Zum Inhalt springen

ADB:Hahn-Hahn, Ida Gräfin von

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Hahn-Hahn, Ida Gräfin von“ von Richard Moritz Meyer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 49 (1904), S. 711–718, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hahn-Hahn,_Ida_Gr%C3%A4fin_von&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 17:20 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Hahn, Oskar
Nächster>>>
Hainhofer, Philipp
Band 49 (1904), S. 711–718 (Quelle).
Ida von Hahn-Hahn bei Wikisource
Ida Hahn-Hahn in der Wikipedia
Ida Hahn-Hahn in Wikidata
GND-Nummer 118544918
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|49|711|718|Hahn-Hahn, Ida Gräfin von|Richard Moritz Meyer|ADB:Hahn-Hahn, Ida Gräfin von}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118544918}}    

Hahn-Hahn: Ida Gräfin H.-H., berühmte Schriftstellerin, bedeutend als Typus einer bestimmten, suchenden und fordernden Epoche, geboren am 22. Juni 1805 zu Tressow in Mecklenburg, † am 12. Januar 1880 in Mainz.

Ida H.-H. entstammte dem reichsten und vornehmsten Adelsgeschlecht des feudalsten Landes, von dem die neuere Zeit weiß: ihr Vater war Erblandmarschall [712] von Mecklenburg. Sie hat von diesen Ursprüngen eine bis zur Starrheit festgehaltene conservative Gesinnung in politischen Fragen überkommen, sowie die naive Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Gestalten zum Aerger und Erstaunen einer demokratischen Lesewelt mit den Manieren, Lebensgewohnheiten und Mitteln der höheren Gesellschaftsschichten ausstattete. Durchaus neu aber war das in ihr mit leidenschaftlichster Heftigkeit auftretende Verlangen und Suchen nach Menschen und Zuständen, die auch innerlich eine vollkommene Erhebung über das Gewöhnliche ermöglichen sollten. Ibsen’s Ausdruck von den „Adelsmenschen“ scheint wie auf den Typus, der ihre Romane merkwürdig macht, gemünzt. Möglich, daß ihr Vater ihr die unruhige Sehnsucht nach erhabenen Momenten mitgab: es war jener berühmte „Theatergraf“ Karl Friedrich v. Hahn (s. A. D. B. X, 369), der seiner Passion für Bühne und Schauspielerei sein Vermögen, seine Stellung, sein Familienglück opferte. Er hat auch die Tochter in den völlig unverdienten Ruf gebracht, eine Komödiantin zu sein, während sie mit ihm höchstens die opferbereite Hingabe an die eigenen Leidenschaften theilte. Doch scheint der eitle und haltlose Mann, der schon das Kind durch die Aufregungen seiner Effectproben in ein lebensgefährliches Nervenfieber jagte (er riß die Vierjährige aus dem Bett, um sie im Nachtröckchen zu einem Feuerwerk zu tragen!), auf Ida wenig Einfluß geübt zu haben; sie gedenkt seiner nur mit unverhohlener Abneigung. Das ist ihr um so eher zu verzeihen, als die stille unbedeutende Mutter und die Geschwister durch die Schuld des zu spät entmündigten Abenteurers in die drückendsten Verhältnisse geriethen. Eine Zeit lang soll freilich gerade das phantastische Wesen des Vaters sie angezogen haben.

Auf dem Land und in Greifswald, wohin sich die Familie nach der Ehescheidung der Eltern zurückgezogen hatte, empfing sie eine sehr ungenügende Bildung; selbst die Religion wurde ihr von einem engherzigen orthodoxen Landgeistlichen nur äußerlich übermittelt, so daß sie ein lebendiges Verhältniß zur protestantischen Confession nie besessen hat. – Am 3. Juli 1826 wurde sie mit ihrem Vetter Graf Friedrich Hahn-Basedow vermählt; daher der unglückliche Doppelname Hahn-Hahn, der später den Spott ihrer aristokratenfeindlichen Gegner herausfordern mußte. Es war ein völlig äußerliches „Arrangement“ im Dienst der Familieninteressen; von keiner Seite war auch nur eine ernsthafte Neigung im Spiel. Das kindlich unerfahrene Mädchen fand die Verbindung mit dem altbekannten Vetter ganz natürlich; sie freute sich nicht, sie betrübte sich nicht, sie zeigte ihrem Verlobten weder Zu- noch Abneigung, sie äußerte weder Furcht noch Bedauern. Die Heirath schien ihr zum Gang ihres Lebens zu gehören. Aber bald stellte sich die Sache anders („Aus der Gesellschaft“ 1, 52). Der Gatte wird (Marie Helene S. 14 f.) als ein brutaler Genußmensch geschildert, der nicht einmal vor rohen Thätlichkeiten zurückschreckte. Eine Scheidung ward unvermeidlich und erfolgte 1829. Noch während der Dauer des Processes wurde das einzige Kind der Gräfin geboren, ein schönes Mädchen, das aber – wol unter dem Druck, den die Gemüthsbewegungen auf die Mutter ausübten – idiotisch war. Die Gräfin gab es in gute Pflege, brachte aber jedes Jahr einige Wochen in qualvollem Zusammensein mit der Tochter zu, die es auf 24 Jahre brachte. Der Graf heirathete wieder und sein Sohn zweiter Ehe hat später durch die possenhafte Würde seines rusticalen Grandseigneurthums allgemeine Heiterkeit erregt, wobei wieder ein Theil als Lächerlichkeit auf den Namen der Gräfin H.-H. fiel.

Gräfin Ida hat die Geschichte ihrer Ehe besonders in der Beichte Faustinens Mario gegenüber geschildert; übrigens aber war sie innerlich zu vornehm, um in der Weise anderer Schriftstellerinnen ihr Talent zur Bestrafung des Mannes [713] zu mißbrauchen, der so viel an ihr gesündigt hatte. Er suchte nach dem Tod seiner zweiten Frau sich ihr wieder zu nähern, natürlich ohne Erfolg.

Von nun an führte sie ein bewegtes Reiseleben, das bald zu gleich lebhafter Production führte: Reisen und Schreiben lösten sich unaufhörlich ab. Zuerst vereinte sich der Drang, aus der dumpfen Atmosphäre ihres bisherigen Lebens in „freie Luft“ zu gelangen, mit der damals allgemein verbreiteten Reisewuth, die ihr Liebling Byron eingeführt hatte; bald wurde bei der knappen Rente, die sie fast ganz für die Pflege der Tochter verbrauchte, das Reisen auch Mittel zum Zweck: die „Reisebriefe“ traten neben die Gedichte und Romane auch als Mittel des Gelderwerbs. Fürst Pückler, der den deutschen Byron spielte, hat in beiderlei Hinsicht auf sie eingewirkt, obwohl sie („Jenseits der Berge“ 2, 107) fand, er mache aus seinen „Briefen“ eine Schule der Impertinenz. Persönlich lernten sie sich nicht kennen, da affectirte Bedingungen des Fürsten die Gräfin abschreckten, seinen Besuch anzunehmen, als Beide in Dresden in demselben Hotel wohnten. – Die Gräfin reiste 1835 nach der Schweiz, dann nach Oesterreich, Italien und Spanien, 1842 in den Norden; 1843–44 in den Orient. Jedes Mal folgten Reisebücher: „Jenseits der Berge“ 1840 (Italien); „Erinnerungen aus und an Frankreich“ 1842; „Ein Reiseversuch im Norden“ 1843; „Orientalische Briefe“ 1844. J. Eckardt stellt die „Erinnerungen“ am höchsten; dieser in der Beobachtung nationaler Physiognomien geübte Sachkenner rühmt („Der ‚Rechte‘“ S. 265) ihre zutreffenden Vergleichungen, ihre muthigen Urtheile. Aber auch die schlecht zusammengefügten Stimmungsbilder aus Italien oder die lockeren, geistreich geschriebenen „Orientalischen Briefe“ setzen durch echte Originalität in Verwunderung. Lange vor Ruskin begeisterte sie sich für Sandro Botticelli und die Praerafaeliten („Von Babylon nach Jerusalem“ S. 109) und bekannte eine heftige Antipathie gegen Michelangelo („Jenseits der Berge“ 1, 137 u. ö.). Canova (ebd. 1, 212–219) und Thorwaldsen („Reiseversuch“) warf sie keineswegs, wie die meisten Zeitgenossen, zusammen. Auch für die Verschiedenheiten des nationalen Lebens und Empfindens hat sie einen guten Blick, wobei besonders die Religion jedes Mal ihre Aufmerksamkeit erweckt. Besonders die Briefe von der italienischen Reise sind voll von Vergleichungen der katholischen und lutherischen Confession (2, 33, 172, 362 u. ö.), wobei sie über das Mönchs- und Nonnenwesen recht ungünstig urtheilt (1, 79; 2, 214), doch aber schon hier selbst mit dem Gedanken des Klosterlebens spielt (2, 214. 281). Aber sie weiß auch über die fundamentale Verschiedenheit von Christenthum und Islam (Reisebriefe 2, 181) tiefe Worte zu sagen: dieser ist ihr eine Religion der Befriedigung, jenes der Sehnsucht.

Diese Reisebücher haben zu ihrem Ruhm und ihrer Beliebtheit viel beigetragen; dauernde Bedeutung können sie nicht beanspruchen. Sie bilden charakteristische Belege für jene Mode der politisch-sentimentalen Reisen, die Pückler als neuer Lawrence Sterne aufgebracht hatte, und die das junge Deutschland so eifrig zum Gefäß seiner Gedanken und Wünsche machte; aber sie ragen unter den vielen Werken dieser Art höchstens durch die Bilderbeschreibungen hervor, denen die entschlossene Subjectivität der Verfasserin eine packende Wirkung zu geben versteht.

Noch weniger haben ihre Gedichte zu sagen. Als sie selbständig geworden war, las sie mit Leidenschaft; Walter Scott ergriff sie, mehr noch Ossian, am stärksten aber und beherrschend Lord Byron („Jenseits der Berge“ S. 112, „Sibylle“ 1, 256 f., vgl. „Diogena“ S. 91). Sein Einfluß ist auch in den „Gedichten“ (1835), „Neuen Gedichten“ (1836), „Liedern und Gedichten“ (1832), in „Astralion“ (1839) und handgreiflich in den „Venetianischen Nächten“ [714] (1836) zu spüren. Sie stellt dem Manfred Byron’s einen eigenen (Lieder und Gedichte S. 89) entgegen, dessen Held der edle Hohenstaufenbastard ist, oder trägt die Geschichte des Marino Faliero (Venetianische Nächte S. 12 f.) in monotonen Strophen vor. Es begegnen höchst unglückliche Verse, freilich auch bezeichnende Wendungen: „Ende überall und Grenze! matte Freude, dürftige Gluth“ oder: „Nur Beruhigung – kein Glück“. Immerhin ist eines ihrer frühesten Lieder, „Ach wenn du wärst mein eigen“, durch Kücken’s Composition volksthümlich geworden.

Als Documente sind auch diese Lieder wichtig; sie theilen mit denen aus der katholischen Zeit – „Unserer lieben Frau“ 1851 – das volle Empfinden und den dürftigen Ausdruck. Bekannt ist, welchen Spott G. Keller’s „Apotheker von Chamounix“ auf einen erbaulichen Vers der Gräfin häufte. Es ist erstaunlich, in welchem Grad dieser edlen Natur, die sich in Prosa glänzend auszudrücken wußte, beim Reimen die Eigenart des Ausdrucks verloren ging.

Und sie hatte doch so viel zu sagen! Sie war in die romantische Partie ihres Lebens gekommen. Sie hatte bald nach ihrer Verheirathung den kurländischen Baron Bystram (1798–1848) kennen gelernt, der seit dem frühen Tode seiner geliebten Frau im Auslande lebte. Er wurde der geschiedenen Frau der treueste, hingebendste, aufopferndste Freund, obwohl ein Gelübde ihm die Wiederverheirathung verbot und obwohl ihre Anschauungen mannichfach abwichen. Eine treuere Liebe als die seine, wie Marie Helene und J. Eckardt sie schildern, hat es nicht gegeben, noch eine edlere, männlichere Persönlichkeit. Sie hatte in dem klugen, nur ihre eigene poetische Anlage und Leistungsfähigkeit unglaublich überschätzenden Verehrer „den Rechten“ gefunden, den Mann, dem sie unbedingt vertrauen durfte. Aber sie liebte ihn nur als Freund. Als sie 1836 den geistreichen Juristen und Politiker Heinrich Simon (s. A. D. B. XXXIV, 371) kennen lernte, war ihr Herz für eine leidenschaftliche Liebe zu dem feurigen schönen Mann nur zu gut vorbereitet, wie das seine für die Liebe zu der keineswegs schönen, aber gleich feurigen und interessanten Frau. Wie aber Bystram seiner todten Gattin, glaubte Simon seinem edlen Nebenbuhler den Verzicht auf völlige Zugehörigkeit schuldig zu sein. Mit einem herrlichen Brief voll reinsten Idealismus (bei Eckardt S. 261) verließ er sie tapfer, damit sie sich selbst nicht aufzugeben brauche. Sie soll drei Tage lang halbtodt auf ihrem Bett gelegen und sich nur langsam erholt haben (Marie Helene S. 32). Heinrich Simon warf sich in die Politik, ward 1848 Reichsregent und starb in der Verbannung 1860; die starre Aristokratin hat nach der Revolution den Namen des radicalen Agitators nicht mehr genannt. Sie selbst aber ward durch dies Erlebniß zur Romandichterin. „Heinrich Simon ist ‚Sigismund Forster‘, wie er ‚Cecil‘, ‚Mario Mengen‘ (in „Sibylle“) und in gewissem Sinn ‚Ulrich‘ ist. Seiner Gestalt begegnet man in den Hahn-Hahn’schen Romanen so unaufhörlich, als habe erst das Verhältniß zu ihm die Verfasserin zur Romanschreiberin gemacht“ (Eckardt S. 262). Daneben steht überall Bystram als „der stille, unerschütterliche Freund, der das widerstrebende Herz der Geliebten durch hingebende, nie wankende Treue überwindet“ (ebd. 253).

Die dritte Hauptfigur in den merkwürdigen Romanen der Gräfin ist – sie selbst. Ihre leidenschaftliche Sehnsucht nach dem „Rechten“, nach dem „Menschen“ (Aus der Gesellschaft 105, Sibylle S. 33, 58), ihr Drang, Ruhe zu finden nicht in äußerer Täuschung, sondern in voller Ueberzeugung, ihre Forderung nach Vornehmheit auch im Ertragen des Leides (vgl. Sibylle 2, 51) – diese Grundzüge kehrten in all ihren Heldinnen wieder. Sie will gehorchen („Der Rechte“ S. 9, 79), will sich unterwerfen, aber nur „dem Würdigsten“. [715] „Meine Seele ist auf die Frage gestellt“, ruft sie mit Sibylle (2, 181); sie verachtet das Halbe, das „quasi“ (Erinnerungen aus Frankreich 2, 29) und ruft, wie Ibsen’s Brand, dieser Signatur ihrer Zeit ihr „Alles oder Nichts“ ins Gesicht. Sie findet Befriedigung nicht in den Reiseeindrücken, deren Enttäuschungen sie (Sibylle 1, 50, 69 u. ö.) wie Jacobsen’s Niels Lyhne empfindet, und nicht in den socialen Einrichtungen, die sie vor dem nordischen Dichter (ebd. 2, 172) „Gespenster von Epochen, Tagen, Stunden“ nannte; nicht in den auch hier gern verglichenen christlichen Kirchen (ebd. 1, 51; 2, 150. 175. 187 f.) und nicht in den Emotionen, die sie (ebd. 2, 237) mit so modernem Durst sucht, daß der Wahnsinn des Flagellanten (Oriental. Briefe 1, 201) ihr verständlich wird. Halb Sibylle und halb Madonna (Aus der Gesellschaft S. 19) schreitet ihr Ebenbild durch die Romane – Aristokratin durchaus (ebd. S. 116), aber im Sinne des englischen Adels (Sibylle 1, 77), der nie seine Reihen schließt und dessen Glieder sich verpflichtet fühlten, „die Besten sein zu müssen, weil sie die Ersten sind“ (2, 232).

In dieser persönlichen Note, die sie mit fast unerhörter Offenheit anschlug, lag die Gefahr. Als Fanny Lewald, ihre Nebenbuhlerin in der Gunst des Publicums und in der Liebe zu Heinrich Simon, die ebenso witzige als giftige Parodie „Diogena“ (1847) gegen ihre Romane richtete, hatte sie es leicht, die immer wiederkehrenden Typen zu verspotten, oder das naive Behagen am Ausmalen eleganter Interieurs (Diogena S. 43, vgl. z. B. Sibylle 1, 244. 266), das bis zur Affectation gehende Verweilen auf der Schönheit an Hand und Fuß („Der Rechte“ u. ö.) und die Verschwendung von (allerdings charakteristischen) Fremdworten wie „nervos“, „immens“, „mirakulös“. Gewiß klingt es arg, wenn es von Sibylle (2, 125) heißt: „eine immense Seele, aber leer!“ und es reizt zum Lachen, wenn („Sigismund Forster“ S. 194) die Liebe definirt wird: „Die Liebe muß ein unvergänglicher Austausch von unerschöpflichen und magnifiken Gefühlen sein!“ Nur hätte man über diesen Aeußerlichkeiten der Autodidaktin nicht übersehen dürfen, was sie Neues gab. Ihre Psychologie ist sicher von George Sand beeinflußt; aber als Erste fand sie in der eigenen Seele jene erschütternde Wahrheit, die die moderne Poesie der Ibsen, Jacobsen, Maupassant und so vieler Anderer nicht müde ward, zu variiren: die traurige Erkenntniß von der Veränderlichkeit der Gefühle. Daß keine hohe Stimmung sich bewahren kann, daß der Glaube an ihre Unvergänglichkeit (Sibylle 1, 19) die gefährlichste aller Illusionen ist, daß alle Erfahrungen Entzauberer sind (ebd. 20, vgl. 111. 246. 296, Jenseits der Berge 2, 1 u. ö.), das empfindet sie gerade deshalb so tief, weil sie durchaus ehrlich ist. Sie erkennt, wie ihr Zeitgenosse Otto Ludwig, die Gefahr einer „im Treihbaus der Phantasie gezeitigten Gefühlswelt“ (Sibylle 1, 43) und hat den Typus des mit dem Gefühl nur spielenden Dichters in Otbert (ebd. 100–101. 123. 214. 249) so fein und wahr gezeichnet, daß die Gestalt culturhistorische Bedeutung erhält. Ihr aber war es tiefer Ernst mit der Sehnsucht, es möchte „eine große Stille über ihre Seele“ kommen (ebd. 2, 255) und sie konnte in ihrem Beichtbuch („Von Babylon nach Jerusalem“ S. 36) mit vollem Recht das Verlangen nach innerer Befriedigung, „welche auch, ohne äußeres Glück, im eigenen Busen für ihn aufgeht, weil sie aus der Harmonie zwischen Sollen und Wollen entspringt“, für den Grundzug all ihrer Bücher erklären.

Uebrigens fehlt es ihren Personen auch sonst nicht an feinen psychologischen Beobachtungen (z. B. Sibylle 2, 100) und wo das Milieu es erfordert, weiß sie auch kräftigen Realismus zu verwenden, wie in der ironischen Schilderung des bürgerlichen Eheglücks in „Sigismund Forster“, die wieder [716] an moderne Producte wie die „Verspielten Leute“ von Helene Böhlau erinnert.

P. Haffner theilt die Romane (S. 143) in drei Epochen: „Während die ersten Romane, namentlich ,Aus der Gesellschaft‘, mit stürmischer Heftigkeit der socialen und sittlichen Ordnung gegenüber die individuelle Freiheit und die Autonomie des menschlichen Herzens betonen, lenken die späteren (wie ‚Gräfin Faustine‘ und ‚Sigismund Forster‘) augenfällig in eine ruhigere Auffassung über, die letzte Reihe aber, welche mit der ‚Sibylle‘ 1846 beginnt, zeigt deutlich das Verlangen nach einer Versöhnung mit den Traditionen der Gesellschaft, eine romantische Sehnsucht nach dem in dem Mittelalter gegebenen Reichthum der Poesie und Kunst, ja sogar eine unverkennbare Hochschätzung der katholischen Kirche. Die ‚Sibylle‘, welche mit den Worten schließt: fons pietatis, salva me (Quell der Barmherzigkeit, heile mich) gab noch mehr als die Orientalischen Briefe zu der Meinung Anlaß, die Gräfin sei katholisch geworden“. Diese Eintheilung kann man im wesentlichen anerkennen, um so mehr, als die Beobachtung der Technik dazu stimmt. Sie schrieb immer mit leidenschaftlicher Hast hin („Jenseits der Berge“ 1, 228; 2, 258); und wenn auch ihr eigentliches Motiv sicher immer dies war, daß „das innere Leben aus einer Idee so beseelt werde, daß es gebieterisch eine äußere Gestalt verlangte“ („Von Babylon nach Jerusalem“ S. 160), so hat doch die Nothwendigkeit, Geld zu verdienen, mehr Antheil an der Eile der Production, als die vornehme Verfasserin zugeben möchte. Diese Hast ist sie daher nie los geworden; aber sie weiß sie doch in „Faustine“ oder „Sigismund Forster“ besser in den Dienst der Erzählung zu stellen als in „Ilda Schönholm“. Um die Verve, mit der etwa „Sigismund Forster“ einsetzt, könnten Größere sie beneiden. „Sibylle“, ihr bedeutendstes Buch, zeigt dann zum ersten Mal eine wirklich durchcomponirte Romanform. Auch ist eine größere Abnahme der Fremdwörterei anzuerkennen, die freilich die Lieblingsausdrücke schont.

Der Erfolg der Bücher war groß. „Ihre Romane wurden ihr, besonders in letzter Zeit, mit 10 Friedrichsdor für den Bogen honorirt und konnten so bezahlt werden, da dieselben, zu 4000 Exemplaren abgezogen, reißend abgingen, hauptsächlich nach Osten, auf die Landgüter in Oesterreich, Ungarn, Polen und Rußland“ (Marie Helene S. 22). In dieser Zeit erhielt wohl höchstenes ihr Gegenbild, der Fürst Pückler, solche Honorare. Der Erfolg war großentheils, wie bei ihm, in dem ungewohnten Reiz des aristokratischen Tons begründet, der Beiden so gut stand. Daneben war aber noch bei der Gräfin Hahn genug, was auch das junge Deutschland anzog: etwa ihr Urtheil über die Ehe („Sigismund Forster“; „Ulrich“) oder das Familienleben („Orientalische Briefe“ 3, 328); ihre Abneigung gegen jedes fälschende System („Sibylle“ 1, 243) und ihr Momentcultus („ich habe nur erste Eindrücke“: Jenseits der Berge 2, 310). Es klingt nach Wienbarg, wenn sie all den Geist entbinden möchte, der in die Bücher gebannt ist (ebd. S. 395), nach den Jungdeutschen überhaupt, wenn die Heldin „seelenmüde und seelenwund“ heißt („Sibylle“ 1, 170). Man hat sie ja auch oft geradezu der jungdeutschen Schule zugerechnet. Von deren Tendenzen liegen aber doch ihre Grundideen weit ab; und die meisten Kritiker haben sie mehr danach beurtheilt, als nach ästhetischen Kriterien. Der feudal-frivole, aber geistreiche A. v. Sternberg wies ihr in einer pointirten Vergleichung mit Bettina und der Paalzow den Platz über beiden an („Tutu“ S. 81 f.), parodirte übrigens gleichzeitig (ebd. S. 181 f.) die Fuß- und Handphysiognomik des „Rechten“ und anderer Hahnscher Romane (vgl. „Jenseits der Berge“ 1, 23 f.). Wolfgang Menzel wußte sich nicht recht zu stellen, lobte die Dichterin und ironisirte ihre Schriften [717] (Deutsche Dichtung 3, 446). Mit Julian Schmidt (Gesch. d. d. Literatur, 5. Aufl., 3, 349 f.) begann dann die Kritik der liberalen Bourgeoisie mit der bedeutenden Gegnerin abzurechnen und hob ihre schwachen Seiten mit so viel Erfolg hervor (vgl. Eckardt S. 245), daß K. Hillebrand 1873 seine Bekanntschaft mit ihren Briefen an Pückler (Pückler’s Briefwechsel Bd. 1) für eine wahre Entdeckung erklärte, so überraschten ihn „ihre echte und tiefe Religiosität, ihre natürliche Würde und Vornehmheit, die Höhe und Freiheit des Standpunktes; … Fülle des Geistes, Fülle und Ursprünglichkeit“ („Zeiten, Völker und Menschen“ 2, 394).

Plötzlich änderte sich ihr Schicksal und ihre öffentliche Stellung vollkommen. Die Revolution brachte sie außer sich; wie Niebuhr nach der Julirevolution oder Nietzsche nach der Commune sah sie alle Cultur und alle Schönheit gefährdet. Sie schrieb an die Prinzessin Charlotte von Holstein-Sonderburg-Augustenburg, die selbst einen liberalisirenden Roman verfaßt hatte: „Der König von Pr. hätte doch lieber Berlin exterminiren lassen oder an der Spitze seiner Garden es verlassen sollen – als so schmählich den Widerstand aufzugeben. – Wie ich gelitten habe, dafür giebts keine Worte. Die Demüthigung, eine Deutsche zu sein verschmerze ich nie!“ (Hans R. Fischer in der Vossischen Zeitung 15. Mai 1898). Die aufs höchste Erregte traf noch der schwerste Schlag: im Juni des Revolutionsjahres starb Bystram an einem qualvollen Herzleiden. Sie war gebrochen. Religiöses Interesse hatte sie immer gezeigt; der heilige Augustinus, dem sie ihre Bekehrung zuschrieb, und die heilige Theresa, die ihr Vorbild wurde, tauchen schon in dem italienischen Reisebuch („Jenseits der Berge“ 1, 217) auf. Eine Annäherung an den Katholicismus bemerkt dann Haffner mit Recht in „Sibylle“ (1846), wo auch die nach Liszt gezeichnete Gestalt des Fidelis zu beachten ist. Großen Eindruck hatte ihr in Irland die Haltung des Clerus während der Hungersnoth gemacht („Von Babylon nach Jerusalem“ S. 177 f.). Sie las mit Eifer in der Bibel, in Schriften Luther’s und Augustin’s, in den Bestimmungen des Concils von Trient. Unrichtig gibt der Bischof Haffner von Mainz in seiner flüchtigen Skizze noch eine weitere Gemüthserschütterung als mitwirkende Ursache an: sie hatte allerdings nach einer Operation Dieffenbach’s ein Auge verloren, aber schon 1840, nicht, wie er (S. 153, nach einem Druckfehler bei Marie Helene S. 48) angibt, erst 1848. – Ende 1849 war ihr Entschluß gefaßt; am 1. Januar 1850 schrieb sie an den Fürstbischof von Breslau, der ihr empfahl, sich an den Propst von St. Hedwig in Berlin, Frhr. v. Ketteler (s. A. D. B. XV, 670) zu wenden. Der feurige, großangelegte Prälat, Edelmann und Schriftsteller führte die Bekehrung rasch durch; am 26. März 1850 legte sie ihr Glaubensbekenntniß in die Hand ihres inzwischen zum Bischof von Mainz erhobenen Lehrers ab.

Für die Aufrichtigkeit ihrer Conversion spricht ihr späteres Leben überzeugender als das mit der Heftigkeit der Convertitin geschriebene Bekenntnißbuch „Von Babylon nach Jerusalem“ (1851), dessen Schwächen eine Gegenschrift von Abeken („Babylon und Jerusalem“, Berlin 1851; anonym erschienen) treffend hervorhebt, ohne doch das für die Bekehrung Wesentliche herauszufühlen. Man gab ihr vielfach Schuld, sie sei nur aus Eitelkeit übergetreten, um Aufsehen zu erregen. Allerdings erklärt sie selbst (a. a. O. S. 29) Stolz für den Grundzug ihres Charakters; und ihre schriftstellerische Eitelkeit, durch Bystram’s ihr gegenüber blinde Bewunderung genährt, war einer Zeit würdig, die diese Eigenschaft in allen Stufen von Friedrich Hebbel’s und Richard Wagner’s oft gefährlichem Selbstbewußtsein über Auerbach’s und Bodenstedt’s gemüthliche Selbstgefälligkeit bis zu Gutzkow’s widerwärtiger Selbstbespiegelung [718] in allen Nuancen blühend zeigte. Aber man sieht nicht, wie gerade die Eitelkeit sie hätte bewegen sollen, sich in ein Kloster zurückzuziehen. Vor allem aber war die Annäherung an Rom ja längst zu beobachten. Sie wollte gehorchen („Der Rechte“ S. 9, 79), wollte Ruhe in der Unterwerfung; diese Unterwerfung hat sie selbst (Haffner S. 154) als das entscheidende Motiv bezeichnet. Niemand hat das Recht, der stets ehrlichen Natur im entscheidenden Augenblicke die Ehrlichkeit abzusprechen.

Sie lebte von jetzt in Mainz und gründete dort ein Kloster der Frauen vom guten Hirten, in dem sie lebte und das sie leitete, ohne je selbst in den Orden einzutreten; hierzu fühlte sie so wenig als in der Zeit ihrer italienischen Reise den Beruf in sich. Ueber ihr Auftreten als Klosterfrau hat Marie Helene (S. 93) mit freundlicher Sympathie, Louise Mühlbach (Erinnerungsblätter hsg. v. Leo Ebersberger S. 172 f.) mit bitterem Groll berichtet. Klar ist jedenfalls, daß sie sich in die neue Welt nicht so leicht hineinfand. Sie gab auch ihre Reisen nicht ganz auf, war in der Concilszeit und wieder 1873 in Rom; und es muß wol auch als eine Art Resignation angesehen werden, wenn sie seit 1851 ihre litterarische Thätigkeit wieder aufnahm. Neben erbaulichen und historischen Schriften und Uebersetzungen (vgl. darüber Haffner S. 159) schrieb sie wieder Tendenzromane, nun aber natürlich mit streng katholischer Spitze; von 1860–1878 erstreckt sich eine rasche Production, in der eine fortdauernde Annäherung an den Typus des eigentlichen Erbauungsbuchs schon in den Titeln (Maria Regina“ 1860, „Doralice“ 1867, „Der breite Weg und die enge Straße“ 1877, „Wahl und Führung“ 1878) zu erkennen ist. Sie werden von Haffner (S. 161 f.) vom rein religiösen Standpunkt aus mit übertriebenem Lob überhäuft, von H. Keiter (S. 44 f.) in Verständiger Würdigung und klarer Analyse den früheren Schriften (ebd. S. 190 f.) gegenübergestellt. Begreiflicher Weise gehörte sie jetzt ganz nur dem katholischen Publicum an. Ihre Romane besaßen noch längere Zeit viel von den blendenden Vorzügen der „Faustina“ und „Sibylle“: geistreichen Dialog, feine Beobachtungen, elegante Zeichnungen; was ihre Bedeutung ausgemacht hatte, war mit dem Schritt vorbei, der sie innerlich beglückte: jenes leidenschaftliche Suchen, Streben, Prüfen, das die Gräfin Hahn zu einem charakteristischen Typus jener Epoche und ihre älteren Romane zu Hauptwerken jener von George Sand, Musset, Heine geführten „Desillusionslitteratur“ machte, auf der noch der psychologische Roman der Gegenwart beruht.

Sie entfaltete eine lebhafte Thätigkeit auch im Kloster, machte sich durch ausgedehnte Wohlthätigkeit verdient und ertrug den Hohn, den ihre Bekehrung zuerst erntete, mit einer zunehmenden tapferen Ruhe, die zuletzt siegen mußte.

Ein chronologisches Verzeichniß der Werke bei H. Keiter, Ida Gräfin Hahn-Hahn, Würzburg o. J.; die neue „Gesammtausgabe“ bei J. Habbel in Regensburg soll nur die Schriften der katholischen Zeit umfassen.

Biographisches: Marie Helene (Elisabeth Lemaître), Gräfin Ida Hahn-Hahn. Leipzig 1869. – Erinnerungsblätter aus dem Leben Luise Mühlbachs. Leipzig 1902, S. 134 f. – H. Keiter s. o. – (J. Eckardt,) Der „Rechte“ der Gräfin Hahn-Hahn. Deutsche Rundschau, Aug. 1900, S. 243 f. – Für die Conversion besonders ihr Buch: Von Babylon nach Jerusalem. Mainz 1851.
Litterarische Würdigung besonders bei Sternberg, W. Menzel, Julian Schmidt, K. Hillebrand s. o. – P. Haffner (später Bischof von Mainz), Gräfin Ida Hahn-Hahn. Eine psychologische Studie. Frankfurt a. M. 1880. – H. Keiter s. o.