RE:Markion

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Herätiker
Band XIV,2 (1930) S. 18491852
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Markion der Häretiker, von der Kirche stets mit besonderem Hochton als ihr Feind bezeichnet und bekämpft, ist zu Sinope im Pontus geboren, als Sohn eines Bischofs (Iustin. apol. I 26, 5. 58, 1. Ps.-Tertull. adv. omn. haer. 6. Epiphan. haer. 42, 1, 3). Dort scheint er schon in Konflikt mit der Kirche gekommen zu sein: sein Beruf als Schiffsreeder (Rhodon bei Euseb. hist. eccl. V 13, 3. Tertull. de praescr. 30) legte ihm das Reisen nahe, und so finden wir ihn in Asia, wo er mit Bischof Polykarp von Smyrna zusammenstößt (Iren. III 3, 4, vgl. das Papiasfragment im lateinischen Prolog zu Joh. bei Harnack 11*). Um 140 ist er nach Rom gekommen und verkehrt mit der dortigen Gemeinde: er schenkt ihr 200 000 Sesterzen (Tertull. de praescr. 30; adv. Marc. IV 4). Im J. 144 (Harnack 19*f.) kam es auch hier zum Bruch: Epiphanias (haer. [1850] 42, 2) hat die entscheidende Disputation über den ,neuen Wein und die alten Schläuche‘ Luc. 5, 37 wirkungsvoll, wenn auch schwerlich historisch treu dargestellt. Von der Wirkung seiner gewaltigen Lehrtätigkeit berichtet wenige Jahre später der in Rom schreibende Apologet Iustin (apol. I 26. 58), daß sie κατὰ πᾶν γένος ἀνθρώπων Anhänger gewonnen habe: und die mit Iustins verlorenem Syntagma (o. Bd. X S. 1336, 26) beginnende Kampfliteratur gegen M. schwillt schnell an. Tertullians fünf Bücher contra Marcionem bringen eine ausgiebige Auseinandersetzung mit seinen Lehren, und die Ketzerhandbücher des Irenaeus, Hippolyt, Epiphanias, Philastrius und Theodoret bringen reiches Material herbei. Aber darüber hinaus gibt es kaum einen namhaften christlichen Schriftsteller des 3., 4. und 5. Jhdts., der sich nicht mit M. auseinandersetzte: Harnack hat S. 314*–400* alles übersichtlich zusammengestellt und beurteilt. Die Sekte hat im 2. und 3. Jhdt. schnell weite Verbreitung gefunden, im Osten wie im Westen. Während die Bewegung im Abendland im Laufe des 4. Jhdts. erlosch, hat sie im Orient ein Jahrhundert länger gelebt und im 4. Jhdt. noch eine erhebliche Rolle gespielt. Im 5. Jhdt. wird uns von eifrigem Bemühen führender Kirchenmänner um die Ausrottung markionitischer Gemeinden berichtet: Theodoret von Kyros (nö. von Antiochia) erzählt um 450, er habe mehr als 1000 (epist. 113), ja mehr als 10 000 Seelen der Markioniten bekehrt (epist. 145): ein andermal weiß er von acht Dörfern dieser Sekte zu berichten, die er der Wahrheit zugeführt habe (epist. 81). Danach verstummen auch hier die Zeugnisse, und M. erscheint nur noch als literarischer Feind.

Über das innere Leben und die Verfassung der markionitischen Gemeinden haben wir keine genauere Kunde: gelegentliche Bemerkungen lassen uns vermuten, daß sie nicht merklich von der katholischen Kirche abwichen. Jedenfalls finden wir auch bei ihnen ἐπίσκοποι und πρεσβύτεροι als Gemeindeleiter (Euseb. de mart. Palaest. 10, 3. Adamant. de recta in deum fide I 8 p. 16, 35 Sande-Bakh. Mart. Pionii 21). Ein höchst wertvolles Denkmal ist die Inschrift von Lebaba bei Damaskus (Le Bas-Waddington Inscr. gr. Vol. III nr. 2558 = Syll. or. n. 608: dazu Harnack S.-Ber. Akad. Berl. 1915, 746ff. = Aus der Friedens- und Kriegsarbeit 21ff.): Συναγωγὴ Μαρκιωνιστῶν κώμ(ης) Λεβάβων τοῦ κ(υρίο)υ καὶ σ(ωτῆ)ρ(ος) Ἰη(σοῦ) Χρηστοῦ προνοίᾳ Παύλου πρεσβ(υτέρου). τοῦ λχ’ ἔτους (d. h. 318/9 n. Chr.). Vereinzelt werden uns Namen von Schülern M.s genannt, die seine Lehre vortragen oder weiterbilden. Aus der Gegenschrift des Adamantius lernen wir den Megethius etwas genauer kennen, der eine Theologie mit drei Principia (gut, gerecht, böse) entwickelte und damit weitere Nachfolge gefunden hat. Lucanus, von dem Epiph. 43 berichtete, und der auch sonst als Schulhaupt erwähnt wird, berührt sich mit Megethius in diesem Punkte und darf als der eigentliche Fortsetzer der Lebensarbeit des Meisters angesehen werden. Apelles hat dagegen unter dem Einfluß alexandrinischer Gnosis an dem System des Meisters eine den Dualismus beseitigende Kritik geübt und eigene Gemeinden begründet: seine Wirkungsstätte [1851] war Rom, und von seiner Bedeutung zeugen die zahlreichen Erwähnungen seiner Person und Lehre bei den kirchlichen Gegnern (Harnack 404*ff.).

M. lernte ans den Briefen des Apostels Paulus den scharfen Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium und führte ihn zu den letzten Konsequenzen: er findet darin den Ausdruck zweier sich ausschließenden Religionen, und erkennt dahinter zwei gegensätzliche Gottesbegriffe, d. h. zwei göttliche Prinzipien. Den grausamen Gott der nach Verdienst vergeltenden, also unerbittlich strafenden Gerechtigkeit offenbart das Alte Testament als den, der diese Welt geschaffen hat und ihr Getriebe lenkt, der sich das Judenvolk zum Liebling auserkoren hat. Aber unbekannt, fern und fremd blieb der Menschheit der wahre, unbegrenzte, gute Gott, dessen Wesen Liebe und Barmherzigkeit ist – bis er sich selbst in der Menschengestalt Jesu Christi in dieser Welt des bösen Gottes offenbarte, um dessen mißratene Schöpfung, die sündige Menschheit, zu erlösen: der ganzen Menschheit, nicht bloß dem Judenvolk, gilt seine rettende Liebestat. Durch seinen Tod am Kreuz kauft er dem Judengott die Menschheit ab, sowohl die Gerechten aus vergangenen Geschlechtern in der Unterwelt wie die jetzt, am Ende der Zeiten, Lebenden. Wer ihm ohne Furcht sich vertrauend hingibt, ihm ‚glaubt‘, der wird gerettet. Diese Hingabe an den Erlösergott zeigt sich in tätlichem Kampf gegen das Wesen dieser Welt: ausgedehnte Nahrungsaskese entfremdet den Gläubigen von den geschaffenen Dingen, Enthaltung von der Ehe und jeglichem Geschlechtsverkehr bezeichnet die volle Loslösung von dem Macht- und Wirkungszusammenhang der Materie und ihres Schöpfungsgottes.

Zur Begründung seiner Lehren beruft sich M. auf die heiligen Schriften dieses neuen Glaubens, während er die jüdischen Urkunden des Alten Testaments als Dokumente des bösen, ‚gerechten‘ Gottes verwirft. Seine unmittelbare Autorität ist der Apostel Paulus: dessen Briefe sind ihm ‚heilige Schrift‘. Aus Tertull. c. Marc. V, dem Dialogus de recta fide des Adamantius und Epiphanius Panarion haer. 42 läßt sich ein Bild des markionitischen Paulustextes gewinnen. Er enthielt die 9 uns bekannten Gemeindebriefe und den Philemonbrief in eigenartiger Reihenfolge (Gal. I II Cor. Röm. I II. Thess. Eph. [der aber ad Laodicenos heißt] Coloss. Philip. Philem.) und in einer revidierten Textgestalt: M. nahm an, der übliche Paulustext sei bereits ‚jüdisch‘ interpoliert und hat ihn dementsprechend gelegentlich durch Konjektur gesäubert. Das ganze Material jetzt bei Harnack 67*–127*. Ähnlich ist er auch mit dem andern Bestandteil seines neutestamentlichen Kanons verfahren, dem Evangelium. Ihm lag, offenbar durch kirchliche Gewohnheit seiner Heimat, das Lucasevangelium vor; das hat er auch revidiert und als einzige evangelische Quelle gelten lassen: Rekonstruktion wesentlich nach den gleichen Quellen wie beim Paulustext bei Harnack 183*–240*. So ist er der erste gewesen, der einen scharf begrenzten, aus Paulusbriefen und einem Evangelium bestehenden Kanon als alleinige christliche autoritative [1852] Quelle proklamiert hat. Von dieser Grundlage ausgehend hat M. dann in dem einzigen Werk, das er verfaßt hat, seine Lehre im Gegensatz zum Alten Testament aber auch zu den Anschauungen der ,judaisierenden‘ katholischen Kirche entwickelt: dies Buch trug den Titel Ἀντιθέσεις. Tertullian berichtet ausführlich darüber, aber auch zahlreiche M.-Zitate bei andern Schriftstellern sind zweifellos auf dies Werk zurückzuführen: Harnack 255*–313* hat zum ersten Male das ganze Material übersichtlich zusammengestellt, eine Rekonstruktion ist nicht möglich.

Früher war es üblich, M. unter die Gnostiker zu rechnen, vornehmlich auf Grund seines Antijudaismus und des Dualismus der Gottesbegriffe. Gegen diese Auffassung hat sich nachdrücklich v. Harnack gewendet und M. als religiösen Denker eigenen Rechts gezeichnet, der vom paulinischen Evangelium an das Alte Testament herantritt und in der Auseinandersetzung mit ihm und der das Judentum konservierenden katholischen Kirche in dem christlichen ‚Erlösergott‘ den unbekannten und dieser Welt ‚fremden‘ Gott der letzten Wahrheit begreift. Daran haben sich neue Kontroversen angeschlossen.

Literatur. Alles früher antiquierend und das gesamte Material zusammenfassend A. v. Harnack Marcion, das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche, Lpz. 1921. ²1924 (Texte u. Unters., hrsg. von v. Harnack u. C. Schmidt Bd. 45). Kritiken von H. v. Soden Ztschr. f. Kirchengesch. Bd. 60, 193ff. und W. Bauer Gött. Gel. Anz. 1923, 1ff. Dazu v. Harnack Neue Studien zu Marcion, Lpz. 1923 (Texte u. Unters. Bd. 44, 4).