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Über die geometrischen Grundlagen der Lorentzgruppe

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Textdaten
Autor: Felix Klein
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Titel: Über die geometrischen Grundlagen der Lorentzgruppe
Untertitel:
aus: Gesammelte mathematische Abhandlungen
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1910
Erscheinungsdatum: 1921
Verlag: Julius Springer
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Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 19 (1910)
Quelle: Internet Archive, Commons
Kurzbeschreibung:
Themenseite: Relativitätstheorie
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[533]
XXX. Über die geometrischen Grundlagen der Lorentzgruppe.
Vortrag, gehalten in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft am 10. Mai 1910.
[Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 19 (1910)]

Sie haben alle in mehr oder minder bestimmter Form davon gehört, daß sich die Theorie der Lorentzgruppe oder, was dasselbe ist, das moderne Relativitätsprinzip der Physiker in die allgemeine Lehre von der projektiven Maßbestimmung einordnet, wie sich diese im Anschluß an Cayleys grundlegende Arbeit von 1859 entwickelt hat. Es entsprach noch einer Verabredung mit unserem verstorbenen Freunde Minkowski, daß ich diese Sachlage im verflossenen Wintersemester in meiner Vorlesung über projektive Geometrie des näheren ausführte, bzw. als das abschließende Ergebnis meiner Vorlesung hervortreten ließ. Die Lehre von der projektiven Maßbestimmung, die schon nach so manchen Seiten hin grundlegend geworden ist, gewinnt hier eine neue und überraschende Anwendung, während sich andererseits die modernen Entwicklungen der Physiker, die dem Neuling so leicht den Eindruck des Paradoxen machen, sozusagen als Korollare eines allgemeinen seit lange wohlgeordneten Gedankenganges erweisen. Es kann nicht fehlen, daß dieses Zusammentreffen zweier nach ihrer historischen Entstehung gänzlich getrennter Gedankenkreise nach beiden Seiten hin in hohem Maße anregend wirken muß; ich hoffe um so mehr auf einiges Interesse hierfür gerade auch seitens der Physiker, als die Geometer schon mancherlei Einzelresultate herausgearbeitet haben, die sich in der Werkstätte der theoretischen Physik nunmehr als willkommene Hilfsmittel bewähren möchten.

Wenn ich nun heute unternehme, Ihnen das Gesagte nach seinen wesentlichen Grundlinien näher auszuführen, so stehe ich allerdings vor einer großen Schwierigkeit: ich werde nicht umhin können, den Gruppenbegriff sowie gewisse fundamentale Begriffsbildungen der projektiven Geometrie, wie homogene Punkt- und Ebenenkoordinaten, die den linearen Substitutionen dieser Koordinaten entsprechenden Kollineationen, endlich für jede aus Kollineationen gebildete Gruppe das Vorhandensein einer zugehörigen [534] Invariantentheorie, — dies alles wohlverstanden für Gebiete von beliebig viel Dimensionen — als geläufig vorauszusetzen, während ich doch recht gut weiß, daß nicht nur die zahlreich anwesenden Physiker, die ich hier als Gäste besonders willkommen heiße, sondern auch die Mehrzahl der jüngeren Fachmathematiker, die unserer Gesellschaft angehören, sich mit diesen Dingen sozusagen nur per distans beschäftigt haben. Viele von Ihnen sind bisher zweifellos der Meinung gewesen, daß die projektive Geometrie, nachdem sie so lange im Vordergrunde der mathematischen Produktion stand, heute doch nur die Bedeutung einer mathematischen Spezialdisziplin beanspruchen könne. Da ist es ja an sich sehr nützlich, daß mein heutiger Vortrag der entgegengesetzten Auffassung Ausdruck geben muß, daß nämlich die projektive Geometrie im Rahmen der von uns allen anzustrebenden mathematischen Gesamtbildung als gleichwertig anzusehen sei mit anderen grundlegenden Fächern, wie etwa Algebra oder Funktionentheorie. Aber dieses ideale Moment kann doch die Schwierigkeit, die sich aus dem tatsächlichen Fehlen ausreichender Vorkenntnisse ergibt, nicht aus der Welt schaffen. Ich greife also zu der Methode, die unter derartigen Umständen noch am ehesten Erfolg verspricht: daß ich Ihnen die Dinge nach ihrem historischen Werdegang vorführe, und muß Sie übrigens bitten, daß Sie dabei die Lebhaftigkeit, mit der ich von der Wichtigkeit des projektiven Denkens spreche, als ein Äquivalent für die fehlende Ausführlichkeit in den Einzelangaben hinnehmen.

Ich beginne, dem Gesagten entsprechend, damit, daß ich Ihnen Cayleys Originalarbeit von 1859 vorlege, die sechste einer Reihe von Abhandlungen, in denen Cayley damals seine Auffassungen und Kenntnisse auf dem Gebiete der Invariantentheorie linearer Substitutionen zusammengefaßt hat (a sixth memoir upon Quantics, Bd. 149 der Philosoph. Transactions der R. Society, — Bd. 2 der Werke, S. 561 ff.). Beim Durchblättern werden Sie zunächst keinen besonderen Eindruck haben, weil vor allen Dingen Einzelheiten über quadratische Formen entwickelt werden; es ist aber doch einfach, die Fragestellung und ihre glänzende Beantwortung herauszuheben. Die Entwicklung der Geometrie in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hatte dahin geführt, den Gesamtinhalt der Raumlehre in zwei verschiedene Gebiete zu sondern: die Geometrie der Lage (deskriptive Geometrie), die von solchen Eigenschaften der Figuren handelt, welche bei beliebigem Projizieren ungeändert erhalten bleiben, und die Geometrie des Maßes, deren Grundbegriffe (Abstand, Winkel usw.) diese Invarianz keineswegs besitzen. Diese Trennung hatte sich im Bewußtsein der damaligen Mathematiker festgesetzt, trotzdem bereits Poncelet die entscheidende Bemerkung gemacht hatte, daß, für eine allgemeine Auffassung, [535] die Kreise der Ebene und die Kugeln des Raumes — also die Hauptobjekte der metrischen Betrachtung — als Kegelschnitte, bzw. Flächen zweiten Grades angesehen werden können, die mit dem Unendlichkeiten der Ebene, bzw. des Raumes ein bestimmtes durch eine Gleichung zweiten Grades gegebenes, imaginäres Gebilde gemein haben, — die sogenannten Kreispunkte der Ebene, bzw. den Kugelkreis des Raumes. Nun ist Cayleys Leistung, erkannt zu haben, daß in diesen Ponceletschen Aussagen das Mittel gegeben ist, die genannte Trennung der Geometrie in zweierlei einander fremde Disziplinen wieder rückgängig zu machen, oder vielmehr sie durch eine prinzipiell andere Auffassung zu ersetzen. Sein Resultat ist, — wie alle grundlegenden Gedanken der mathematischen Wissenschaft — , äußerst einfach: alle Maßbeziehungen geometrischer Figuren können ohne weiteres als projektive Beziehungen aufgefaßt werden, sofern man den Figuren — je nachdem sie eben oder räumlich sind — die Kreispunkte, bzw. den Kugelkreis hinzufügt; die Maßgeometrie erscheint so als dasjenige Stück der projektiven Geometrie, das von Figuren handelt, bei denen das Paar der Kreispunkte, bzw. der Kugelkreis beteiligt ist.

Diese Aussage wird sehr viel deutlicher werden, wenn ich einige einfachste Formeln schreibe.

Zunächst nur in der Ebene. Seien gewöhnliche rechtwinklige Punktkoordinaten. Wir setzen, homogen machend, ; wir nennen ferner die homogenen Koordinaten der durch die Gleichung dargestellten geraden Linie. Das Kreispunktepaar ist dann in Punktkoordinaten durch die Nebeneinanderstellung der beiden Gleichungen

(1)

gegeben, in Linienkoordinaten aber als Umhüllungsgebilde aller Geraden, welche die eine Gleichung

(2)

erfüllen. — Man beachte nun, um bei dem Einfachsten zu bleiben, die Formel für die Entfernung zweier Punkte

.

Wir schreiben, homogen machend:

und erhalten:

(3) .

Hier verschwindet der Zähler, wenn die beiden gegebenen Punkte mit [536] einem der Kreispunkte auf gerader Linie liegen, der Nenner, wenn einer der gegebenen Punkte auf der Verbindungslinie der beiden Kreispunkte liegt. Beides sind projektive Eigenschaften der von den gegebenen zwei Punkten und den Kreispunkten gebildeten Gesamtfigur! Algebraisch aber folgt hieraus (wie ich unmöglich näher ausführen kann), daß der Ausdruck sich nur um einen konstanten Faktor ändert, wenn man unsere vier Punkte gleichzeitig einer beliebigen Kollineation unterwirft. Deshalb nennt man eine Invariante unserer vier Punkte gegenüber der Gesamtheit aller Kollineationen, oder auch eine „simultane Invariante" der zwei zunächst gegebenen Punkte und der in (1) bzw. (2) linker Hand stehenden algebraischen Formen. Der Inhalt der projektiven Geometrie der Ebene ist aber, algebraisch zu reden, nichts anderes, als die Lehre von den Invarianten, welche irgendwelche ebene Figuren gegenüber der Gesamtheit der ebenen Kollineationen besitzen, insbesondere auch von den Relationen, welche solche Invarianten untereinander aufweisen mögen; es ordnen sich also alle Sätze, die zwischen den Entfernungen irgendwelcher Punkte der Ebene bestehen mögen, in die projektive Geometrie ein. —

Im Räume ist die Sache nur durch die vermehrte Zahl der Koordinaten komplizierter. Seien gewöhnliche rechtwinklige Koordinaten, so setzen wir, homogen machend, . Der „Kugelkreis" ist dann in Punktkoordinaten durch das Gleichungspaar

(4)

gegeben, in zugehörigen Ebenenkoordinaten aber durch die eine Gleichung:

(5) .

Man betrachte wieder den Ausdruck für die Entfernung zweier Punkte. Indem wir letzteren die homogenen Koordinaten und erteilen, erhalten wir

(6)

und knüpfen an diese Formel Erörterungen, die den soeben an (3) geschlossenen ganz ähnlich sind. —

Die vorstehenden Andeutungen werden genügen, um den Sinn von Cayleys grundlegender Arbeit einigermaßen verständlich zu machen. Ich darf nun einen Augenblick von den Überlegungen reden, die ich in meinem Erlanger Antrittsprogramm 1872 entwickelt habe.[1] Bei Cayley ist [537] immer nur von Invarianten gegenüber der Gesamtheit der Kollineationen des gerade in Betracht kommenden Gebietes die Rede. Demgegenüber betonte ich damals, daß man ebensowohl von Invarianten gegenüber einer Untergruppe von Kollineationen reden könne. Von hier aus ergab sich eine neue Beleuchtung des Wesens der metrischen Geometrie und der hierauf bezüglichen Cayleyschen Auffassung. Es ist eine triviale Bemerkung, daß alle Aussagen der metrischen Geometrie unabhängig von der Lage und von der absoluten Größe der Figuren bestehen und eben hierdurch gegenüber den Aussagen individuellen Inhaltes, wie man sie in der Topographie aufstellt, charakterisiert werden können. Man wird dies modern-mathematisch in der Weise ausdrücken, daß man zunächst zwei nahe miteinander verwandte Gruppen kollinearer Umformungen einführt: die Gruppe der Bewegungen und Umlegungen und die umfassendere Gruppe der Ähnlichkeitstransformationen (die Gruppe der „kongruenten" und die Gruppe der „äquiformen" Transformationen nach der von Heffter und Koehler in ihrem Lehrbuch eingeführten Ausdrucksweise),[2] und nun sagt: die metrischen Eigenschaften sind dadurch charakterisiert, daß sie relativ zu diesen Gruppen invariant sind. Wir haben danach: Metrische Geometrie und projektive Geometrie kommen beide auf das Studium einer Invariantentheorie heraus, und ihre gegenseitige Beziehung liegt darin, daß die Gruppe der metrischen Geometrie eine Untergruppe der zur projektiven Geometrie gehörigen Gruppe ist.

Ein paar einfache Formeln werden diesen Sachverhalt verdeutlichen und noch weiter gliedern. Wir mögen in der Ebene bleiben und der Einfachheit halber gewöhnliche (nicht homogene) rechtwinklige Koordinaten gebrauchen. Schreiben wir dann

(7)

und betrachten hier die als beliebig veränderliche Größen, so haben wir die sechsparametrige Gruppe der sogenannten affinen Transformationen vor uns. Aus ihr entsteht die vierparametrige Gruppe der äquiformen Transformationen, wenn man verlangt, daß bis auf einen Faktor mit übereinstimme. Es ist dies dann und nur dann der Fall, wenn die Bedingungen erfüllt sind:

,

wenn also die Matrix

,

[538] wie man sagt, orthogonal [3] ist. Die dreiparametrige Gruppe der kongruenten Transformationen aber entsteht, wenn man die Determinante gleich setzt. Es wird dann . - Wir schreiben endlich die allgemeinsten Kollineationen der Ebene an:

(8)

Man erkennt nun ohne Mühe:

Die Gruppe der affinen Transformationen (7) besteht aus denjenigen Kollineationen, welche eine bestimmte gerade Linie, nämlich die unendlich ferne Gerade, in sich transformieren.

Die Gruppe der äquiformen Transformationen aber besteht aus den Kollineationen, welche ein bestimmtes auf dieser geraden Linie liegende Punktepaar, eben das Kreispunktepaar, ungeändert lassen.

Geometrisch nicht ganz so einfach ist die Definition der Gruppe der kongruenten Transformationen. Wir begnügen uns hier mit der algebraischen Charakterisierung: es sind die äquiformen Transformationen, deren vorbezeichnete Determinante gleich ist. Die äquiformen Transformationen sind natürlich eo ipso affin.

Soll ich einfügen, daß man nun — als Mittelglied zwischen projektiver Geometrie und metrischer Geometrie — eine affine Geometrie definieren kann, welche alle diejenigen Eigenschaften ebener Figuren behandelt, die bei der Gruppe (7) invariant sind? Wir hätten dann dreierlei Geometrien zu vergleichen, von denen projektive und metrische Geometrie die beiden extremen Fälle sind. Die Systematik würde dadurch gewinnen, die Darstellung aber unnötig schleppend werden, weil mehreremal im Grunde dasselbe zu sagen wäre. So soll also weiterhin in der Hauptsache doch nur von projektiver und metrischer Geometrie die Rede sein und der affinen Geometrie, die allerdings zum Schluß besonders hervortreten wird, nur beiläufig gedacht werden. —

In diesem Sinne unterscheide ich also nur zwischen der elementaren (direkten) Behandlung der metrischen Beziehungen und der durch Cayley angebahnten projektiven. Und dieser Unterschied formuliert sich (im Sinne des Erlanger Programms) dahin: „Die projektive (höhere) Behandlung sucht die invarianten Beziehungen, welche die vorzugebenden Figuren nach Hinzufügung der Kreispunkte gegenüber der Gesamtheit der Kollineationen [539] besitzen; die elementare Behandlung die invarianten Beziehungen, welche die Figuren als solche gegenüber der engeren Gruppe derjenigen (äquiformen und kongruenten) Kollineationen besitzen, welche die Kreispunkte in sich überführen.“

Nun bin ich mit diesen allgemeinen Vorbetrachtungen zu Ende und ich bitte Sie nur, insbesondere folgenden Gedanken festzuhalten: Invariantentheorie ist ein relativer Begriff; man kann gegenüber jeder Gruppe von Transformationen von einer zugehörigen Invariantentheorie sprechen. Dieser Gedanke ist so selbstverständlich, daß er in den verschiedensten Anwendungsgebieten und so auch in der theoretischen Physik überall spontan hervortritt. Die Terminologie, durch die er zum Ausdruck gebracht wird, ist natürlich je nach den Gebieten eine sehr verschiedene. Denn die Forscher verschiedener Art, und so auch die Physiker, haben bei ihren Arbeiten nicht die Zeit und vielfach auch nicht die Gelegenheit, nachzusehen, ob irgendwelche begriffliche Ansätze, deren sie bedürfen, sich in den Vorratskammern der reinen Mathematik bereits fertig ausgebildet vorfinden, sie verfahren daher so — und es bringt dies eine gewisse Frische ihrer Gedankengänge mit sich — , daß sie sich die mathematischen Instrumente, deren sie bedürfen, von Fall zu Fall selbst anfertigen. Die spätere Verständigung mit den zünftigen Mathematikern, die mir allerdings eine wichtige Sache zu sein scheint, weil sie die Gedanken präzisiert und allerlei Zusammenhänge aufdeckt, verlangt dann vor allen Dingen eine Übersetzung der hier und dort gebrauchten Ausdrucksweisen in die Sprache des anderen. So will ich hier vorgreifend den Satz aussprechen:

„Was die modernen Physiker Relativitätstheorie nennen, ist die Invariantentheorie des vierdimensionalen Raum-Zeit-Gebietes, (der Minkowskischen „Welt“) gegenüber einer bestimmten Gruppe von Kollineationen, eben der „Lorentzgruppe“; — oder allgemeiner, und nach der anderen Seite gewandt:

„Man könnte, wenn man Wert darauf legen will, den Namen ,Invariantentheorie relativ zu einer Gruppe von Transformationen' sehr wohl durch das Wort ,Relativitätstheorie bezüglich einer Gruppe' ersetzen.“


Ich behandele nunmehr einiges betreffend die rein mathematischen Untersuchungen, die sich s. Z. an Cayleys Abhandlung anschlossen. Das ist in der Tat die historische Stellung dieser hervorragenden Arbeit, daß sie nicht nur das alte Problem von der Beziehung zwischen metrischer Geometrie und projektiver Geometrie entscheidend beantwortete, sondern damit zugleich eine neue Fragestellung, die nach den verschiedensten Richtungen folgenreich werden sollte, in den Vordergrund brachte. Die metrische Geometrie erwächst aus der projektiven, wenn man die Kreispunkte, [540] gegeben durch die Gleichung (oder, im Raume, den Kugelkreis, gegeben durch die Gleichung ) hinzunimmt. Was wird geschehen, wenn man statt dessen irgendeine Gleichung zweiten Grades in sinngemäßer Weise zugrunde legt?

Bleiben wir bei der Ebene, wo unsere neue Gleichung irgendeine Kurve zweiter Klasse vorstellt. Für den projektiven Geometer zerfallen diese Kurven in fünf verschiedene Arten, die ich hier aufzähle, indem ich mir statt des seither benutzten rechtwinkligen Parallelkoordinatensystems jeweils ein geeignetes Dreieckkoordinatensystem (dessen „Linienkoordinaten“ ebenfalls genannt werden) zugrunde gelegt denke. Die Liste ist folgende:

A. Eigentliche Kegelschnitte
1. , imaginärer Kegelschnitt
2. , reeller Kegelschnitt
B. Punktepaare
3. , imaginäres Punktepaar (übereinstimmend mit der Gleichung (2) der Kreispunkte)
4. , reelles Punktepaar
C. Einzelner Punkt, doppeltzählend
5. .

— Das Prinzip dieser Aufzählung ist so einfach, daß jederman die entsprechende Tabelle nach Analogie gleich für Veränderliche hinschreiben wird: zuerst Gleichungen mit Quadraten, die wechselnd mit + oder — aneinandergefügt werden, dann solche mit Quadraten usw. Die Fälle der ersten Kategorie sollen die allgemeinen heißen, die nachfolgenden einfach spezialisiert, die der dritten Kategorie doppelt spezialisiert usw.

Für jeden dieser Fälle konstruieren wir nun ein Analogon zur Formel (3) für die Entfernung zweier Punkte und erhalten, was Cayley die zugehörige Quasientfemung nannte. Für den Fall des imaginärer Punktepaares werden wir einfach die Formel (3) beibehalten (nur daß jetzt und nicht notwendig rechtwinklige Parallelkoordinaten, sondern allgemein zu reden zugehörige Dreieckskoordinaten sein werden). In den folgenden beiden Fällen (des reellen Punktepaares und des Doppelpunktes) werden kleine Änderungen anzubringen sein, auf die wir sogleich noch zurückkommen. Schwieriger ergibt sich der geeignete Ansatz für die Quasientfernung in den vorangehenden beiden Fällen (der eigentlichen Kegelschnitte); wir wollen hier darauf nicht näher eingehen, weil es zu viel Raum beanspruchen würde und nach seinen Einzelheiten für den heutigen Vortrag doch nicht in Betracht kommt. Das Resultat [541] ist jedenfalls dieses, daß wir fünf Arten (und nur fünf Arten) Maßgeometrie in der Ebene erhalten, von denen uns nur die eine, die dem imaginären Punktepaar entspricht, von dem Beispiel der elementaren Metrik her bekannt ist. Den Inbegriff aber der so entstehenden Theorien nennen wir die allgemeine Lehre von der projektiven Maßbestimmung (zunächst für die Ebene, dann für den Raum, überhaupt für beliebig ausgedehnte Mannigfaltigkeiten).

Nun kann ja heute keineswegs meine Absicht sein, in die Einzelheiten dieser Theorien einzugehen; nur ihre allgemeine Bedeutung soll hervorgehoben werden. Ich habe da zunächst ein Vorurteil, das mancher hegen mag, zurückzuweisen: der Laie wird von vornherein sehr wenig geneigt sein, der Beschäftigung mit Fragestellungen, die zunächst nur aus dem subjektiven, sozusagen ästhetischen Erkenntnistrieb des Mathematikers hervorgehen, irgendwelchen Wert beizulegen. Die Geschichte der Wissenschaft aber zeigt, daß die Sache ganz anders liegt; es ist ein großes Geheimnis und schwer in bestimmte Worte zu fassen; ich werde sagen, daß alles, was mathematisch gesund ist, früher oder später über sein engeres Gebiet hinaus eine weiterreichende Bedeutung gewinnt. So ging es mit der Theorie der Kegelschnitte, die von den Geometern des Altertums um ihrer selbst willen entwickelt war und mit der Entdeckung der Keplerschen Gesetze plötzlich die größte Wichtigkeit für unser Naturverständnis gewann. Und genau so ging es mit der an die Theorie der Kegelschnitte sich unmittelbar anlehnenden Lehre von der projektiven Maßbestimmung. Das erste war, daß sie hohe erkenntnistheoretische Bedeutung erhielt, indem sie sich als die einfachste Grundlage für die Nicht-Euklidischen Geometrien erwies, die aus den Untersuchungen über die Unabhängigkeit des Parallelenaxioms von den anderen Axiomen entstanden waren und zunächst als etwas besonders schwer Zugängliches galten[4]; ich werde sogleich noch einige hierauf bezügliche Einzelheiten anführen. Das zweite war, daß sie sich in anderen Gebieten der reinen Mathematik als eine brauchbare Methode zur Klarstellung komplizierter Verhältnisse bewährte, so in der Theorie der automorphen Funktionen oder auch in der Zahlentheorie[5]. Und nun, in den letzten Jahren, kommt hervor, daß sie ebensowohl eine rationelle Grundlage für die modernsten Spekulationen der Physik abgibt, insbesondere den Gegensatz zwischen klassischer und neuer Mechanik einfach begreifen läßt.


[542] Die Beziehung zwischen projektiver Maßbestimmung und Parallelentheorie, auf die ich Bezug nahm, läßt sich, wenn wir uns wieder auf die Ebene beschränken, ihrem äußeren Ergebnisse nach dahin fassen, daß wir im Falle 1) der auf S. 540 aufgestellten Tabelle (also bei Zugrundelegung eines imaginären Kegelschnitts) die Nicht-Euklidische Geometrie von Riemann erhalten, im Falle 2) aber (d. h. bei Zugrundelegung eines reellen Kegelschnitts) die Nicht-Euklidische Geometrie von Bolyai-Lobatschewsky-Gauß. Ich möchte einen besonderen Punkt erwähnen, der infolge der projektiven Auffassung ohne weiteres klar ist, während er sonst leicht von dem Schimmer des Mystischen umgeben scheint: Die Zahl der Kollineationen, durch welche ein nicht zerfallender Kegelschnitt in sich transformiert wird, ist , sie steigt auf , sobald der Kegelschnitt in ein Punktepaar ausartet. Hierin liegt, daß die aus den Elementen uns so geläufigen äquiformen Transformationen (Ähnlichkeitstransformationen) der Euklidischen Metrik in den Nicht-Euklidischen Geometrien als besondere Kategorie in Wegfall kommen; es bleiben nur die kongruenten Transformationen (Bewegungen und Umlegungen). Die Folge ist, daß es in den Nicht-Euklidischen Geometrien ein absolutes Längenmaß gibt, nicht nur, wie bei Euklid, ein absolutes Winkelmaß. Übrigens haben die beiden Gruppen, die der einen oder anderen Nicht-Euklidischen Geometrie und die der Euklidischen Geometrie, ihrer inneren Struktur nach wenig miteinander zu tun. Eben darum ist es so schwer, vom Standpunkte der Euklidischen Geometrie aus die Nicht-Euklidische zu verstehen: eine Figur, die sich Nicht-Euklidisch bewegt, erleidet, Euklidisch betrachtet, seltsame Verzerrungen. Alle Schwierigkeit verschwindet aber, sobald ich mich an das allgemeine projektive Denken gewöhnt habe. In der Tat schließt die der projektiven Geometrie (d. h. die Gesamtheit aller Kollineationen der Ebene) ebensowohl die der einen oder anderen Nicht-Euklidischen Geometrie wie die der Euklidischen Geometrie ein. Verfüge ich über die projektive Auffassung, so habe ich denselben Vorteil, wie ein Wanderer, der auf einem Berge stehend in verschiedene Täler gleichzeitig hinabblickt, während er vorher, im einzelnen Tale stehend, sich von dem Verlauf der anderen Täler nur schwer eine Vorstellung machen konnte. Noch ein letzter, nicht unwichtiger Punkt! Bei aller prinzipiellen Verschiedenheit der Fälle 1), 2) und 3) ist es für den Projektiviker doch so gut wie selbstverständlich, daß man zwischen den drei Fällen einen kontinuierlichen Übergang herstellen kann. Man wähle einfach als fundamentale Gleichung der projektiven Maßbestimmung:

(9)

und lasse hier den Parameter von positiven Werten beginnend durch Null hindurch zu negativen Werten übergehen! Es wird sich dann die [543] Riemannsche Geometrie durch die Euklidische Geometrie hindurch in die Geometrie von Bolyai, Lobatschewsky, Gauß verwandeln. Des näheren stellt sich die Sache so, daß ich um den Punkt herum ein Gebiet beliebiger Ausdehnung abgrenzen kann (so groß, wenn es Vergnügen macht, daß es unser ganzes Sonnensystem oder auch die gesamte Fixsternwelt umschließt) und dann das , positiv oder negativ, so klein annehmen kann, daß innerhalb dieses Gebietes irgendwelche Abstände, Nicht-Euklidisch gemessen, von ihren Euklidischen Beträgen um weniger abweichen, als eine noch so kleine vorgegebene Größe beträgt. —

Man möge gestatten, daß ich mit diesen Einzelbetrachtungen über die projektive Maßbestimmung in der Ebene noch ein weniges weiter fortfahre; es geschieht dies natürlich, um gewisse Überlegungen, die ich beim Vergleich der neuen und der klassischen Mechanik späterhin gebrauche, zweckmäßig vorzubereiten. Ich wende das obengenannte Kontinuitätsprinzip nunmehr auf die Fälle 3), 4) und 5) unserer Tabelle von S. 540 an. Das fundamentale Gebilde sei, bezogen auf ein gewöhnliches rechtwinkliges Koordinatensystem:

(10)

und hier gebe ich das eine Mal einen sehr kleinen positiven, das andere Mal einen sehr kleinen negativen Wert, das dritte Mal den Wert Null. Mit seien die zugehörigen (gewöhnlichen, nicht homogenen) Koordinaten eines Punktes bezeichnet. Als Entfernung dieses Funkes vom Koordinatenanfangspunkte erhält man dann durch sinngemäße Abänderung der Formel (3):

(11) ,

und hier wolle man nun überlegen, wie das System der um als Zentrum herumgelegten Kreise (d. h. der Kurven ) gestaltet ist. Offenbar bekommen wir bei positivem langgestreckte Ellipsen (deren große Achse in die Richtung der -Achse fällt), bei negativem Hyperbeln, deren Asymptoten einen sehr kleinen Winkel mit der -Achse machen, bei verschwindendem Paare gerader Linien , die parallel zur -Achse verlaufen. Es ist amüsant, sich zu überlegen, wieso diese Parallellinienpaare Übergangsformen zwischen den Ellipsen und Hyperbeln der Fälle mit positivem bzw. negativem sind!

Wir mögen ferner die zu unserer Maßbestimmung gehörigen äquiformen und kongruenten Transformationen zunächst in den Fällen mit nicht verschwindendem betrachten. Da die beiden durch (10) dargestellten Punkte für voneinander verschieden sind, bestimmen sie ihre Verbindungslinie, die unendlich, ferne Gerade, eindeutig. Unsere Transformationen [544] werden also affine Transformationen sein und können in der Form angesetzt werden:

(12)

Hier sind die Koeffizienten rechter Hand im äquiformen Falle so zu bemessen, daß bis auf einen willkürlich bleibenden Faktor mit übereinstimmt. Dies gibt für die Koeffizienten zwei Bedingungen, deren Zahl auf drei steigt, wenn wir, zu den kongruenten Transformationen gehend, die Determinante gleich setzen. Wir haben hiernach äquiforme und kongruente Transformationen, in genauer Übereinstimmung selbstverständlich mit dem, was wir im Falle von der Euklidischen Metrik her wissen.

Wir wenden uns nun zum doppelt spezialisierten Falle , indem wir als Bedingung festhalten wollen, daß auch hier nur affine Transformationen (12) in Betracht gezogen werden sollen ( — dies ist hier eine freie Verabredung, weil die unendlich ferne Gerade nur eine von den geraden Linien ist, die den Punkt , d. h. den unendlich fernen Punkt der -Achse, enthalten, von Hause aus also keine Notwendigkeit vorliegt, daß sie bei den von uns zu betrachtenden Transformationen in sich übergeht — ). Wir erhalten dann für die äquiformen Transformationen einfach ; jede Transformation

(13)

wird als äquiform anzusprechen sein. Die äquiforme Gruppe enthält trotz unserer einschränkenden Verabredung hier noch fünf Parameter. Als „Bewegungen“, d. h. kongruente Transformationen ohne Umlegung möge man dann unter den (13) diejenigen bezeichnen, welche erstlich unimodular sind, zweitens die Entfernung zweier Punkte und . d. h. im vorliegenden Falle unverändert lassen. Dies gibt , und die dreigliedrige Bewegungsgruppe ist durch die Formeln gegeben:

(14)

Die äquiformen Transformationen enthalten sonach zwei Parameter mehr als die kongruenten. Wir werden sagen, daß wir jetzt die Einheiten für den Maßstab auf der -Achse und der -Achse unabhängig wählen können. Insbesondere werden wir in bei beliebig gegebenen zwei Punkten eine Bewegungsinvariante haben; ist aber insbesondere , so ist auch eine Bewegungsinvariante.


[545] Es gilt jetzt, alle diese gewiß sehr einfachen Ansätze auf größere Variabelenzahlen zu übertragen. Oder vielmehr, wir wollen gleich zu vier Variabelen übergehen (wobei wir den Inbegriff aller Wertsysteme dieser Variabelen mit Minkowski als Welt, als Raumkoordinaten, als Zeit bezeichnen). Wir verzichten darauf, die zugehörigen möglichen Arten der projektiven Maßbestimmung systematisch aufzuzählen, so einfach dies schließlich sein würde. Vielmehr beschränken wir uns darauf zu zeigen, daß hier, in der vierdimensionalen Welt, das System der Mechanik sich unter den Begriff der projektiven Maßbestimmung einordnet, und zwar sowohl das System der klassischen Mechanik, wie das der neuen Mechanik von Lorentz, Poincaré, Einstein und Minkowski, womit das Wesen dieser beiden Systeme, wie insbesondere ihre gegenseitige Stellung zur vollsten Klarheit gebracht sein dürfte.

Wolle man vorab vorübergehend setzen. Die allgemeine lineare Gleichung zwischen werde dementsprechend so geschrieben: ; speziell ist dasjenige, was wir das „unendlich Ferne“ der Welt nennen wollen. Unser alter Bekannter, der Kugelkreis, erhält wie früher die Gleichung:

(15) ;

er ist jetzt aber, da wir fünf homogene Koordinaten haben, als zweifach spezialisiertes Gebilde zu bezeichnen. Neben ihn stellen wir als einfach spezialisiertes Gebilde:

(16) ,

wo die „Lichtgeschwindigkeit“ bezeichnen soll, also (bei Zugrundelegung der Einheiten, deren man sich in der Mechanik allgemein zu bedienen pflegt) eine sehr kleine Größe ist. In Punktkoordinaten ist dieses Gebilde durch das Gleichungspaar gegeben:

(17) ,

bestimmt also eindeutig das „unendlich Ferne“ der Welt. Läßt man hier, im zum Kugelkreise zu gelangen, <math<c</math> unendlich werden, so wird man für diesen drei Gleichungen in Punktkoordinaten erhalten:

(18) .

Wir haben hier ; der Kugelkreis ist, könnte man sagen, zeitlos zu denken. Das unendlich Ferne der Welt ist nur eine der linearen Mannigfaltigkeiten, welche den Kugelkreis enthalten, es erscheint erst dann vor anderen linearen Mannigfaltigkeiten derselben Art bevorzugt, wenn [546] wir den Kugelkreis aus (16), bzw. (17) durch Grenzübergang entstehen lassen. — Auf diese Gebilde (16, 17), bzw. (15, 18) wollen wir nun alle Betrachtungen, die wir vorhin an die Gleichung (10), d. h. knüpften, sinngemäß übertragen.

Ich will gleich mit dem Kugelkreis beginnen, indem ich das Prinzip herübernehme, daß wir entsprechend der begrifflichen Auszeichnung der linearen Mannigfaltigkeit die zugehörigen äquiformen und kongruenten Transformationen der Welt nur unter den affinen Welttransformationen suchen sollen. Es hat dementsprechend jetzt keinen Zweck mehr, die homogene Schreibweise festzuhalten; vielmehr werden wir das allgemeine Schema der in Betracht kommenden Transformationen entsprechend den Gleichungen (13) gleich in folgender Gestalt anschreiben:

(19)

Äquiform werden wir diese Transformationen nennen, wenn sie das Gleichungssystem (18) in sich überführen. Hierfür ergibt sich als einzige Bedingung, daß die Matrix

(20)

orthogonal sei. Dies liefert für die neun Koeffizienten bekannter Weise fünf Gleichungen; im ganzen bleiben von den 17 in (19) auftretenden Koeffizienten also 12 willkürlich. — Unter den so bestimmten äquiformen Transformationen werden wir dann gemäß (14) diejenige als kongruente Transformationen bezeichnen, für die die Determinante der Matrix (20) gleich und überdies ist. Die Gruppe der so Bestimmten kongruenten Transformationen enthält noch zehn Parameter. Sind und die Koordinaten zweier Weltpunkte, so bleibt bei der Gruppe der kongruenten Transformationen allgemein zu reden nur die Differenz unverändert; nur wenn insbesondere gleich Null ist, so ist auch eine Invariante. Zwei Weltpunkte haben also nur dann eine „rein geometrische“ Invariante, wenn ihre Indifferenz verschwindet.

Das wir mit diesen Angaben über die zum Kugelkreis gehörigen äquiformen und kongruenten Welttransformationen in der Tat die Grundlagen der klassischen Mechanik treffen, bedarf nach dem, was neuerdings von anderen Autoren vielfach hervorgehoben ist, kaum der Ausführung. [547] Die Grundgleichungen der klassischen Mechanik bleiben in der Tat ungeändert, wenn wir

1. das beliebig gewählte rechtwinklige Raumkoordinatensystem durch irgendein anderes gleichorientiertes ersetzen,
2. dem rechtwinkligen System irgendeine gleichförmige Translation erteilt denken,
3. den Anfangspunkt, von dem aus wir die Zeit zählen, beliebig ändern.

Genau dieses findet in der Gruppe unserer kongruenten Transformationen seinen Ausdruck. Speziell den gleichförmigen Translationen 2 entsprechen in unseren Formeln die Glieder mit . Dem Umstande aber, daß unsere äquiformen Transformationen zwei Parameter mehr enthalten, als die kongruenten, korrespondiert die Tatsache, daß in der klassischen Mechanik die Zeiteinheit und die Längeneinheit unabhängig voneinander willkürlich gewählt werden können (worauf sich die Lehre von der „Ähnlichkeit“ in der klassischen Mechanik stützt). —

Wir betrachten zweitens den Fall des nur einfach spezialisierten Grundgebildes (17) (das noch keinen besonderen Namen trägt, aber gewiß einen solchen verdiente):

.

Die äquiformen Transformationen sind hier notwendig affin, um so mehr gehen wir wieder zur nicht-homogenen Schreibweise zurück. Das allgemeine Schema einer affinen Transformation ist dann:

(21)

Wir haben eine äquiforme Transformation, sobald die durch die Matrix

gegebene homogene Substitution der die quadratische Form in ein Multiplum ihrer selbst überführt. Dies legt den 20 Koeffizienten neun Bedingungen auf; die Gruppe der äquiformen Transformationen enihält also jetzt elf Parameter. Aus ihr entsteht die Gruppe der kongruenten Transformationen (wie wir sie seither definierten), indem wir verlangen, daß die Determinante

[548] einen der Werte haben soll. Wir haben so eine Gruppe von zehn Parametern. Sind und , die Koordinaten irgend zweier Weltpunkte, so erweist sich ihr gegenüber das Quadrat der Quasientfernung:

als unveränderlich.

Wir haben nun noch einen feineren Punkt herauszuarbeiten, der schon oben, bei den Erörterungen über das Punktepaar als Fundamentalgebilde einer ebenen Maßbestimmung, hätte herangebracht werden können. Um aus der Gesamtheit der äquiformen Transformationen die kongruenten ohne Umlegung herauszuheben, kann man sich darauf beschränken, in den Substitutionen (12) die Determinante zu setzen. So macht man es ja in der Tat bei Euklidischer Maßbestimmung, wo als Fundamentalgebilde ein imaginäres Punktepaar zugrunde liegt. Aber dies führt doch nur für den Fall des imaginären Punktepaars (für den Fall eines positiven ) zu den Bewegungen. Ist das Punktepaar reell ( negativ), so ergibt die nähere geometrische Überlegung, daß die unimodularen äquiformen Transformationen für sich kein Kontinuum mehr bilden, wie man dies doch billigerweise von dem Inbegriff der Bewegungen verlangen sollte. Ihre Gesamtheit zerfällt vielmehr in vier Kontinua. Nur diejenigen Transformationen, welche das Vorzeichen des Differentialausdrucks ungeändert lassen und überdies positives aufweisen, werden im engeren Sinne als Bewegungen zu bezeichnen sein, weil sie allein sich an die „identische“ Transformation kontinuierlich anschließen. Der früher gegebenen Definition der kongruenten Transformationen sind also, um Bewegungen auszusondern, bei negativem die beiden genannten Forderungen noch ausdrücklich zuzusetzen. Auf die damals gegebene Abzählung der Parameter hat dies keinen Einfluß. Auch haben wir im Grenzfalle , indem wir setzten, bereits der neuen Verabredung entsprechend gehandelt. — Etwas Ähnliches ist es nun auch mit dem jetzt zu behandelnden Falle des Gebildes (17) (das wegen des negativen Vorzeichens, mit dem der Term in seine Gleichung eingeht, bis zu einem gewissen Grade dem Falle des reellen Punktepaares der Ebene zu vergleichen ist). Jetzt zeigt die genauere geometrische Überlegung, — die nicht etwa schwer ist, die aber mehr Platz beanspruchen würde, als wir ihr hier geben können —, daß die Gruppe der kongruenten Transformationen, wie wir sie zunächst definierten, noch zwei Kontinua umfaßt, und daß wir als Gruppe der Bewegungen von diesen beiden Kontinuen nur dasjenige brauchen können, welches durch positives charakterisiert ist.

Mögen wir die Forderung eines positiven also der Definition [549] unserer zehngliedrigen Gruppe noch ausdrücklich hinzufügen. Wir haben dann genau die Lorentzgruppe der „neuen“ Mechanik vor uns. Allerdings sagt man von der Lorentzgruppe zumeist, sie habe sechs (nicht zehn) Parameter. Das ist aber nur eine Folge davon, daß man in der mathematischen Physik gewöhnlich nicht die Transformationen (21) der Koordinaten , sondern nur die entsprechenden Transformationen der Differentiale betrachtet, bei denen die additiven Konstanten der Formeln (21) selbstverständlich fortfallen. Der Umstand aber, daß die Gruppe der äquiformen Transformationen jetzt nur einen Parameter mehr enthält als die der kongruenten, findet sein Gegenstück in dem Umstände, daß durch Vorgabe der Konstanten (der Lichtgeschwindigkeit) in der neuen Mechanik Raumeinheit und Zeiteinheit aneinander geknüpft sind (so daß nur eine der beiden willkürlich angenommen werden kann).

So sind denn alte Mechanik und neue Mechanik gleichmäßig in das Schema der projektiven Maßbestimmung bei vier Variabeln eingeordnet, — der Zielpunkt, den ich zu Anfang dieses Vortrags in Aussicht nahm, ist erreicht. Alles, was ich zu Eingang über das Verhältnis der metrischen Geometrie zur projektiven gesagt habe, würde sich sinngemäß übertragen lassen. Ich beschränke mich aber darauf, noch zwei kurze Bemerkungen zuzufügen.

Zunächst: Gemäß der Terminologie, die ich oben bei Gelegenheit berührte, dürfen wir sagen, daß die klassische Mechanik ebenso wie die neue Mechanik eine „Relativitätstheorie“ bezüglich einer Gruppe von zehn Parametern ist. Man möchte fragen, warum denn in der physikalischen Literatur das Wort „Relativitätstheorie“ ausschließlich als ein Attribut der neuen Mechanik gebraucht wird? Hierauf scheint zu antworten: weil die neue Mechanik historisch auf dem Umwege über die Elektrodynamik entstanden ist. Es genügt, um die Sachlage klarzumachen, die Maxwellschen Gleichungen für den reinen Äther etwa in der Hertzschen Bezeichnung herzusetzen:

Diese Gleichungen bleiben selbstverständlich ungeändert, wenn man das -System durch irgendein anderes (gleichorientiertes) rechtwinkliges [550] Koordinatensystem ersetzt, oder wenn man den Anfangspunkt der Zeit beliebig verschiebt; — das macht zusammen eine Gruppe von sieben Parametern. Sie bleiben aber keineswegs mehr ungeändert, wenn man das Koordinatensystem einer gleichförmigen Translation unterwirft, also setzt:

.

Hierin lag der Anlaß, daß man unter der Herrschaft der Maxwellschen Gleichungen den elektrodynamischen Äther zunächst als im Raume ruhend ansah, daß die Auffassung des absoluten Raumes wieder zu Ehren kam. Es blieb die siebengliedrige Gruppe der Änderungen, welche dem reinäußerlichen Übergang von einem Koordinatensystem zu einem gleichberechtigten anderen entspricht. — Da kam die Entdeckung, daß diese siebengliedrige Gruppe in einer anderen zehngliedrigen enthalten sei, welche die Maxwellschen Gleichungen ihrerseits unverändert läßt, eben der Lorentzgruppe. Wieder entschwand der absolute Raum (oder vielleicht besser: die absolute Welt), — die Welt ward wieder, was sie früher war, ein relativer Begriff —, und man bildete sich, ohne daran zu denken, daß man nur das frühere Sachverhältnis mutatis mutandis wiederherstellte, das Wort „Relativitätstheorie“ als einen neuen, auf die Lorentzgruppe ausschließlich bezüglichen Term.

Als Schlußbemerkung aber möchte ich diese wählen: es wurde oben darauf hingewiesen, daß die Schwierigkeiten, die jedermann empfindet, der, von der Gewöhnung der Euklidischen Geometrie beginnend, versucht, in die Nicht-Euklidischen Doktrinen einzudringen, ohne weiteres wegfallen, wenn man den übergeordneten Standpunkt des projektiven Denkens als Ausgangspunkt nimmt. Analoges möchte für das Studium der neuen Verhältnisse gelten, die innerhalb der Mechanik bei Zugrundelegung der Lorentzgruppe hervortreten. Es scheint unzweckmäßig, bei diesem Studium immer von den in der klassischen Mechanik geltenden Auffassungen auszugehen und dann zu überlegen, wie diese künstlich deformiert werden müssen, um auf die neue Mechanik zu passen. Vielmehr scheint es richtiger, sich vom Standpunkte der alten Mechanik zunächst zu einem umfassenderen zu erheben, der dann die alte und die neue Mechanik nebeneinander als spezielle Fälle umschließt. Nach dem, was oben angeführt wurde, ist hierfür nicht einmal nötig, sich in die projektive Auffassung der Welt hineinzudenken, denn es genügt die affine Auffassung. Es wird darauf ankommen, eine systematische Invariantentheorie der affinen „Welt“ zu schreiben, wozu übrigens alle Elemente in den mehrdimensionalen Untersuchungen der Mathematiker bereits vorliegen, und von ihr aus die beiden Arten der Mechanik, die alte und neue, nebeneinander zu behandeln. Wieso die alte Mechanik ein Grenzfall der neuen ist, inwieweit [551] sie also als eine Annäherung an letztere angesehen werden darf, kommt dann von selbst hervor. Wer bringt dieses Programm zur Ausführung?

Minkowski hatte die hier geforderten Dinge für sich zweifellos sehr genau überlegt. Aber da er für den weiten Kreis der physikalisch interessierten Leser schrieb, hielt er es im Interesse der Verständlichkeit seiner Entwicklungen für zweckmäßiger, nicht seine bezüglichen inneren Überlegungen vorzutragen, sondern nur die auskristallisierte Form des Algorithmus, zu dem sie im Falle der Lorentzgruppe hinführen. Das ist Minkowskis vierdimensionale Vektorrechnung, die er ohne nähere Begründung als ein bestimmtes System fest verabredeter algebraischer Prozesse an die Spitze seiner elektrodynamischen Entwicklungen stellt. [6]


P. S. von August 1910. Ich hatte in meinem Vortrage vom 10. Mai insbesondere auch von der eleganten Darstellung der Koeffizienten der Lorentzgruppe durch zehn unabhängige Parameter gesprochen, die sich auf Grund einer wieder zuerst von Cayley aufgestellten berühmten Quaternionenformel ergibt.

Die Schlußformel ist die folgende. Ich verstehe unter die gewöhnliche imaginäre Einheit, unter die spezifischen Einheiten des Quaternionenkalkuls. seien acht Parameter, welche an die bilineare Gleichung

und übrigens die Ungleichung

gebunden sein sollen. Ebenso seien vier Parameter. Die Substitutionen der Lorentzgruppe sind dann durch folgende Formel gegeben:

[552] Da die Multiplikation der mit einem beliebigen gemeinsamen Faktor die Formel nicht ändert, die aber andererseits der obigen Bilinearrelation unterworfen sind, haben wir in der Tat zehnfach unendlich viele Substitutionen vor uns.

Wegen der näheren Einzelheiten und der literarischen Nachweise vergleiche man etwa die „Zusätze und Ergänzungen", welche Herr Fritz Nöther dem eben erscheinenden Schlußhefte von Sommerfelds und meiner „Theorie des Kreisels“ (Leipzig, Teubner 1910) hinzugefügt hat.


[Cunningham und Bateman haben bereits 1909 bemerkt, daß die Maxwellschen Gleichungen nicht nur bei den linearen Transformationen der Lorentzgruppe invariant bleiben, sondern auch bei der erweiterten , die sich aus der Lorentzgruppe ergibt, wenn man eine gerade Anzahl von Transformationen folgender Art (die einer Umformung der Welt durch „reziproke Radien“ entsprechen):

hinzunimmt.[7] Hiervon macht Bateman 1910 in den Proceedings der Londoner Mathematical Society (2) 8 interessante Anwendungen auf die Theorie der Maxwellschen Gleichungen.

Bateman geht l. c. ferner dazu über, das Wertsystem durch eine Kugel des dreidimensionalen Raumes mit den Mittelpunktskoordinaten und dem Radius zu interpretieren (es ist dies derselbe Gedanke, den Timerding unabhängig im 21. Bd. des Jahresberichts der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 1912, entwickelt hat). Die Transformationen der vierdimensionalen „Welt“, welche wir gerade erwähnten, verwandeln sich dann, wie Bateman sagt, in „spherical wave tranformations“. Es sind dies genau die Transformationen der Lieschen Kugelgeometrie. Unter ihnen ist die der Lorentztransformationen dadurch ausgezeichnet, daß sie Ebenen in Ebenen verwandelt.

Offenbar schließen sich diese Entwicklungen auf das innigste mit denjenigen zusammen, die Lie und ich 1871 gegeben haben und wegen deren ich hier insbesondere auf Nr. VIII der vorliegenden Gesamtausgabe (über Liniengeometrie und metrische Geometrie) verweisen darf.

Für die Physik hat diese allerdings nicht dieselbe Bedeutung wie ihre Untergruppe, die der Lorentzgruppe. Es liegt dies daran, daß nur letztere eine Verallgemeinerung der der klassischen Mechanik ist (in die sie übergeht, wenn man die Lichtgeschwindigkeit unendlich setzt), eine allgemeine Physik aber ebensowohl die Mechanik wie die Elektrodynamik umfassen muß. Einstein drückte dieses Sachverhältnis mir gegenüber gelegentlich so aus: Die Transformation durch reziproke Radien wahrt zwar die Form der Maxwellschen Gleichungen, nicht aber den Zusammenhang zwischen Koordinaten und Maßergebnissen von Maßstäben und Uhren. K.]


  1. „Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen", abgedruckt in Bd. 43 der Math. Annalen und anderswo. [S. Abh. XXVII dieser Ausgabe.]
  2. Lehrbuch der analytischen Geometrie, Bd. 1, Leipzig 1905.
  3. Der Term ist hier so gebraucht, daß die Ähnlichkeitstransformationen als mit eingeschlossen gelten (also auf den Zahlenwert der Determinante der kein Gewicht gelegt ist).
  4. Vgl. meine Arbeiten „Über die sogenannte Nicht-Euklidische Geometrie“ in den Bänden 4 und 6 der Math. Annalen (1871 und 1878). [Siehe Abh. XVI und XVIII dieser Ausgabe]
  5. Vgl. die allgemeine Darstellung bei Fricke-Klein, Vorlesungen über die Theorie der automorphen Funktionen (Teil I, Leipzig 1897), ferner meine autographierten Vorlesungen über ausgewählte Kapitel der Zahlentheorie (Leipzig 1897).
  6. [Diese Bemerkungen über die von Minkowski gewählte Darstellungsweise beziehen sich auf die Veröffentlichungen, die 1910 vorlagen und auch für Minkowskis gesammelte Werke (Leipzig, 1911) maßgebend gewesen sind. Inzwischen hat sich 1915 in seinem Nachlaß das Manuskript einer von ihm noch vor jenen Veröffentlichungen, nämlich am 5. Nov. 1907, in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft gehaltenen Vortrags gefunden, in welchem er seine mathematischen Gedanken unverhüllt dargelegt hat. Dieser Vortrag ist gleich 1915 unter dem Titel „Das Relativitätsprinzip“ von Sommerfeld in Bd. 47 der 4. Folge der Annalen der Physik abgedruckt worden und findet sich übrigens auch im 24. Bande der Jahresberichte der Deutschen Mathematischen Vereinigung (1916). Hierauf möchte ich an gegenwärtiger Stelle ganz besonders aufmerksam machen. K.]
  7. Die einzelne Transformation dieser Art würde die Maxwellschen Gleichungen so umändern, wie ein Vorzeichenwechsel von , oder, was auf dasselbe hinauskommt, der Übergang von einem Linkskoordinatensystem , wie es Hertz benutzt, zu einem Rechtskoordinatensystem.