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Thüringer Sagenbuch. Erster Band/Der Wangenbiß

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Bürgertreue Thüringer Sagenbuch. Erster Band
von Ludwig Bechstein
Von Friedrich mit der gebissenen Wange
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[193]
104.
Der Wangenbiß.

Neun Jahre hatte der Thüringer Erbfolgekrieg gedauert, und dem Lande und Volke war viel Weh widerfahren. Und endlich mußten die streitenden Parteien sich doch einigen. Sophia mußte auf alle Ansprüche auf Thüringen für ihren Sohn verzichten, dafür erhielt sie ganz Hessen, und so wurde Heinrich, das Kind von Brabant, der erste Landgraf von Hessen und der Ahnherr und Stammvater der noch blühenden hessischen Regentenhäuser. Auch wurde eine gegenseitige Erbverbrüderung aufgerichtet, daß beim Aussterben eines Hauses, des Thüringisch-Meißnischen oder des Hessischen, die überlebende Linie wiederum das Ganze besitzen solle, deshalb behielten auch beide Lande das alte Stammwappen, den Löwen aus silbernen und rothen Stücken im blauen Felde bei, doch wird der Nachricht von der Aufrichtung einer solchen Erbverbrüderung auch von mehrern Geschichtschreibern widersprochen, und soll dieselbe erst später erfolgt sein, was zu erörtern die Sage nicht berufen [194] ist. Sie weiß nur, daß der Mark- und Landgraf Heinrich der Erlauchte, Pfalzgraf zu Sachsen, zur allgemeinen Friedensfeier zu Nordhausen ein Prachtturnier anstellte, welches von Fürsten und Rittern und edeln Frauen zahlreich besucht war, und bei dem auch Heinrichs ältester Sohn, Albert mit seiner Gemahlin Margaretha, der Tochter Kaiser Friedrichs II. gegenwärtig war. Markgraf Heinrich der Erlauchte hatte des Länderbesitzes fast zu viel, ohne die mancherlei Ansprüche auf Lande in Oesterreich, auf Neapel, auf Sicilien, daher übergab er seinem ersten Sohne Albert die Oberherrschaft über die Landgrafschaft Thüringen und die Pfalz Sachsen, dem zweiten Sohne aber, Dietrich, das Osterland und Landsberg. Albrecht war ein streitbarer und auch streitlustiger, tapferer Herr, doch ohne geregelte Neigungen, und sein Leben war eine Kette von Kämpfen, erst gegen den eigenen Bruder, dann gegen den eigenen Vater, dann gegen den eigenen Sohn. Dieß, und eine heftige Neigung zu einem schönen und verlockenden Hoffräulein seiner Gemahlin, Kunegunde von Eisenberg, und alles, was in Folge dieser Neigung geschah, wurde Ursache, daß dem Landgrafen Albert von Thüringen schon sehr frühzeitig von Geschichtschreibern der übel klingende Beiname der Entartete gegeben wurde, der auf sein Andenken einen trüben Schatten wirft, welchen Schatten vielleicht die sorgfältigere Geschichtforschung der neuesten Zeit in etwas zu lichten im Stande sein wird. Die Sage aber wird sich das, was sie selbst von ihm und über ihn berichtet, nicht nehmen lassen.

Als Landgraf von Thüringen hatte Albert seine Hofhaltung im Schlosse Wartburg, und dort vergaß er der [195] ehelichen Liebe und Treue gegen seine Gemahlin Margaretha ganz und gar, und lebte nur für Kunegunde von Eisenberg, die ihn mit ihren üppigen Reizen also umstrickt und bezaubert hielt, wie Frau Venus im Hörseelenberge vor Zeiten den Ritter Danhäuser, und ihn also sehr bethörte, daß er seiner tugendhaften Gemahlin das Leben rauben zu lassen gedachte. Nun war ein armer Knecht auf der Burg, dem oblag, täglich mit 2 Eseln Fleisch und Brod aus der Stadt auf die Burg zu schaffen, dem gebot der Landgraf gegen Verheißung eines großen Stückes Geld, sich des Nachts in die Kammer der Landgräfin zu schleichen und ihr heimlich das Genick zu brechen, nachher sollte die Unthat, wenn der Tag komme, dem Teufel in die Schuhe geschoben werden. Wie nun die Zeit da war, daß der Eseltreiber den Meuchelmord an seiner unschuldigen Gebieterin und Landesherrin ausführen sollte, regte sich sein Gewissen, und er bedachte bei sich, daß er, obschon blutarm, doch ehrlicher Leute Kind sei, und was es auf sich habe, eine solche That zu thun. Tödtete er seine Herrin und bliebe, so würde bald genug der Landgraf auch ihn tödten lassen, damit die That verschwiegen bleibe. Tödtete er sie und entfliehe, so würde man um so mehr in ihm den Thäter vermuthen und ihm das Bekenntniß abpressen, dann war sein Tod abermals gewiß. Tödtete er sie nicht, so hatte er des Gebieters Zorn zu fürchten, und an der Ehre, Vertrauter geworden zu sein, hing sein Leben.

Da nun der Eseltreiber die Ausführung der That an vierzehn Tage hinzögerte, wurde der Markgraf ungeduldig und redete ihn wiederum an mit ernstlicher Frage: Hast Du die Aernte geworben, die ich Dir anbefohlen habe? worauf der Knecht zagend antwortete: Herr, ich will sie [196] baldigst werben. Und noch desselben Abends spät führte ihn die böse Kunne von Eisenberg durch die Frauengemächer in das Gemach, darin die Herrin ganz allein schlief, befahl ihm alles wohl zu richten, und ging dann ihren Weg dahin, wo sie mit Zärtlichkeit erwartet wurde. Der Eselknecht aber fiel am Bette der Herrin auf seine Kniee nieder und weckte sie auf, und sie fragte erwachend: Wer ist da? Da nannte sich der Knecht, und flehte sie an, seines Lebens zu schonen und zu genaden. Sie aber sprach: Was thust Du? Du bist trunken oder unsinnig. Schweigt Herrin und verrathet mich nicht, erwiederte er: rathet vielmehr Euch und mir. Ich habe Befehl, Euch zu ermorden – das kann und will ich aber nimmermehr. Ersinnet Rath, daß wir Beide das Leben retten und behalten! – Gehe hinweg! sprach Margarethe erschrocken, und berufe mir eilend und heimlich den Schenken, Rudolf von Vargila – mit dem will ich mich berathen, was ich beginnen soll. Ehe der Schenke kam, hatte sich Margarethe vom Lager erhoben und ihre Jungfrauen geweckt, die in einem Nebenzimmer schliefen; Rudolph von Vargila, der Haushofmeister, rief seine Hausfrau wach, und in aller Stille versammelten sich diese Getreuen im Zimmer der Herrin, um rasch zu berathen, was in so verhängnißvoller Lage zu thun sei. Schleunige Flucht erschien allen das am meisten anzurathende zu sein, und Margaretha war dazu entschlossen. Sie hieß ihre Jungfrauen alles vorbereiten, indessen sie sich nach dem Schlafzimmer ihrer Söhne begab. Sie hatte deren drei: Heinrich, schon 16 Jahre zählend, Friedrich, nur ein Jahr jünger und Diezmann, zehn Jahre alt. Und sie setzte sich an ihrer Söhne Bette und beweinte ihr Unglück mit heißen Zähren unter großen [197] Schmerzen, aber ihre Diener drängten sie zur Eile, und da sie sah, daß es nicht anders sein konnte, küßte und segnete sie die Söhne und sonderlich küßte sie Friedrich ohne Aufhören und biß ihn aus herzbrechender Mutterliebe heftig in die Wange, daß sie blutete, und wollte auch Diezmann also zeichnen, aber Rudolf der Schenke wehrte es ihr, und fragte: Wollet Ihr die Kinder erwürgen? Sie aber sprach: Ich habe Friedrichen gebissen, daß er, wenn er erwachsen, stets an diesen großen Jammer seiner Mutter und an dieses trauervolle Scheiden gedenke. Nun war nur noch die schwere Frage: wie entkommen? Denn das Burgthor war verschlossen, wohl verwahrt und bewacht, und Margaretha mußte aus dem von ihr bewohnten Bau vor in das Ritterhaus gehen, dort befand sich ein Gang, der zum Theil noch heute vorhanden ist und der Margarethengang heißt, der hing hart über der Burgmauer und hoch über dem waldigen und felsigen Abhange nach Westen, dort wurde sie an Seilen und Bändern, welche die Frauen aus Bettlacken geschnitten und fest aneinander geknüpft hatten, hinunter gelassen, mit ihr eine ihrer Jungfrauen und eine Kammermagd und zuletzt auch der Eseltreiber, der als Wegezeiger dienen mußte, und so kamen sie in aller Stille auf den schmalen Pfad, der an der hintern Seite der Burg um diese zieht, und stiegen steil hinab in den Burghain, kamen in die Thaltelle der Silbergräben und gewannen von da aus die waldige Straße, die über Marksuhl und Vacha gen Frankfurt führt. Und gingen noch dieselbe Nacht mit Jammer und Leid bis zur Burg Krainberg, welche damals dem Stifte Hersfeld zugehörte; dort nahm sie der Amtmann willig auf, die Tochter eines Kaisers, und ließ sie andern Tages weiter gen Fulda geleiten. [198] Auch dort wurde sie vom Abte gar ehrerbietig empfangen und dieser ließ sie bis nach Frankfurt geleiten, wo sie wieder die beste Aufnahme fand, und in einem Jungfrauenkloster ein schirmendes Asyl. Aber was sie erfahren und erduldet, und was ihre Seele gelitten, das nagte ihr am Herzen und sie überlebte nicht lange den Tag ihrer Flucht und wurde zu Frankfurt begraben.