Ueber die Tugenden/Tapferkeit

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UEBER EINIGE TUGENDEN, DIE MIT ANDEREN MOSES

GESCHILDERT HAT, NAEMLICH UEBER TAPFERKEIT,
FROEMMIGKEIT, MENSCHENLIEBE UND REUE

Ueber die Tapferkeit.

1 [II p. 375 M.] (1.) Nachdem ich früher über die Gerechtigkeit und über alles Wesentliche, was darauf Bezug hat, gesprochen habe, wende ich mich nun zunächst zur Tapferkeit. Unter Tapferkeit verstehe ich aber nicht, was die meisten dafür halten, die streitsüchtige Kampfwut, die sich vom Zorne leiten lässt, sondern das Wissen[1]. 2 Denn gar manche haben, von Wagemut getrieben, zu dem Körperstärke sich gesellte, wenn sie im Kriege mit voller Waffenrüstung in Reih' und Glied standen, zahllose von der kriegsfähigen Mannschaft der Feinde niedergeschlagen und damit unverdienterweise grossen Ruf der Tapferkeit sich erworben; sie wurden von denen, die in solchen Dingen zu urteilen pflegen, für besonders ruhmreiche Sieger [376 M.] gehalten, während sie (in Wahrheit) von Natur und durch Uebung nur eine Art wilder Tiere sind, die nach Menschenblut dürsten. 3 Andere dagegen, die sogar zu Hause bleiben müssen, weil ihr Körper durch langwierige Krankheiten oder durch das beschwerliche Alter geschwächt ist, die aber in ihrem besseren Teile, der Seele[2], noch gesund und kräftig und von mutiger Gesinnung und tapferer Entschlossenheit erfüllt sind, haben oft, ohne jemals eine Waffe zur Abwehr anzurühren, durch gemeinnützige Erteilung guter Ratschläge die gesunkene Lage sowohl jedes einzelnen als des ganzen Vaterlandes wieder aufgerichtet, weil sie in ihren auf das Gemeinwohl gerichteten Erwägungen fest und unbeugsam waren. 4 Diese üben die wahre Tapferkeit, da ihr Handeln sich auf Weisheit gründet, jene dagegen die fälschlich so genannte — denn sie leben in unheilbarer Krankheit, in Unwissenheit — ,[321] die man eigentlich (richtiger) „Keckheit“ nennen könnte; es verhält sich damit wie mit der gefälschten Münze, die man auch als einem wahren Bilde ähnlich bezeichnet.

5 (2.) Es gibt aber noch viele andere Dinge im menschlichen Leben, die nach übereinstimmender Ansicht schwer zu ertragen sind: Armut, geringes Ansehen, Blindheit und mannigfache Arten von Krankheiten. Diesen gegenüber werden die Schwachsinnigen mutlos und können sich vor Verzagtheit gar nicht aufraffen; die aber, die von Einsicht und wackerer Gesinnung erfüllt sind, kämpfen gegen sie an und widersetzen sich ihnen tapfer und kräftig, lachen und spotten ihrer Drohungen und Schrecknisse: der Armut stellen sie den Reichtum entgegen, nicht den blinden, sondern den scharfblickenden[3], dessen Schmucksachen und Kostbarkeiten die Seele bei sich bewahrt. 6 Die Armut nämlich hat schon viele niedergeworfen, die nach Art erschöpfter Ringkämpfer durch ihr unmännliches Wesen verweichlicht hinsanken. Arm ist aber nach dem Richterspruch der Wahrheit eigentlich keiner, da jedem der unzerstörbare Reichtum der Natur zur Verfügung steht: die Luft, die erste, unentbehrlichste und beständige Nahrung, die ununterbrochen Tag und Nacht eingeatmet wird, sodann Quellen in reicher Menge und immer fliessendes Wasser von Bergströmen und Quellflüssen zum Trinken, endlich zur Speise die Mengen verschiedener Erdfrüchte und alle Arten von Bäumen, die alljährlich immer ihre Ernte liefern. An diesen Dingen leidet niemand Mangel, alle vielmehr haben überall grossen Ueberfluss daran[4]. 7 Wenn aber manche diesen Reichtum der Natur für nichts achten und dem Reichtum ihrer eitlen Wahnvorstellungen nachjagen, so stützen sie sich auf einen Blinden statt auf einen Sehenden, benützen als Wegführer einen Geblendeten und müssen daher mit Notwendigkeit fallen. 8 (3). Es ist der den Körper schützende Reichtum, eine Erfindung und ein Geschenk der Natur, über den wir eben gesprochen haben. Wir müssen aber auch von dem edleren sprechen, der[322] nicht allen, sondern nur den wahrhaft ehrwürdigen und gottbegnadeten Männern zuteil wird. Diesen Reichtum beschert die Weisheit durch die Grundsätze und Lehren der [377 M.] Logik, Ethik und Physik, aus denen die Tugenden hervorgehen, die der Seele den Hang zu grossem Aufwand nehmen und die Liebe zur Einfachheit und Genügsamkeit in ihr erzeugen, wodurch sie Gott ähnlich wird[5]. 9 Denn Gott ist bedürfnislos, er braucht nichts, sondern ist sich selbst durchaus genug. Der Unverständige[6] hat viele Bedürfnisse, er dürstet immer nach den Dingen, die nicht da sind, aus unstillbarer und unersättlicher Begierde, die er wie ein Feuer immer wieder anfacht und entzündet und auf alle Dinge, kleine wie grosse, hinlenkt. Der Weise[7] dagegen braucht wenig, er steht auf der Grenze zwischen unsterblicher und sterblicher Natur, er hat zwar Bedürfnisse wegen seines sterblichen Leibes, braucht aber nicht viel wegen der Seele, die nach Unsterblichkeit strebt. 10 So stellen sie der Armut den Reichtum entgegen. Ebenso dem geringen Ansehen den Ruhm; denn das Lob, das ja zum Ausgangspunkt die Tüchtigkeit hat und daraus wie aus einer nie versiegenden Quelle fliesst, wohnt nicht bei der Menge unerprobter Menschen, die das ungleichmässige Wesen ihrer Seele zu enthüllen pflegen durch ihre unzuverlässigen Stimmen, die sie bisweilen, ohne zu erröten, um schnöden Gewinn verkaufen gegen die auserwählten Besten. Die Zahl dieser ist aber gering; denn die Tugend ist nicht sehr weit verbreitet im sterblichen Geschlecht. 11 Der Blindheit der Sinne ferner, an der viele noch bei Lebzeiten gleichsam vorher gestorben sind, weil sie kein dagegen schützendes Heilmittel finden konnten, steht die Einsicht gegenüber, das Beste von allem in uns, die den Geist erleuchtet, die an Sehschärfe die leiblichen Augen in allem und jedem weit übertrifft. 12 Denn diese nehmen nur die Oberfläche der sichtbaren Dinge wahr[323] und bedürfen zugleich des Lichtes von aussen[8], die Einsicht dagegen dringt auch in die Tiefe der Körper ein, erforscht sie durch und durch in allen ihren Teilen und beobachtet auch das Wesen der unkörperlichen Dinge, das die sinnliche Wahrnehmung nicht zu sehen vermag; sie besitzt nahezu die ganze Sehschärfe des Auges, ohne des unechten Lichtes zu bedürfen, denn sie ist selbst ein Stern und beinahe ein Abbild und eine Nachahmung der Himmelskörper. 13 Krankheiten des Körpers endlich schaden wenig, wenn die Seele gesund ist. Die Gesundheit der Seele aber besteht in der guten Mischung der Kräfte, die im Gemüt, im Begehrungsvermögen und im Denkvermögen enthalten sind, wofern nämlich die Denkkraft die Herrschaft führt und die beiden anderen wie widerspenstige Rosse am Zügel hält. 14 Der dieser Gesundheit eigentümliche Name ist [378 M.] Besonnenheit, weil sie Heil schafft dem denkenden Teil in uns[9]; denn sie lässt den Verstand, der oft in Gefahr ist vom Sturm der Leidenschaften hingerissen zu werden, nicht ganz versinken, sondern zieht ihn hinauf und hebt ihn hoch empor, beseelt und belebt ihn und macht ihn gewissermassen unsterblich. 15 Ueber alles Gesagte aber sind in der (Mosaischen) Gesetzgebung an vielen Stellen Anweisungen und Lehren verkündigt, die die Gehorsamen in milden und die Ungehorsamen in strengeren Worten zu überreden suchen, die körperlichen und die äusseren Güter[10] zu verachten, ein Ziel als erstrebenswert anzusehen, das tugendhafte Leben, und mit Eifer alles zu verfolgen, was darauf hinführt. 16 Und wenn ich nicht schon in den früheren Büchern[11] alles besprochen hätte, was zur Bescheidenheit gehört, so würde ich im gegenwärtigen Augenblick versuchen, in längerer Ausführung die zerstreut an[324] verschiedenen Stellen gegebenen Vorschriften zusammenzustellen und zu erörtern. Da ich aber alles bereits gesagt habe, was am Platze war, so mag ich hier nicht dasselbe wieder sagen. 17 Wer es jedoch nicht verschmäht, sondern sich ernsthaft Mühe gibt meine früheren Schriften zu lesen, der muss merken, dass alles, was darin über Bescheidenheit gesagt ist, so ziemlich auch von der Tapferkeit gilt; denn die Aufgabe einer starken, edlen und kraftvollen Seele ist es, alles zu verachten, was der Hochmut zu verehren pflegt zum Schaden für das wahrhafte Leben.

18 (4.) Das Gesetz zeigt aber ein so eifriges Bestreben, die Seele zur Tapferkeit heranzubilden und auszurüsten, dass es selbst über die Beschaffenheit der Gewänder, die man anlegen soll, eine Verordnung erlassen hat: es verbietet nämlich nachdrücklich dem Manne, ein weibliches Gewand anzuziehen (5 Mos. 22,5), damit auch nicht eine Spur oder ein Schatten des Weibischen ihm anhafte zum Schaden des männlichen Geschlechts. Das Gesetz schliesst sich nämlich stets der Natur an und will bestimmen, was zueinander passt und miteinander im Einklang steht, bis zum äussersten und bis zu den Dingen, die wegen ihrer Geringfügigkeit anscheinend keine Beachtung verdienen. 19 Denn da der Gesetzgeber sah, dass die Körpergestalten des Mannes und des Weibes, wie auf einer Tafel gezeichnete Figuren, ungleich seien und dass den beiden Geschlechtern nicht dasselbe Leben zugewiesen sei — dem einen nämlich ist das Leben im Hause, dem andern das Leben in der staatlichen Gemeinschaft zugeteilt —, so hielt er es für nützlich, auch in anderen Dingen, die nicht von der Natur geschaffen sind, sondern im Anschluss an die Natur von kluger Einsicht ersonnen werden, bestimmte Anordnungen zu treffen: es sind das die Bestimmungen über Lebensführung, über Kleidung und ähnliche Dinge. 20 Er wollte, dass der wahre Mann auch in diesen männlich auftrete und ganz besonders in der Kleidung: in dieser, die er immer Tag und Nacht trägt, darf er nicht das geringste Zeichen unmännlichen Wesens zeigen. 21 In derselben Weise wollte er auch die Frau an den passenden Schmuck gewöhnen und verbot ihr daher [379 M.][325] männliche Kleidung anzulegen[12], weil er ebenso wie die weibischen Männer die Mannweiber fernhalten wollte; denn wenn man, wie bei einem Bauwerk, ein Stück wegnimmt, so bleiben auch, wie er wusste, die übrigen nicht in dem gleichen Zustande.

22 (5.) Da die menschliche Tätigkeit sich auf zwei Zeiten erstreckt, auf Friedens- und auf Kriegszeit, so kann man die Tugenden in beiden sich bewähren sehen. Ueber die anderen Tugenden ist nun früher gesprochen und wird auch wieder, wenn ein Bedürfnis dazu vorhanden sein sollte, gesprochen werden; jetzt aber müssen wir die Tapferkeit behandeln, und zwar nicht so beiläufig. Ihre Werke im Frieden hat Moses, immer unter Benutzung der passenden Gelegenheit, an vielen Stellen seiner Gesetzgebung rühmend hervorgehoben, und wir haben an den geeigneten Orten daran erinnert; hier aber wollen wir mit den Werken der Tapferkeit im Kriege beginnen, nachdem wir folgendes vorausgeschickt. 23 Wenn eine Aushebung von Kriegern veranstaltet wird, meint er, dürfe man nicht die ganze junge Mannschaft dazu aufrufen; er will einige entlassen und fügt vernünftige Gründe zu ihrer Befreiung vom Kriegsdienst hinzu (5 Mos. 20,5 ff.)[13]: zunächst die Aengstlichen und Furchtsamen, die der angeborenen Kleinmütigkeit erliegen und den anderen Mitkämpfern dieselbe Furcht einflössen würden. 24 Denn der Fehler eines andern pflegt wohl auf den Nachbar ansteckend zu wirken, ganz besonders im Kriege, wo die vernünftige Ueberlegung durch das Kampfgewühl gestört ist und die Dinge nicht in ihrer wahren Bedeutung genau zu erfassen vermag; denn da pflegt man die Feigheit Behutsamkeit, die Furcht Vorsicht und das unmännliche Verhalten Sorge um die Sicherheit zu nennen, indem man schimpfliches Handeln mit wohlanständigen und stolzen Namen belegt. 25 Damit nun[326] nicht die eigene Sache Schaden erleide durch die Feigheit der in den Krieg ziehenden Leute und die Sache der Feinde das Uebergewicht erhalte, die auf leichte Weise die Mutlosen bezwingen würden, wies Moses in der Erkenntnis, dass ein träger Haufe von keinem Nutzen, sondern nur ein Hindernis für das Gelingen sei, die Mutlosen und vor Furcht Verzagenden zurück, wie ja auch den körperlich Leidenden kein Feldherr einen Zwang auferlegen wird zu kämpfen, da Krankheit genügend entschuldigt. 26 Eine Art Krankheit ist nämlich auch die Feigheit, ja eine schwerere als die Krankheiten des Körpers, weil sie die Kräfte der Seele schwächt; denn bei jenen dauert der Höhepunkt nur eine kurze Zeit, die Feigheit aber ist ein mitverwachsenes Uebel, das ganz ebenso wie die eng verbundenen Teile (des Körpers) einem anhängt von frühester Jugend bis zum äussersten Greisenalter, wenn Gott es nicht heilt; bei Gott ist ja alles möglich. 27 Aber selbst die Mutigsten ruft er nicht sämtlich (zum Kriegsdienst), mögen sie auch noch so kräftig sein in jeder Hinsicht, an Leib und Seele, und entschlossen in den ersten Reihen zu kämpfen und Gefahren zu bestehen: er lobt sie zwar wegen ihrer Bereitwilligkeit, weil sie eine für die Gemeinschaft besorgte, von Eifer erfüllte, unerschrockene Gesinnung zeigen, er forscht aber, ob sie nicht durch gewisse zwingende Ursachen gebunden sind, die sie mit Gewalt festhalten. 28 Er verordnet nämlich: „wenn jemand jüngst ein Haus gebaut hat und noch [380 M.] nicht eingezogen ist, oder wenn jemand einen neu angelegten Weinberg bepflanzt und selbst die Schösslinge in die Erde gesenkt, aber noch nicht Gelegenheit gehabt hat den Ertrag zu ernten, oder wenn jemand mit einer Jungfrau verlobt ist und sie noch nicht geheiratet hat, so soll er von allem Kriegsdienste frei sein“. Eine menschenfreundliche und zugleich strategische Massregel hat er mit dieser Befreiung ausfindig gemacht, aus zwei Gründen: 29 erstens damit nicht, da doch im Kriege die Verhältnisse unsicher sind, andere mühelos das Besitztum derer erlangen, die sich darum bemüht haben. Denn es schien bedenklich, dass einer nicht imstande sein sollte den Genuss von seinem Eigentum zu haben, dass einer ein Haus bauen und ein anderer es bewohnen sollte, dass einer pflanzen und ein anderer, der nichts damit zu tun hatte, die[327] Früchte ernten sollte, dass einer freien, ein anderer aber die Braut heimführen sollte; es ist doch sicherlich nicht nötig die Erfüllung ihrer Hoffnungen denen unmöglich zu machen, die die Erwartung hegen, dass sich ihre Lebensumstände glücklich gestalten. 30 Zweitens damit sie nicht mit dem Körper ins Feld ziehen, im Geiste aber zurückbleiben; denn es ist natürlich, dass ihr Sinn dorthin gerichtet ist im Verlangen nach dem Genuss des Guten, von dem sie weggerissen wurden. Denn sowie die Hungernden oder Dürstenden, sobald Speise oder Trank irgendwo sichtbar wird, eilends danach jagen und rennen in heftigem Verlangen nach ihrem Genuss, so werden auch die Krieger, die sich um die Gewinnung eines ehelichen Weibes oder eines Hauses oder eines Landgutes bemüht haben und die Hoffnung hegen zu dürfen glauben, dass der Zeitpunkt, da sie den Besitz antreten können, nahe sei, sehr ungehalten sein, wenn sie des Genusses beraubt werden, so dass sie zwar anwesend sind, aber nicht mit der Seele, dem besseren Teil, von dem das Gelingen oder Misslingen abhängt. 31 (6.) Diese und ähnliche Leute also, meint er, dürfe man zur Aushebung für den Heeresdienst nicht zulassen, sondern nur solche, die nicht von einem vorher bei ihnen auftretenden Gefühl beherrscht sind, so dass sie sich in freiem und unabhängigem Drange ohne Ausflüchte den Gefahren unterziehen können. Denn sowie eine volle Rüstung einem schwachen oder schadhaften Körper nichts nützt, weil er sie wegen seines Unvermögens von sich werfen wird, ebenso wird ein starker Körper zugrunde gerichtet durch eine Empfindung der leidenden Seele, die zu der augenblicklichen Lage der Dinge nicht stimmt. 32 Mit Rücksicht darauf unterzieht er nicht nur Hauptleute, Oberbefehlshaber und die anderen Führer des Heeres, sondern auch jeden einzelnen Krieger einer genauen Beurteilung und prüft, wie es mit ihrer körperlichen Beschaffenheit und mit der Ruhe ihres Geistes bestellt ist: den Körper untersucht er, ob er auch fehlerlos, ob er durch und durch gesund, ob er in allen seinen Teilen und Gliedern gut gebaut ist für die einem jeden von ihnen zukommende Haltung und Bewegung, die Seele, ob sie voll Kühnheit und Wagemut, ob sie unerschrocken und von [381 M.] edelmütigem Sinn erfüllt, ob sie ehrliebend ist und einem[328] ruhmlosen Leben den rühmlichen Tod vorziehen würde. 33 Denn eine jede dieser Eigenschaften ist schon für sich allein, wenn ich die Wahrheit sagen soll, eine Macht; wenn sie aber vereint beisammen sind, werden (ihre Besitzer) eine unbezwingliche und unwiderstehliche Kraft infolge grosser Ueberlegenheit zeigen und einen unblutigen Sieg über die Feinde davontragen.

34 (7.) Einen klaren Beweis für das Gesagte bietet die heilige Schrift (4 Mos. 25,1–9. 31,1–12). Ein sehr zahlreiches Volk sind die Araber, die in alter Zeit Midianiter hiessen. Diese waren gegen die Hebräer feindlich gesinnt, aus keinem andern Grunde eigentlich als weil diese den höchsten und ältesten Urgrund (aller Dinge) mit frommer Scheu verehren und dem Schöpfer und Vater des Alls anhängen. Die Midianiter wenden nun alle List an und machen alle möglichen Versuche, um sie zum Abfall von der Verehrung des Einzigen und wirklich Seienden zu bringen und von der Frömmigkeit zur Gottlosigkeit zu verführen, denn so meinten sie sie leicht überwinden zu können. Als sie nun viel geredet und getan hatten und schon ganz müde waren, wie Menschen, die dem Tode nahe sind, weil sie alle Hoffnung auf Rettung aufgegeben haben, ersinnen sie endlich noch folgende schlaue Massregel[14]. 35 Sie berufen die Schönsten unter ihren Weibern und sprechen so zu ihnen: „Ihr seht, wie unermesslich die Menge der Hebräer ist. Ein stärkeres Bollwerk aber als ihre grosse Zahl ist ihre einträchtige Gesinnung, und der oberste und wesentlichste Grund dieser Eintracht ist der Glaube an den einen Gott, woraus wie aus einer Quelle die einigende und unlösbare Liebe entspringt, die sie zu einander hegen. 36 Am leichtesten zu fangen ist nun der Mensch durch die Lust, ganz besonders durch den Umgang mit einer Frau. Ihr seid durch Schönheit ausgezeichnet, die Schönheit ist ein natürliches Lockmittel, und die jungen Männer sind[329] leicht zur Ausschweifung zu verführen. 37 Fürchtet euch nicht vor den Ausdrücken „Unzucht“ und „Ehebruch“, wie wenn sie euch Schande eintragen würden, und stellet ihnen den aus der Tat entstehenden Nutzen entgegen: aus diesem Grunde wird sich eure vorübergehende Schande in unvergänglichen und nie endenden Ruhm verwandeln, weil ihr zwar eure Leiber anscheinend preisgebet — eine gegen Feinde klug ausgesonnene List —, eure Seelen aber jungfräulich rein bewahret, mit denen ihr auch für die Zukunft eure Keuschheit besiegeln werdet. 38 Und einen ganz neuen Ruhm wird dieser Krieg bringen, der durch Frauen und nicht durch Männer glücklich ausgefochten wird; denn unser Geschlecht würde, wir bekennen es offen, eine Niederlage erleiden, weil die Gegner mit allen Mitteln zum Kampf im Uebergewicht sind, euer Geschlecht dagegen wird einen vollständigen Sieg davontragen und, was das grösste Glück ist, Kampfpreise erringen, ohne Gefahren bestehen zu müssen; denn ohne Blutvergiessen, ja ohne jeden Kampf, werdet ihr beim ersten Erscheinen, sobald ihr nur gesehen werdet, Sieger sein“. 39 Als die Frauen, die für ein reines Leben nicht das geringste empfanden und eine rechte Erziehung nicht genossen hatten, dies hörten, stimmten sie zu; hatten [382 M.] sie doch ihren angeblichen Sinn für Keuschheit die übrige Zeit nur geheuchelt. In kostbaren Gewändern, mit Halsketten und allen anderen Dingen geschmückt, mit denen eine Frau sich zu putzen pflegt, und ihre natürliche Schönheit durch besondere Sorgfalt noch anziehender machend — der Kampfpreis war ja kein kleiner, handelte es sich doch um das Einfangen von jungen Männern, die nicht leicht zu fangen waren — gehen sie auf die Strasse hinaus. 40 Und als sie in der Nähe (des israelitischen Lagers) waren, verlocken sie durch buhlerische Blicke, durch Koseworte, durch unzüchtige Gebärden und Bewegungen den leichtsinnigen Teil der Jugend, die schwankenden und noch nicht gefestigten Charaktere. Und nachdem sie mit der Schande ihres Leibes die Herzen derer, die sich zu ihnen gesellten, geködert hatten, laden sie sie zu den verbotenen Schlacht- und Trankopfern ihrer Götzen und entfremden sie dem Dienste des einen und wirklich seienden Gottes. 41 Nachdem sie dies vollbracht, bringen sie ihren Männern die frohe[330] Botschaft; und sie hätten auch die anderen nicht ganz Gefestigten an sich gelockt, wenn nicht der gütige und gnädige Gott aus Erbarmen über das Leid durch sofortige Bestrafung der von Sinnen Gekommenen — es waren das 24000 — die durch den Schrecken Gewarnten zurückgerissen hätte, die schon in Gefahr waren wie von einer Flut weggeschwemmt zu werden[15]. 42 Der Führer des Volkes aber, der den Ohren seiner Untergebenen die Grundsätze der Frömmigkeit zuführen und ihre Seelen zu ihnen hinleiten will, veranstaltet eine Aushebung und wählt aus jedem Stamme tausend Mann der Besten aus, um Rache zu nehmen für die List, die sie mit Hilfe der Frauen ins Werk gesetzt hatten in der Hoffnung, das ganze Volk von der Höhe der Frömmigkeit hinabzustürzen und zugrunde zu richten, was sie aber nur bei den Genannten vermochten. 43 (8.) Diese geringe Zahl, die vielen Myriaden entgegengestellt wurde, aber Kriegserfahrung und Kühnheit zugleich besass, indem jeder einzelne Mann gleichsam ein ganzer Haufe war, drang mit stolzer Verachtung in die dichten Reihen (der Feinde) ein, tötete die Zunächststehenden und richtete arge Verheerungen an in den anfangs dicht zusammenstehenden Scharen wie unter denen, die zur Ergänzung der leer gewordenen Reihen nachrückten: so streckten sie beim ersten Anlauf viele Tausende nieder und liessen keinen von den ihnen gegenüberstehenden jungen Kriegern am Leben. Sie töten auch die Frauen, die dem frevelhaften Plan der Männer zugestimmt hatten, und nehmen aus Erbarmen für das schuldlose Alter die Jungfrauen gefangen[16]. 44 Und während sie in einem so grossen Kampfe Sieger blieben, verloren sie keinen von den ihrigen: in derselben Anzahl und so wie sie in die Schlacht ausgezogen waren, kehrten sie unverwundet und unversehrt zurück[17], ja[331] sogar, wenn man die Wahrheit sagen soll, mit verdoppelter Kraft; denn die Freude über den Sieg erhöhte nur noch ihre frühere Stärke. 45 Die Ursache dieses Gelingens war aber nichts anderes [383 M.] als das eifrige Verlangen, den gefahrvollen Kampf für die Frömmigkeit zu unternehmen, worin Gott selbst Vorkämpfer ist, der unbezwingliche Helfer, der den Herzen gute Ratschläge an die Hand gibt und den Leibern starke Kraft verleiht. 46 Ein Beweis für den Beistand Gottes ist die Tatsache, dass von einer geringen Anzahl viele Tausende überwältigt wurden, und dass von den Feinden keiner entkam, von den Freunden aber keiner getötet und weder ihre Zahl noch ihre leibliche Stärke vermindert wurde. 47 Deshalb verheisst auch Moses in seinen Mahnreden (5 Mos. 28,1.2.7): „wenn du Gerechtigkeit und Frömmigkeit und die anderen Tugenden übest, wirst du ein Leben ohne Krieg und in ungestörtem Frieden führen, oder wenn ein Krieg ausbrechen sollte, wirst du leicht der Feinde Herr werden, da der unsichtbare Führer deines Heeres Gott sein wird, der darauf bedacht ist die Guten mit aller Macht zu retten. 48 Wenn sie nun auch mit vielen Tausenden heranrücken, wohlbewaffnetes Fussvolk und Reiterei, oder wenn sie feste und leicht einzunehmende Plätze zuerst besetzen und Herren der Gegend werden, oder wenn sie mit reichen Kriegsmitteln versehen sind, so fürchte dich nicht und verzage nicht, selbst wenn dir alle die Dinge fehlen sollten, an denen die Feinde Ueberfluss haben, Bundesgenossen, Waffen, Plätze in guter Lage, Kriegsvorräte. 49 Denn jene reichen Mittel gleichen einem mit allerlei Gütern angefüllten Lastschiff, das oft ein hereinbrechender Sturm plötzlich umwirft und zerstört; den unansehnlichen und kümmerlichen Mitteln andrerseits spendet Gott gleichsam wie Aehren, die infolge von Dürre und Regenmangel zu verkümmern drohen, Tau und Regen und verleiht ihnen die heilsamen Kräfte, dass sie sich wieder aufrichten und reife Früchte hervorbringen können“. 50 Hieraus geht klar hervor, dass man an Gerechtigkeit und Frömmigkeit festhalten muss; denn wem die Gottheit freundlich gesinnt ist, der ist in hohem Masse glücklich, wem sie aber feind ist, der ist äusserst unglücklich. Soviel mag auch über die Tapferkeit für den Augenblick zur Genüge gesagt sein.


  1. Nach platonischer Lehre, der Philo hier folgt, ist die Tugend lehrbar, daher jede Tugend ein Wissen d. h. die Einsicht in die Gründe des Handelns nach der betreffenden Tugend. Die Tapferkeit definiert Plato als das Wissen von dem, was zu fürchten und nicht zu fürchten ist (ἐπιστήμη oder σοφία τῶν δεινῶν καὶ μὴ δεινῶν Protag. 360 d. Lach. 194 e).
  2. Für τῆς ψυχῆς ist τῇ ψυχῇ (Apposition zu τῷ κρείττονι μέρει) zu lesen.
  3. Vgl. Ueber Abraham § 25 Anm.
  4. Nach stoisch-kynischer Lehre braucht der Weise zur Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse nur die Dinge, welche die Natur bietet: vgl. Arnim, Stoic. veterum fragm. III 705 ff.
  5. Derselbe Gedanke bei Xenophon Memor. I 6,10 (aus kynischer Quelle); dort sagt Sokrates zu Antiphon: „du scheinst zu glauben, dass das Glück im Luxus und grossen Aufwand bestehe; ich aber meine, dass die Bedürfnislosigkeit der Gottheit zukommt, dass man aber, wenn man so wenig als möglich bedarf, der Gottheit sehr nahe kommt“.
  6. Wörtlich der „Schlechte“ und der „Gute“, die nach stoischer Ausdrucksweise gleichbedeutend sind mit dem „Toren“ und dem „Weisen“.
  7. Wörtlich der „Schlechte“ und der „Gute“, die nach stoischer Ausdrucksweise gleichbedeutend sind mit dem „Toren“ und dem „Weisen“.
  8. Aristoteles (de anima II 7 p. 418 b) lehrte zuerst, dass die Augen des Lichts bedürfen, um sehen zu können.
  9. Philo benutzt hier die von Plato Cratyl. p. 411 e gegebene Etymologie von σωφροσύνη (Besonnenheit) als σωτηρία φρονήσεως (Rettung des vernünftigen Denkens).
  10. Vgl. Ueber Abraham § 219 und die Anm. dazu.
  11. Philo vertritt an zahlreichen Stellen seiner Schriften die stoisch-kynischen Grundsätze einer einfachen und bescheidenen Lebensweise. Vgl. Wendland und Kern, Beitr. z. Gesch. d. griech. Philos. u. Religion S. 8 ff.
  12. Josephus Jüd. Alt. IV § 301 versteht diese biblische Vorschrift hauptsächlich von der Ausrüstung im Kriege. Aehnlich gründete nach Sifre zu 5 Mos. 22,5 R. Elieser ben Jakob auf diese Bibelstelle die Ansicht, dass die Frau nicht Waffen anlegen solle, um in den Krieg zu ziehen.
  13. Philo erwähnt zuerst die in V. 8 genannte Kategorie, dann (§ 28) die in V. 5–7 genannten. Dieselbe Reihenfolge hat Josephus Altert. IV § 298. Vgl. auch I Makkab. 3,56.
  14. Philo schreibt hier den Midianitern zu, was die Bibel (und danach auch Philo im Leben des Moses I § 300ff.) von Balak und den Moabitern erzählt, weil es ihm hier auf den Rachekrieg ankommt, der für diese Tat (nach 4 Mos. 31,2 ff.) gegen die Midianiter geführt wurde.
  15. Philo übergeht die Tat des Phineas und lässt im Anschluss an den Wortlaut der Bibel (4 Mos. 25,8.9) die 24000 durch eine Seuche umkommen; anders im Leben des Moses I § 303 f.
  16. Philo folgt hier genau der Erzählung der Bibel (4 Mos. 31,18), nach der auf Moses’ Befehl nur die unschuldigen Jungfrauen geschont werden sollten. Im Leben des Moses I § 311 erzählt er dagegen, dass auch die ganz jungen Knaben am Leben gelassen wurden.
  17. Dieselbe Uebertreibung im Leben des Moses I § 309.
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