Ueber die Legende

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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Ueber die Legende
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aus: Zerstreute Blätter (Sechste Sammlung) S. 247–274
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Erscheinungsdatum: 1797
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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[247]
VI.
Ueber die Legende.
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[249] Der Name Legende hat seit der Reformation seine Würde so sehr verlohren, daß man ihn in einem frostigen Wortspiel (Lügende) der Lüge für gleichlautend hält, und nur ein einfältiges, von Kindern und Weibern geglaubtes Mährchen mit ihm bezeichnet. Einst war dies nicht also. Legende hieß das Buch, das die Summe dessen umfaßte, was nicht nur durchs ganze Jahr hin dem Volk öffentlich vorgelesen, sondern auch zu seiner häuslichen Erbauung fast einzig in die Hand gegeben ward.[1] Und da [250] dies insonderheit Leben der Heiligen waren, auch allem, was man damals schrieb, der Ton der Andacht und des Wunderbaren anhing, so ist der Name Legende vorzüglich der wunderbar-frommen Erzählung, d. i. Lebensbeschreibungen und Geschichten, die durch das, was Andacht vermöge, zur Nachfolge reizen sollten, geblieben. Nebst den Ritterbüchern, fassen sie also, nach dem Geist damaliger Zeit, die Blüthe und Blume menschlicher Ausbildung in sich; die Ritterbücher für den Mann von Geburt, die Legenden für den andächtigen tugendhaften Menschen, welches Standes er auch seyn mochte.

Aber der Geist der Zeit schwebt vorüber. Die Ritterbücher sanken, und die Legenden sanken ihnen nach. Was einst Legende, d. i. nothwendig [251] zu lesen hieß, ward in andern Zeiten kaum lesbar gefunden; es ward verspottet und verachtet.

Dreierlei warf man den Legenden vor, und keins mit Unrecht. Sie fehlen, sagte man, gegen die historische Wahrheit, gegen echte Moral, den Zweck der Menschheit, endlich gegen die Regeln einer guten Einkleitung und Schreibart.


I.
Wahrheit der Legenden.
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Daß sie gegen die historische Wahrheit oft und viel anstoßen, ja daß sie überhaupt als Dokumente der Geschichte mit großer Vorsicht zu gebrauchen seyn, werden sie selbst nicht abläugnen wollen: denn die wenigsten sind dazu geschrieben. Als Erbauungsschriften, als Tugend- [252] und Andachtbilder sind sie da, zu Erweckung ähnlicher Tugend, ähnlicher Andacht. Was hierzu den meisten Eindruck machen konnte und wie es ihn machen konnte; das ward geschrieben. Vielen Legenden bricht man, wenn ich so sagen darf, den Rücken, wenn man sie zu historischen Dokumenten ängstlich gestaltet.


Denn woher waren diese Legenden genommen? Aus dem Munde der Erzählenden, meistens andächtiger Jünger und Jüngerinnen; oder aus einzelnen Aufsätzen, selten des Verstorbenen selbst, meistens seiner Freunde. Alle diese sprachen und schrieben nach Einer Regel, zu Einem Zweck ihres nächsten Kreises, und des Geistes ihrer Zeit. Zur Erbauung sprachen und schrieben sie; nicht als vor Gericht gestellte Zeugen. Ueberhaupt ist über die Glaubwürdigkeit der Geschichte, und dessen, was man in verschiednen Zeiten, unter verschiednen Völkern Glaubwürdig nannte, beinahe noch nichts Haltbares geschrieben; [253] und die Legende der mittleren Zeiten, so unentbehrlich sie der Geschichte ist, hat außer einigen Französischen Kritikern, wenig Bearbeiter gefunden. Wie billig, bewarben sich die Protestanten nach der Reformation wenig anders, als Streitweise um sie; die Erzkatholischen Länder blieben im Glauben an die Legende, als an eine geschriebene Tradition; und die wenigen Untersucher wußten und kannten ihre Schranken. Eine vollständige Kritik der Chroniken und Legenden mittlerer Zeit, unpartheilich und ehrsam, geschrieben für jeden und für keinen Cultus, auf den Knieen der Wahrheit geschrieben und von ihr selbst dictirt, gehört noch unter die guten Wünsche.

Und doch wäre sie, was das Wunderbare anlangt, so schwer zu schreiben eben nicht; das Wunderbare der mittleren Zeit hat seine sehr enge Topik. Aus der biblischen Geschichte und aus National-Traditionen, aus Einbildungen der [254] Völker entsprossen, unter denen und für die es gedacht ward, führet es seine Quelle wie seine Bedeutung gleichsam mit sich. Da es auf das Volk wirken sollte, so kann es leicht verstanden werden; und da der Klerus weder zur Kunst, noch überhaupt sehr Kunstreich diese wunderbaren Erzählungen formte, so ist auch ihre Form nichts weniger als incommensurabel. Wer die Bibel gelesen und die Volksdenkart der Zeit und Gegend, für die erzählt wurde, sich bekannt gemacht hat, versteht die Bedeutung des Wunderbaren so einfach, als Der sie verstand, von dem die Legende redet.


Diesem Frommen z. B. liessen sich Stimmen vom Himmel hören. Wer hörte diese Stimmen nicht in seinem Herzen? wenn sie gleich das Ohr nicht vernahm; sobald ihr Inhalt nur himmlisch, d. i. aufmunternd und erquickend ist. Einem andern sangen unsichtbare Chöre; diesem erschien sein Schutzgeist und sprach mit ihm, warnend, [255] belehrend, tröstend. Jenem Rechtschaffenen glänzte sein Antlitz vor Gericht, im Gebet, gegen Verläumder und Bösewichter, bei einer frohen Wohlthat, bei einer großmüthig-stillen Verzeihung, im Tode, nach dem Tode. Wem sind nicht ähnliche Eindrücke aus dem Leben, aus der Erzählung eng-umfangener Menschen bekannt? Dem Einsamen z. B. schweben Töne, bleibende Töne im Ohr; sie kommen in Stunden der Niedergeschlagenheit, den Geist erhebend, als Freunde wieder. Siehe da die himmlischen Stimmen und Chöre. Aus Beispielen ist bekannt, daß eine starke Einbildungskraft das Bild seiner selbst gleichsam aus sich heraus zu werfen, und sich sichtbar zu machen vermöge; daher die Erzählungen von Menschen, die sich selbst zu sehen glaubten, daher die Gespräche mit sich selbst, als mit einem guten oder bösen Genius, und bei zarten Gemüthern am liebsten das Gespräch mit einem edlern Ich, einem leitenden, liebenden Schutzgeist. [256] Auf der Stirn fröhlicher guter Kinder, auf dem Antlitz der unbefangenen, heitern Unschuld, der reinen Liebe, der verzeihenden Großmuth – wer sah und liebte nicht jene ruhige Stille, in der uns ein Engel gegenwärtig zu werden scheinet? – Endlich in den Schmerzen der Krankheit, der Leiden, der Verfolgung, im Tode, nach dem Tode; hier gönnet der frommen Legende ganz ihren Lauf: hier ist das Herz sich selbst eine reiche Legende. Wenn eine Tochter am Sterbebett ihrer Mutter das Antlitz siehet, das sie bald nicht mehr sehen wird, und ihre letzten Worte höret; wenn der Blick des Redlichen, des zu Tode Gequälten sich noch Einmal dankbar froh gen Himmel, segnend-froh zu denen wendet, denen er hienieden nichts als Gutes gethan hat; und wenn Augenblicke nachher, von der ernsten Hand des Todes berührt, sein Gesicht die wahre Gestalt seiner Seele im vestesten Bilde zeiget, da lasset doch ja dem stillen Gemüth einer traurenden Kindesliebe seine Kraft, die Züge des [257] Sterbenden, des Gestorbenen zu einem Engel zu erhöhen, und ihn in solcher Gestalt seinem Innersten einzuprägen. Lasset der Sage ihren Gang, daß ihn Stimmen gerufen, getröstet, bewillkommt haben; daß ein ambrosischer Duft, ein himmlischer Glanz den zum Himmel Eilenden umschwebte. – Hier läßt sich die Phantasie der Empfindung weder etwas vorschreiben noch ausreden.


Ein Gleiches ists mit dem Wunderbaren, das die Legende jetzt und hie und da auf die ganze Natur verbreitet. Jedermann weiß, daß ihre Zeiten für die wahre und rechte Naturwissenschaft nicht die blühendsten waren; die Gesetze der Astronomie, die Verhältnisse der Körper gegen einander waren noch nicht in das Licht gesetzt, in welchem sie dem aufgeklärten Theil unsrer Europäischen Nationen jetzt erscheinen. Was Wunder also, daß man in der Dämmerung damaliger Zeiten alle Erscheinungen der Natur zu sich so sprechen ließ, wie das Gemüth, wie der [258] Zustand des Herzens es verlangte? Dem Einsamen, dem Geängsteten, dem Peinlichen, wiederum dem Begeisterten, dem Entzückten spricht Alles. Der Zweifelnde sucht allenthalben Belehrung; der Verlassene merket auf jeden ihm entgegenkommenden Wink. Lasset also jenem Verirrten einen Stern erscheinen, der ihn leite; diesem Durstenden entspringe eine Quelle, jenem matten Wandrer entsprieße ein Palmbaum in der Wüste. Hier falle auf des Frommen Gebet ein längst erwünschter Regen und erquicke die lechzende Au; dort komme ein Hagelwetter, ein Donner zu rechter Zeit, und schalle in Ohr und Seele. Jetzt laute die Glocke von selbst und wecke auf; hier erscheine ein Thier und schrecke und warne. Oder ein Vogel bringe himmlische Botschaft; ein Adler, ein Storch, eine Schwalbe, eine Taube gebe der wartenden Menge Muth, der zweifelnden Menge Bestimmung. Im ganzen Alterthum sind Augurien und Präsagien eine geglaubte Sprache der Gottheit gewesen; [259] jedes Volk hatte sie in seiner Weise und pflanzte sie in Sagen fort. Die Dichter nutzten sie; und auch der Geschichte konnten sie nicht fremde bleiben. Wer begehrte nun, daß sie einer zur Erbauung geschriebenen Legende fremd bleiben sollten? Andacht d. i. ein Aufmerken aufs Göttliche ringsumher schrieb ja diese Legenden: Andacht sollte sie lesen; Andacht sollten sie einflößen und wirken.


Ueberdem wird dies Wunderbare in den mittleren Zeiten so leicht, ich möchte sagen, so natürlich eingeführet, daß man es eben so leicht in die gewöhnliche Sprache übersetzen kann, eben weil es damals gewöhnliche Sprache und Vorstellungsart war. Manches ist sogar in Sprüchwörter übergegangen, deren Sinn ohne wunderbare Deutung jeder Einfältige anzuwenden weiß. Wenn z. B. vor diesen fleißigen und rüstigen Männern, die eine wüste Gegend anbaueten, Wölfe und Schlangen flohen; sie scheuchten [260] Drachen aus ihren Höhlen hinweg; von ihrem Segen ward die verschlemmte Quelle gesund, der Pfuhl trocken, die Wildniß zu einem Garten und Fruchtlande; die Luft heiterte sich; das Klima ward milde – wem müßte diese Sprache noch erklärt werden? Sie sagt nichts als was wirklich geschah durch den Fleiß emsiger Hände. – Wenn nun solchen neuen gefürchteten Ankömmlingen entgegen aus Seen und Wäldern die Dämonen schrieen, die Geister heulten und schreckten, die Teufel wimmerten und klagten; wer, wenn er einen Begriff von den grausen Gegenden, von den wilden Einwohnern dieser Gegenden hat, verstünde nicht diese Sprache? Den Bären besänftigten sie, indem sie ihm Brot reichten, (ein seltnes Nahrungsmittel mancher Gegend) und befahlen ihm Holz zu tragen; wem müßte erklärt werden, wer diese Bären gewesen? Möchte der Scepter unsrer Staatskunst, das Geschütz unsrer Helden zur Urbarmachung der Welt, zur Brotaustheilung und zu Erweckung des Fleißes der [261] Bären allenthalben so wirksam und glücklich seyn, als es damals das heilige Kreuz und das segnende Wort waren.


Sehr unverständig hat man daher über manche Legende dieser Art gespottet, so daß der heilige Esel, den man verlachte, dem Spottenden selbst den Hohn zurückgeben möchte.


Auch der Legende liegt also Wahrheit zum Grunde; nur ist sie Legendenmäßig eingekleidet und erzählet. Auch ihr Inhalt ist nicht immer so unwichtig, als man glaubet: denn sind wir diesem Inhalt nicht einen großen Theil der Aufklärung und Verschönerung Europa’s durch Kenntnisse und Fleiß schuldig? Die Thaten, wovon sie erzählen, stumpften das Schwerdt ab und bezähmten wilde Barbaren. Die meisten Institute unserer Wissenschaften und Künste nähren sich von den Brotsamen dessen, was einst die Männer der Legende mühsam erwarben, andächtig stifteten, [262] heilig bewahrten und der Nachkommenschaft fromm vermachten. Ohne die frommen Männer und Weiber der Legende bettelten jetzt vielleicht alle Musen in Europa; oder vielmehr an Musen in Europa wäre ohne sie gar nicht zu gedenken. –


Die Geschichte der mittleren Zeit kann des Studiums der Legenden so wenig als der Chroniken entbehren: denn beide fließen überhaupt in einander. Jene gehen allen Diplomen voran und lange ihnen zur Seite. Die mythologische Sprache und Einkleidung der Legenden muß also eben so wohl studirt werden, als die Sprache und Zeichen der Diplome. Sie sind in den mittleren Zeiten das, was in der griechischen und römischen Urzeit die alten Heldensagen waren, aus denen einst alle Dichtkunst und Geschichte hervorging. Die geheime, innere Denkart der christlich gewordnen Völker, ihren Wahn, Aberglauben, Schwachheiten, kurz den dunkeln [263] Grund ihrer Seele lernt man aus mancher Legende mehr kennen, als in diesen Zeiten aus ihrer sämmtlichen Staatsgeschichte. Nur es gehört ein Ausleger dazu, der auch das Wunderbare zum schlichten Menschensinn hinabführe.


II.
Zweck der Legende.
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„Schade, wird man sagen, daß die meisten derselben eine so verkehrte Tendenz haben! Wohin zielen alle diese Wunder? um welche Achse drehen sich alle Bemühungen der Legende? Den Müßiggang zu ehren, Einsiedelei, Aberglauben, überspannete Andacht, falsche Tugenden, eine fromme Dummheit, eine den Geist ermordende Frömmigkeit, Heuchelei und Abgötterei zu empfehlen; das ist ihre echtchristliche Absicht. Wem dienen diese Engel? Diese Raben, [264] wem bringen sie Speise? Einem Einsiedler. Ihm entspringt die Quelle, ihm trägt der entblätterte Baum Früchte. – Was thut er in seiner Einsamkeit? Psalmen singen, schweigen, seine Seele zur höchsten Unthätigkeit gewöhnen, sich unnütz peinigen und foltern. Erwecken sie nicht Mitleiden und innern Abscheu, jene Büßungen, mit denen betrogene Unglückliche sich selbst martern? jene unnatürlichen Kämpfe, die ihre Seele verwirren, ihre edelsten Kräfte lähmen, und mit denen sie sich mehr als Ein Fegfeuer, mehr als eine Hölle selbst schaffen und geben! Hat sich nicht oft euer Busen verengt und euer Haar emporgesträubet, wenn ihr diese unsinnigen Büßungen, diese sinnlosen Entäußerungen der Gedanken, Sinne und Triebe im Leben eines Menschen Jahrehin verfolgtet? Und wenn ihr die mütterlich-rufende, warnende, wiederkehrende Natur hart und schnöde zurückgewiesen saht, flossen euch nicht Thränen? – Vor Göttern und Menschen giebt es keinen Thränen-wertheren [265] Anblick, als eine unschuldig-zerrüttete Seele, ein durch andächtige Grausamkeiten niedergebeugter, zerquetschter, zerschlagener Geist, ein Herz, das für und wider nichts sich selbst verwundet. Und diesem bösen Ideal einer verführenden Sittenlehre, die zu leerer Andacht, zu einem niedrigen Aberglauben, zu einer nutzlosen Anstrengung, endlich zu jener völligen Aushöhlung der Seele leitet, die mit äußersten Schmerzen ihren Kern aus sich gebohrt hat und wie eine hohle Nuß sich dem Herren weihet – diesem bösen Ideal wolltet ihr eine Zeile des Lobes widmen? Kreuz, Messe, Pönitenz, Sacramente, Tempel, Altäre, heilige Gebräuche und Kleider, Cellen, Särge, Gräber sollten die Sphäre seyn, um welche sich alle Sphären und Elemente der Menschheit bewegen?“


Wäre dem Allen so: so könnte man nicht anders antworten, als: „spottet nicht, sondern bessert!“ – Der Arzt läßt sich die Gebrechen [266] seines Kranken erzählen, nicht damit er sie witzig zur Schau trage, sondern damit er ihm Leichterung schaffe und ihm helfe. Wäre alles, wovon gesprochen ist, ein schwerer dunkler Traum langer Jahrhunderte, ein ungeheurer Wahnsinn der Zeiten gewesen; zeiget ihn als solchen. Hebt die Erzählungen verführter, mißleiteter Seelen sorgsam aus, und bemerkt, wie sie mißleitet wurden, wie sie sich selbst verführten. Zeigt dies mit aller zarten Theilnahme, mit jedem Hülfreichen Erbarmen, herabsteigend in die Tiefen der menschlichen Natur, in ihre betrüglichen Tiefen. Wie lehrreich werdet ihr schreiben! Eine kleine Legende wird mehr Psychologie, mehr Warnung, Rath und Trost enthalten, als vielleicht ein ganzes System kalter pharisäischer Sittenlehre. Sie wird wieder werden, was ihr Name sagt, ein durchaus zu Lesendes, ein Legende.


Nur gehört vor allem hiezu Theilnahme, Versetzung ins Zeitalter und Leben derer, [267] von denen man redet. Nach unsrer lichten Zeit können wir nicht alles beurtheilen; nicht jede andre Zeit warf alles Heilige als einen Unrath von sich. Das Kreutz hat einst den Völkern Ruhe gebracht; es stillete Aufruhr, Fehden, Zwietracht und gebot den Gottesfrieden. Tempel waren Zufluchtsorte der Unbewehrten gegen Raub und Unterdrückung; der Altar war eine Stäte des öffentlichen Bekenntnisses, des Gebets, der Gemeinschaft Gottes mit den Menschen. Das Grab war ihnen eine Ruhekammer, wo himmlische Geister das erstorbene Samenkorn zur Aufblühthe eines künftigen ewigen Frühlinges bewahrten. Ueber heilige Gebräuche und Worte endlich läßt sich auch nicht anders, als aus dem Geiste der Zeit reden, für welche sie gehören.


Und waren nach eben diesem Geist der Zeit körperliche Uebungen zur Enthaltsamkeit, Strenge, zu festgehaltenem Andenken, zum Vermögen [268] über Sinne und Neigungen verwerflich? Waren rohe sinnliche Naturen anders zu besänftigen, zu fesseln, zu zähmen, als durch ein gegenseitiges Extrem, durch eine andre, geistige Welt noch stärkerer Leidenschaften und Begierden? Woher kommts, daß in unserm Zeitalter wir so wenig können, so wenig ernstlich wollen und vermögen, als weil wir von Jugend auf zerstreut und verzärtelt leben, indem uns zu anhaltenden schweren Uebungen Anlaß, Regel, Ordnung, Sitte, tägliche Gewohnheit und strenges Gebot fehlen. Gewiß vermögen wir nicht, was die Männer der Legende vermochten, sonst brächten wir Wirkungen hervor, wie jene, aus deren Pflanzungen wir, über sie spottend, von ihren Früchten zehren.


Und dann! gäbe es in diesen Zeitalter durchaus keine Muster einer Tugend, die wirklich diesen Namen verdienet? Keine Seelengröße, die, über sich selbst gebietend, Gefahren nicht suchte, [269] aber tapfer überwand, und das Leben selbst nicht achtete zu Erlangung des Kampfpreises. Herausfodern und angreifen ist freilich leichter als erwarten, bestehn, ausdauern. Kein Siegsgepränge munterte diese Helden auf, keine irdische Belohnung. In der Verachtung fanden sie Ruhm, in der Verfolgung Gewinn, in der Mühe Lohn, in der Schwachheit Stärke. Oft, sehr oft zeigten sie mehr als Spartaner- und Römersinn; tausende von ihnen ließen sich, ihrer guten Sache wegen, Prunk- und Namenlos gleichsam lebendig verscharren und begraben. Nicht nur Bequemlichkeit, ihr liebster Eigenwille ward abgelegt zum Besten ihres Ganzen.


Sehet in den Gemählden großer Künstler, eines Raphaels und Dominichino, Correggio, Guido und Guercin’s jene Gestalten der Heiligen an, und sagt: ob ihr von dieser Art geistiger Anmuth und Seelengröße, von dieser transscendenten Erhabenheit und Hingebung, [270] von dieser reinen Abgezogenheit und Ehrfurcht-gebietenden Würde, von dieser jungfräulichen Andacht, diesem Mutter- und Kindessinn, ich möchte sagen, von diesem Engelsgefühl, sogar in den Werken der Alten etwas anders, als vielleicht nur hie und da eine in der Sinnlichkeit verhüllete Knospe findet? Hier ist sie hervorgegangen, die geistige Knospe; sie hat sich aufgethan in vielen Gestalten und Formen. – Um also auch nur die Werke der neueren Kunst in ihrem schönsten Zeitlalter zu verstehen, kann und darf uns die Legende nicht fremde bleiben.


Ein ganz eignes Gefühl ist es, dies süße Gefühl der Andacht. Es heftet so unabwendbar an und fesselt so ganz, läßt so vieles unmerklich hinschwinden und scheint uns mit wenigen Gedanken so viel, mit Einem Gedanken Alles zu geben! Dadurch macht es so unveränderlich, so heiter und stark in Sanftmuth. Der Löwe wird Lamm und das Lamm ein Löwe. – Spottet nicht der [271] rauhen und beschwerlichen Wege, auf denen die fromme Einfalt, die sich damals mit wenigen aber starken Gedanken begnügte, in dies Heiligthum unzerstörlicher Gemüthsruhe und Seelenstärke gelangte. Gnug, sie gelangte dahin, und wohl ist ihr. Suche jeder es auf seinem Wege. Jene gehet ihren stillen Gang allein.


III.
Vortrag der Legenden.
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„Wenn aber die guten Legenden nur nicht so erzböse erzählt oder gar besungen wären!“ So erzähle, so singe man sie besser. Ein Ton ist nicht für alle und ihr Ton nicht für alle und ihr Ton nicht für unsre Zeiten. Aber erbärmliche Pedanterei ists, unter dem Vorwande des einzigen classischen Styls die Schreibart der Römer, die unter Cäsar und August allerdings die beste war, in diesen Zeiten, [272] zumal in Büchern der Andacht und Klostercellen, zu suchen. Der Kirchenstyl der mittleren Jahrhunderte ist eine so eigne Sprache, als die romanische, die neben ihr galt, nur seyn kann. Die Welt ihrer Gegenstände ist eine andre als die Welt der Römer; so auch der Geist und Sinn, mit dem man diese Gegenstände behandelte und ansah. Auch die lateinische Sprache der mittleren Zeiten hat ihre Perioden und in diesen ihre sehr verschiednen Schriftsteller, gute, mittelmäßige, schlechte. Vollends der Geist ihrer Dichtkunst war vom römischen ganz verschieden; und doch hats Liebhaber des Studium dieser Zeiten gegeben, die auch ihnen ihre Grazie und Schönheit zustanden. Eine gewisse Innigkeit und Schmucklose Einfalt, eine populare Herzlichkeit und Rührung wird niemand, der die besten Producte dieser Jahrhunderte kennet, ihnen nicht absprechen können. Dem sei aber wie man wolle; damals schrieb man die Legenden für seine Zeit, uns erzähle man, wenn man will, die Denkwürdigsten für unsre Zeiten.

[273] Wozu dies Alles? Etwa das Studium der Legende unbedingt anzuempfehlen, sie unbedingt zu rühmen? wahrlich nicht. Blos der Gesichtskreis sollte bezeichnet werden, in welchen die Legende gehört, mithin auch der Gesichtspunkt, aus welchem man sie anzusehen habe.


Bei den Griechen gabs viele Legenden. In ältern Zeiten hießen sie Sagen; nachher wurden sie aufgeschrieben, in Gesänge gebracht und eine Mythologie daraus geformet. Jeder berühmte Tempel, jedes Götzenbild, jede Stadt, jeder Heldenstamm hatte seine Legende. Oder sind in den Homerischen Hymnen die Erzählungen von der Latona und dem Apoll, von Hermes, der Aphrodite, der Demeter etwas anders?


Sogar die Schäferwelt der Griechen hatte ihre Legenden. Vom guten Daphnis, vom schönen Adonis erzählte man sich die alten Sagen [274] und wiederholte und feierte sie in Liedern und Gebräuchen. Womit konnten sich Schäfer leichter und angenehmer unterhalten, als mit alten Traditionen, mit Wunder- und Zaubermährchen?


Wäre die Legende der mittleren Zeiten so genutzt, als es die Griechische war; wäre jeder Wohlthäter des Menschengeschlechts auch aus diesen dunkeln Jahrhunderten in dem Tone gepriesen, der für ihn gehörte; hätte jede Stadt, jede Kirche, jede gute Stiftung ihrem Heiligen diese Muse erweckt, wie manches Gute wäre dadurch befördert worden! Bei einigen ists geschehen; es giebt einfachgroße und rührende Hymnen, die aber – unsre Zeit nicht kennet oder nicht lieset. Vielleicht wird man auch nachstehende Erzählungen, die ich dem lehrenden Idyll näher zu bringen suchte, nicht lesen mögen. Und so seyn sie denn, wie die, von denen sie erzählen, begraben! Vielleicht gehen sie in einer andern Zeit fruchtreich hervor. Quiescant in pace.


  1. Legenda, legendarius liber acta Sanctorum per anni totius circulum digesta continens, sic dictus, quia cerris diebus legenda in ecclesia et [272] in sacris synaxibus designabantur a moderatore Chori; vnde a Graecis συναξαρια appellantur. Du Fresne Gloss.