Iathrippa (Ἲάθριππα), Stadt in der nördlichen Arabia felix, das alte arabische Iaṯrib vor dem Islam, das spätere islamische al-Madīna. Während bei Steph. Byz. (Ἲάθριππα, πόλις Ἀραβίας πλησίον τῆς Ἔγρας) die richtige Namensform Ἲάθριππα überliefert ist und ebenso auch Ἰαθριπηνός als Ethnikon, bieten die meisten Hss. bei Ptolem. VI 7, 31 die Form Λαθρίππα, andere Λατρίππα oder gar (vulgo) Λαορίππα. Die an und für sich leichte Verlesung von ΙΑΘΡΙΠΠΑ zu ΛΑΘΡΙΠΠΑ, das Ptolemaios schon in seiner Vorlage gefunden haben dürfte, konnte auch noch durch den Versuch einer etymologisierenden Angleichung des dem griechischen Hss.-Schreiber fremd klingenden Wortes an zwei griechische Wurzeln, λαθρα- und ἱππο-, gefördert werden. Die zweite Korruptel erklärt sich durch Einsetzung eines Ο statt Θ. Die Tatsache, daß das erwähnte Ethnikon in den Hss. des Steph. Byz. mit einem π geschrieben ist, läßt vermuten, daß auch der Stadtname bei Stephanus ursprünglich Ἰάθριπα lautete, und das entspricht auch der arabischen Originalform genauer als die unter gräzisierendem Einfluß mit geminiertem π geschriebene Form bei Ptolemaios. Das bei Stephanus genannte Ἔγρα ist identisch mit Ἔγρα (besser Ἔγρα) bei Ptolem. VI 7, 29 und dem Geogr. Rav. II 6 und mit el-Ḥiğr der Araber (s. den Art. Egra Nr. 2). Fälschlich hat K. Müller Geogr. gr. min. I LXXI das Ἔγρα bei Stephanus von der gleichnamigen Binnenstadt (μεσόγειος) bei Ptolemaios und dem Ravennaten getrennt und mit der durch Strab. XVI 782 bezeugten Ἔγρα κώμη identifiziert, dem Hafenplatz des Aelius Gallus (s. hierüber und über Sprengers Ansicht über die Lage von Egra und seine Beziehung zur Binnenstadt, eine Ansicht, der sich auch Hartmann Die arabische Frage 1909, 465 angeschlossen hat, die Art. Egra Nr. 1) und Iambia). Das alte, schon im Korān erwähnte el-Ḥiğr, dessen Ruinen bei Madāʾin Ṣāliḥ nördlich von el-ʿǑlā, dem bekannten Fundorte von Inschriften (s. den Art. Saba), noch heute zu sehen sind, und Iaṯrib waren zwei Stationen der uralten Karawanenstraße nach Syrien, später zugleich der syrischen Pilgerstraße, und es war daher durchaus angemessen, daß Glaukos, auf den die Notiz des Stephanus zurückgeht, bezw. dessen Gewährsmann die Lage Iaṯribs nach der nächsten größeren Stadt bestimmte, wenn auch der Ausdruck πλησίον
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unseren geographischen Vorstellungen zu wenig genau vorkommen mag. Mit Unrecht suchte Blau ZDMG XXII 668 eine neue Belegstelle für I. durch Konjektur bei Plin. n. h. VI 157 zu gewinnen, wo nach seiner Meinung statt Maribba (var. Marippa) Palmalacum (var. Paramalacum) .gewiß Iatrippa Alamalacum, d. i. Iaṯrib der Amalekiter, herzustellen ist‘. Diese gewaltsame Änderung ist entschieden unstatthaft (s. den Art. Maribba). Iaṯrib war eine überaus alte Stadt, welche schon ein Jahrtausend vor Begründung des Islam im Handels- und Verkehrsleben Nordarabiens eine Rolle spielte. Schon in minäischen Inschriften wird das Gebiet von Iaṯrib erwähnt. Mit Berufung auf den im geographischen Wörterbuch des Bekrī (11. Jhdt.) angeführten Brunnen el-Kirāsa in Medina vermutete Glaser Skizze der … Geographie Arabiens II 1890, 313, daß die Stadt Kuraṣiti, welche der inschriftliche Bericht über Assurbanipals Feldzug gegen Arabien (bald nach 648 v. Chr.) nennt, Medina war, also Iaṯrib, oder wenigstens in der Nähe von Medina gelegen‘ war, – eine viel zu wenig begründete Vermutung. Aus der Erwähnung in minäischen Inschriften schloß H. Winckler Arabisch-Semitisch-Orientalisch (Mitteilungen der Vorderasiatischen Gesellschaft 1901, 63f.), daß Iaṯrib einmal eine größere Bedeutung hatte als Mekka, welches die Inschriften nicht nennen. Sicherlich war Iaṯrib ein sehr altes Kulturzentrum und ein wichtiges Bindeglied für den Verkehr zwischen Arabien und Syrien. Schon in dieser alten Zeit verdankte es seine Bedeutung seiner günstigen Lage, die ihm auch ungefähr ein Jahrtausend später eine führende Rolle in der Geschichte des Landes zuweisen sollte. In der nördlichen Hälfte des westarabischen Stufenlandes gelegen, war es nicht nur eine durch die Natur selbst bestimmte Station auf dem alten Handelswege, der von den Hafenplätzen des Indischen Ozeans aus dem jemenischen Süden, dem Sabäer-lande, über Mekka, das alte Makoraba, durch ganz Westarabien nach Petra, der Nabatäerhauptstadt, und bis Damaskus führte; es konnte seinen Einfluß auch auf den mit dieser Handelsstraße in der nördlichen Hälfte Westarabiens nahezu parallel verlaufenden Weg durch die Tihāma (d. i. Meerland), das Küstengebiet, von Ğidda bis ʿAḳaba, die spätere (westliche) Hauptpilgerstraße, erstrecken, also auf beiden Routen für den Verkehr nach Palästina und Syrien und zugleich dem Küstenweg nach Ägypten sich geltend machen. In der Karte des Ptolemaios hatte I. die Maße 71° 40’, 23° 20’; Medina liegt unter 24° 34’ nördlicher Breite, 39° 55’ östlicher Länge Greenw. etwa 870 m hoch am Wādǐ el-Ḥamd in einer für arabische Verhältnisse fruchtbaren, palmenreichen Ebene zwischen zwei gegen Nordwesten streichenden Höhenzügen, die sich im Norden der Ebene vereinigen. Im Westen und Osten der Ebene liegen unfruchtbare Steinfelder (vgl. Wellhausen Medina vor dem Islam, Skizzen und Vorarbeiten IV 1889, 3), arabisch Ḥarra (Lavaebene) oder Lāba (Basaltfeld) genannt (vgl. Ch. Doughty Travels in Arabia Deserta 1888, I 422. II 71. 74). Der östliche Hügelzug scheidet die Ebene von dem großen Wüstengebiete,
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das allmählich zu dem arabischen mit einigen Oasen bestandenen Hochlande, dem Neğd, ansteigt; das westliche höhere Randgebirge, die nach Westen ziemlich schroff abfallende Ḥiğāzkette, trennt die Ebene von der Tihāma. Einige arabische Schriftsteller zählen Medina auch schon zum Neğd, und so auch Wellhausen a. a. O.; wie man aber schon aus Burckhardts authentischem Bericht (Travels in Arabia 1829, 397 und darnach Ritter Erdk. XIII 146) entnehmen kann, wird die Stadt von den Medinern selbst und ebenso von den Mekkanern und anderen zum Hiğāz gerechnet. Diese Bestimmung scheint den Vorzug zu verdienen; übrigens fließen die Grenzen des Neğd nicht nur im Westen, sondern auch im Norden. – Nördlich von der Stadt springt aus der Hiğāzkette in die Ebene der Berg Oḥod vor, in der Geschichte des Islam bekannt durch die für Muhammed nachteilige Schlacht (im J. 625) gegen die Mekkaner unter seinem erbitterten Gegner Abū Ṣufjān (dieser Name ist in der 2. Auflage von Helmolts Weltgeschichte II 1913, Westasien, 252 im Unterschiede gegen die 1. Auflage 260 seltsam verunstaltet zu Abu Sufdschan, ebenso wie auf derselben Seite die Kuraiẓa zu Kuraiga, beide Fehler auch im Index 569, 582!), südwestlich von der Stadt der Berg ʿAir. Die Ebene, deren tiefste Stelle das Stadtgebiet einnimmt und deren südlicher Teil ʿĀlīja (Oberland), der nördliches Sāfila (Niederung) heißt, ist von mehreren Wasserläufen, Wādī, durchschnitten, die natürlich nur nach Regenstürzen Wasser führen. Aus dem Wassergehalt des Bodens erklärt sich nicht nur seine Fruchtbarkeit (an Gerste, Weizen, Datteln), sondern auch das verhältnismäßig ungesunde, der Entwicklung der Malaria günstige Klima, dessen Wirkung noch jetzt der Reisende ebenso verspürt wie seinerzeit Burckhardt und zwölf Jahrhunderte vor diesem Muhammed selbst. Das Stadtgebiet ist eine Oase, die Stadt selbst war zur Zeit Muhammeds ,ein Komplex von Gehöften, Dörfern und festen Häusern, die bald näher bald weiter voneinander entfernt zwischen Palmgruppen, Gärten und Saatfeldern zerstreut lagen; mehr ein Synoecismus als eine Stadt (vgl. Doughty a. a. O. II 337. 339). Die geschlossenste Ansiedlung war schon zur Zeit Muhammeds da, wo jetzt die eigentliche Stadt liegt; der Name Iaṯrib haftete aber ursprünglich nicht an dieser, sondern an einer weiter nördlich gelegenen Niederlassung‘ (Wellhausen a. a. O. 4). Berühmt waren seit jeher die ,Palmen von Medina‘; die Palmenzucht war eine wichtige Lebensbedingung für die Stadt und als solche ein Streitgegenstand für die einander befehdenden Stämme in der Stadt und Umgebung. Aus der schon durch die Lage allein bedingten Bedeutung der Stadt erklärt es sich, daß ihre alte arabische Urbevölkerung so wie jene Mekkas und überhaupt des Ḥiğāz (s. den Art. Homeritae) schon frühzeitig mit nichtarabischen, aus dem Norden eingewanderten, namentlich im 1. nachchristlichen Jhdt. mit jüdischen Elementen vermengt war, welche freilich nach und nach arabisiert wurden (vgl. A. Müller Der Islam I 1885, 29f. 36). Diese wohnten nicht nur in Iaṯrib, sondern auch in dem nördlich
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davon gelegenen Ḥaibar und in den gleichfalls durch Palmenreichtum berühmten Oasen zwischen diesen beiden Städten, ferner in Fadak (vgl. den Art. Foda), Taimā u. a. Aus den leḥjānischen Inschriften (vgl. den. Art. Saba) schlossen manche Forscher auf das Vorhandensein eines jüdischen Königreichs von Leḥjān im 3. bis 4. Jhdt.; über mutmaßliche Beziehungen Iaṯribs zu diesem s. Hommel Grundriß der Geographie … des alten Orients 1904, 148. Das Vordringen des Judentums in Arabien muß schon in vorchristlicher Zeit erfolgreich gewesen sein, wie auch die Erwähnung der am Pfingsttage in Jerusalem anwesenden Araber in der Apostelgeschichte lehrt. Zur Zeit des Ptolemaios lag die Herrschaft über Iaṯrib wahrscheinlich (Sprenger Die alte Geographie Arabiens 1875, 155. 205) in den Händen des arabischen Stammes der ʿOḏra (die mit schlechter Vokalisierung des Namens bei den Europäern als Asra sehr bekannt sind). Als im 2. Jhdt. n. Chr., in der Ḥimjarenepoche, infolge des Verfalles des südarabischen Handels und Reichtums im alten Sabäerlande jene bekannte (vgl. d. Art. Homeritae) Auswanderung südarabischer Stämme nach dem Norden stattfand, welche von der arabischen Tradition auf ein verheerendes Naturereignis, den Dammbruch von Maʿrib, zurückgeführt wird (s. d. Art. Saba), kamen jemenische Stämme natürlich auch nach Iaṯrib. Sicher ist, daß vor den Benū Aus und Benū Ḫazrağ, eingewanderten jemenischen Stämmen, welche unter dem Namen Benū Kaila zusammengefaßt werden, in Iaṯrib die Juden die Herrschaft innehatten und daß erst ungefähr seit Mitte des 6. Jhdts. die Araber die Oberhand gewannen, die Juden dagegen ihre politische Bedeutung und großenteils auch ihren Grundbesitz in der Umgebung der Stadt verloren; nur die Nadǐr und Ḳuraiẓa blieben, wie die Tradition berichtet, im ungeschmälerten Besitze der besten Wasserplätze und schönsten Palmenpflanzungen. Zur Zeit unmittelbar vor Muhammed bestand also die Bewohnerschaft Iaṯribs aus den Aus und Ḫazrağ und, wie der Historiker Wākidī (9. Jhdt.) sich ausdrückt, aus den Eidgenossen dieser beiden arabischen Stämme, nämlich aus anderen kleineren Araberstämmen und aus Juden, deren politische Gesinnungsgenossen eben diese Araber waren, die nicht zu den Benū Kaila gehörten. In den Händen der Juden lag vor Muhammeds Auftreten der Acker- und Gartenbau, der Handel und das Handwerk, besonders die Goldschmiedekunst. So waren die Benū Kainuḳāʿ die berühmtesten Goldschmiede Arabiens. Die Berührung mit den Juden, welche sich durch Religion und gewisse Spracheigentümlichkeiten von der arabischen Bevölkerung unterschieden und bei ihr sehr unbeliebt waren, machte diese zuerst mit dem Monotheismus bekannt und half damit gleichsam den Boden für den Islam bereiten. Die Aus bestanden vornehmlich aus den drei Gruppen Amr ibn Auf, Ausallāh und Nabīt, die Ḫazrağ aus fünf Gruppen: Benū Auf, el-Ḥariṯ, Sāʿida, Ḡušam und Nağğār. Aus dem Süden gekommen, rechneten sich die Kaila zu den jemenischen Azd, und erklärten sich auch als Verwandte der Ğassān in Syrien. Die Genealogen wissen zu berichten, daß ihre Stammmutter
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Kaila Enkelin des ʿOḏrā war. Obwohl nun die Juden großenteils gezwungen waren, Ansiedlungen außerhalb der Stadt zu beziehen, kamen die Araber, nunmehr die Herren der Stadt, um den Genuß ihrer Macht durch den Kampf, der zwischen den beiden Hauptstämmen ausbrach. Von diesen hatten die Ḫazrağ die größere Macht, die Aus das bessere Recht im Bruderstreite für sich; die bedeutendste Gruppe der ersteren waren die Nağğār, in deren Gebiete sich auch Mohammed niederließ. Diese Araber Iaṯribs waren keine wahren Beduinen mehr; sie hatten ihr Nomadentum weit mehr abgestreift als z. B. die Mekkaner, welche selbst als Stadtbewohner ihre angestammte Beduinenart nicht verleugneten; sie waren seßhafte Bewohner einer kleinen Provinzstadt mit bäurischer Kultur, beschäftigten sich wie die Juden, deren Schüler sie hierin waren, mit Ackerbau und Palmenzucht, weit weniger mit dem Handel, dem die Mekkaner ihre Haupttätigkeit widmeten. An geistiger Regsamkeit standen sie hinter ihren jüdischen Mitbürgern zurück; sie waren leidlich gute Arbeiter, aber keine Geschäftsleute und Politiker wie die Bewohner Mekkas. Schon dieser tiefgehende Gegensatz erklärt, weshalb sich in der Zeit unmittelbar vor Mohammed Iaṯrib mit Mekka nicht messen konnte. Dieses war, an derselben alten Handelsstraße ungefähr 350 km südlicher gelegen, als Mittelpunkt der Handelsbeziehungen zwischen Jemen und Syrien und noch mehr als Sitz eines uralten Heiligtums und als Stätte eines alljährlich gefeierten und von zahlreichen Pilgern beschickten Festes Iaṯrib weit voraus. Der heilige schwarze Stein (vgl. die Abbildung bei A. Müller 201) in der Ostecke des .Hauses Gottes‘, der Kaʿba, von der auch Diodor Kunde hatte, war ein Überrest altarabischen Heidentums, den Muhammed unter entsprechender Umdeutung in seine Religion aufnahm und den noch heute gegen 250 Millionen Menschen als ihr Heiligstes verehren. Ursprünglich war es ein Idol des altarabischen Gottes Hubal, des eigentlichen vorislamischen Herrn der Kaʿba (vgl. Wellhausen Reste arabischen Heidentums 1897², 75). Dies wird von manchen, so wieder von Huart Histoire des Arabes 1913, 34 ohne zureichende Gründe bezweifelt. Wincklers Ansicht, daß Hubal eine Mondgottheit war, ist wie seine allgemeine Auffassung des altorientalischen Kultwesens, welcher sie entspringt, abzulehnen, was auch Grimme Mohammed 1904, 46 betont; nur ist Grimmes Lehre von der Abhängigkeit des Urislam von Südarabien (49f.) trotz mancher Analogien unerwiesen; sie hängt mit seiner grundsätzlichen Ansicht über Ausgangspunkt und Richtung der Wanderung der Sabäer und der Araber überhaupt zusammen, eine Ansicht, die unhaltbar ist (g. den Art. Saba). So wie es sicher steht, daß die Sabäer von Norden nach Süden in ihre späteren südarabischen Sitze eingewandert sind und nicht umgekehrt, wie Grimme meint, so ist alles Südarabische, das sich im Islam findet, jedenfalls nicht auf dem Wege hineingekommen, den Grimme annimmt. Schon mehr als ein halbes Jahrtausend vor Mohammed hatte dieses Heiligtum die Stadt, welche gerade in der Mitte
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Westarabiens vom syrischen Norden fast gleich weit entfernt lag wie vom sabäischen Süden, zum Ziele alljährlicher Pilgerzüge und damit zum Mittel- und Sammelpunkte des Handels und auch des geistigen Verkehrs in Arabien, geradezu zur ,Mutter der Städte‘ gemacht und ihr so eine unversiegliche Erwerbsquelle gesichert. Von einem solchen Reichtum war in Iaṯrib selbst in seinen besten Zeiten nie die Rede; dieses konnte vor Muhammed weder eine materielle noch eine geistige Konkurrenz mit der Stadt der Kaʿba wagen. Ja, gerade in der Zeit unmittelbar vor Muhammed war es eine unbedeutende Stadt. Sein wirtschaftlicher Niedergang hatte wohl schon mit der Unterdrückung des alten arabischen Lokalkultes durch die nichtarabischen Einwanderer begonnen, mit der Eroberung durch die zugewanderten Jemener zugenommen und war durch die inneren Streitigkeiten, an welchen gegen Ende des 6. Jhdts. auch die verdrängten Juden Anteil nahmen, noch mehr verschärft worden. Je weniger bei den langjährigen Fehden, welche in der Schlacht bei Buʿāṯ in der Nähe Iaṯribs i. J. 615 unter Beihilfe der Nadīr und Ḳuraiza zum Siege der Aus über die Ḥazrağ und die mit ihnen verbündeten Kainuḳā', aber nicht zum dauernden Frieden führten, in Iaṯrib politischer Gemeinsinn hatte aufkommen können, umsomehr war nach ihrer einstweiligen Beilegung das Bedürfnis nach einem politischen Genie mit organisatorischer Fähigkeit rege, und in der Tat machte wenige Jahre nach der Schlacht bei Buʿāṯ Mohammeds Eintreffen dem Bruderkrieg und auch dem wirtschaftlichen Tiefstande in Iaṯrib ein Ende und bedeutete somit einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der Stadt. Die Anwesenheit einiger weniger Mitglieder des Stammes der Ḫazrağ zu Mekka anläßlich der Feier des Pilgerfestes soll die erste Grundlage zur Annäherung zwischen Muḥammed, dessen Lehre in Mekka zunächst auf hartnäckigen Widerstand stieß, und den Bewohnern Iaṯribs geschaffen haben. An diese Stadt knüpften sich übrigens verwandtschaftliche Beziehungen und Familienerinnerungen für Muḥammed; dort war sein Vater ʿAbdallāh gestorben und begraben, ebendaher stammte Āmina, die Mutter des Propheten, und dort hatte sie sich noch kurze Zeit vor ihrem Tode aufgehalten. Jene durch das Kaʿbafest in Mekka angebahnte Annäherung Muḥammeds an Abgesandte der Ḫazrağ im J. 620 und außerdem an solche der Aus im J. 621 war sowohl für ihn als für Iaṯrib von Vorteil. Denn die Bewohner Iaṯribs hatten bei ihrer wirtschaftlichen und politischen Schwäche eine Hilfe nötig, ,sie brauchten einen Mann‘ (Hartmann Der Islam, 1909, 11) und Muhammed brauchte einen Anhang, und so ergänzten einander die beiderseitigen Interessen auf das wirksamste. Die Araber Iaṯribs fanden an Muḥammed eine Stütze gegen ihre jüdischen Mitbürger in religiösen und politischen Angelegenheiten und Muḥammed hinwiederum, das typische Beispiel für die Wahrheit des Satzes: Nemo propheta in patria sua, fand nach unsäglichen Leiden, die ihn in Mekka namentlich seit 617 verfolgten, an der eifersüchtigen Rivalin seiner Vaterstadt einen festen
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Rückhalt für seine Person und seine Lehre. So lag es in den mekkanischen Verhältnissen nur zu wohl begründet, daß er Stadtfremde als Anhänger zu gewinnen suchte: fortan sollte nicht das Band der Nationalität, sondern das des Glaubens, oder wie es A. Müller a. a. O. 76 ausdrückt, ,nicht die Stammeszugehörigkeit, sondern die Religionsgenossenschaft‘ die Grundlage für seine Gemeinde bilden. Im J. 622 verließ Muhammed heimlich mit seiner Familie Mekka in Begleitung nur noch eines treuen Genossen, des Abū Bekr, des späteren Chalifen, nicht ,treulos an seinen Stadtgenossen handelnd‘, wie manche meinen, sondern durch fanatische Angriffe, die ihm keinen anderen Ausweg übrig ließen, gezwungen, nachdem der größte Teil seiner Anhänger, der Muhāğirūn, einige Monate früher vorausgezogen war, und gelangte auf mancherlei Umwegen, nach konventioneller, durchaus unbeglaubigter Chronologie am 24. September nach Iaṯrib wohin ihm alsbald seine Frau und zwei Töchter, von einem zweiten treuen Anhänger geleitet, nachfolgten. Nach der Tradition hatte er zuvor in Kubāʿ, unweit von Iaṯrib, eine Moschee errichtet, das erste Bethaus des Islam. Dieses weltgeschichtlich denkwürdige Ereignis, die Hiğra, gewöhnlich ,Flucht‘ übersetzt, genauer ,Auswanderung‘ (vom arab. Verbum hağara, ,er verließ, wich‘, ist sowohl das Substantivum hiğra als auch das Partizipium ,muhāğir‘, ,Auswanderer‘ gebildet), war und blieb seit 637 (unter dem Chalifate Omars) der Anfangstermin der muhammedanischen Ära. Das Jahr der Einwanderung Muḥammeds und seiner mekkanischen Anhänger in Iaṯrib gilt als eigentliches Geburtsjahr des Islam und als endgültiger Abschluß der vorislamischen Heidenzeit, der ,ğāhilīje‘ der ,Unwissenheit, Unkultur‘ vom Standpunkte des Muḥammedaners aus; zu Iaṯrib, nicht zu Mekka, geschah der erste Schritt zur Einigung der ,Muslimūn‘, der ,Bekenner‘, und damit war auch der Grund zur machtvollen Entwicklung des Islam gelegt; zu Iaṯrib erstarkte das ursprünglich so unbedeutende Häuflein der Muslims bis zum Todesjahre des Propheten (632), also binnen einem Jahrzehnt, zum herrschenden Machtfaktor in Arabien. Gleich anfangs fand Muḥammed zu Iaṯrib dank seinem klugen Vorgehen wohlwollende Aufnahme und gewann immer mehr Glaubensgenossen, die ,Anṣār‘, die ,Helfer‘ (vgl. Korān 3, 45). Für die weitere Entfaltung der neuen Religionsgemeinde war Iaṯrib geeigneter als Mekka. Die Vorteile der Straßenverbindungen mit dem Norden, Süden und Westen teilte es mit Mekka; überlegen war es ihm als Einmündungsstelle der aus dem Irāk, aus Babylonien, führenden Straße, welche noch heute den persischen und mesopotamischen Pilgern dient. Der Hauptvorteil lag aber darin, daß die für arabische Verhältnisse hinlänglich biederen Ackerbürger der kleineren Landstadt, geistig etwas beschränkt, dafür aber ehrlicher, willenestark und religiösen Spekulationen im vorhinein zugänglicher als die Mekkaner mit ihrer Krämerintelligenz, zudem durch ihre jüdischen Mitbürger mit dem Monotheismus seit jeher vertraut, der Lehre Muhammeds sogleich
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ein größeres Verständnis entgegenbrachten: und zu ihnen paßte auch besser Muhammed, in dessen Charakter sich manches daraus erklärt, daß in seinen Adern Iaṯriber Blut floß. Als öffentlichen Sammelplatz für die Anhänger des Islam, die Muslims, welche sich aus den mekkanischen Muhāğirūn und den zu Iaṯrib hinzugekommenen Ansār zusammensetzten, errichtete Muhammed ein gemeinsames Bethaus, den ersten religiösen Mittelpunkt des Islam. Diese erste größere Moschee, deren ursprüngliches Aussehen höchst einfach gewesen war, das Vorbild der späteren Moscheen bis auf den heutigen Tag, erhob sich auf dem Gebiete der schon erwähnten Nağğār, der bedeutendsten Gruppe der Ḫazrağ. Nachdem Muḥammed im Verlaufe seiner organisatorischen Tätigkeit nicht nur einen Kult, welcher der Stadt im Gegensatz zu Mekka bisher gefehlt hatte, sondern auch eine neue Gemeindeordnung begründet (diese hat Wellhausen Skizzen IV 67f. ,Muhammeds Gemeindeordnung von Medina‘ nach Ibn Isḥāḳ verdeutscht und erklärt) und überhaupt aus dem Gebiete seiner zweiten Heimatstadt ein geregeltes Gemeinwesen geschaffen hatte, wurde Iaṯrib von den Arabern mit bestem Rechte ,Madīnat an-nabī‘, ,die Stadt des Propheten‘, oder ,Madīna rasūl illāh‘, ,Stadt des Gesandten Allahs‘, genannt, dann kurzweg al-Madīna, ,die Stadt‘ schlechthin. Als klassische Belegstelle für diese Benennung gilt der Korān 33, 60: ,Wenn die Heuchler … in der Stadt (al-madīna) nicht aufhören, so werden wir dich gegen Sie anfeuern‘, dazu Ḳoran 9, 102 und 121, wo die dem Islam noch fernstehenden Wüstenaraber, gleichsam die pagani, den Bewohnern und Umwohnern der Stadt entgegengestellt werden. Unwahrscheinlich ist die Ansicht A. Müllers a. a. O. I 106f., „daß schon vor der Ankunft des Propheten die Bewohner von Iaṯrib ihren Ort unter sich meistens als ,die Stadt' (Urbs) bezeichnet haben, im Gegensatz sei es zu den Vororten, mit welchen zusammen ,die Stadt‘ den Gesamtnamen Iaṯrib geführt haben wird, oder zu der weiteren Umgebung" und daß allmählich Muḥammed „und die Seinen sich wohl auch die Bezeichnung ,die Stadt‘ angewöhnten". Der Name al-Madīna ist eine Schöpfung der frühislamischen Zeit sowie die Ausdrücke Ḳorān (Lesung, Offenbarung), Islām, Ğāhilīje u. a. Die Berichtigung der Angabe bei Ritter Erdk. XII 85 über das Aufkommen des Namens Medina seit der Einwanderung der Aus und Ḫazrağ ergibt sich aus den voranstehenden Bemerkungen. In der muslimischen Sprache führt die Stadt auch den Namen Ṭaiba oder Tāba; der Name Iaṯrib, Iathrippa der Griechen, schwindet von nun an aus der Geschichte. Damit erscheint auch für unsere Darstellung, deren Zweck nur sein kann, (die wechselreiche Geschichte dieser so denkwürdigen Stadt von der Zeit der ältesten Erwähnung ihres ursprünglichen Namens in den Inschriften bis zu seinem Erlöschen mit ein paar flüchtigen Strichen zu skizzieren, das Ende bezeichnet, zumal da die Geschichte Medinas nunmehr völlig dem Islam angehört. Muḥammed wurde auf Grund der erwähnten Gemeindeordnung, mit welcher auch die Grundlage für eine neue Rechtsordnung
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in ganz Arabien gegeben war, Herr von Medina und dieses durch ihn die erfolgreiche Konkurrentin Mekkas. Die Kirchengemeinde entwickelte sich bald zu einem Kirchenstaate. In Medina, der Wiege der muslimischen Wissenschaft, entfaltete sich der Islam nach endgültiger Lossagung Muhammeds von Juden und Christen zur Stammesreligion der Araber, der es bestimmt war, sich binnen kurzem, bereits unter den ersten Chalifen, zu einer der großen Weltreligionen weiterzuentwickeln. Aus der religiösen Macht wurde alsbald eine politische Macht. Von Medina aus unternahm Muḥammed seine Eroberungszüge nach außen, zunächst Angriffe auf Mekka, die nach mannigfachen Kämpfen im J. 630 zur Unterwerfung Mekkas führten, dann Streifzüge gegen die Beduinenstämme Nord- und Mittelarabiens. Mit dem Falle Mekkas stieg Medina; es war der Mittelpunkt der religiösen und politischen Macht des Islam. Im J. 632 war Muḥammed bereits Herr über ganz Arabien; auch über Arabien hinaus suchte er seinem Glauben Anerkennung zu gewinnen; da ereilte ihn zu Medina mitten in seinen kühnen Plänen im Juni 632 der Tod. Als Sitz des Propheten war Medina auch die Stätte der Wahl seines Nachfolgers, des Abū Bekr; über ihren dramatisch bewegten Hergang vgl. die schöne Darstellung im Eingange von Kremers Culturgeschichte des Orients unter den Chalifen I, 1875. Auf der Stelle des Sterbehauses Muḥammeds steht (vgl. die Abbildung bei C. Niebuhr Beschreibung von Arabien 1772, Taf. XXII ,Die große Moschee zu Medina‘) Medinas Hauptmoschee (der Mesğid en-nabī, Moschee des Propheten, oder el-Haram, das Heiligtum, wie auch die Moschee zu Mekka heißt), welche in ihrer südöstlichen Ecke das Grab Muḥammeds birgt, daneben auch die der beiden ersten Chalifen und seiner Tochter Fāṭima (die Reproduktion einer Photographie des Portals bei Hogarth The penetration of Arabia 1904, 94). Als ʿAlī, der vierte Chalife (656–661), seine Residenz in Kufa im Irāk nahm, hatte Medina seine große politische Rolle ausgespielt, mit ihm aber ganz Arabien überhaupt, von dessen Geschichte sich die des Islam immer mehr loslöste. In religiöser Hinsicht dagegen blieb es infolge seiner Lage an der syrischen Pilgerstraße als eine der heiligen Städte, namentlich als Pilgerstätte zweiten Ranges und als Station nach der Hauptpilgerstätte Mekka für den Islam von Bedeutung bis auf die Jetztzeit. – Für die Einzelheiten der Geschichte Muhammeds in Medina verweisen wir auf Sprenger Das Leben und die Lehre des Muhammad 1869² und Wellhausen Muhammed in Medina 1882 (die verkürzte deutsche Wiedergabe von Wākidīs Kitāb el-maģāzī, ,Buch der Feldzüge der Boten Gottes‘), für die allgemeine Geschichte des Islam auf die bei ihrer populären Fassung tief gründliche Darstellung A. Müllers a. a. O. I 82f. und auf die noch immer unentbehrliche ,Geschichte der Chalifen‘ von Weil 1846–1851, neuestens auf Huart a. a. O. (deutsch übersetzt Leipzig 1914), bes. I 74f. Für die Stadtgeschichte ist wichtig Wüstenfeld Geschichte der Stadt Medina 1860 (ein Auszug aus dem Arabischen des Samhūdi) und Wellhausens oben angeführte
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Arbeit in seinen ,Skizzen‘ IV; für die Geographie: Wüstenfeld Das Gebiet von Medina nach arab. Geographen 1873. Verdienstlich ist Wetzstein Nordarabien, Ztschr. f. allg. Erdk. XVIII, 1865, durch Vergleiche der alten Berichte mit neuen Erkundigungen.– Seit der Osmanenzeit hat Medina wieder an Bedeutung gewonnen; es ist der Schlüssel zum ganzen Hiğāz. Der Besuch Medinas ist, im Gegensatze zum Hağğ nach Mekka, durch den Islam nicht geboten, und wird meist nur von den Pilgerkarawanen aus Syrien und Ägypten unternommen; über das Pilgerwesen s. Ritter Erdk. XII 161. 177f. – Dürftig ist der Bericht über Medina bei Niebuhr a. a. O. 371 f., ungleich reichhaltiger Burckhardts schon erwähntes Werk (bes. 317f.), durch welches Medina den Europäern zuerst genauer bekannt geworden ist; darauf fußt Ritter Erdk. XII 149–182. – Die Beschreibung Burckhardts, der Medina 1815 in schwer krankem Zustande sah, wurde in Einzelheiten berichtigt und ergänzt durch Burton Personal narrative of a pilgrimage to El-Medinah and Meccah 1856, letzte Aufl. 1898; weitere Details erbrachte die Reise von Keane 1878 (in seinem Werke über den Ḥiğāz), ferner der Bericht über die Pilgerreise des Vizekönigs von Ägypten Said-Pascha (1860) von Muḥammed Sādiḳ Bej ,Medine il y a vingt ans‘ im Bulletin de la société khédiviale nr. 8, 1880 (vgl. Sādiḳ im ,Cosmos‘ [Cora] VIII 1884/5, 347. 356f.), endlich Soubhy Pélerinage à la Mecque et la Médine 1894. – Sein jetziges Aussehen erhielt Medina im 16. Jhdt., vgl. die Photographie auf dem Titelbild bei Hogarth a. a. O. und den Plan und die Skizze bei Burton. Über Iamboʿ, die etwa 200 km entfernte Hafenstadt Medinas, vgl. den Art. Iambia. Das heutige Medina, die wohlummauerte Hauptstadt des gleichnamigen Sandšak (oder Liwā) des türkischen Wilājet Ḥiğāz mit ungefähr 40 000 Einwohnern größenteils indischer Abkunft, ist vorläufig die Endstation der Ḥiğāzbahn, einer der verdienstvollsten Schöpfungen ʿAbd-ul-ḥamīd’s. Die Vollendung der Strecke bis Mekka, welcher der Widerstand des Großscherif von Mekka nicht geringere Schwierigkeiten bereitet als die räuberischen Überfälle des Beduinenstammes der Benū Ḥarb und das nicht eben gesunde Klima auf der Strecke zwischen beiden heiligen Städten des Islam, ist nur eine Frage der Zeit; über die hervorragend politische Bedeutung dieses Unternehmens vgl. Hartmann Die Mekka-Bahn 1908.