinen letzten Jahren litt er an einem überaus schmerzhaften Blasenleiden, das er in den kurz vor seinem Tode an verschiedene Freunde geschriebenen Briefen erwähnt (frg. 122. 138. 177). Gehässige Gegner führten diese Leiden auf die angeblich ausschweifende Lebensweise des Hedonikers zurück. Mit Recht findet Usener einen Zusammenhang zwischen der Kränklichkeit E.s und seiner Auffassung des höchsten Gutes als παντὸς τοῦ ἀλγοῦντος ὑπεξαίρεσις. Nur der oft von Schmerzen Gepeinigte konnte die Schmerzlosigkeit so hoch werten. E. starb im J. 270 v. Chr. unter dem Archon Pytharatos, Ol. 127, 2 in seinem 72. Lebensjahr (Diog. Laert. X 15), infolge des erwähnten Blasenleidens nach 14tägigem Krankenlager. Sein Testament, das uns bei Diog. Laert. X 16f. erhalten ist (frg. 217 Us.) setzt den Amynomachos und den Timokrates als Universalerben ein, bestimmt aber, daß der Garten mit dem Schullokal dauernd den Nachfolgern E.s und ihren Schülern zur Verfügung stehen soll. Das Haus in Melite soll bis zum Tode des Hermarchos, des nächsten Nachfolgers, diesem und den übrigen Mitgliedern der Schule als Wohnung verbleiben. Weiter wird den Universalerben die Verpflichtung auferlegt, aus den Zinsen des Vermögens zu den Kosten des Lebensunterhalts der Schulgemeinde und der zum Andenken E.s, Metrodors und Polyaens regelmäßig [137] zu veranstaltenden Erinnerungsfeiern beizusteuern. Ferner wird ihnen die Fürsorge für die unmündigen Kinder Metrodors und Polyaens in Gemeinschaft mit Hermarchos übertragen. Die Bibliothek wird dem Hermarchos vermacht. Freilassungen von Sklaven machen den Schluß.

Schriften. E. war, wie bereits bemerkt, ein Vielschreiber; 300 κύλινδροι füllte sein literarischer Nachlaß. In dieser Hinsicht vergleichen ihn die Alten (Karneades bei Diog. Laert. X 27) mit seinem philosophischen Antipoden Chrysippos und bemerken, daß E.s Schriften nicht so viele Zeugnisse und Zitate und auch nicht so viele Wiederholungen wie die des Chrysippos enthielten. Indessen haben wir auf Grund des Erhaltenen guten Grund anzunehmen, daß auch E. sich sehr stark wiederholte. Auf großen Umfang der einzelnen βιβλία deutet Seneca epist. 46, 1, der E. in dieser Hinsicht mit Livius vergleicht. Gelesen wurde E. hauptsächlich von den Epikureern und zu polemischen Zwecken von den Philosophen der übrigen Schulen. Dagegen hat er nie zu den Autoren gehört, die zu Zwecken der allgemeinen Bildung studiert wurden. Während Platon, Aristoteles, Theophrastos sich leicht auch für die rhetorische Bildung ausnützen ließen, war dies bei E., dem Verächter rhetorischer Bildung, nicht der Fall. Die Theoretiker vermissen an ihm die Reinheit des Ausdrucks und die Sorgfalt der Wortfügung. Der Ausdruck enthalte viel Jargon, die Wortfügung verfalle oft ins ἔμμετρον καὶ ἔνρυθμον, nach der herrschenden Stillehre einer der größten Fehler prosaischer Darstellung. Inhaltlich vermißte man die Urbanität des vornehmen Mannes, sein Spott sei mehr zügellos als witzig. Andererseits hat kein geringerer als Aristophanes von Byzanz E.s Ausdrucksweise wegen ihrer Proprietät gerühmt, und auch Cicero gesteht ihm mehrfach den Vorzug der Klarheit und Deutlichkeit zu, nach dem er selbst vor allem gestrebt hat (Usener Epicurea 88–90). Usener hat mit Recht darauf hingewiesen, daß unterschieden werden muß zwischen den mit stilistischer Sorgfalt für ein größeres Publikum ausgearbeiteten Schriften und den Aufzeichnungen, die zunächst nur Schulzwecken oder Zwecken des Privatlebens dienen sollten. Die letzteren, die bei E. an Zahl weit überwogen, haben hauptsächlich bei den Theoretikern Anstoß erregt. Daß auch E. bisweilen stilistische Schönheit anstrebte und erreichte, zeigt der dritte Brief (an Menoikeus), in dem der Hiat gemieden ist und rhetorische Figuren reichlich verwendet werden. In der philosophischen Terminologie war eine Abweichung E.s vom reinen Attisch schon durch seine Abhängigkeit von den Schriften des Demokritos bedingt. Es zeigt die Beschränktheit der atticistischen Theoretiker, daß sie das in der nacharistotelischen Philosophie hervortretende Bedürfnis nach einer technischen Terminologie nicht in seiner Berechtigung verstanden. Useners Glossarium Epicureum liegt mir leider noch nicht gedruckt vor (1902). Die vertrauliche Tageskorrespondenz des Epikureerkreises (wohl zu unterscheiden von den zur Veröffentlichung bestimmten Sendschreiben und Lehrbriefen) bewegte sich in den zwanglosen Formen des sermo cotidianus und enthielt ohne Zweifel vieles, was wir als Jargon bezeichnen dürfen. [138] Erhaltene Schriften. Vollständig und in zweifellos authentischer Form sind uns von E. nur zwei Schriften erhalten, der erste und der dritte der von Diogenes Laertios seiner Epikurbiographie einverleibten Lehrbriefe. Der erste Brief, an Herodotos gerichtet, behandelt die Grundlehren der Physik und bildet für diesen Teil der Lehre, da von dem physikalischen Hauptwerke E.s, den 87 Büchern περὶ φύσεως nur Bruchstücke erhalten sind, die wertvollste Quelle. Er enthält eine kurze, zu gedächtnismäßiger Einprägung bestimmte Zusammenfassung derjenigen physikalischen Lehren, die der Anfänger sich angeeignet haben muss, um die praktischen und ethischen Ziele zu erreichen, denen E. seine Gläubigen zuführen will. Aber auch dem Vorgeschritteneren, der sich in das Detailstudium von E.s Physik eingelassen hat, kann diese Zusammenfassung dienlich sein, damit er in der verwirrenden Fülle der Einzeluntersuchungen nie die Übersicht über das Ganze verliert. Der Text des Briefes ist in sehr verderbter Gestalt überliefert und enthält, auch nach der urkundlichen Fundamentierung durch Usener, eine Reihe von Stellen, die jeder Erklärung spotten. Über jeden Zweifel erhaben ist auch die Echtheit des dritten Briefes (an Menoikeus). Usener, der Epic. praef. p. XLIIf. die Bezeugung desselben untersucht, will schon Hermarchos als Zeugen der Echtheit in Anspruch nehmen, da bei Ambros. epist. (classis I) LXIII 19 t. I p. 1027 d ed. Maur. Hermarchus statt Demarchus zu schreiben sei. Die künstlerische Durchbildung des Stils, die bis zur Meidung des Hiates geht, kann natürlich nicht zur Verdächtigung benützt werden. Der Brief gibt die Ethik E.s bei weitem nicht mit der Sorgfalt und Genauigkeit wider, wie der an Herodotos die Physik. Er scheint für einen Anfänger zur ersten Einführung bestimmt und will ihm die στοιχεῖα τοῦ καλῶς ζῆν an die Hand geben. Von dem Inhalt des Briefes kann der erste theologische Teil gewiß nicht zur Ethik gerechnet werden, ebensowenig der Schlußteil über εἱμαρμένη und τύχη. Die Bezeichnung dieses Briefes als des ethischen ist daher ungenau. In Betreff des zweiten Briefes (an Pythokles περὶ μετεώρων) hat Usener praef. p. XXXVIIf. zu erweisen versucht, daß er als Ganzes nicht authentisch, aber aus authentischen Abschnitten der Bücher περὶ φύσεως von einem Kompilator zusammengestellt sei. Die Stelle aus Philodem Vol. Herc. coll. alt. I 152 (p. 34 Us.), die beweisen soll, daß man schon in der epikureischen Schule selbst die Echtheit angezweifelt habe (ὑποψ(ία)ν τιν(ὰ λα)μβάν(ει)ν, ὡς περὶ τινῶν ἐπιστολ(ῶ)ν καὶ τῆς (πρὸς Πυθ)οκλέα π(ε)ρὶ (με)τεώρων ἐπιτομῆς καὶ τοῦ περὶ ἀ(τόμων) κα(ὶ) τῶν εἰς Μητρόδωρον ἀναφερομένων ὑποθηκῶν) bietet dafür nur einen schwachen Anhaltspunkt, da sie auch andere Auffassungen zuläßt. Wir sehen weder, wer die ὑποψία hegt, noch ob sie tatsächlich gehegt oder nur als Möglichkeit erwähnt wird, noch ob sie sich auf die Echtheitsfrage bezieht. Das erste περὶ konnte z. B. von einem folgenden λέγοντος abhängen und die ὑποψία auf die zweifelhafte Deutung der Worte eines Gegners sich beziehen. Innere Gründe gegen die Authentizität hat Usener drei vorgebracht: Erstens den Mangel an durchgängigem [139] Gedankenzusammenhang und an Verbindung der einzelnen Abschnitte, der diesen Brief vom ersten und dritten unterscheide. Es tritt aber das Asyndeton am Kapitelanfang nur in der Weise auf, daß das Thema, nach Art einer Rubrik, an den Satzanfang gestellt wird, z. B. 44, 13 βροντὰς ἐνδέχεται γίνεσθαι. 46, 13 κεραυνοὺς ἐνδέχεται γίνεσθαι. 47, 7 πρηστῆρας ἐνδέχεται γίνεσθαι. 47, 17 σεισμοὺς ἐνδέχεται γίνεσθαι. Das Anaphorische in der gleichmässigen Voranstellung der einander entsprechenden Worte darf als Ersatz konjunktioneller Verbindung gelten. Es ist nicht abzusehen, warum sich nicht E. selbst dieses stilistischen Mittels bedient haben sollte. Die ganze Darstellung erhält dadurch den Charakter einer bloßen Aufzählung der Phaenomene nebst Angabe der Erklärungsmöglichkeiten. Die letzteren werden innerhalb der einzelnen Kapitel auch nur aufgezählt. Eine in sich zusammenhängende Darstellung dieser Materie würde sehr viel mehr Raum beansprucht und dem Bedürfnis des Pythokles nicht entsprochen haben. Zweitens hat Usener hingewiesen auf eine Abweichung von der naturgemässen Reihenfolge, insofern der 90–98 behandelte locus de sideribus in 111–116 noch einmal vorgenommen und ergänzt werde. Usener meint, in E.s Büchern περὶ φύσεως seien Kometen und Sternschnuppen in dem Abschnitt über die Gestirne behandelt gewesen. Der Kompilator habe sie, wie Aristoteles, zu den μετέωρα im engeren Sinne gerechnet. Er habe daher, als er diese behandelte, auf die schon früher excerpierte Stelle der Bücher περὶ φύσεως zurückgreifen müssen und dabei irrtümlich auch über die Bewegungen der Fixsterne und der Planeten einiges excerpiert. Man kann aber den Sachverhalt wohl auch so auffassen: an der früheren Stelle wird in erster Linie von Sonne und Mond gehandelt und die übrigen Gestirne werden nur bei den Punkten mitberücksichtigt, wo das von Sonne und Mond Gesagte auch auf sie Anwendung findet. Dagegen handelt E. an der späteren Stelle von den Gestirnen im besonderen, von denjenigen Eigentümlichkeiten der Gestirne, die sie nicht mit Sonne und Mond teilen. Faßt man die Disposition in diesem Sinne auf, so hat es nichts Auffallendes mehr, daß nach Sonne und Mond zunächst die Wettererscheinungen (die μετέωρα im engeren Sinne) besprochen werden und dann erst die Gestirne. Die letzteren mochten deswegen von E. an den Schluß gerückt werden, weil es sich bei ihnen um Erscheinungen handelte, die minder eindrucksvoll oder minder praktisch wichtig oder minder häufig waren. Eine Wiederholung des in dem früheren Abschnitt Gesagten findet nicht statt. Mit den ἐπισημασίαι αἱ γενόμεναι ἐπί τισι ζῴοις p. 54, 13 ist offenbar etwas anderes gemeint als mit den ἐπισημασίαι p. 43, 12, wie die Worte καθάπερ ἐν τοῖς ἐμφανέσι παρ’ ἡμῖν ζῴοις p. 43. 13 beweisen. An der einen Stelle handelt sichs um Wetterzeichen, die auf Luftveränderungen zurückgeführt werden können, an der andern um solche, die in dem Verhalten gewisser Tiere sich geltend machen. Drittens endlich hat Usener darauf hingewiesen, daß die Polemik gegen diejenigen Forscher, die für jede Naturerscheinung nur eine Erklärung als richtig gelten lassen, in dem kurzen Raum unserer Epitome mit [140] ermüdender Häufigkeit fast in jedem einzelnen Capitel und zwar in sehr ähnlichen Ausdrücken wiederkehrt. Daß dies unschön ist, muß zugegeben werden. Aber es wird nicht begreiflicher durch die Annahme, daß wir es mit der Kompilation eines Fälschers zu thun haben. Es ist schwer glaublich, daß ein solcher die häufige Wiederholung derselben Polemik gewissermaßen ohne es zu wollen und zu merken nur dadurch hineingebracht habe, dass er die Abschnitte aus den Büchern περὶ φύσεως, wie er sie fand, unverändert abschrieb. Denn durchweg mußte ein solcher Kompilator die originale Darstellung, in der die einzelnen Erklärungsmöglichkeiten eingehend erörtert und als übereinstimmend mit der Erfahrung erwiesen wurden, zusammenziehen, um die nackte Aufzählung, die unser Brief bietet, herzustellen. Es hätte für ihn doch sehr nahe gelegen, die polemischen Bemerkungen wegzulassen, nachdem in der Einleitung § 85–87 der principielle Standpunkt der epikurischen Naturerklärung dargelegt war. Wäre die ganze Schrift das Werk eines Fälschers, so müßten diesem vor allem Einleitung und Epilog zugeschrieben werden. Gerade diese machen aber in Inhalt und Form den Eindruck der Echtheit. Z. B. würde ein Fälscher kaum darauf verfallen sein, in der περὶ μετεώρων handelnden Kompilation dem Pythokles τὴν τῶν ἀρχῶν καὶ ἀπειρίας καὶ τῶν συγγενῶν τούτοις θεωρίαν, ἔτι δὲ κριτηρίων καὶ παθῶν καὶ οὗ ἕνεκεν ταῦτα ἐκλογιζόμεθα zu empfehlen. Ich meine daher, daß Useners Erwägungen nicht genügen, um die Unechtheit des Briefes an Pythokles zu beweisen. Wir sind nicht berechtigt, für alle derartigen Lehrbriefe dieselbe Durchbildung der Gedanken, wie sie der Brief an Herodotos, und dieselbe Formvollendung, wie sie der Brief an Menoikeus zeigt, zu fordern. Die Natur des Stoffes war hier von der Art, dass sie, in Verbindung mit dem Streben nach äusserster Knappheit, notwendig zu einer trockenen und zusammenhangslosen Aufzählung führen mußte. Die vierte der durch Diogenes Laertios erhaltenen E.-Schriften, Κύριαι δόξαι betitelt, ist eine Sammlung unverbunden aneinander gereihter Aussprüche E.s über die hauptsächlichsten und für die Ataraxie massgebendsten (darum κύριαι) Wahrheiten seiner Lehre. Die von Usener p. 68–70 zusammengestellten Zeugnisse zeigen, daß dieser Katechismus als ein Werk des Meisters selbst galt, daß er sich großen Ansehens erfreute und wie von den Anhängern als autoritative Lehrschrift anerkannt, so von den Gegnern mit Vorliebe zur Zielscheibe ihrer Angriffe gemacht wurde. Auf der Inschrift von Oinoanda (Bull. hell. XXI 1897) sind die κύριαι δόξαι in einer unter allen Kolumnen entlang laufenden Zeile in großen Lettern eingemeisselt. Zahlreiche Hss. der κύριαι δόξαι und Streitigkeiten über abweichende Lesarten derselben werden erwähnt Vol. Herc. coll. alt. VII 14, Streitschriften gegen sie von Philodem de ira col. 43 (p. 143 Gomp.). Doch darf es durch Useners Argumente als erwiesen gelten, daß die Auswahl und Zusammenstellung der Sprüche nicht von E. selbst herrührt. Grundlegende Sätze werden vermißt (namentlich alles, was die Physik betrifft), nebensächliche sind aufgenommen. Mehrfach sieht man den Sätzen an, daß sie aus einer [141] zusammenhängenden Erörterung herausgerissen sind. E. selbst würde im stande gewesen sein, Sprüche zu prägen oder auszuwählen, die in sich abgerundet und zum Memorieren geeignet waren. Auch die Reihenfolge der Sprüche, in der (von den vier ersten abgesehen) kein Ordnungsprincip zu entdecken ist, und der Umstand, daß derselbe Gedanke in mehreren, nur sprachlich abweichenden Fassungen wiederkehrt, spricht gegen E. als Urheber der Auswahl. Ein paar Sentenzen (25 und 28) scheinen sogar aus Briefen entnommen. Man wird es als ein sicheres Ergebnis dieser Beweisführung Useners anzuerkennen haben, daß die κύριαι δόξαι nicht von dem Meister selbst, sondern von einem Epikureer zusammengestellt sind. Doch ist das, wenn nicht bei Lebzeiten E.s, doch wohl bald nach seinem Tode und sicherlich noch im 3. Jhdt. geschehen, da sonst die autoritative Geltung dieses Katechismus und die herrschende Auffassung, dass er von E. selbst herrühre, schwer erklärlich wäre. Alle vier genannten Schriften hängen, da sie bei Diogenes Laertios erhalten sind, hinsichtlich ihrer Textgrundlage von der Recensio dieses Autors ab, die hoffentlich bald in abschliessender Weise geliefert werden wird. Im wesentlichen ist schon durch den Apparat von Usener eine ausreichende urkundliche Grundlage geschaffen.

Außer den vier besprochenen Schriften sind durch direkte Erhaltung in herculanensischen Rollen von dem grossen Hauptwerk E.s, den 37 Büchern περί φύσεως, erhebliche Reste auf uns gekommen. Eine Zusammenfassung dieser Reste fehlt noch, da Usener sie, um der von Gomperz zu erwartenden Bearbeitung nicht vorzugreifen, in seine Epicurea nicht aufgenommen hat und nur die anderweitig erhaltenen Zitate zusammenstellt. Im Jahre 300/299 (ἐφ’ Ἡγεμάχου) stand E. beim 15., im J. 296/5 (ἐπὶ Νικίου) beim 28. Buche. Er schrieb also jährlich drei bis vier Bücher. Die Papyri enthalten Reste folgender Bücher: 1. Des zweiten pap. 1149, Vol. Herc. coll. pr. II p. 25; pap. 1010, Vol. Herc. coll. alt. VI 69–81. Vgl. Gomperz S.-Ber. Akad. Wien LXXIII (1876) 88f. 2. Des elften pap. 1042, Vol. Herc. coll. pr. II; pap. 154, Vol. Herc. coll. alt. VI 1–7. Vgl. Gomperz Zeitschrift f. d. öst. Gymn. 1867. 207f.; S.-Ber. a. a. O. 89f. 3. Des vierzehnten pap. 1148, Vol. Herc. coll. alt. VI 8–23. Gomperz Ztschr. a. a. O. 210f.; S.-Ber. 90f. 4. Des fünfzehnten pap. 1151, Vol. Herc. coll. alt. VI 24–36. Gomperz Ztschr. a. a. O. 670f.; S.-Ber. 90f. 5. Des achtundzwanzigsten pap. 1479. 1417, Vol. Herc. coll. alt. VI 37–54. Gomperz Ztschr. 670; S.-Ber‚ 91f. Cosattini Herm. XXIX 1f, Der Pap. 1417 enthält die untere, der Pap. 1479 die obere Hälfte der Rolle. Dazu kommt noch 6. eine Anzahl von Resten unbestimmbarer Bücher.

Durch die indirekte Überlieferung haben wir (von den Briefen abgesehen) von 50 Schriften teils Bruchstücke teils wenigstens die Titel. Unter diesen erweckt besonderes Interesse, wegen der dramatischen Einkleidung, das Συμπόσιον (p. 116 Us.; vgl. v. Arnim De restituendo Philodemi de rhetorica lib. II, Rostocker Progr. 1893). Reichliches Material haben wir für die Schrift περὶ ῥητορικῆς durch Philodems gleichnamige Schrift. [142] Außerdem verdienen Erwähnung die Schriften Κανών (die Erkenntnistheorie E.s enthaltend), περὶ βίων und περὶ τέλους. Einige Schriften sind nach Anhängern der Schule benannt, Wie Ἀριστόβουλος, Ἡγησιάναξ, Θεμίστα, Μητρόδωρος, Νεοκλῆς, Πολυμῆδης, Χαιρέδημος. Sie enthielten das Lob des Betreffenden in Verbindung mit ethischen Untersuchungen, zu denen dasselbe Anlaß gab. Streitschriften gegen die im Titel genannte Person waren Ἀντίδωρος und Τιμοκράτης. Vgl. Usener Epicur, p. 93.

Unter den Briefen befanden sich solche, die an auswärtige epikureische Gemeinden gerichtet waren (πρὸς τοὺς ἐν Λαμψάκῳ φίλους, πρὸς τοὺς ἐν Μυτιλήνῃ φιλοσόφους), auch wohl Rundschreiben an mehrere Gemeinden (πρὸς τοὺς ἐν Αἰγύπτῳ φίλους, πρὸς τοὺς ἐν Ἀσίᾳ φίλους). Philodem περὶ εὐσεβ. p. 124 Gomp. citiert ἐν ταῖς ἐπιστολαῖς ταῖς πρὸς τοὺς μεγάλους ὁμολογεῖν ἔοικεν. Der Schluß, daß es eine Sonderausgabe der an mächtige und einflußreiche Männer gerichteten Briefe gegeben habe, scheint mir nicht ganz sicher. Unechte Briefsammlungen unter E.s Namen erwähnt Diog. Laert. X 3. Viele Citate aus den Briefen sind mit Jahresdaten versehen. Buecheler Jahrb. f. Philol. 1865, 540. Gomperz Ztschr. f. d. öst. Gymn. 1866, 693f.; Herm. V 386ff. Gomperz nahm an, daß die ganze Briefsammlung nach Jahren geordnet gewesen sei, was von Usener Epic. p. 132 bestritten wird. Die Mehrzahl der Briefe ist an einzelne Anhänger des Philosophen, auch an Frauen und Sclaven gerichtet. Nicht lange vor seinem Tode hat E. an mehrere seiner nächststehenden Freunde ein gleichlautendes Schreiben gerichtet, in dem er seine Seelenstimmung während seiner letzten Krankheit schildert, Abschied von ihnen nimmt und ihnen seine letzten Aufträge giebt. Durch Cicero ist uns dieser Brief in lateinischer Fassung als Brief an Hermarchos erhalten, bei Diogenes Laertios griechisch als Brief an Idomeneus (frg. 122 u. 138 Us.); ein Stück eines andern ähnlichen Briefes bei Philodem (frg. 171 Us.). Bezeichnend für die liebenswürdigen Seiten in E.s Charakter sind der Brief an seine Mutter auf der Inschrift von Oinoanda und der Brief an ein Kind (frg. 176 Us.). In vielen Briefen E.s, die von vornherein für die Veröffentlichung oder doch für die Verbreitung in dem ganzen Kreis der Schule bestimmt waren, trat das persönliche Element gegen das lehrhafte ganz zurück. Das zeigen die erhaltenen Lehrbriefe, bei denen die Briefform eine Form litterarischer Darstellung ist. Aber auch die Briefe von überwiegend persönlichem Inhalt enthielten oft didaktische Erörterungen. Die späteren Generationen, für die naturgemäß das Interesse an den persönlichen Angelegenheiten E.s und seiner Freunde zurücktrat, mußten natürlich wünschen, da jedes Wort des Meisters als Orakel galt, auch die in der Tageskorrespondenz verstreuten lehrhaften Aussprüche desselben zugänglich gemacht zu sehen. Aus diesem Bedürfnis entstand, schon vor Philodem, eine Epitome der Briefe, in der neben den eigenen Briefen E.s auch die des Metrodoros, Polyainos und Hermarchos exzerpiert waren. Vgl. Vol. Herc. 1044 frg. 4 bei Gomperz Herm. V 386. Diese drei Männer galten neben E. selbst als maßgebende Vertreter der [143] Lehre (καθηγεμόνες). Aus dieser Epitome entstand weiterhin ein epikureisches Gnomologium, welches zu den Quellen unserer Florilegienüberlieferung gehörte und, wie Usener Epic. praef. p. LVf. überzeugend nachgewiesen hat, auch von Seneca in den fünf ersten Büchern der Briefe an Lucilius und von Porphyrios in der Consolatio ad Marcellam benützt wurde. Ob von dem Verfasser dieses Gnomologiums außer der Epitome der Briefe noch andere Schriften E.s herangezogen wurden, läßt sich nicht entscheiden. Der Schluß, daß alle auf diese Quelle zurückführbaren Bruchstücke aus den Briefen stammen, scheint mir daher nicht notwendig. Die von Usener in der Praefatio der Epicurea entwickelte Ansicht über das epikureische Gnomologium und seine Benützung fand bald willkommene Bestätigung durch die Entdeckung einer solchen Spruchsammlung im Vaticanus gr. 1950 durch C. Wotke; vgl. Wiener Studien X 175f. Sie führt den Titel Ἐπικούρου προσφώνησις und enthält epikureische Gnomen, die zum Teil den κύριαι δόξαι entnommen, zum Teil mit früher bekannten Fragmenten E.s und Metrodors identisch sind, zum größten Teil aber neue Sprüche von unzweifelhafter Echtheit; im ganzen 81 Nummern. Die Herkunft aus Briefen ist, wie Usener a. O. zeigt, bei mehreren aus Inhalt und Form zu erkennen.

Außer den Resten der eigenen Schriftstellerei E.s besitzen wir für die Rekonstruktion seines Systems reichlich fließende Quellen in den Schriften des Philodemos und anderer Epikureer, die durch die herculanensischen Rollen erhalten sind, und in dem Gedichte des Lucretius. Auch wo Philodem nicht direkt E. citiert, fußt er als treuer Anhänger der epikureischen Orthodoxie überall auf seinen Lehren und Schriften. Lucretius, der sich die Aufgabe gestellt hatte, seinen Landsleuten das Verständnis der Lehre E.s zu erschliessen, hat, weil er auf philosophisch ungeübte Leser rechnen mußte, seinem Lehrgedicht nicht die detaillierte, streng wissenschaftliche Darstellung der Naturlehre in den Büchern περὶ φύσεως zu Grunde gelegt, sondern wohl eine der kürzeren, übersichtlichen Darstellungen, deren der Meister mehrere verfaßt hatte, vielleicht auch Vorlesungen, die er selbst gehört hatte, und hat nur gelegentlich das größere Werk zu Rate gezogen.

Die Lehre Epikurs ist eine Fortbildung der ionischen Naturphilosophie. Nicht die von Sokrates über Platon zu Aristoteles führende Entwicklungsreihe setzt E. fort, sondern die Philosophie des Demokritos und seiner Schule, mit der er, wie wir sahen, durch Nausiphanes bekannt geworden war. Aber die Naturerkenntnis ist ihm nur Mittel zum Zweck. Das Ziel seines Philosophierens, wie der ganzen nacharistotelischen Philosophie, liegt auf dem ethischen Gebiete. Erkenntnis um ihrer selbst willen anzustreben erscheint ihm als eine Verirrung. Erkenntnislehre und Naturlehre will er nur treiben, um für die ethische Erkenntnis, die Bedingung der menschlichen Glückseligkeit, eine feste Grundlage zu gewinnen. Er geht daher in diesen Untersuchungen prinzipiell niemals über die Grenze hinaus, die ihnen durch diesen Zweck gezogen wird. Die Natur studieren wir, weil wir selbst ein Stück [144] der Natur sind und nur im Zusammenhang der allgemeinen Naturbetrachtung erkennen können, welches Leben für uns das naturgemäße ist und von welchen Bedingungen unsere Glückseligkeit abhängt. Die wahre Naturerkenntnis und die mit ihr zusammenhängende Theologie wirkt negativ als Aufklärung, indem sie uns von den für unsere Gemütsruhe gefährlichen Vorstellungen des Volksglaubens und falscher Philosophie befreit. Sie gibt aber auch positiv die Grundlage für die Erkenntnis der Ziele und Aufgaben des Menschenlebens. Von der Zuverlässigkeit unserer Naturerkenntnis soll uns die Erkenntnislehre (Kanonik) überzeugen. Es empfiehlt sich für uns, von der Naturlehre auszugehen, weil die Kanonik zum Teil schon Voraussetzungen macht, die in der Naturlehre ihre Begründung finden (Sen. ep. 89, 11 locum, quem de iudicio et regula appellant, – eum accessionem esse naturalis partis existimant) und die Erkenntnistheorie an passender Stelle einzuschalten. Die Naturlehre E.s beruht auf dem materialistischen System der Atomisten, des Demokritos und seiner Schule, von dem sie nur in wenigen und unerheblichen Punkten abweicht. Die Anlehnung an ihn hat für E. eine analoge Bedeutung, wie für die Stoiker die an Herakleitos. Aus dem Nichtseienden (so beginnt er die Darstellung seiner Naturphilosophie im Brief an Herodotos) kann nichts entstehen. Denn sonst würde alles aus allem entstehen können. Die Erfahrung lehrt aber, daß ein Entstehen nur stattfindet durch Veränderung eines Seienden von bestimmter Beschaffenheit (σπέρμα). Ebensowenig kann ein Seiendes, wenn es verschwindet, sich in Nichtseiendes auflösen. Denn sonst würden schon längst alle Dinge zu Grunde gegangen sein. Diese beiden Sätze sichern in ihrer Verbindung das ewige und unveränderte Bestehen der substantiellen Grundlage alles Entstehens und Vergehens. Das All wird durch die Veränderungen im einzelnen in seiner Gesamtbeschaffenheit nicht verändert. Die Grundbestandteile der Natur (des Alls) sind die Körper und das Leere. Das Dasein der Körper bezeugt uns die Sinneswahrnehmung unmittelbar, das des Leeren Schlüsse, die von der Wahrnehmung ausgehen. Wir nehmen die Bewegung der Körper wahr und schließen, daß ein leerer Raum vorhanden sei, durch den sie sich bewegen. Außer den Körpern und dem Raum ist es uns unmöglich, etwas Selbständiges, für sich Bestehendes vorzustellen. Was wir sonst noch vorstellen, zeigt sich uns immer nur als etwas Akzidentielles an jenen Grundbestandteilen der Natur. Die Körper sind entweder Verbindungen von Stoffteilen, deren Verbindung aufgehoben werden kann (συγκρίσεις), oder Stoffteile, wie sie jenen trennbaren Verbindungen zu Grunde liegen. Die letzteren müssen selbst unteilbar (ἄτομοι) und unveränderlich sein. Auf der wechselnden Trennung und Verbindung dieser unzerstörbaren Stoffteile, die in ihrer Gesamtheit den Inbegriff des wahrhaft Seienden ausmachen, beruht alles scheinbare Entstehen und Vergehen. Das All ist schon seinem Begriffe nach unendlich. Denn, wenn es Grenzen hätte, so müßte es an etwas grenzen. Es würde also etwas außer ihm sein, was dem Begriff des Alls widerspricht. Es ist aber nicht nur räumlich unendlich, sondern auch hinsichtlich der Zahl der in [145] ihm enthaltenen Atome. Denn eine begrenzte Zahl von Atomen würde sich in dem unendlichen Raum verlieren und nicht zu Gebilden, wie sie die Erfahrung zeigt, verbinden. Die Atome unterscheiden sich durch ihre Gestalt (σχῆμα). Die Zahl ihrer Gestalten ist nicht unendlich, aber unbestimmbar groß (ἀπερίληπτα). Denn aus einer bestimmbaren, wenn auch noch so großen Zahl von Gestalten würde sich die Mannigfaltigkeit der Erfahrungswelt nicht ableiten lassen. Von jeder einzelnen Gestalt aber sind unendlich viel Atome vorhanden. Die Atome befinden sich von Ewigkeit her in unaufhörlicher Bewegung. Im leeren Raum fallen sie vermöge ihrer Schwere nach unten. Stoßen sie auf andere Atome oder Atomverbindungen, so prallen sie entweder ab oder bleiben an einander hängen. Im All gibt es unendlich viele Welten, teils der unsrigen gleichartig, teils von ihr verschieden. Das folgt aus den früheren Annahmen über die Unendlichkeit des Raumes und die unendlich grosse Zahl der Atome. Nachdem E. so die Grundlinien seiner physikalischen Ansicht gezogen hat, geht er (p. 9, 12 Us.) dazu über, die Lehre von den εἴδωλα vorzutragen, durch welche er die Sinneswahrnehmung und alle geistige Thätigkeit überhaupt erklärt. Von der Oberfläche der festen Körper lösen sich unaufhörlich dünne Schichten ab, welche, die Form der Körper selbst bewahrend, sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit durch den leeren Raum bewegen. Durch diese Bilder der Dinge wird die Wahrnehmung entfernter Gegenstände vermittelt. Da die Ablösung der Bilder von der Oberfläche unaufhörlich stattfindet, wird ein bleibender Eindruck hervorgerufen. Der Substanzverlust, den die Dinge erleiden, wird durch Zuströmen anderer Atome wieder ausgeglichen (ἀνταναπλήρωσις). Es entstehen aber auch Bilder von ganz derselben Beschaffenheit auf andere Weise; Bilder, die nicht von der Oberfläche eines festen Körpers sich losgelöst haben, sondern rein zufällig durch die Bewegung der Atome περιέχον entstanden sind. Auf dem Eindringen solcher Bilder beruht unser Sehen, aber auch unser Vorstellen von Gestalten, soweit es den Charakter eines Schauens trägt, wie in Träumen oder Visionen. Im ersteren Falle ist das Bild in das Gesichtsorgan, im zweiten Fall in das Denkorgan (διάνοια) eingedrungen. Das ununterbrochene Zuströmen von Bildern gleicher Gestalt und Farbe bringt die Vorstellung eines Gegenstandes von bleibender Beschaffenheit hervor. In diesem sinnlichen oder geistigen Schauen an sich ist niemals ein Irrtum enthalten, sondern nur in dem Urteil (δόξα), das auf Grund desselben von uns gefällt wird, indem wir die Erscheinung deuten. Die Entscheidung über die Wahrheit eines Urteils beruht auf der Vergleichung der Wahrnehmungen, die wir successive bezüglich derselben Sache empfangen. Wenn nachfolgende Wahrnehmungen unsere Deutung der früheren bestätigen (ἐὰν ἐπιμαρτυρηθῇ), so ist das Urteil wahr, wenn sie es nicht bestätigen (ἐὰν μὴ ἐπιμαρτυρηθῇ), so ist es falsch (über ἀντιμαρτύρησις s. u.). Auf diese Weise will E., indem er die sinnliche Wahrnehmung als untrügliches Kriterium aufstellt und den Irrtum auf das Gebiet der δόξα einschränkt, die Möglichkeit der Wissenschaft mit der Erfahrungstatsache [146] des Irrtums in Einklang bringen. Das Hören soll dadurch zu stande kommen, daß von dem schallerzeugenden Gegenstande ein Strom (ῥεῦμα) von Atomen ausgeht, der sich bis zu dem Gehörorgan hinbewegt und in ihm die Gehörsempfindung hervorbringt. Dieser Strom teilt sich in gleiche Teile (εἰς ὁμοιομερεῖς ὄγκους), die aber untereinander in Zusammenhang bleiben und alle eine und dieselbe eigenartige Beschaffenheit haben, die ihnen von dem Schallerzeuger mitgeteilt ist (ἑνότητα ἰδιότροπον). Es wird also auch hier, ganz analog wie beim Sehen, durch die ununterbrochene Succession gleichartiger Reizungen eine einheitliche Sinnesempfindung erzeugt. Ganz entsprechend wird auch die Geruchsempfindung durch einen Strom von Atomen, der von dem Gegenstand ausgeht, erklärt. Wenn gewisse Strömungen eine Gehörs-, andere eine Geruchsempfindung hervorbringen, so ist dieser Unterschied lediglich durch die Symmetrie der Atome zu dem betreffenden Sinnesorgan bedingt, vermöge deren sie einzudringen im stande sind.

Aus der physikalischen Erklärung der Wahrnehmung und dem über Wahrheit und Irrtum Bemerkten ergibt sich der erkenntnistheoretische Standpunkt E.s, wie er ihn in seinem Κανών entwickelte. Derselbe ist ein rein sensualistischer. Erkenntnis ist, nach E.s Ansicht, nur möglich, wenn wir jede sinnliche Wahrnehmung ohne Unterschied als wahr anerkennen. Denn ein Kriterium, vermittels dessen man wahre von falschen Wahrnehmungen unterscheiden könnte, gibt es nicht. Dieses Kriterium kann nicht selbst wider eine Wahrnehmung sein. Denn das Kriterium muß von der Art sein, daß es selbst der Prüfung nicht bedarf, die mittels seiner vollzogen werden soll. Aus demselben Grunde kann aber auch das Denken nicht das Kriterium der Wahrnehmungen bilden, da sein ganzer Inhalt aus der Wahrnehmung stammt, es also selbst hinsichtlich seiner Gültigkeit nur durch Zurückführung auf die ihm zu Grunde liegenden Wahrnehmungen geprüft werden kann. Die Wahrnehmung als solche ist selbst das oberste und letzte Kriterium aller Wahrheit. Das kann sie nur sein, wenn ihr als solcher, insofern sie Wahrnehmung ist, d. h. allen Wahrnehmungen ohne Unterschied, der Charakter der Evidenz innewohnt. Das Schauen eines so oder so geformten und gefärbten Gegenstandes, sei es mit dem Auge, sei es mit der Vorstellungskraft selbst (wie bei Träumen oder Halluzinationen), ist ein bloßes Erleiden der von dem Bilde empfangenen Wirkung, zu der es nichts hinzutut und von der es nichts hinwegnimmt. Sein Gegenstand ist dieses Bild, also etwas objectiv Reales. Somit ist dieses Schauen wahr. Erst wenn ich im Urteil über dieses Bild hinausgehe und annehme, daß es von einem festen Gegenstand (στερέμνιον) herrührt und denselben richtig abbildet, kann ich in Irrtum verfallen. Vielleicht rührte das Bild, das mein Auge traf, gar nicht von einem στερέμνιον her, sondern hatte sich auf andere Weise gebildet, oder es hatte sich auf dem Wege, den es von seinem Ursprung bis zu meinem Auge zurückzulegen hatte, so verändert, daß es nicht mehr ein adäquates Abbild des Gegenstandes blieb. Um das festzustellen muß ich wieder und wieder zur Wahrnehmung [147] zurückkehren, und je nachdem sich dabei Bestätigung (ἐπιμαρτύρησις) oder Nichtbestätigung (οὐκ ἐπιμαρτύρησις) des ersten Urteils ergibt, werde ich es als wahr oder als falsch erkennen. So werde ich z. B. bei Gegenständen, die ich aus großer Entfernung oder unter sonstigen ungünstigen Bedingungen wahrgenommen habe, die Wahrnehmung aus geringerer Entfernung und unter günstigeren Bedingungen zu wiederholen suchen. Wenn der Turm, der mir aus großer Entfernung rund erschien, aus der Nähe viereckig erscheint, so ist das der Fall, den E. οὐκ ἐπιμαρτύρησις nennt. Die ἀντιμαρτύρησις und ihr Gegenteil scheint sich auf den Fall zu beziehen, wo der Gegenstand des Urteils entweder an sich ein ἄδηλον ist oder doch eine erneute Wahrnehmung bezüglich desselben sich nicht herbeiführen läßt und daher die Prüfung sich auf die Wahrnehmung eines anderen, mit jenem in Zusammenhang stehenden Gegenstandes stützen muß, um durch Zuhilfenahme eines Schlusses über den Gegenstand des Urteils ins klare zu kommen. Für alle Urteile über ἄδηλα besteht der Beweis ihrer Wahrheit darin, daß das Nichtvorhandensein entgegenstehender ἐναργῆ dargethan wird. Vgl. Sextus adv. math. VII 213 οὐκ ἀντιμαρτύρησις δέ ἐστιν ἀκολουθία τοῦ ὑποσταθέντος καὶ δοξασθέντος ἀδήλου τῷ φαινομένῳ. Eine besondere Art von Wahrnehmungen sind auch die beiden πάθη, Lust und Unlust. Es wohnt ihnen dieselbe untrügliche Evidenz inne, wie den eigentlichen Wahrnehmungen, und sie bilden in demselben Sinne das Kriterium auf dem praktischen Gebiete wie jene auf dem theoretischen. Dies ist der Punkt, wo der innere Zusammenhang von E.s Ethik mit seiner Kanonik hervortritt. Wenn von E. neben der Wahrnehmung auch die πρόληψις als Kriterium genannt wurde (z. B. Diog. Laert. X 31, frg. 35 Us.), so kann das gewiß nicht in dem Sinne geschehen sein, als ob damit ein zweites selbständiges und gleichberechtigtes Kriterium neben die Wahrnehmung träte. Denn die πρόληψις ist nur eine μνήμη τοῦ πολλάκις ἔξωθεν φανέντος (Diog. Laert. X 323. Epic. p. 188, 6 Us.). Der Ausdruck bezeichnet bald einen richtigen, auf Grund von Wahrnehmungen gebildeten Begriff, der als gemeinsamer und anerkannter geistiger Besitz des Volkes in der Sprache Ausdruck gefunden hat, bald ein richtiges Urteil, das, weil allgemein anerkannt, einer erneuten Prüfung nicht mehr bedarf. Auch der πρόληψις wird von E. das Merkmal der Evidenz zugesprochen, wenn er sie als ἐπιβολὴ ἐπὶ τὴν ἐναργῆ τοῦ πράγματος ἐπίνοιαν definiert (Clem. Alex. Strom. II 4. Epic. frg. 255 Us.). Es ist aber klar, daß nach den Voraussetzungen des Systems diese Evidenz nicht von derselben Art sein kann, wie die der Wahrnehmung, sondern eine sekundäre und abgeleitete.

Nachdem E. im Brief an Herodotos die Lehre von den εἴδωλα entwickelt hat, die die Grundlage seiner Erkenntnislehre bildet, kehrt er zu der Lehre von den Atomen zurück. Diese haben keine anderen Eigenschaften als Gestalt, Schwere, Größe (und Undurchdringlichkeit, Epic. p. 196, 4 Us.). Sie haben nicht Farbe, Geruch, Geschmack, Wärme oder Kälte, Feuchtigkeit oder Trockenheit. Die demokriteische Unterscheidung [148] der primären und sekundären Eigenschaften kehrt bei E. wieder. Alle Qualitäten (ποιότητες), sagt er, sind veränderlich. Die Atome aber müssen als unveränderlich gedacht werden. Denn allen Veränderungen muss etwas zu Grunde liegen, was sich nicht verändert. Die veränderlichen Qualitäten entstehen erst in den συγκρίσεις, durch die wechselnde Verbindung und Anordnung der Atome (ἐν τῇ ποιᾷ συνθέσει τῶν ἀτόμων ταῦτα, Epic. p. 206, 25 Us.). Von der Lehre Demokrits unterscheidet sich E.s Auffassung der sekundären Qualitäten dadurch, dass jener sie für etwas blos Subjectives erklärt (νόμῳ χροιή, νόμῳ γλυκύ, νόμῳ λευκόν, ἐτεῇ δὲ ἄτομα καὶ κενόν), während E., an der Untrüglichkeit der Sinneswahrnehmung festhaltend, lehrt, daß sie in den συγκρίσεις objectiv vorhanden sind (Epic. p. 205, 3 Us. ἄποια σώματα παντοδαπὰς ποιότητας αὐτῷ μόνῳ τῷ συνελθεῖν παρέσχεν. E. nimmt daher auch keinen Anstand, die εἴδωλα als ὁμόχροα τοῖς στερεμνίοις zu bezeichnen (Epic. p. 11, 20 Us.). Die den Atomen zugeschriebenen Unterschiede der Gestalt und Größe genügen, um aus ihnen die ganze Mannigfaltigkeit der in der Erfahrung vorkommenden Qualitäten abzuleiten. Man darf aber nicht (mit Demokrit) annehmen, daß es Atome von jeder Grösse gebe. Denn erstens ist diese Annahme für die Erklärung der Qualitätsunterschiede überflüssig; und zweitens müßte es dann auch sichtbare Atome geben, während die grössten unter ihnen immer noch unter der Grenze des Wahrnehmbaren bleiben. Aber auch die kleinsten sind nicht unendlich klein und in keinem Körper von endlicher Größe können unendlich viel Atome enthalten sein. Der unendliche Raum, in dem sich die Atome bewegen, hat zwar kein Oben und Unten im Sinne einer oberen und unteren Grenze. Das hindert aber nicht, dass wir in ihm die Richtung von oben nach unten von jedem beliebigen Punkte aus ins Unendliche verfolgen können. In diesem Raume bewegen sich alle Atome mit der gleichen Geschwindigkeit, solange die Bewegung im Leeren stattfindet und auf keinen Widerstand stößt (ἀντικόπτει). Größe und Gewicht der Atome hat auf die Geschwindigkeit keinen Einfluß. Auch macht es in dieser Beziehung keinen Unterschied, ob die Bewegung vermöge der Schwerkraft von oben nach unten oder durch Abprallen in anderer Richtung stattfindet. Mit Gedankenschnelle (ἅμα νοήματι) legen sie auch die grösste Entfernung zurück, solange sie auf keinen Widerstand stoßen. Diese Lehre wurde von E. aufgestellt, um dem Einwand zu begegnen, der aus der verschiedenen Geschwindigkeit der Bewegung gegen die Annahme kleinster, nicht mehr teilbarer Teile des Raumes, der Zeit und der Materie abgeleitet wurde. Wenn nämlich ein bewegtes Atom in dem kleinsten Zeitteil den kleinsten Raumteil durchmißt, so würde ein mit der halben Geschwindigkeit bewegtes Atom in der gleichen Zeit nur zur Hälfte diesen Raumteil durchmessen haben, also als noch teilbar erwiesen sein. Die Unterschiede der Geschwindigkeit, die uns die Erfahrung an den zusammengesetzten Körpern zeigt, beruhen nur auf den Widerständen, auf welche die Bewegung stößt, durch welche ihre Kontinuität unterbrochen wird.

Nächst diesen spezielleren Bestimmungen über [149] die Beschaffenheit und Bewegung der Atome behandelt E. im ersten Briefe zunächst das Wesen der Seele (Epic. p. 19, 15 Us.). Die Seele ist eine körperliche Substanz, aus den feinsten Teilen bestehend, die durch den ganzen Leib verteilt und einem mit Wärme vermischten Pneuma am ähnlichsten ist. Diese ihre Beschaffenheit verleiht ihr die Beweglichkeit, die sie im Denken, im Fühlen und in den durch sie hervorgerufenen Bewegungen des Leibes zeigt. Sie ist es, die dem Leibe die Wahrnehmung mitteilt, die sie aber selbst, ohne von dem Leibe umschlossen zu sein, nicht haben würde. An der Wahrnehmung nimmt der Leib infolge seiner Beseelung teil, nicht aber an den übrigen Funktionen der Seele. Wenn die Seele den Leib verläßt, so verliert letzterer die Empfindung. Aber auch die Seele kann nach ihrer Trennung vom Leibe nicht die Wahrnehmung behalten, sondern zerstreut sich. Die eigenartigen Bewegungen der Seelensubstanz, auf denen die geistige Tätigkeit beruht, sind durch den sie umschließenden und zusammenhaltenden Leib bedingt. Daß die Seele nicht etwas Unkörperliches ist, geht schon daraus hervor, daß sie wirkt und leidet. Unkörperlich ist von den als selbständig und für sich bestehend verstellbaren Existenzen nur das Leere, das weder wirkt noch leidet, sondern nur den Körpern für ihre Bewegung Raum gewährt. Von dieser Art ist offenbar die Seele nicht. Alle übrigen unkörperlichen Dinge aber sind nicht als selbständige Existenzen, sondern nur als Eigenschaften oder Zustände der körperlichen Substanz vorstellbar. E. unterscheidet die wesentlichen Eigenschaften (συμβεβηκότα), die von der Vorstellung teils eines Körpers überhaupt, teils eines sichtbaren Körpers unabtrennbar sind (ἀεὶ παρακολουθοῦντα), von den zufälligen und vorübergehenden Zuständen (συμπτώματα), bei denen dies nicht der Fall ist. Die ersteren, zu denen Gestalt, Größe, Gewicht, Farbe gehört, sind weder selbständige Existenzen noch unkörperliche Dinge, die zu dem ohne sie bereits existierenden Körper hinzutreten, noch etwas Nichtseiendes, sondern Bestandteile des Körperlichen, nicht im Sinne räumlicher Teilung, sondern insofern sie in ihrer Verbindung das Wesen alles Körperlichen ausmachen (ὡς τὸ ὅλον σῶμα – ἐκ τούτων ἁπάντων τὴν ἑαυτοῦ φύσιν ἔχον ἀΐδιον). Wie es wesentliche Eigenschaften der sichtbaren Körper als solche gibt, Eigenschaften des καθόλου σῶμα, so gibt es auch wesentliche, untrennbare Eigenschaften der einzelnen Körper, die man nicht von ihnen wegdenken kann, ohne ihr Wesen aufzuheben, z. B. die Wärme des Feuers, die Flüssigkeit des Wassers (Lucr. I 451f.). Von den veränderlichen Zuständen (συμπτώματα) sind die wichtigsten Bewegung und Ruhe. Die Zeit ist (nach Epic. frg. 294 Us.) ein Phaenomen, das uns in Verbindung mit den Phaenomenen der Ruhe und der Bewegung zum Bewußtsein kommt und sich zu diesen analog verhält wie diese ihrerseits zu den körperlichen Dingen. Sie kann daher als ein συμπτώμα συμπτωμάτων bezeichnet werden.

Das All ist, wie schon gesagt, unendlich und enthält in sich unendlich viele Welten. Diese Welten sind geworden und vergänglich. Unaufhörlich gehen einige dieser Welten zu Grunde und entstehen wieder neue an ihrer Statt. Die Form [150] ist nicht genau dieselbe bei allen Welten. Einige sind kugelförmig, einige eiförmig u. s. w. Ihre Entstehung ist so wenig wie ihr Untergang ein Werk göttlicher Vorsehung, sondern ein zufälliges Produkt blinder Naturkräfte, der ewigen Bewegung der Atome. Doch scheint E. angenommen zu haben, daß in allen Welten organische Wesen, Tiere und Pflanzen, vorhanden sind. Die Entstehung unseres Kosmos schildert genauer Lucr. V 416f. Aët. plac. p. 289 Diels. Gegen die Gesamtauffassung des Kosmos als eines zufälligen Produktes blind wirkender Naturkräfte kann, nach E.s Ansicht, auch aus den Erscheinungen des menschlichen Kulturlebens kein Einwand abgeleitet werden. Auch der menschliche Geist selbst ist ein Erzeugnis der Natur und hat in langsamer, allmählicher Entwicklung, unter dem Zwange des Bedürfnisses, seinen ganzen Inhalt an Kenntnissen und Fertigkeiten erworben. Das Denken bewirkt nachträglich eine feinere Ausgestaltung und Durchbildung der ursprünglich instinktiv geübten Tätigkeiten. Dies gilt im besonderen auch von der Sprache. Sie ist, ihrer ersten Entstehung nach, ein reines Naturprodukt. Die ursprünglichsten Worte waren nichts anderes als Reflexbewegungen, durch die der Sprechende auf den empfangenen Sinnesreiz reagierte, einem Husten oder Niesen oder dem Bellen eines Hundes vergleichbar (Epic. frg. 335 Us.). In einem späteren Entwicklungsstadium der Sprache hat allerdings die Konvention mit eingegriffen, um eine eindeutige und innerhalb der ganzen Volksgemeinschaft gleichmäßig verständliche Bezeichnungsweise der Dinge durchzuführen. Die Bezeichnungen für nicht sinnlich anschauliche Dinge sind natürlich zuletzt entstanden. Wenn E. im Brief an Herodotos den Grundgedanken seiner Sprachphilosophie eine hervorragende Stelle eingeräumt hat, während er z. B. die Entstehung der organischen Wesen und des Menschengeschlechtes übergeht, so hat das seinen Grund darin, dass die Sprache, als ein aus der naturgesetzlichen Entwicklung nicht ableitbares Geisteserzeugnis aufgefasst, leicht zu spiritualistischen und teleologischen Einwendungen gegen seine materialistische und mechanische Weltanschauung benutzt werden konnte.

Hinsichtlich der Himmels- und Lufterscheinungen (μετέωρα) ist es E.s hauptsächlichstes Bestreben, ihre Betrachtung aus dem Zusammenhang mit theologischen Gedankengängen zu lösen, in den sie teils von der Volksanschauung, teils von der platonisch-aristotelischen Philosophie gesetzt wurden. An sich ist es für den Zweck der Philosophie ganz unnötig, die Ursachen der Himmelserscheinungen zu erkennen. Weil aber durch die herkömmliche Betrachtungsweise dieser Dinge (die teils die Himmelskörper selbst als beseelte, göttliche Wesen ansieht, teils wenigstens gewisse auffallende Erscheinungen auf das directe Eingreifen göttlicher Mächte in den Naturlauf zurückführt) die Theologie in einer für unsere Gemütsruhe bedrohlichen Weise verfälscht wird, will E. nachweisen, dass einerseits alle diese Erscheinungen ohne die Zuhilfenahme göttlichen Eingreifens sich erklären lassen, andererseits dem Wesen der Götter, wie es allgemein und notwendig gedacht wird, ein solches Eingreifen widersprechen würde. Wir denken nämlich die Götter [151] als selige und unvergängliche Wesen. Diese Prädikate können aber weder auf die Gestirngötter Anwendung finden, noch auf einen Gott, der für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Weltall zu sorgen hat. Daß Götter sind, beweist die allgemeine Verbreitung des Götterglaubens, der auf einer πρόληψις, nicht auf einer bloßen δόξα beruht. Auch die Seligkeit und Unsterblichkeit der Götter ist uns durch die πρόληψις verbürgt. Weil sie durch diese Eigenschaften die menschliche Natur überragen, sind wir ihnen Verehrung schuldig. Doch ist es verkehrt, als Lohn dieser Verehrung ihre Gunst zu erhoffen oder als Strafe der Vernachlässigung ihren Zorn zu fürchten. Die Götterfurcht, die eine der schlimmsten Gefahren für unsere Gemütsruhe bildet, müssen wir aus unseren Herzen ausrotten, indem wir uns klar machen, daß sie mit dem Wesen der Götter im Widerspruch steht. Die Götter haben menschliche Gestalt. Denn nur in dieser kann Vernunft und Tugend wohnen, ohne die es keine Glückseligkeit gibt. Es gibt männliche und weibliche Gottheiten in zahlloser Menge. Sie wohnen in den Zwischenräumen der Welten (μετακόσμια), ohne sich um die Vorgänge in diesen zu bekümmern, ohne Arbeit und Tätigkeit, ganz dem Genuß ihres eigenen Daseins hingegeben. Für diese theologischen Lehren nimmt E. denselben Grad wissenschaftlicher Gewissheit wie für die Grundlehren seiner Physik und dieselbe Bedeutung für den Endzweck der Philosophie in Anspruch. Dagegen ist hinsichtlich der speziellen Naturlehre und der Aetiologie der Himmelserscheinungen eine streng wissenschaftliche Erkenntnis weder möglich noch für den Endzweck der Philosophie erforderlich. Es ist nur möglich, auf Grund der Analogien unserer irdischen Erfahrung über die Ursachen der μετέωρα Vermutungen aufzustellen, wobei sich in der Regel mehrere gleich wahrscheinliche Erklärungsmöglichkeiten ergeben werden. Man soll diese ruhig neben einander bestehen lassen und nicht eine Entscheidung für eine derselben erzwingen wollen. Nach diesen im ersten Briefe aufgestellten Grundsätzen behandelt E. im zweiten Brief die Meteorologie, indem er für jede Naturerscheinung eine Reihe von Erklärungsmöglichkeiten aufzählt. Diese sind, wie Usener gezeigt hat, größtenteils nicht von ihm selbst ersonnen, sondern von den älteren ionischen Naturphilosophen entlehnt. Insofern kann der zweite Brief, richtig benutzt, eine wichtige Quelle der älteren Philosophiegeschichte bilden. Es tritt in diesem Teil der Lehre E.s besonders stark der Charakter einer Aufklärungsphilosophie hervor, die von dem, was wir unter Wissenschaft verstehen, grundsätzlich verschieden ist. Es ist dies eine der Brücken, die von der Naturlehre E.s zu seiner Ethik hinüberführen. Denn die Ausrottung der Götterfurcht ist eine der wichtigsten Vorbedingungen für die Aneignung des höchsten Gutes. In analoger Weise ist die Ausrottung der Todesfurcht durch die Einsicht in das Wesen der Seele und die aus ihr sich ergebende Verwerfung des Unsterblichkeitsglaubens bedingt. Eine dritte Brücke, die von der Physik zur Ethik hinüberführt, ist die Einsicht in die physiologische Beschaffenheit der beiden πάθη, Lust und Unlust, denen für das praktische Verhalten des Menschen eine analoge Bedeutung [152] als Kanon und Kriterium zukommt, wie der Sinneswahrnehmung für das theoretische Gebiet.

Die Naturwissenschaft lehrt uns nämlich, meint E., daß sowohl der Lust als dem Schmerz hinsichtlich ihrer Steigerung bestimmte Grenzen gezogen sind. Die obere Grenze für die Steigerung der Lust liegt in der Aufhebung jedes mit Schmerz verbundenen Bedürfens. Solange noch ein Rest des letzteren vorhanden ist, ist die Lust nicht rein und darum der Steigerung fähig. Ist aber jedes natürliche und notwendige Begehren gestillt, so ist damit der höchste Grad der Lust erreicht. Sie kann nun nicht mehr erhöht, sondern nur noch variiert werden (ποικίλλειν). Es muß also unterschieden werden zwischen der wahren Lust, die ein Zustand der Ruhe ist (καταστηματικὴ ἡδονή), und derjenigen Lust, die in einer Bewegung besteht. Die letztere ist entweder der Weg, der zu der wahren Lust hinführt, und in diesem Falle nicht rein, sondern mit Unlust vermischt, oder eine bloße Variation der wahren Lust. Diesen beiden Arten der bewegten Lust entsprechen zwei Arten von Begehrungen. Auf die zur Schmerzlosigkeit hinführende richten sich die natürlichen und notwendigen Begehrungen (φυσικαὶ καὶ ἀναγκαῖαι), auf die nur Variation des schmerzlosen Zustandes bewirkende die natürlichen und nicht notwendigen (φυσικαὶ καὶ οὐκ ἀναγκαῖαι). Die letzteren sind in einem unverdorbenen Lebewesen nicht heftig und leidenschaftlich. Das werden sie nur bei den Menschen, die von der falschen Meinung geleitet sind, es sei eine Steigerung der Lust über die vollkommene Bedürfnis- und Schmerzlosigkeit hinaus möglich. In diesen entsteht auch noch eine dritte Art von Begehrungen, die weder natürlich noch notwendig (οὔτε φυσικαὶ οὔτε ἀναγκαῖαι), sondern lediglich in der ψευδὴς δόξα begründet sind. Sie richten sich auf Dinge, die in keiner Weise zur Glückseligkeit des Menschen beitragen. Diese physiologische Auffassung der Lust hat E. gegen die abweichende Auffassung der kyrenaischen Schule verfochten. Letztere wollte nicht zugeben, daß die Schmerzlosigkeit eine Lust sei, sondern ließ nur die bewegte Lust gelten. Einen weiteren Streitpunkt bildete das Verhältnis der geistigen zur sinnlichen Lust. Nach E.s Ansicht ist alle geistige Lust aus der sinnlichen abgeleitet und bezieht sich auf sie. Die geistige Lust hat keinen eigenen, von der sinnlichen unabhängigen Gegenstand. Sie ist nur die Spiegelung der sinnlichen Lust im Denkvermögen. Die Kyrenaiker weisen dem gegenüber auf die Lust an der Ehre, am freundschaftlichen Verkehr, am Wohl des Vaterlandes hin, als auf geistige Lustgefühle mit selbständigem Gegenstand (Epic. frg. 451 Us.). Nach E. besteht der wichtigste Unterschied der geistigen von der sinnlichen Lust darin, daß jene auch auf Vergangenes und Zukünftiges sich erstreckt, während die sinnliche auf das Gegenwärtige beschränkt ist. In dem Erinnerungsvermögen des Geistes bleibt auch die vergangene Lust als ein Gegenstand fortdauernden Genusses erhalten. Desgleichen dient die Zuversicht und Furchtlosigkeit des vernünftigen Geistes in Betreff der Zukunft zur Erhöhung der geistigen Lust. E. meint daher, daß die geistige Lust (und Unlust) größer sei als die sinnliche. Das Gegenteil behaupten die Kyrenaiker. Wie [153] der Lust, so sind auch dem Schmerz, nach E., von der Natur Grenzen gezogen, die uns die Physiologie kennen lehrt. Die Intensität des Schmerzes steht in umgekehrtem Verhältnis zu seiner Dauer. Schmerzen von höchstem Intensitätsgrade gehen entweder schnell vorüber oder führen zur Auflösung der bewußten Existenz und heben so sich selbst durch ihre Steigerung auf.

Auf dieser physiologischen Grundlage errichtet E. das Gebäude seiner Ethik. Die beiden πάθη, Lust und Schmerz, bilden vermöge unserer Naturanlage die einzigen möglichen Motive unserer Handlungen. Daß wir den Schmerz meiden und die Lust uns aneignen sollen, ist nicht ein Grundsatz, dessen Richtigkeit theoretischer Begründung bedarf, sondern etwas Selbstverständliches. Die Erfahrung zeigt uns, daß jedes Lebewesen gleich in den ersten Augenblicken seines Daseins, wo es noch nicht durch falsche Meinungen verwirrt ist, sondern seiner angeborenen Naturanlage folgt, nach der Lust strebt und den Schmerz abzuwehren sucht. Lust und Schmerz bilden daher, nach dem maßgebenden Zeugnis der Natur selbst, die obersten Kriterien, nach welchen wir das Erstrebenswerte vom Nichterstrebenswerten unterscheiden sollen, wie auf dem Gebiet der Erkenntnis die Sinneswahrnehmung das Kriterium bildet. Auf sie bezieht sich mittelbar oder unmittelbar all unser Streben, Wollen und Handeln. Demgemäß kann die Lust als höchstes Gut und der Schmerz als höchstes Übel bezeichnet werden. E.s Lehre ist also egoistischer Hedonismus. In dem Streben nach der eigenen (körperlichen) Lust findet sie den Grundtrieb der menschlichen Natur und die letzte Triebfeder aller menschlichen Handlungen. Die Vernunft, welche später zu dem Naturtrieb hinzutritt, hat nicht die Kraft, ihn zu ändern und dem Wollen andere Ziele zu geben, sondern dient nur dazu, ihm die zweckmäßigsten Mittel zur Erreichung seines Zieles zu zeigen. Während der blinde Naturtrieb nur auf die augenblickliche Lust und den augenblicklichen Schmerz Bedacht nimmt, lehrt uns die Vernunft, die voraussichtlichen ferneren Folgen unserer Handlungen mit in Rechnung zu ziehen. Sie rät uns oft, einen unerheblichen Schmerz auf uns zu nehmen, um dadurch einer größeren Lust teilhaft zu werden, oder auf eine geringere Lust zu verzichten, weil eine größere Unlust als Folge derselben zu erwarten ist. An sich betrachtet ist jede Lust, als etwas unserer Natur Gemäßes (οἰκεῖον), ein Gut; aber nicht jede Lust ist erstrebenswert (αἱρετόν). Auch ist jeder Schmerz an sich ein Übel, nicht jeder aber zu meiden (φευκτόν). Denn die Entscheidung über αἱρετόν und φευκτόν beruht darauf, daß wir für die vorauszusehenden Folgen einer Handlung eine Lust-Unlustbilanz aufstellen und nur diejenige Handlung als eine vernünftige vollziehen, aus welcher mehr Lust als Unlust entspringt. Als höchste Lust gilt bei dieser Berechnung die Abwesenheit jedes sinnlichen Schmerzes und jeder Befürchtung einer zukünftigen Störung dieses Zustandes. Der Wert der sittlichen Tugenden besteht darin, daß ohne sie dieses Ziel nicht erreicht werden kann. Das ‚angenehme Leben‘ ist mit dem Besitz der Tugenden untrennbar verbunden und umgekehrt. Der Wert der Tugenden ist also ein sekundärer, abgeleiteter. [154] Die Einsicht befreit uns von den falschen Meinungen, die unserem Glück im Wege stehen, zeigt uns die wahren Ziele unseres Strebens und die Wege, die zu diesen Zielen führen. Sie ist die Wurzel der übrigen Tugenden (epist. ad Menoec. p. 64, 20 ἐξ ἧς αἱ λοιπαὶ πᾶσαι πεφύκασιν ἀρεταί). Es genügt aber nicht, vermittels der Einsicht in jedem einzelnen Falle zu erkennen, welche Lust erstrebenswert (αἱρετόν) ist und welche nicht. Die Seele muß auch die Fähigkeit haben, dem Erkannten treu zu bleiben, und darf sich nicht durch das lockende Bild einer als schädlich erkannten Lust, zu deren Aneignung verführen lassen. Diese Fähigkeit der Seele ist die Enthaltsamkeit (temperantia = ἐγκράτεια). Es ist ferner, damit nicht durch Götterfurcht, Todesfurcht und Schmerz unsere Gemütsruhe in Frage gestellt wird, die Tapferkeit erforderlich. Sie entspringt aus der Einsicht, die Tod und Schmerz ihrer Schrecken entkleidet und uns belehrt, daß wir von den Göttern nichts zu befürchten haben, ist aber mit ihr nicht ohne weiteres gegeben. Sie besteht vielmehr in der Kraft, diese Einsicht auch unter schwierigen Umständen festzuhalten. Auch die soziale Tugend der Gerechtigkeit glaubt E. aus seinem egoistischen Grundprinzip ableiten zu können. Nur deswegen müssen wir die Forderungen der Gerechtigkeit, Billigkeit, Treue erfüllen, weil ihre Übertretung mit dem angenehmen Leben unvereinbar ist. Der Ungerechte kann, auch wenn seine Ungerechtigkeit verborgen bleibt, nie die gewisse Zuversicht hegen, daß sie auch für alle Zukunft verborgen bleiben wird. Selbst wenn er der menschlichen Strafe zu entgehen hofft, bleibt die (nach E. ganz unbegründete) Furcht vor der göttlichen Strafe. Dadurch wird die Gemütsruhe und Glückseligkeit in viel höherem Grade gestört, als sie durch die rechtswidrig angeeigneten Güter gefördert werden könnte. Denn die Befriedigung der natürlichen und notwendigen Bedürfnisse bedarf solcher gewaltsamen Mittel nicht. Durch Gerechtigkeit und Billigkeit erwirbt man sich Wohlwollen, Liebe und Unterstützung der Mitmenschen, die viel zu unserer Glückseligkeit beitragen. Teils aus Angst, teils aus kluger Berechnung der damit verbundenen Vorteile sollen wir gerecht sein. Der Wert der Gerechtigkeit, wie der aller übrigen Tugenden, beruht lediglich darauf, daß ohne sie das angenehme Leben nicht möglich ist. Die sittlichen Normen selbst nimmt E. bei diesem Raisonnement als etwas durch Brauch und Gesetz Gegebenes. Er macht keinen Versuch, ihren Inhalt abzuleiten. Sie ergeben sich, so könnte man in seinem Sinne sagen, aus der Tatsache, daß das egoistische Streben jedes einzelnen mit dem der übrigen in Wettbewerb tritt, als Klugheitsregeln, die uns die aus diesem Wettbewerb zu befürchtenden Conflicte im eigenen Interesse vermeiden lehren. Staat und Gesellschaft würden sich vortrefflich befinden, wenn nur alle ihre Mitglieder zielbewußte und virtuose Egoisten wären. Dann wären Gesetze überhaupt nicht erforderlich. Nun sind aber nur die Weisen so virtuose Egoisten; deshalb sind Gesetze nötig: οἱ νόμοι χάριν τῶν σοφῶν κεῖνται, οὐχ ὅπως μὴ ἀδικῶσιν, ἀλλ’ ὅπως μὴ ἀδικῶνται. Auch die Freundschaft, die er für eines der höchsten Lebensgüter hielt und die in seiner Schule praktisch [155] eine so bedeutsame Rolle spielte, hat E. auf dem egoistischen Glückseligkeitsstreben abgeleitet. Wir müssen uns Freunde zu erwerben suchen, weil wir ohne Freunde nicht sicher und furchtlos, also auch nicht angenehm leben können. Es tragen aber nicht allein die Wohltaten, die wir von unseren Freunden empfangen, sondern auch die, die wir ihnen erweisen, zum angenehmen Leben bei, und zwar in noch höherem Grade: τοῦ εὖ πάσχειν τὸ εὖ ποιεῖν οὐ μόνον κάλλιον, ἀλλὰ καὶ ἥδιον (frg. 544 Us.). Daß wir dem Freunde Opfer bringen und sogar die größten Schmerzen um seinetwillen auf uns nehmen (frg. 546 Us.), widerspricht nicht der hedonistischen Ableitung der Freundschaft. So verschieden von denen der Stoa die Wege sind, auf denen E. in seiner Ethik sich vorwärts bewegt, so übereinstimmend ist das letzte Ziel. Dem Weisen, der zielbewußt gemäß den natürlichen Bedingungen unseres Daseins lebt, wird eine Glückseligkeit versprochen, die ihn über alle Wechselfälle des Schicksals erhebt. In jedem einzelnen Augenblick seines Lebens wird die Lust die Unlust überwiegen und insofern die Glückseligkeit ihm erhalten bleiben. Selbst der Verlust der Sinneswerkzeuge, ja selbst Folterqualen können daran nichts ändern. Bei Wasser und Brot wird er hinter Zeus selbst an Glückseligkeit nicht zurückstehen.

Literatur: Epicurea ed. Hermannus Usener, Leipzig 1887 (eine Neuauflage ist in Vorbereitung). Zeller Philosophie der Griechen III³ 1, 363–478. W. Scott The physical constitution of the Epicurean gods, Journ. of Philol. 1883, 212. O. Weissenfels Lucrez und Epicur, Laus. Mag. LXV (1889). A. Brieger De atomorum Epicurcarum motu principali, Philologische Abhandlungen für M. Hertz, 1888; Epikurs Lehre von der Seele, Progr. Halle 1893. A. Goedeckemeyer Epikurs Verhältnis zu Demokrit in der Naturphilosophie, Dissert. Strassburg 1897. Außerdem ist die Literatur über Philodem und über Lucrez heranzuziehen.

Nachträge und Berichtigungen

Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
Band S XI (1968) S. 579652
Epikur in der Wikipedia
GND: 118530585
Epikur in Wikidata
Bildergalerie im Original
Register S XI Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|S XI|579|652|Epikuros 4|[[REAutor]]|RE:Epikuros 4}}        
[Der Artikel „Epikuros 4“ aus Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (Band S XI) wird im Jahr 2080 gemeinfrei und kann dann (gemäß den Wikisource-Lizenzbestimmungen) hier im Volltext verfügbar gemacht werden.]
Externer Link zum Scan der Anfangsseite[Abschnitt korrekturlesen]
S. 133 zum Art. Epikuros:

Inhaltsübersicht

I. E.s Leben.

II. E.s Schriftstellerei.

III. Besprechung der einzelnen Schriften.

IV. Sprachlicher Ausdruck und literarischer Stil E.s.

V. Heuristische Abhängigkeit und systembildende Originalität E.s

VI. Grundzüge der Entwicklung der epikureischen Schule.

VII. Epikureismus und Christentum.

VIII. Der Epikureismus im philosophischen Denken der Neuzeit.

Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
fertig  
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Band R (1980) S. 105
Epikur in der Wikipedia
GND: 118530585
Epikur in Wikidata
Bildergalerie im Original
Register R Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|R|105||Epikuros 4|[[REAutor]]|RE:Epikuros 4}}        
[Abschnitt korrekturlesen]

Epikuros

[4]) Der athen. Philosoph (342/1-271/0 v. Chr.) (E) S XI.