ADB:Creizenach, Theodor
Vorigen, geboren am 16. April 1818 zu Mainz, † am 5. December 1877 zu Frankfurt a. Main. Er wuchs auf unter dem Eindruck der geistigen Bestrebungen seines Vaters, dem er auch den oben erwähnten pietätvollen Nachruf im Neuen Nekrolog der Deutschen widmete. Mit ihm kam er 1825 nach Frankfurt, besuchte dort zuerst die israelitische Realschule, sodann – seit 1827 – das Gymnasium, wo vor allem K. Schwenk (s. d.), der Freund Platen’s, anregend auf die begabteren Schüler wirkte, und 1835–39 die Universitäten Gießen, Göttingen und Heidelberg. In Gießen gewann er mehr durch den Verkehr mit Freunden wie G. Baur und Carriere, als durch den akademischen Unterricht. Neue und weite Ausblicke gewährte ihm der Aufenthalt in Göttingen, wo er Ostern 1837–38 Vorlesungen bei Ewald, Otfried Müller, Dahlmann, Jacob Grimm und Gervinus hörte, auch war es ihm vergönnt, die reichen Anregungen, die hier auf ihn einströmten, im Verein mit gleichstrebenden Freunden zu verarbeiten. Ein Bild des Treibens in diesem Kreise ist in Oppermann’s Roman „Hundert Jahre“ gegeben. Zum hundertjährigen Jubiläum der Universität spendete er mit seinen Freunden Carriere und K. Bölsche eine dichterische Festgabe, die sie dem Ehrengast bei dieser Feier, Alexander v. Humboldt widmeten, von C. stammen die schönsten und formvollendetsten Stücke eines Sonettenkranzes, in dem die großen Meister der Göttinger Hochschule gefeiert werden. Auch als nicht lange nach den Tagen der gehobenen Feststimmung die sieben Göttinger Professoren gegen den Verfassungsbruch Verwahrung einlegten, war C. mit seinen Freunden sich der historischen Bedeutung des großen Augenblicks voll bewußt; er befand sich unter der Schaar von Studenten, die den verbannten Professoren Jacob Grimm, Dahlmann und Gervinus das Geleit gaben und beim Abschied in Witzenhausen trug er im Namen der Commilitonen ein Gedicht vor. Springer in seiner Lebensgeschichte Dahlmann’s (I, 446) rühmt mit Recht die schöne Art, wie in diesem Gedicht mit Vermeidung scharfer politischer Anspielungen der Grundton anhänglicher Treue und menschlicher [550] Theilnahme festgehalten ist. Es trat schon damals bei C. die später so oft bewährte Gabe hervor, in gehobenen Augenblicken den Ausdruck für das zu finden, was die Herzen Aller bewegte.
Creizenach: Theodor C., Sohn desCreizenach’s Studiengang wurde durch diese Ereignisse unterbrochen; er siedelte nach Heidelberg über, wo er bei Creuzer und Bähr seine philologischen Studien fortsetzte und sich 1839 die philosophische Doctorwürde erwarb. Nach Frankfurt zurückgekehrt erhielt er 1841 als Lehrer der Söhne des Barons Anselm v. Rothschild eine Stellung, die ihn mit manchen merkwürdigen Persönlichkeiten in Berührung brachte; von dem Chef des Frankfurter Hauses, dem alten originellen Amschel Mayer, hat er nach dessen Hinscheiden eine meisterhafte Charakteristik entworfen (in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 29. December 1855, einige ungeschickte Zusätze der Redaction sind leicht auszuscheiden). Vor allem aber war ihm nun ein erwünschter Anlaß geboten, durch längeren Aufenthalt in Paris und London (1845–47) seinen Gesichtskreis zu erweitern. In Paris stand er in freundschaftlichem Verkehr mit Heine, den er sehr gerecht und unbefangen würdigte; manche interessante Züge zur Charakteristik Heine’s hat er später im „Frankfurter Museum“ mitgetheilt. Die Stellung im Rothschild’schen Hause währte bis 1849, wo er als außerordentlicher Lehrer an die jüdische Realschule kam. Während dieser ganzen Zeit war C. ein eifriger Förderer der Bestrebungen des jüdischen Reform-Vereins, den er 1842 begründen half. Der Verein wollte diejenigen Juden in einer festen Organisation zusammenhalten, die im Sinne M. Creizenach’s eine Vergeistigung des Judenthums anstrebten. Neben der Unverbindlichkeit der Ritualvorschriften und des Talmud wurde von den Mitgliedern vor allem der Gedanke verfochten, daß sie einen Messias, der die Juden nach Palästina zurückführen solle, weder erwarteten, noch wünschten, sondern das Land, dem sie durch Geburt oder bürgerliche Stellung angehörten, als ihr alleiniges Vaterland ansähen. Natürlich fand der Reformverein heftige Gegner, jedoch auch manche Anhänger unter den Juden, die ähnliche Gedanken schon lange im Stillen gehegt hatten, sowie sympathische Theilnahme in nichtjüdischen liberalen Kreisen. Die Bestrebungen des Vereins, insofern sie von einem deutsch-patriotischen Grundgedanken getragen waren, fanden ihren Ausdruck in Creizenach’s Gedicht „Der deutsche Jude“, noch merkwürdiger ist das poetische Selbstbekenntniß „Mose und Christus“, wo die Einsicht durchzudringen beginnt, daß das durchgeistigte Judenthum, dem C. nachstrebte, im Christenthum bereits verwirklicht sei. Indem C. in dieser Erkenntniß sich mehr und mehr bestärkte, reifte in ihm der im November 1854 ausgeführte Entschluß, sich in die evangelische Kirche aufnehmen zu lassen; sein Lehramt an der israelitischen Schule hatte er schon zu Anfang dieses Jahres aufgegeben. Den poetischen Ertrag seines bisherigen Lebens hatte C. vereinigt in den „Dichtungen“ (Mannheim 1839) und den „Gedichten“ (Frankfurt a. M. 1848, zweite Aufl. 1851), die indeß bei weitem nicht alles enthalten, was er von den mannichfaltigen Eindrücken jener Jahre dichterisch gestaltet hat. Man rechnet ihn gewöhnlich zu dem „jungen Deutschland“, und daß er anfänglich dessen litterarische Sympathien und Antipathien theilte, wird u. a. durch das kleine satirische Drama „Der schwäbische Apoll“ (Dichtungen S. 85–112) bewiesen. Doch zeigt sich bei ihm, was die Reinheit der dichterischen Form betrifft, eine entschiedene Einwirkung Platen’s, dem er auch in der „Nänie“ einen stimmungsvollen Nachruf gewidmet hat, und im Stil eine ruhige Klarheit ohne alles bewußte Streben nach pointirtem Ausdruck. Oefters hat er in seinen Dichtungen die politischen Ereignisse berührt, von denen er namentlich im [551] J. 1848 während der Tagung des Parlaments in Frankfurt einen lebendigen Eindruck gewann, doch zeigte er damals schon ein tieferes Verständniß für die Eigenthümlichkeit des deutschen Wesens, als dies bei den meisten liberalen Idealisten der Fall war.
Seit der Mitte der fünfziger Jahre traten in seiner Thätigkeit die litteratur- und culturgeschichtlichen Studien immer mehr in den Vordergrund; er blieb nach seinem Uebertritt zum Christenthum mehrere Jahre amtlos und widmete den besten Theil seiner Kraft dem von Otto Müller 1855 begründeten „Frankfurter Museum“, das er 1856–58 leitete, später erschien es noch eine Zeitlang als Beiblatt zur politischen Zeitung „Die Zeit“. Es gelang C. eine Reihe vortrefflicher Mitarbeiter heranzuziehen, so sind Scheffel’s Schilderungen aus den tridentiner Alpen, G. Semper’s griechische Reiseerinnerungen, Kuno Fischer’s Abhandlung über Schiller als Philosoph zuerst im „Frankfurter Museum“ erschienen, C. selber veröffentlichte eine Reihe werthvoller biographischer und litterarhistorischer Abhandlungen und hat besonders in den häufig nachgedruckten und benutzten litterarischen Notizen und Anecdoten des Feuilletons seine Darstellungsgabe, seine weitausgebreitete Belesenheit und sein Geschick in der Hervorhebung des charakteristischen Details bewährt. Daß diese Zeitschrift nicht die gebührende Verbreitung und Lebensdauer erlangte, ist vor allem der ungeschickten buchhändlerischen Leitung des Unternehmens zuzuschreiben. Dies trug dazu bei, C. wieder dem Lehramt zuzuführen; 1858 ertheilte er Unterricht an der Gewerbeschule, dann an der höheren Bürgerschule, bis er 1861 das durch den Uebertritt Kriegk’s zum Stadtarchiv erledigte Lehramt am Gymnasium erst provisorisch, dann seit 1863 definitiv erhielt und bis an sein Lebensende verwaltete; eine Berufung an die Universität Bern 1868 hat er ausgeschlagen. Seine Lehrfächer waren vor allem in Prima das Deutsche und in sämmtlichen oberen Classen die Geschichte, deren Unterricht, einer merkwürdigen Besonderheit des Frankfurter Gymnasiums zufolge, für protestantische und katholische Schüler getrennt ertheilt wurde. Aber wie er überhaupt die Liebe und Achtung seiner Collegen im höchsten Maaße sich erwarb, so waren auch die Beziehungen zu seinem katholischen Specialcollegen, dem vielbewunderten und vielgescholtenen Janssen, stets die besten; sie fühlten sich bei aller grundsätzlichen Verschiedenheit des Standpunkts durch persönliche Sympathie und Hochschätzung zu einander hingezogen und trugen kein Bedenken, in Krankheits- und sonstigen Verhinderungsfällen sich gegenseitig ihre Schüler anzuvertrauen. Auch die Schüler waren sich bewußt, daß ihnen durch Creizenach’s lebensvolle und klare, nach allen Seiten hin weite Ausblicke eröffnende Vortragsweise eine Anregung geboten werde, die über das Durchschnittsmaaß des Gymnasialunterrichts weit hinausging.
Schon in früherer Zeit hatte C. die reichen Gaben seines Geistes und Wissens in öffentlichen Vorträgen vor einem weiteren Hörerkreis entfaltet; diese Art der Wirksamkeit, die er auch neben seinem Gymnasiallehramt beibehielt, verschaffte ihm einen Ruf weit über die Grenzen seiner Heimath hinaus. Es war die Zeit, wo sich in den größeren Städten Deutschlands, vor allem in den großen Handels- und Industriestädten des Niederrheins die Sitte ausbildete, hervorragende Gelehrte und Schriftsteller aus allen Theilen Deutschlands zu öffentlichen Vorträgen einzuladen. Hier war C. ein stets von neuem gebetener und freundlich aufgenommener Gast. „Seine Vorträge“, sagt Rieger, „waren ohne jede Anlehnung an das Manuscript immer nur aus dem Moment geboren und wirkten mit jener Frische, die anders nicht erreichbar ist. Sie flossen im anspruchslosesten Erzählerton, ohne ein überflüssiges Wort, ohne alles Phrasenwerk mit vollendeter Klarheit, mit ruhiger Beherrschung [552] des reichsten Stoffes und der mannichfaltigsten Beziehungen dahin und wer sich einmal an das wenig günstige, scharf articulirende, aber fast gar nicht modulirende Organ und an die Abwesenheit aller Gedankenpausen gewöhnt hatte, hörte mit einem durch nichts gestörten geistigen Behagen zu“. Ein Vorzug, der ihn vor den meisten Rednern dieser Art auszeichnete, war es auch, daß er stets die Beziehung auf den Hörerkreis, der ihn gerade umgab, im Auge behielt; öfters, wie z. B. in einem Aachener Vortrag über die Krönung Karl’s V. und in den Kölner Vorträgen über Sulpiz Boisserée und über den Streit Reuchlin’s mit den Dominicanern trat dieses schon in der Wahl des Stoffes hervor.
Durch diese bewunderungswürdige Leichtigkeit der Mittheilung in mündlicher Rede trat die Lust zum Schreiben und Ausarbeiten mehr und mehr zurück und es ist dies häufig bedauert worden, namentlich von Seiten der Fachgenossen, denen er mit ungemeiner Freigebigkeit mündliche und schriftliche Belehrung spendete. Die meisten unter ihnen lernten ihn bei Gelegenheit der Philologenversammlungen kennen und schätzen, die er oft und gern besuchte und bei denen er auch mehrmals zum Vorsitzenden der germanistischen Section erwählt wurde. Doch ist er auch als Schriftsteller nicht unthätig geblieben. Seine umfangreichste Arbeit ist die neue Bearbeitung der Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in dem großen Schlosser’schen Werke, wo seine nachbessernde Hand vor allem den cultur- und litteraturgeschichtlichen Partien zu Gute kam; die Uebersicht über die geistigen Strömungen des 17. Jahrhunderts hat er vollkommen neu gestaltet. Von seinen Arbeiten kleineren Umfangs seien hier zunächst diejenigen erwähnt, die sich an seine Dantestudien anschließen. Die Neigung zu diesem Dichter hatte durch eine italienische Reise 1854 neue Nahrung erhalten, aus diesen Studien erwuchs die schöne und lehrreiche Abhandlung über die Aeneis, die vierte Ekloge und die Pharsalia im Mittelalter (Frankf. Gymnasialprogramm 1864). Das Studium der mittelalterlichen Lateindichtung, das mit dieser Arbeit zusammenhing, führte ihn auch dazu, den Ursprung des Studentenlieds ‚Gaudeamus‘ im Gedankenkreis der Vagantenpoesie zu entdecken (vgl. die Sitzungsberichte der germanistischen Section der Leipziger Philologenversammlung 1872). Vor allem aber sind seine Arbeiten auf dem Gebiete der Goethelitteratur zu erwähnen. C. galt mit Recht für einen der besten Goethekenner; durch die Umstände wurde er vor allem zur Erforschung der Frankfurter Beziehungen Goethe’s veranlaßt. Merkwürdig ist seine erste Goethepublication, die Herausgabe der poetischen Episteln Goethe’s und Gotter’s aus Anlaß des Götz von Berlichingen, die er als 19jähriger Jüngling in der Zeitung für die elegante Welt (22. Mai 1837) abdrucken ließ. Dieser Abdruck bildet noch heute die einzige Grundlage des Textes. C. hörte die Episteln von dem Besitzer des verschollenen Manuscripts vorlesen und sein wunderbares Gedächtniß ermöglichte es ihm, das Gehörte nachher zu Papier zu bringen. Doch hat er in Goethe’s Epistel zwei Zeilen, die ihm entfallen waren, selbständig neu hinzugedichtet und der Gedanke, daß er auf diese Art seine Verse in Goethe’s Werke eingeschmuggelt hatte, belästigte ihn so sehr, daß er sich niemals entschließen konnte, seinen Zusatz namhaft zu machen und die Aussonderung den Philologen der Zukunft überließ. Einige Goethe-Aufsätze, die in der folgenden Zeit in Frankfurter Zeitschriften erschienen, beweisen uns, wie er damals schon in der Beurtheilung Goethe’s die Höhe des Standpunktes erreicht hatte, der jetzt der herrschende ist. Als die Vaterstadt des Dichters 1849 sein hundertjähriges Jubiläum festlich beging, in einem Augenblick der traurigsten Zerrüttung und der tiefsten politischen Mißstimmung, die zu einer unbefangenen [553] und heiteren Würdigung des Dichters gänzlich ungeeignet erschien, hielt C. eine Festrede im Kaisersaal und wählte dazu mit glücklichem Griff das Thema „Goethe als Befreier“ (gedruckt im Frankf. Conversationsblatt, 28.–30. August 1859); in zeitgenössischen Berichten wird diese Rede als der Glanzpunkt des Festactes bezeichnet. Unter den Aufsätzen zur Goethelitteratur im Frankf. Museum sei hier nur der Artikel über Klinger erwähnt, die Abhandlung über die angebliche Goethe’sche juristische Dissertation von den Flöhen (zuerst im Frankf. Museum 1858, S. 757), mag als Beleg dafür dienen, wie C. auch abgelegene Einzelheiten durch beziehungsreiche Darstellung interessant zu gestalten wußte. Als eine glückliche Fügung ist es jedoch zu betrachten, daß im J. 1874 die Willemer’schen Erben ihm als dem Berufensten die Herausgabe des Briefwechsels zwischen Goethe und Marianne v. Willemer übertrugen und ihm dadurch den Anlaß boten, seine Frankfurter Goethestudien in einer umfangreicheren und bedeutenderen Leistung zu bewähren. Die Arbeit, in die er sich liebevoll vertiefte und die freudige Anerkennung, die sie bei ihrem Erscheinen 1877 fand, haben ihm die letzten Jahre seines Lebens verschönt.
- Unter den zahlreichen Nachrufen, die bei Creizenach’s Hinscheiden erschienen, sind vor allem zu erwähnen der von Carriere (Beilage z. Allgem. Zeitung 1877, Nr. 347), Rieger (Deutsche Reichspost 1877, Nr. 292) und Bartsch (Gegenwart Bd. 13, S. 68 ff.). – Der Verf. dieses Artikels gedenkt späterhin eine ausführlichere Lebenskizze zugleich m. d. Herausgabe einiger ungedruckter u. schwer zugänglicher Dichtungen u. Aufsätze zu veröffentlichen.