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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


zu nehmen. Da kommen des Weges einige schlankgewachsene Jungfrauen; der Sohn zittert vor Erregung: „Wie heißt man diese Dinger, o Vater?“

„Gehen wir schnell vorüber, mein Sohn! Es sind Gänse.“

„O mio carissimo padre, compra una tale papera.“ (O, mein theurer Vater, kaufe mir eine solche Gans!)

Bald sollte mir auf meinem Lebenswege das Frauenbild begegnen, das mich bis zur Schwelle des Mannesalters gefesselt hielt, dem ich über fünf Jahre mit aller Verehrung einer stummen, aber doch verstandenen Liebe anhing, bis es mir feindliche Mächte auf immer verhüllten.

War ich in jenen Jahren fromm? Niemals frömmer, weil der Thau des Himmels niemals frischer und ursprünglicher auf der Seele lag. Wie sollte das Herz nicht fromm sein, das träumt „von Lenz und Liebe, von seliger goldener Zeit, von Freiheit, Männerwürde, von Treu und Heiligkeit“? Ich betete oft, freilich nur bei schönem Wetter und blauem Himmel, am offenen Fenster des Ganges, welches gegen das Viereck des Klosterhofes schaute. Lebendig sind mir noch die erschütternden Wirkungen, welche die von tiefem religiösem Ernste getragenen Vorbereitungsreden auf mich ausübten, welche Professor Oehler jedesmal vor einem Communionstage Abends an uns richtete, lebendig auch die Schauer, mit denen ich an das mysterium tremendum des heiligen Mahles hinantrat. In den Ferien kam ich dann und wann nach Königsfeld, in die kleine Herrnhutergemeinde, in welcher unsere Familie Bekannte und Freunde hatte. Die Fülle und Sauberkeit, die hier herrschte, der herzliche Ton dieser Frömmigkeit, die innigen Gottesdienste, besonders in der Frühe des Ostermorgens, noch bei Nacht die feierlichen Chorgesänge in der Kirche, dann bei Sonnenaufgang der Gang der Gemeinde zu den Gräbern, die Reden und Gebete daselbst, der schlichte Prediger im einfach bürgerlichen Kleide mit dem freundlichen, herzgewinnenden Worte, das Liebesmahl mit Thee und Semmelbrod – das Alles verfehlte damals seine Wirkung auf das junge Gemüth nicht.

Man muß es den theologischen Seminarien Württembergs nachsagen, daß sie sich vom Geiste pietistischer Zudringlichkeit freigehalten haben – wenigstens damals war es so. In den Fächern, welche sich auf Theologie beziehen, wurde natürlich in Uebereinstimmung mit der Kirchenlehre unterrichtet, aber man wußte von keinem Zelotismus, von keiner gewaltsamen Zurichtung oder Dressur für Confession oder kirchliche Parteizwecke. Zweifel und Verstandeskritik hielt man vom heiligen Gebiete sorgfältig fern. Derselbe Professor Oehler, der unser Auge für die Widersprüche und Unmöglichkeiten in den Königsgeschichten des Livius schärfte, ließ die Abfassung der sogenannten Bücher Mosis durch Moses ruhiggläubig stehen, ohne für sich selbst an Stellen, wie: „damals gab es noch keine Könige in Israel“, oder an der Schilderung des Todes und der Beerdigung des Moses in demselben Buche, das dieser geschrieben haben sollte, Anstoß zu nehmen, geschweige uns Schüler mit einem Finger auf solche Unmöglichkeiten hinzuweisen und so früh unser Denken und unsern Wahrheitssinn zu wecken. Doch konnte alle Sorgfalt nicht verhindern, daß der theologische Zweifel früh schon da und dort durch die Spalte guckte. Einem oder dem Andern unter den Repetenten, die häufig wechselten, ging der Ruf voraus, er sei ein Hegelianer. Ein solcher war mir im Voraus interessanter, als die Anderen; Männer, die von den breitgetretenen, durch lange Uebereinstimmung der Gesellschaft festgesetzten Ansichten abzuweichen wagen, haben eine große Anziehungskraft auf eine strebende Jugend. Es reizte mich wunderbar, wenn Einer derselben, nur wie beiläufig, in seinem Vortrage eine moderne Ansicht mitlaufen ließ. So schrieb ich es mit dicken Buchstaben in mein Heft, als der damalige Repetent, spätere Studien- und Consistorialrath Demmler bei einer Stelle des Herodot die Abstammung des Menschengeschlechts von einem Paare bezweifelte.

Auch die ganze Lebensordnung des Hauses, wie streng sie war, hatte doch nichts Frömmelndes oder methodistisch Zudringliches. Als einer unserer Professoren, der, wie in vielen anderen Dingen, so auch im Pietismus dilettantirte, einen Missionar berief, der, aus Indien zurückgekehrt, unsere Herzen für die Heidenmission bearbeiten sollte und zu diesem Zwecke einen Vortrag im Hörsaale hielt, blieb ich mit zwei Anderen ziemlich demonstrativ weg, ohne daß Jemand gewagt hätte, uns etwas dareinzureden. Die Gunst des Professors hatte man freilich auf immer verscherzt, aber das wollte man eben.

Mit dem Schlusse des zweiten Jahres war mein Klosterkampf zu Ende. Der Druck war weg und der Bann gelöst, der vorher auf Kopf und Herz gelegen war. Unterm 26. September 1842 schreibt der Ephorus an meinen Vater: „Ich hätte Dir, wenn Du Dich bei unserer Zusammenkunft eingestellt hättest, eine vergnügte Miene abnöthigen können, wenn dies überhaupt in der Gewalt eines Sterblichen steht, indem ich Dir über Fleiß und Verhalten Deines Sohnes Dasjenige berichtet hätte, was Du jetzt im Zeugnisse liesest. Ich kann demselben blos beisetzen, daß Dein Heinrich seines Vaters echter Sohn ist – behaftet mit einer Festigkeit, die sich fremdem Willen beharrlich entgegensetzt. So geht er zwar allmählich in die Mathematik ein, aber nicht so, daß er ein fruchtbares und ihn geistig förderndes Studium daraus machte: er mag sie nicht, deshalb behandelt er sie auch – zwar nicht unaufmerksam, aber ohne Interesse.“ Das war noch viel zu mild geurtheilt. Vielmehr haßte ich mit einer gewissen Demonstration die Mathematik als die Feindin, wie ich damals meinte, einer poetischen und idealen Gemüthsstimmung. Im Uebrigen ging mir von jetzt an das Studiren leicht. Es ist im intellectuellen Leben wie im sittlichen: wenn der knechtische Geist vertrieben und die Liebe eingekehrt ist, geht Alles von Statten. Damit war zugleich die Richtung der Studien für immer bestimmt. „Ein Buchgelehrter kann jeder Esel werden“ – das war mir jetzt aus der Seele gesprochen. Das Wissen, das aufbläht, hatte den Reiz für mich verloren. Welchen Platz ich auf den Bänken neben meinen Mitschülern einnehme, welche Note ich beim Examen erhalte, war mir von jetzt an sehr gleichgültig. Ich betrachtete es als einen höheren Ehrgeiz, ein normaler Mensch als ein normaler Gelehrter zu werden. Ich sah Alles, was ich trieb, darauf an, welchen Beitrag es an die Bildung des ganzen Wesens abgeben könne, wie weit es sich in das Fleisch des Denkens, in das Blut des Charakters aufnehmen lasse. Was sich hierfür nicht geeignet zeigen wollte, wie z. B. die Geographie, ließ ich gleichgültig liegen, ohne mir darum Sorge zu machen.

Die meisten Bildungsstoffe, die man uns bot, und zwar gerade diejenigen, auf welche der größte Werth gelegt wurde, waren übrigens außerordentlich geeignet, den inneren idealen Bildungstrieb zu wecken und zu nähren. Da waren ja die lieben Classiker wieder, die griechischen und römischen, in vortrefflicher Auswahl und Stufenfolge. Homer, Herodot, Xenophon, Livius und Julius Cäsar (der gallische Krieg), Virgil’s Aeneïde waren vorbei; ich hatte leider mehr Verdruß, als Freude dabei gehabt und wenig Gewinn gezogen. Aber nun kamen für die zwei letzten Jahre Thucydides, Demosthenes, Sophokles, Plato, im Lateinischen Cicero, Horaz, Tacitus, und zwar von allen diesen Schriftstellern nicht nur einzelne Bruchstücke, sondern von jedem etwas Rechtes und Ganzes, woraus man ihn und seine Zeit wirklich kennen lernte, so von Demosthenes die drei Philippiken, die drei olynthischen und die Rede um die Bürgerkrone, von Sophokles König Oedipus, Antigone, Philoctet, von Plato einige kleinere Dialoge, die Apologie des Sokrates und Phädon, von Cicero die beiden philosophischen Untersuchungen über die Natur der Götter und über den Redner, sodann die bedeutenderen seiner Reden (die beiden ersten hätten ohne großen Schaden wegbleiben dürfen, wenn man die weit bildenderen und interessanteren Briefe an ihre Stelle gesetzt hätte). Da trat die antike Welt in ihren höchsten und reinsten Schöpfungen vor den jugendlichen Geist, ein Verwandtes vor das Verwandte, die antike Welt mit ihrem gesunden Realismus, über dem aber noch der Thau einer phantasievollen und naiven Jugendzeit liegt, mit dem scharfen Auge für die Wirklichkeit der Dinge, das aber eben diese Dinge zu gleicher Zeit so schön anschaut und idealisirt, mit der reizenden Verbindung von Philosophie und Poesie, wie sie einem Jugendzeitalter eigen ist, in welchem die Kräfte und Thätigkeiten des Geistes noch nicht streng gesondert sind; mit einer Kunst, an welcher die schlichte Natürlichkeit und Einfachheit der größte Vorzug ist, mit einer Sitte und Bürgertugend, wie sie in keinem andern Zeitalter größer und reiner geleuchtet hat.

Man muß freilich die sprachliche Vorbereitung mitbringen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_390.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)