Zum Inhalt springen

ADB:Humboldt, Alexander von

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Humboldt, Alexander von“ von Alfred Dove in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 13 (1881), S. 358–383, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Humboldt,_Alexander_von&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 22:11 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Humboldt, Wilhelm von
Band 13 (1881), S. 358–383 (Quelle).
Alexander von Humboldt bei Wikisource
Alexander von Humboldt in der Wikipedia
Alexander von Humboldt in Wikidata
GND-Nummer 118554700
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|13|358|383|Humboldt, Alexander von|Alfred Dove|ADB:Humboldt, Alexander von}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118554700}}    

Humboldt: Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander v. H., Wilhelm v. Humboldt’s jüngerer und berühmterer Bruder; der größte naturforschende Reisende aller Zeiten und dem entsprechend Meister in der Physik der Erde; dabei als vielseitigster Gelehrter und hochgestellter Gönner jeder Wissenschaft von Mit- und Nachwelt gern als Hauptvertreter deutscher Geistesrichtung im 19. Jahrhundert gefeiert; geb. am 14. September 1769 in Berlin, † ebendort am 6. Mai 1859. – Alexander v. Humboldt’s erste Jugend verlief mit der des nur zwei Jahr älteren Bruders in ein und derselben Bahn. Er empfing die gleiche treffliche Erziehung besonders durch Kunth, fast den nämlichen mannichfachen Unterricht von ausgesuchten Lehrern der Hauptstadt; er ward durch Anleitung und Umgang ebenso vertraut mit dem Geiste der Berliner Aufklärung. Blieb der jüngere Kopf als solcher anfangs zurück, weshalb man ihn vorerst mit dem Griechischen verschonte, so erkennt ihm der ältere allmählich sogar den Vorrang zu, nur daß Talent und Wißbegier verschiedene Farbe zeigen; wie denn auch in Temperament und Charakter bald wesentliche Abweichungen an den Brüdern zu Tage traten. Wenn Wilhelm gesetzter erschien, bei aller Lebendigkeit doch mehr nach innen gekehrt in der Art der Mutter, so fand man in Alexander früh die Cavaliersweise des verstorbenen Vaters wieder, jene muntere Leichtigkeit, die ihn in keiner Lebenslage verlassen, ja ihn, den Dilettanten, zum besseren Diplomaten machen sollte, als Wilhelm sich im Fach erwies. Auch daß er rasch und gut zeichnen lernte, deutete bei Alexander auf die Außenwelt. Selbst zum Militär hat er Lust verrathen, allein davon wollte die Familie nichts hören; man glaubte der vorwaltenden Begabung Spielraum genug zu gewähren, wenn man den Civildienst je nach Theorie und Praxis schied und zum Juristen den älteren Sohn, den jüngeren zum Cameralisten bestimmte. Alexander hatte nichts dagegen, im Uebrigen aber war er oft mit seiner Existenz unzufrieden; das vieljährige Leiden der Mutter, ihre kühle, strenge Haltung bereiteten ihm auf Schloß Langweil, wie er Tegel nannte, einengenden Zwang und mancherlei Entbehrung. Natürlich [359] hielt er sich auf seine Manier schadlos; wo der Bruder empfindsam schwärmt, macht er drollig den Hof, er moquirt sich über jedermann, un petit esprit malin heißt er mit 15 Jahren. Wer ihm nahe stand, ließ sich indeß dadurch nicht irren: „er ist wahrlich ein wackerer Junge, der einmal viel Nutzen stiften wird“, schreibt Wilhelm vier Jahr darauf, „sein Herz, so boshaft er manchmal scheint, ist doch im Grunde sehr gut. Sein Hauptfehler nur ist Eitelkeit und Sucht zu glänzen; die Ursach davon aber ist, weil er nie ein starkes Interesse des Herzens gehabt hat“. Wie im Keime liegen da die Triebe seines Wesens bei einander; nur das Herzensinteresse darf man ihm nicht in jedem Sinne absprechen. Zwar die Liebe, worauf jenes Urtheil anspielt, blieb ihm wol immerdar fremd, während er sich doch der treuesten Freundschaft fähig zeigte; desto mehr aber ergriff er mit voller Wärme des Gemüths die Wissenschaft selbst. Eben weil ihm diese so wahrhaft Herzenssache war, hat er damit unendlich mehr als bloßen Nutzen gestiftet, hat auch die Eitelkeit, die er allerdings nie ganz abgelegt, dem bewunderungswürdigen Gewebe seiner Thätigkeit nur gleichsam äußerlich ihre Marke aufheften können. Die Spottsucht endlich, mit der er nach wie vor die Menschen, nicht am letzten jedoch sich selber schelmisch zu betrachten pflegte, war wirklich nur die glitzernd bewegte Oberfläche tiefer Gutmüthigkeit und eines alle humanen Bestrebungen mit Ernst umfassenden Wohlwollens.

Nachdem die Gebrüder H. ihr erstes Semester auf der herabgekommenen Universität Frankfurt zugebracht, ging Wilhelm nach Göttingen, während Alexander noch auf ein Jahr mit dem Hofmeister nach Berlin zurückkehrte. In dieser Zeit, Ostern 1788–89, tritt seine intellectuelle Eigenthümlichkeit bereits in einigen Grundzügen deutlich hervor. Muthigen und beharrlichen Fleiß bewies er jetzt am Griechischen, die Gabe, sich eigene Fragen aufzuwerfen, in der Mathematik. Ganz selbständig gerieth er auf das Bedürfniß der Herstellung von Logarithmen für Addition und Subtraction; ja der Lösung des erkannten Problems, die dann Gauß gelang, kam er nahe, ohne sie doch zu erreichen. Höchst charakteristisch ist das Zeugniß, das sein Lehrer E. G. Fischer dem Neunzehnjährigen gab: er wäre, wenn er sich mit Mathematik allein oder doch hauptsächlich hätte beschäftigen können, ein sehr guter Mathematiker geworden. Denn ähnlich ist es H. wegen der erstaunlichen Vielseitigkeit seines Strebens hernach auch in anderen Einzeldisciplinen ergangen: eine Zeit lang nimmt er an den Untersuchungen dieser oder jener Specialwissenschaft selbstthätig einen achtungswerthen Antheil, stets in Berührung mit ihren wichtigsten Aufgaben; allemal aber geschieht der Intensität seiner Forschung durch die übermäßige Ausdehnung seines Interesses mehr oder weniger erheblicher Abbruch. Nichts übrigens war in dieser Hinsicht von Haus aus so verführerisch wie der Hauptgegenstand seiner damaligen Studien, die Technologie, zumal wenn sie ein so entschiedener Polyhistor wie Propst Zöllner vortrug. Liegen nun in alledem mehr formelle Hinweise auf Art und Umfang seiner späteren Leistungen, so ward gleichzeitig auch materiell ein Zugang zu diesen eröffnet durch die Botanik, die H. jetzt erst durch den jungen Willdenow kennen lernte. In den enthusiastischen Aeußerungen, die sie ihm entlockt, wird der nationalökonomische Eifer des Cameralisten und der Nützlichkeitstrieb des Zöglings der Aufklärung schon erfreulich durch die Flamme reiner Naturfreude erwärmt, die sich seit Rousseau’s Tagen so gern gerade an dieser Seite des kosmischen Lebens entzündete. Kaum eingeweiht aber faßt der vorwitzige Student den kühnen Plan zu „einem Werke über die gesammten Kräfte der Pflanzen (mit Ausschluß der Heilkräfte), zu dem er mehrere Menschen mit sich zu vereinigen strebt“, so sehr steckt ihm von Anfang an der encyklopädische Hang im Blute; nicht minder freilich das Bewußtsein von der Nothwendigkeit gründlicher Detailarbeit: in den ersten zehn Jahren will er sich hüten als Autor aufzustehen, [360] es sei denn, daß er etwas sehr neues oder wichtiges entdecke. In solcher Stimmung ging er im Frühling 1789 nach Göttingen, wo er noch einige Monate mit dem Bruder zusammenlebte, sodann aber, da der Erzieher in Berlin geblieben, sich zum erstenmal auf sich selbst angewiesen sah. Ebenso vortrefflich wie Wilhelm verstand auch er den einjährigen Cursus auf der Georgia Augusta auszunutzen; seinem Beispiel folgend ließ er sich durch Heyne ins klassische Alterthum einführen, dem er seitdem zeitlebens die liebevollste Verehrung gewidmet hat; in einer Seminararbeit über die Webereien der Griechen, die jedoch niemals publicirt ward, verschmolz er mit Vergnügen seine technologischen und antiquarischen Studien. Daneben aber empfing er nun in reicherem Maße naturwissenschaftliche Unterweisung, vorzüglich durch Blumenbach, Kästner und Lichtenberg; manches, wie z. B. die Mineralogie, trieb er auch wol auf eigene Faust auf kleinen Excursionen und besonders während des Ferienausflugs, den er im Herbst 1789, wiederum nach dem Vorgange des Bruders, ins Rheinland unternahm. Eine Frucht dieses Ausflugs ist seine erste größere Schrift – denn jetzt widerstand er doch nicht länger dem Reize litterarischer Ehren – die „Mineralogischen Beobachtungen über einige Basalte am Rhein“, worin er der herrschenden neptunistischen Meinung über den Ursprung dieses Gesteins durchaus beistimmte. Das Büchlein ist trotzdem merkwürdig durch die Verbindung von philologisch-historischer mit physikalischer Gelehrsamkeit, die seinen späteren Hauptwerken eine so eigenthümliche Zierde verleiht. Die Bekanntschaft mit Forster, der dem jüngeren H. in Mainz ebenso liebenswürdig begegnete wie zuvor dem älteren, hatte für jenen die wichtige Folge, daß er im nächsten Jahr, vom März bis in den Juli 1790, seine erste größere Reise, rheinab durch Belgien und Holland nach England und zurück über Paris in der interessanten Gesellschaft des Weltumseglers ausführen durfte. H. hat diese Reise stets als eine Epoche in seiner Entwicklung betrachtet: in Georg Forster, der darin selbst wieder das Vorbild seines originellen Vaters abspiegelte, erschien ihm der Meister einer neuen, auf vergleichende Länder- und Völkerkunde berechneten Reisekunst; durch ihn fühlt er sich bestärkt in seinem Trachten nach Universalität der Beobachtung, nach Verallgemeinerung der Naturansicht; jetzt wird ihm hell, was „lange vor dieser glücklichen Vertraulichkeit in ihm selber aufgedämmert war“. Der Anblick des Seewesens in Holland und England steigerte den Einfluß dieses persönlichen Musters; von da an muß man die ernstliche Weltreiselust in H. datiren, die frühere knabenhafte Sehnsucht nach dem Fernen und Fremden, gelegentlich durch äußere oder innere Bilder erregt, kommt weit minder dafür in Betracht. Vorläufig aber war an Erfüllung solcher Wünsche keineswegs zu denken; mit einsichtiger Geduld vielmehr arbeitete H. noch direct auf eine praktische Laufbahn im Finanz- und Cameralfach hin und unterzog sich deshalb nach der Heimkehr zunächst bis Ende 1790 in Hamburg mercantilen Studien, über Geldumlauf, Buchhaltung u. dgl. auf der dortigen Handelsakademie von Büsch und Ebeling. Nach einer kurzen Pause am mütterlichen Wohnsitz, die durch neue botanische Uebungen ausgefüllt ward, begab er sich im Juni 1791 zu neunmonatlichem Aufenthalt nach Freiberg auf die Bergakademie, wohin ihn der Ruf Werner’s, des Gründers der Geognosie, schon längst mächtig lockte. Er gewann hier an Leopold v. Buch und Joh. Karl Freiesleben Mitschüler und lebenslänglich hochgeschätzte Freunde; wenn ihm der erstere in späteren Jahren zur höchsten Autorität in allen geognostischen Fragen ward, so verdankt er dem letzteren, den Werner zu seinem Begleiter bestellte, die bergmännische Einführung in die Welt der Gruben und versetzt ihn deshalb pietätsvoll neben Willdenow unter die Urheber seiner realen Naturerkenntniß. Aller Kränklichkeit ungeachtet, die er seit dem Eintritt in Göttingen eigentlich nie recht überwunden hatte, lebte sich H. mit gewohnter Energie in das unterirdische Wesen [361] ein, durchforschte mit Freiesleben auch das böhmische Mittelgebirge und vollendete rühmlich im Februar 1792 den Freiberger Cursus und damit einen fast fünftehalbjährigen, nach innen und außen ungewöhnlichen Studiengang.

Bereits im Mai 1791, bevor er nach Freiberg abging, fast in demselben Augenblicke, wo sein älterer Bruder zu allgemeinem Bedauern den Staatsdienst mit einem idealistischen Stillleben vertauschte, hatte sich H. beim Minister v. Heinitz zu künftiger Anstellung im Bergfach gemeldet, die ihm jetzt sofort ohne jegliche Prüfung mit schmeichelhaftem Entgegenkommen gewährt ward. Er machte zwar kein Hehl daraus, daß auch ihm eine unabhängige Beschäftigung mit der Wissenschaft jenseit der öffentlichen Carriere als Ziel vorschwebe, allein er trat doch in die letztere von vornherein mit so lebendigem Eifer ein, daß man dringend hoffte, ihn auf die Dauer darin festzuhalten. In der That fiel fürs erste sein eigener Wunsch nach praktischer Ergänzung seiner mannichfachen Naturkunde mit dem Interesse des Staatsamtes durchaus zusammen. Gleich im Sommer 1792 entsandte Heinitz den noch nicht 23jährigen Assessor in die neuerworbenen fränkischen Fürstenthümer zur Untersuchung des Bergwesens und der verwandten Industrie und trat ihn im Herbste förmlich als Oberbergmeister von Baireuth und Anspach an das dortige Landesregiment unter Hardenberg ab. Mehr als vier Jahre, bis zum Frühjahr 1797, hat H., allerdings mit vielfältiger Unterbrechung, die Leitung des fränkischen Bergbaues in Händen gehabt und dabei durch Fleiß und Geschick, Uneigennützigkeit und Pflichttreue nicht blos wirthschaftlich die größten Erfolge erzielt, sondern auch das Wohl der ihm untergebenen Arbeiterbevölkerung menschlich zu fördern verstanden; aus eigenen Mitteln gründete er an seinem Hauptsitze, zu Steben bei Naila, eine bergmännische Freischule und mühte sich aufopfernd mit der Erfindung von Athmungsapparaten und Sicherheitslampen ab, um den Gefahren der Grubenwetter wirksam zu begegnen. Alles in allem erwogen bildet seine glückliche Thätigkeit wol die glänzendste Seite der belebenden Verwaltung jener Lande während der Regierung Hardenberg’s, weshalb dieser schon damals von Humboldt’s Fähigkeiten eine ungemeine Vorstellung hegte. So nahm er ihn im Sommer 1794 als diplomatischen Gehülfen mit nach Frankfurt und zur preußischen Rheinarmee und schickte ihn zwei Jahr darauf ins Hauptquartier Moreau’s, um die Franzosen von einer Verletzung der Neutralität des fränkischen Kreises zurückzuhalten. Natürlicher erscheint uns, wenn hernach 1807 Hardenberg’s große Denkschrift über die Reorganisation des preußischen Staates als geeignetsten Unterrichtsminister den nun schon weltberühmten Alexander v. H. in Aussicht nimmt, wenn der Staatskanzler diesem 1810 das durch Wilhelms Rücktritt erledigte Amt wirklich anbietet. Aber auch zum diplomatischem Ersatz des älteren Bruders, mit dem er damals bereits entschieden gespannt war, hat Hardenberg noch einmal den jüngeren erlesen, indem er ihm 1816, wiewol gleichfalls vergeblich, die Geschäfte der Pariser Gesandtschaft antrug. Nicht diesen Vorgesetzten jedoch allein wußte H. zufriedenzustellen; kaum geringere Anerkennung erwarb er sich beim Berliner Bergdepartement, in dessen Auftrag er 1793 die Steinsalzgruben und Siedanstalten in Oberbaiern, Salzburg, dem Salzkammergut und Galizien, 1794 abermals zu halurgischen Zwecken außer Kolberg und dem Netzedistrikt noch die sämmtlichen jüngst annectirten polnischen Landstriche bereiste. 1795 ward ihm deshalb die ansehnliche Stellung eines Oberbergmeisters von ganz Schlesien und Südpreußen zugedacht, und da er sie unter Hinweis auf seine selbständigen Pläne für die Zukunft ablehnen zu müssen glaubte, gab man ihm doch, um ihn nur überhaupt zu fesseln, einen höheren Titel und ausgedehnten Urlaub zu einer geognostischen Privatreise durch Oberitalien und einen großen Theil der Alpen. Nichtsdestoweniger nahm er, nachdem ihn der Tod der Mutter im November 1796 zum Herrn eines beträchtlichen [362] Vermögens gemacht, ohne Schwanken seinen Abschied, um hinfort ganz ungestört der Wissenschaft zu leben, die er freilich auch im praktischen Berufe niemals aus den Augen verloren. Im Gegentheil darf man behaupten, daß er gerade in jenen neunziger Jahren mit dem eifrigsten und erfolgreichsten Bemühen in die produktive Bewegung auch der strengeren Disciplinen der Naturforschung eingegriffen; nie wieder hat er so fleißig und vielseitig experimentirt wie damals. Die Mineralogie und noch mehr sein Trachten nach einer „unterirdischen Meteorologie“ führten ihn in Physik und anorganische Chemie ein; auf die organische und damit alsbald auf die Pflanzenphysiologie sah er sich durch die Botanik verwiesen; mit der thierischen Physiologie befreundete ihn Galvani’s Aufsehen erregende Entdeckung. Mit Beobachtung und Versuch vermählt er theoretische Hypothesen, vor Allem über die modischen Lieblingsprobleme der Lebenskraft und der Reizbarkeit. Durch zahlreiche Aufsätze in allerhand gelehrten Zeitschriften, die zuletzt (1799) in zwei größeren Sammlungen vereinigt erschienen, erwirbt er sich einen weitverbreiteten Ruf; in Briefwechsel und Gespräch, lebhaft begeistert für die Sache, wenn auch nicht frei von persönlicher Ostentation, weiß er sich und seine Wissenschaft geltend zu machen. Von höherer Bedeutung sind besonders die beiden Hauptschriften aus den Jahren 1793 und 1797: die lateinisch verfaßte „Flora von Freiberg“ mit ihrem Anhang von Aphorismen aus der chemischen Physiologie der Pflanzen, und die noch schätzenswertheren „Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser, nebst Vermuthungen über den chemischen Prozeß des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt“. Hat doch an die so früh von H. ausgesprochenen und begründeten Ansichten über die Ernährung der Pflanzen noch 1840 Liebig dankbar erinnert; während an seine gediegenen experimentellen Untersuchungen über den Galvanismus, welche der ablenkenden Leistung Volta’s gegenüber in unbillige Vergessenheit geriethen, die moderne Arbeit auf dem Felde der thierischen Elektricität ein halbes Jahrhundert später wieder anknüpfte. Eigenthümlich, wiewol sehr begreiflich, ist es übrigens, daß H. selbst von diesen Fragen der reinen Naturlehre in der Folge völlig abgezogen ward durch das Uebergewicht seiner erdphysikalischen Tendenzen, wie er sie schon damals wenigstens als umfassende Entwürfe in sich nährte. Gleich 1792 trägt er sich so mit einer Karte „über den Zusammenhang aller Salzquellen in Deutschland“; vier Jahre drauf glaubt er in „einem großen geognostischen Werke über die Construction des Erdkörpers im mittleren Europa“ beweisen zu können, daß in jenem ganzen Gebiete das Streichen und Fallen der Gesteinschichten einer bestimmten, von Richtung und Abfall der Gebirge unabhängigen Regel unterliege. Dies Gesetz wie ein zweites über die gleichzeitige Ablagerung gleicher Flötzgesteine hofft er dann auch in Amerika und somit über die ganze Erde hin bestätigt zu finden. 1794 brütet er wieder, ähnlich wie einst als Student, über einem erst in 20 Jahren zu vollendenden Buche, „das die Pflanzenschöpfung in Verbindung mit der ganzen übrigen Natur nebst ihrem Einfluß auf den empfindenden Menschen schildern sollte“. Umständlichere Auslassungen in einem Brief an Schiller (vom 6. August) enthüllen uns, daß er dabei vorzüglich die „Pflanzengeographie“ im Auge hatte; besonders deutlich lassen sich die Keime dessen erkennen, was er später als Ideen zur Physiognomik der Gewächse dargelegt hat.

In solchem Zusammenhange wird es wol kaum überraschen, wenn man aus einem Schreiben an Pictet vom 24. Januar 1796 erfährt, daß H. sich zu jener Zeit bereits schlechthin zur Conception „der Idee einer Weltphysik“ erhoben hatte. Im ersten Umriß also stand das Bild des „Kosmos“, des Werkes seines Lebens, wie er es 1834 nennt, als Ziel seiner Wünsche damals vor seiner Seele. Und an und für sich dürfte man ja eine solche Conception von keinem anderen Zeitalter eher erwarten, als von diesem, wo das weltbürgerliche 18. Jahrhundert [363] sich tiefer denn je wie zum Abschied in der Neige seiner universalistischen Ideale berauschte. Will man jedoch näher den Ort bestimmen, den Humboldt’s Kosmosidee unter den verwandten Gedanken der Zeitgenossen einnimmt, so muß man sie sorgfältig trennen von der auf Welterklärung abzielenden Naturphilosophie, der mathematisch-physikalischen Speculation im Geiste Newton’s, in welcher Kant’s genetische Betrachtungsweise den letzten Fortschritt bezeichnet, der auf dem Grunde des realen Naturwissens jener Tage möglich war. Es bedurfte danach, wie der newtonischen Epoche eine Periode empirischer Beobachtung hatte voraufgehen müssen, erst einer abermaligen, durch manches Jahrzehnt hindurch fortgesetzten Inductionsarbeit, um das breite Fundament zu schaffen, über welchem sich der Neubau einer erhöhten deductiven Erkenntniß der Natur errichten ließ. H. selbst, in auffallendem Gegensatz zu seinem Bruder von Kant’s Doctrin fast gar nicht berührt und überhaupt, wie seine Versuche auf dem Gebiete der Lebenstheorie beweisen, speculativ nicht sonderlich begabt, fühlte natürlich destoweniger Neigung, auf jenen vorderhand abgeschlossenen philosophischen Pfaden vergeblich weiter zu streben. Taktvoller Realismus hielt ihn von den tollkühnen Abenteuern Schelling’s und Hegel’s fern, deren sogenannte Naturphilosophie die unbequemen Schranken des empirischen Zeitwissens überflog, um sich sodann halt-, ziel- und nutzlos ins Blaue zu verlieren. Sein Lebelang blieb er vielmehr der Erfahrungswissenschaft unverbrüchlich treu, so sehr, daß er am Ende sogar die modernste Entwickelung wahrhaft principieller Naturlehre, die uns aus der mechanischen Wärmetheorie erwuchs, nur mit mißtrauischer Scheu betrachten mochte; er hat sie zwar äußerlich noch erlebt, innerlich aber ist er ihr fremd geblieben. Höchst lebendig dagegen war in ihm immerdar der ästhetische Drang nach einheitlicher Erfassung der Natur. Indem er auf die Erklärung ihrer Totalität, auf die noch uneröffnete Einsicht in den Causalzusammenhang aller Erscheinungen aufrichtig verzichtete, trieb es ihn doch unwiderstehlich zur Anschauung und Schilderung des Naturganzen im Neben- und Durcheinanderwirken der Kräfte; er stellte sich die Aufgabe einer physikalischen Weltbeschreibung, in der die Außenwelt mit all ihren Gruppen von Phänomenen, auch wo diese noch durch kein in die Tiefe weisendes Gesetz innerlich verbunden erschienen, doch in der künstlerischen Composition eines einzigen großen Gemäldes sich darstellen sollte. In ihrer descriptiven Richtung, wie außerdem durch die individuelle Thatsache, daß H. selbst vornehmlich von botanischen Studien aus dahin vorgedrungen ist, schließt sich demnach diese seine Kosmologie noch an die Linné’sche Aera der Naturwissenschaft an; allein wie weit erhebt sie sich über deren lediglich systematische Gesichtspunkte! Sie ergreift die Natur in der ganzen ungeheuren Complication der lebendigen Wirklichkeit, wozu ihr die sogenannte physikalische Geographie, wie sie durch den älteren Forster auf deutschen Boden und durch den jüngeren auf H. persönlich übertragen worden, vortrefflich vorgearbeitet hatte. Aus dieser noch rohen und unvollständigen physischen Erdkunde die großartigste Erdphysik, ja durch deren weitere Verbindung mit der Himmelskunde eine Weltphysik hervorzugestalten, bildete dann Humboldt’s eigenstes Werk und Verdienst. In der Grundansicht, jedoch, die hierzu erforderlich war, von dem alldurchdringenden Wesen der in der unermeßlichen Breite ihrer Erscheinung überall mit sich selbst einstimmigen Natur traf er, wiewol auch dafür einige Winke Georg Forster’s zu gebrauchen waren, aufs denkwürdigste doch mit Goethe’s so oft und so herrlich ausgesprochenen Ideen zusammen. Wie bedeutsam nehmen sich daher die Besuche aus, die H. 1794 und 1795 vom Fichtelgebirge her, durch seinen Bruder eingeführt, als willkommener Gast empfangend und spendend in Jena abgestattet! „In den Wäldern des Amazonenflusses wie auf dem Rücken der hohen Anden“, schreibt er am 14. Mai 1806 an Karoline v. Wolzogen, „erkannte ich, wie von Einem [364] Hauche beseelt von Pol zu Pol nur Ein Leben ausgegossen ist in Steinen, Pflanzen und Thieren und in des Menschen schwellender Brust. Ueberall ward ich von dem Gefühl durchdrungen, wie mächtig jene Jenaer Verhältnisse auf mich gewirkt, wie ich durch Goethe’s Naturansichten gehoben, gleichsam mit neuen Organen ausgerüstet worden war!“ Wie Wilhelm v. Humboldt’s gleichzeitigen Entwurf einer den geistigen Kosmos umfassenden Anthropologie, darf man demnach auch Alexanders Plan zu einer Weltphysik getrost mit dem Centralfeuer unserer damaligen nationalen Bildung in Verbindung denken. Nur übersehe man darüber nicht die überaus wichtige Differenz, die auf der anderen Seite zwischen der Sinnesart unseres H. und der poetisch-philosophischen Stimmung jener klassischen Lebenskreise bestand! War man im Schema der Gesammtempfindung und -betrachtung einig, so wich in der Methode der Einzelerkenntniß H. weit ab vom Goethe’schen Wege genialer Intuition; darin erschien er vielmehr durchaus als Repräsentant der echten experimentellen, messenden, wägenden und berechnenden Naturwissenschaft; mit einem Fuße sozusagen steht er so schon im 19. Jahrhundert. Diese Doppelnatur ist es, was ihm ähnlich wie dem Bruder seine eigenthümliche Stellung in der modernen Geistesgeschichte anweist; aus ihr erklärt sich sowol der herbe Tadel, den damals (1797) Schiller über sein exactes Gebahren aussprach, wie die umgekehrte Unterschätzung, die er später nicht selten von einseitigen Vertretern der inzwischen zur Alleinherrschaft gelangten empirischen Specialforschung erfuhr. Aus ihr erklärt sich aber auch positiv seine wunderbare Fähigkeit, theoretisch zwischen so grell verschiedenen Generationen und praktisch, als unparteiischer Schützer und Pfleger, zwischen scheinbar entgegengesetzten Kulturinteressen zu vermitteln.

Sobald H. sein Verhältniß zum Staate gelöst, stand, wie es schien, der Ausführung seines langgehegten Wunsches, eine ferne wissenschaftliche Reise, womöglich nach Westindien, zu unternehmen, kein Hinderniß mehr im Wege. Was ihn trotzdem noch beinah drittehalb Jahr in Europa zurückgehalten, war einmal der Trieb, sich in jeder Hinsicht genügend auf die vielseitigste Forscherarbeit vorzubereiten, außerdem jedoch die Verwicklung der politischen Welthändel, die auch den wohlhabenden und ungebundenen Privatmann seine Abhängigkeit vom öffentlichen Leben peinlich empfinden ließ. Sein nächstes Vorhaben war ein Ausflug nach Neapel und Sicilien, wo er vornehmlich die thätigen Vulkane zu Vorstudien für die heiße Zone zu benutzen gedachte. Da auch Wilhelm mit seiner Familie nach Italien aufbrechen wollte, so stellte sich Alexander im Frühling 1797 in Jena ein und füllte einen dreimonatlichen Aufenthalt daselbst mit anatomischen Uebungen unter Loder’s Leitung aus. Gemeinsam ging es dann über Dresden und Prag nach Wien; hier aber erkannte man die Unmöglichkeit, in den von Krieg und Revolution zerrütteten Süden vorzudringen. Während deshalb Wilhelm nach Paris übersiedelte, brachte Alexander mit Leopold v. Buch den Winter abwartend in Salzburg zu, wo ihn neben geognostischen und eudiometrischen Untersuchungen als weitere technische Reiseexercitien meteorologische und erdmagnetische Beobachtungen, barometrische und trigonometrische Höhenmessungen und namentlich auch die ihm von Zach ans Herz gelegten astronomischen Observationen zum Behufe geographischer Ortsbestimmung reichlich beschäftigten. Mittlerweile traf ihn eine Einladung des wunderlichen Lord Bristol zu kostenfreier Theilnahme an einer touristischen Excursion nach Oberägypten, worauf er in der Absicht einging, sich hernach selbständig ins vordere Asien zu begeben, das ihn in manchem Betracht für den vereitelten Besuch Italiens entschädigen mochte. Um sich einige noch fehlende Instrumente zu beschaffen, eilte er im Mai 1798 nach Paris; schon unterwegs jedoch erhielt er Kunde von der ägyptischen Expedition Bonaparte’s, um derentwillen Lord Bristol noch vor seinem Aufbruch aus Mailand, [365] vermeintlich als britischer Agent, verhaftet ward. In Paris, welches derzeit für die Metropole der exacten Wissenschaften gelten durfte, erwarteten H. die interessantesten und belehrendsten Beziehungen; allein von Ungeduld ergriffen, stand er doch keinen Augenblick an, sich zum Begleiter der großartigen Weltumsegelung anzutragen, welche das Directorium soeben durch Kapitän Baudin ins Werk zu setzen beschlossen hatte. Während der vielversprechenden Zurüstungen gewann er die Freundschaft des jungen Aimé Bonpland, der als Botaniker die Fahrt Baudin’s mitmachen sollte, nun aber vom Schicksal auserkoren ward, als Humboldt’s guter Kamerad und Adjutant eine durch seine eigene wissenschaftliche Bedeutung schwerlich in dem Maße verdiente Unsterblichkeit zu erringen. Nach vier Monaten nämlich voller Hoffnung und Spannung sah sich H. abermals getäuscht, da die französische Regierung angesichts neuer continentaler Kämpfe das ganze Unternehmen plötzlich vertagte. Noch einmal tauchte darauf die Aussicht auf Afrika und den Orient vor ihm auf, indem sich der schwedische Consul Skjöldebrand erbot, ihn von der Provence nach Algier zur Erkundung des Atlas und von da nach Aegypten überzuführen. Im Herbst 1798 fand sich H. mit Bonpland in Marseille ein; auch diesmal aber verdarben Mißgeschick und Krieg das Spiel. Um nicht länger müßig still zu liegen, wandten sich daher die Freunde zu Ende des Jahres nach Spanien, dessen östlichen Küstenstrich sie bis Valencia durchforschten. Noch immer hielt indeß H. an dem Plan auf Nordafrika fest und erst in Madrid, wo er Anfang Februar 1799 anlangte, ist er auf seine ursprüngliche Idee einer amerikanischen Reise zurückgekommen. Hatte er einst über England gehen wollen, so that sich jetzt ein directerer Weg auf; nur wäre es ihm selber nie gelungen, das damals durch die politische Lage wirklich gerechtfertigte Mißtrauen der spanischen Regierung gegen jegliche auf die transatlantischen Colonien gerichtete Wißbegier zu überwinden. Es bildet den Ruhm des sächsischen Gesandten Baron Philipp v. Forell, aus Mitgefühl für die Wissenschaft den frivolen Minister Urquijo und durch ihn König Karl IV. für Humboldt’s Anliegen gewonnen zu haben. Mit der liberalsten Erlaubniß zu jederlei Forschung in allen überseeischen Besitzungen Spaniens versehen, eine außerordentliche Gunst, die H. gern durch Mittheilung von Resultaten und Sammlungen vergolten hat, verließen beide Gelehrte im Mai die Hauptstadt, um sich am 5. Juni zu Coruña auf der Fregatte Pizarro einzuschiffen. Nach soviel endlich überstandenen Widerwärtigkeiten fühlte sich H. neu von Muth und Zuversicht erhoben: „der Mensch muß das Große und Gute wollen!“ ruft er wiederholt in seinen Abschiedsbriefen aus. Er stand dem Ausgang seines 30. Jahres nah; ein Drittel seiner Tage lag hinter ihm, gleichsam die einfach klare Exposition zur gewichtigen Handlung seines Lebens. „Er macht eine einzig schöne Reise“, schreibt Wilhelm kurz darauf an Goethe, „und ist ein glücklicher und beneidenswürdiger Mensch. Es ist selten, daß das Schicksal einen Menschen so begünstigt, das zu werden, wozu ihn die Natur bestimmt hat, und noch seltener, daß ein Mensch selbst diese Bestimmung so früh und so ganz findet. Er hat sich nie einen einzigen Augenblick von seinen Lieblingsstudien abbringen, nie auf seinem Wege irre machen lassen, und was ihn darauf erhalten hat, war einzig sein Genie.“

Humboldt’s Abwesenheit von Europa dauerte etwas über fünf Jahre, vom 5. Juni 1799 bis zum 3. August 1804, wo er in Bordeaux ans Land stieg. Die Kosten des großen Unternehmens, die er, auch für Bonpland, ganz aus eigenen Mitteln bestritt, betrugen zwischen 30,000 und 40,000 Thaler und verzehrten außer den Zinsen den fünften Theil seines Kapitals. Seine rastlos energische Thätigkeit, die ununterbrochene Heiterkeit seines Gemüths ward während jener langen Zeit nicht wenig durch eine unerschütterliche Gesundheit befördert, [366] deren er sich vordem im Vaterlande keineswegs erfreut hatte. Die Tropenwelt erschien ihm daher so recht als sein Element, das er, in die Heimath zurückgekehrt, durch eine ungewöhnlich hohe Temperatur seiner Wohn- und Arbeitsräume zu ersetzen suchte. Nur eine rheumatische Schwäche des rechten Arms, die ihn im Alter nöthigte, in gebückter Stellung auf dem Knie statt auf dem Tische zu schreiben, trug er als übles Andenken an die feuchten Blätterlager der Nächte am Orinoko davon. Gefahren gewaltsamer Natur hatten die Reisenden sehr selten zu bestehen; die schlimmsten aller Unbilden erlitten sie von den Insekten der Urwaldströme. Dramatisches Interesse bietet deshalb ihre Wanderung wenig, und da dieselbe überdies keine Entdeckungsreise im geographischen Sinne des Wortes war, sich vielmehr ausschließlich auf längst, wenn auch meist nur oberflächlich bekannte Erdräume erstreckte, so wird man vorziehen, ihre Hauptrichtungen und -wendungen in allgemeinem Umriß sich zu vergegenwärtigen, anstatt am unwesentlichen Schwall und Pomp vielsilbiger und volltönender Ortsnamen von indianischem oder castilianischem Gepräge die Sinne zu ermüden. Ein kurzer Besuch der Insel Teneriffa war von Haus aus verabredet worden; man streifte so das verschlossene Afrika wenigstens von der Seeseite, und die Ersteigung des Pic (am 22. Juni 1799) ersetzte vollauf die des Vesuv und Aetna. Obwol dann eigentlich die Absicht gewesen war, sogleich über Cuba nach Mexiko zu gehen, ließ sich H. durch den Ausbruch des Fiebers an Bord bestimmen, schon in Cumanà zu landen; ein Entschluß von den wichtigsten Folgen. Denn gerade hier in Venezuela gerieth er unmittelbar in die beinah unberührte Wildniß aequinoctialer Pflanzenschöpfung, von deren überwältigendem Eindruck entzückte Briefe Zeugniß ablegen. So wurden denn fast anderthalb Jahre (vom 16. Juli 1799 bis 24. November 1800) der Erforschung dieser Provinz in ihren drei Regionen, dem Küstengebirge, den Llanos und dem Waldgebiet am Orinoko gewidmet. Darauf erst ging es zu Schiffe nach der Havana, wo sich nun wie zum Contrast Gelegenheit zum ökonomischen Studium eines Tropenlandes im Kulturzustande bot. Dieser erste Aufenthalt in Cuba (vom 19. December 1800 bis 8. März 1801) ward vorzeitig abgebrochen in Folge der falschen Nachricht, daß die nun doch zustande gekommene Baudin’sche Expedition den Weg ums Cap Horn gewählt habe, für welchen Fall H. noch bei seiner Abfahrt aus Europa dem Capitän seinen eigenen Anschluß von einem südamerikanischen Hafen aus versprochen hatte. Seiner Zusage getreu segelte er nach Carthagena, woran sich (vom 30. März 1801 an) eine dreivierteljährige Reise aufwärts durch Neugranada reihte, zuerst auf dem Magdalenenstrom, hernach, unter den größten Beschwerden, über Bogotà durch die Cordilleren nach Quito. Erst hier, zu Anfang 1802, erfuhr man, daß Baudin im Gegentheil die östliche Richtung eingeschlagen habe; und scheinbar nicht mit Unrecht beklagte H. die Hunderte von Meilen, die er um eines verfehlten Rendezvous willen durch ein Land zurückgelegt, welches er im eigenen Interesse niemals aufgesucht haben würde. Es kam hinzu, daß er in Folge dessen in der nächsten Periode seiner Reise (vom 6. Januar 1802 bis 15. Februar 1803) in den Anden von Ecuador und Peru, sowie an der vorliegenden Südseeküste sich zum großen Theil auf einem schon von La Condamine und Bouguer wissenschaftlich erkundeten Boden bewegte. In Wahrheit aber hat ihn gerade so ein freundlich neckisches Geschick im Hinblick auf seinen eigenthümlichsten Zweck an den günstigsten Platz geführt. Denn von dieser Gegend hatte schon Herder 1784 prophetisch gerühmt, daß sie „für die größere Naturgeschichte, für Einheit und Gewißheit des bisher von der physischen Beschaffenheit der Erde einzeln Erkannten“ sich als die interessanteste der Welt erweisen werde. Es ist, um Humboldt’s eigene Worte zu gebrauchen, der Theil der Erdoberfläche, „wo im engsten Raume die Mannichfaltigkeit der Natureindrücke [367] ihr Maximum erreicht“, wo dem Menschen verliehen ist, ohne daß er seine Heimath verließe, „alle Pflanzengestalten der Erde zu sehen, wie das Himmelsgewölbe von Pol zu Pol ihm keine seiner leuchtenden Welten verbirgt“. Hier also fand eine vergleichende Naturbetrachtung, eine – nach Humboldt’s Lieblingsausdruck – auf „Verallgemeinerung der Ideen“ hinzielende Induction das vollständigste Material von der Natur selbst gesammelt, ja in gewissem Sinne bereits geordnet vor: „Dort sind die Klimate wie die durch sie bestimmten Pflanzenzonen schichtenweise übereinander gelagert, dort die Gesetze abnehmender Wärme, dem aufmerksamen Beobachter verständlich, mit ewigen Zügen in die Felsenwände der Andeskette, am Abhange des Gebirges, eingegraben.“ Nimmt man noch die geologische Beschaffenheit jenes Terrains hinzu, das wie kein anderes die erdumwandelnde Macht des Vulkanismus zur Anschauung bringt, so bleibt kein Zweifel, daß H. ebenda, zumal in der Landschaft von Quito, die klassische Stätte für seine Weltphysik fast wider Willen aufgefunden. Man möchte gern für einen symbolischen Ausdruck dieser Thatsache gelten lassen, was freilich eher ein Zeichen der kindlichen Unreife der Zeitbildung war: daß kein Moment seines ganzen Lebens H. einen so lauten populären Ruhm eingetragen, wozu er selber allerdings in naiver Herablassung mitgewirkt, wie der mitten in jene Periode fallende, für die Wissenschaft kaum ersprießliche und obendrein mißlungene Versuch, am 23. Juni 1802 den Gipfel des Chimborasso zu erklimmen. Nachdem dann auch in anderem, als diesem äußerlichen Sinne der Höhepunkt der Reise überschritten war, bleibt eigentlich nur noch ein an sich bedeutender Abschnitt zu verzeichnen. War H. anfangs gesonnen, der ihm bereiteten Enttäuschung zutrotz auf eigene Hand über die Philippinen und Ostindien heimzukehren, so gab er doch nun so weitläufige Pläne für diesmal auf; hauptsächlich in dem löblichen Verlangen, sobald wie möglich die Früchte seiner Anstrengung gemeinnützig zu verwerthen und zugleich für sich selbst die schmerzlich vermißte Fühlung mit dem Fortschritt der europäischen Forschung wieder zu gewinnen. Er lenkte deshalb in seinen frühesten Vorsatz zurück und betrat vom stillen Ocean aus in Acapulco den Boden des Königreichs Mexiko, dem er ebenfalls ungefähr ein Jahr lang (vom 23. März 1803 bis 7. März 1804) die gründlichste Aufmerksamkeit schenkte. Neben naturwissenschaftlichen, insbesondere geognostischen Beobachtungen gingen tiefeindringende wirthschaftliche Studien einher, ähnlich denen, die einst in Cuba begonnen worden und deren nunmehrige Vollendung während eines zweiten Aufenthalts in der Havana (bis zum 29. April 1804) zugleich den Abschluß der gesammten Reisearbeit bildete. Denn der politisch belehrende Besuch der Vereinigten Staaten (vom 19. Mai bis 9. Juli), wo H. die Gastfreundschaft Jefferson’s genoß, ist doch mehr als eine persönliche Episode der Heimfahrt anzusehen.

Die Nachwelt erblickt die epochemachende Bedeutung der amerikanischen Reise Humboldt’s natürlich vor allem darin, daß ihm die Fülle der dabei erworbenen Anschauungen und Erfahrungen die breite Basis für den originellen Aufbau seiner Weltphysik darbot. Allein da diese Kosmologie doch in der That nur zustande kommen konnte durch gegenseitige Verbindung der naturwissenschaftlichen Einzeldisciplinen, so erregt darum nicht weniger die Summe der direct für die letzteren sowie für die angrenzenden geographischen und ökonomischen Fächer gewonnenen Resultate an und für sich die größte Bewunderung. Aus diesem Gesichtspunkt, dem höchsten, den man der bisherigen Reisepraxis gegenüber einzunehmen gewohnt war, faßten die Zeitgenossen Humboldt’s Leistung auf; auch so schon erschien er tüchtiger und glücklicher als alle Vorgänger. Die Tausende von neuen Gewächsarten, die Hunderte von astronomischen Ortsbestimmungen und Höhenmessungen, auf die sich zum erstenmal genaue Karten der berührten Landschaften und deutliche Vorstellungen von ihrer Bodengestalt gründen ließen, überhaupt der Reichthum [368] und die Mannichfaltigkeit seiner Sammlungen, die Menge und, was noch wichtiger, die Schärfe seiner Beobachtungen, die Thatsache endlich, daß er das Ganze aus eigenem Entschluß und ohne jede öffentliche Unterstützung vollbracht hatte, alles das verlieh seinem Namen alsbald in der ganzen gebildeten Welt einen unverlöschlichen Glanz. Paris, das als neue Kaiserstadt mehr denn je sich als Hauptort Europas darstellte, empfing ihn mit Auszeichnung; nur Napoleon selbst ist ihm geringschätzig begegnet. Unverzüglich traf er die ersten Anstalten zur Bearbeitung und Publication der Ergebnisse seiner Forschung in einem vielgliedrigen Werke, das an Gediegenheit und Eleganz in Inhalt und Form, Text und Illustration ebenso einzig dastehen sollte wie die Reise selber; eine Absicht, die er nur mit den Geldkräften und technischen Hülfsmitteln der Pariser Firmen und Institute durchsetzen zu können meinte. Sanguinisch genug hoffte er in zwei bis drei Jahren die Arbeit im Wesentlichen zu vollenden, um alsdann zu einer neuen, dringend ersehnten Expedition nach Indien und Innerasien aufzubrechen. Dabei zählte er allerdings von vornherein, auch abgesehen von dem leider allzu saumseligen Bonpland, auf die Dienste gelehrter Mitarbeiter, wie er sie bald namentlich für die astronomischen Rechnungen in J. Oltmanns und für die systematische Botanik in K. S. Kunth, dem Neffen seines Erziehers, nach Wunsch gewann. Was ihm selber am meisten am Herzen lag, darüber kann kein Zweifel bestehen, wenn man sieht, daß die Reihe der litterarischen Reiseprodukte 1805 in weitem Abstand von allen anderen eröffnet ward durch den „Essai sur la géographie des plantes“, welcher den vor elf Jahren gefaßten Gedanken, „die Pflanzenschöpfung in Verbindung mit der ganzen übrigen Natur zu schildern“, gewissermaßen verwirklichte. Denn es erschien dieser geobotanische Versuch wenigstens in Begleitung eines in seinen Grundzügen schon auf der peruanischen Wanderung entworfenen Tableau physique des régions équinoxiales. „Dies Werk beweist“, schrieb H. selbst darüber am 3. Februar 1805 an Pictet, „daß meine Arbeiten das Ensemble der Erscheinungen umfaßt haben . . . . .; schauen wollen die Leute, deshalb zeige ich ihnen einen Mikrokosmos auf einem Blatte.“ Ueberaus deutlich bewährt sich so, was bereits einigen früheren Aeußerungen zu entnehmen war, daß die Conception einer physischen Weltbeschreibung in H. individuell aus dem selbständigen Keime seiner Pflanzengeographie erwachsen ist. Ebenso entschieden aber wird der generell ästhetische Charakter seines physikalischen Universalismus durch die Wahrnehmung bestätigt, daß der erste Schritt zur Ausführung der kosmographischen Entwürfe sich geradezu in die Kunstgestalt eines „Naturgemäldes“ kleidete. Ganz dem angemessen trug endlich die 1807 herausgegebene deutsche Bearbeitung der merkwürdigen Schrift in der Zueignung den Namen Goethe’s an der Stirn. Ueber dieser litterarischen Thätigkeit vergaß nun aber H. keineswegs jenes anderen Vorsatzes, der ihn nach Europa heimgerufen. Kaum in Paris angekommen vereint er sich mit Biot zu erdmagnetischen Untersuchungen und vor Allem mit Gay-Lussac, der gerade durch die scharfe Kritik seiner früheren eudiometrischen Versuche sein Vertrauen gewonnen, im Laboratorium der polytechnischen Schule zu gründlicheren chemischen Arbeiten über das Verhältniß der Bestandtheile der Atmosphäre. Auch diesen Mann und nicht minder hernach den jungen feurigen Arago, der ihm dann unter allen Franzosen der liebste Freund geworden ist, erhebt er wie vordem Willdenow und Freiesleben in den Kreis „der wenigen Menschen, die auf Denkart und Ansicht der Natur in ihm bleibend gewirkt haben“. Die in Paris begonnenen Studien wurden fleißig fortgesetzt auf einer italienischen Reise, die H. mit Gay-Lussac im März 1805 antrat. In Rom begrüßte er den Bruder Wilhelm, den er durch Mittheilung werthvollen Materials zur Erkenntniß der amerikanischen Sprachen erfreute. In Neapel und auf dem Vesuv, der zum Glück soeben eine [369] eruptive Anwandlung hatte, genoß man der belehrenden Gesellschaft Leopold v. Buchs. Im Herbst gingen darauf die drei Naturforscher gemeinsam durch die Schweiz und Westdeutschland nach Berlin, wo H. nach neunjähriger Abwesenheit gleichfalls mit Ehren aufgenommen ward. Hier wollte denn auch das Staatsoberhaupt nicht zurückstehen; Friedrich Wilhelm III. ernannte den gefeierten Unterthan zum Kammerherrn, eine Hofwürde, welche schon Humboldt’s Vater innegehabt, und setzte ihm, wol in der Hoffnung, ihn dem Vaterlande dauernd zu verbinden, eine ansehnliche Pension aus den Fonds der Akademie der Wissenschaften aus. Als Mitglied der letzteren las H. im J. 1806 eine Anzahl von Abhandlungen in deutscher Sprache, die den Grundstock zu den im folgenden Jahre veröffentlichten, dem Bruder gewidmeten „Ansichten der Natur“ abgaben. Dies anmuthige Buch, das immerdar das Lieblingswerk des Verfassers selbst geblieben ist, löste mit besserem Erfolg als Georg Forster’s kleine Schriften, die ihm theilweise zum Muster gedient haben, die Aufgabe, physikalische Gegenstände in den Bereich unserer schönen Litteratur hinüberzuziehen. Freilich gelang auch H. nicht vollkommen die Verschmelzung der ästhetischen und der streng wissenschaftlichen Tendenz; denn gelehrte Anmerkungen heften sich, ebenso wie später im „Kosmos“, von außen an die geschmackvoll componirten, in Stil und Ausdruck öfters allerdings nur zu poetischen Schilderungen des Textes. Hier waltet ferner allenthalben ersichtlich ein physiognomisches Bestreben vor; der Eindruck der Natur auf die menschliche Empfindung wird mit besonderer Theilnahme beleuchtet. Durch die Vermittlung Bernardin de St.-Pierre’s, dessen Paul und Virginie H. auf seinen tropischen Zügen wieder und wieder mit Begeisterung las, fühlt man sich dabei an den Urquell der modernen Naturromantik in Rousseau zurückgeleitet. Diese sentimentale Seite des Büchleins aber ist noch überdies in die tiefere Farbe politischer Schwermuth getaucht; denn eben jetzt hatte der kriegerische Sturm des napoleonischen Zeitalters, der H. schon so manche persönliche Hoffnung zertrümmert, auch den heimischen Staat niedergeworfen, dem er kaum wieder anzugehören begonnen. Während der französischen Besetzung von Berlin nach der Schlacht bei Jena finden wir ihn in einem einsamen Garten der Hauptstadt in stillem Eifer mit stündlichen Beobachtungen der magnetischen Declination beschäftigt. Vergebens verwandte er sich bei den feindlichen Machthabern für die Schonung der Universität Halle. In die Vorberathungen zur Gründung einer Hochschule in Berlin zog ihn 1807 Friedrich August Wolf hinein und ließ sich von ihm überzeugen, daß man dabei durchaus an dem altbewährten Begriff und Namen Universität festhalten müsse. Doch verrieth H. wenig Neigung zu activer Theilnahme als Docent, wiewol man gerade von der Anziehungskraft seines Ruhms das beste erwartete. Bevor er aber vor die praktische Entscheidung gestellt ward, ja ehe noch Wilhelm von Rom herbeikam, um die große Stiftung ernstlich in Angriff zu nehmen, bot sich ihm die erwünschte Gelegenheit, auf viele Jahre hinaus die Heimath wieder zu verlassen, die ihm damals allerdings keine Möglichkeit gewährte, mit aller Kraft den wissenschaftlichen Interessen zu leben, welche ihm stets unter allen menschlichen, wie er aufrichtig betheuert hat, „oben an der Spitze standen“.

Gegen Ende 1807 entsandte der König seinen jüngsten Bruder, den Prinzen Wilhelm, an Napoleon, um in einem neuen Vertrage dem furchtbar belasteten Preußen einige dringend nothwendige Erleichterung zu verschaffen. Als erfahrener Kenner des gesellschaftlichen Terrains in der französischen Hauptstadt mußte H. den Prinzen begleiten und berathen und erhielt alsdann im Herbst auch nach der Heimkehr desselben die königliche Erlaubniß, zum Behufe der Ausarbeitung seines Reisewerks als eins der acht auswärtigen Mitglieder des Instituts seinen Wohnsitz in Paris zu behalten. Von keiner Seite zwar ward dabei vorausgesetzt, [370] daß sich dieser Urlaub, von verhältnißmäßig geringen Unterbrechungen abgesehen, zu einem beinah 20jährigen Aufenthalte an der Seine ausdehnen werde. Nur allmählich vielmehr und wenigstens anfangs fast unwillkürlich spann sich H. dort in einen der wichtigsten Abschnitte seines ganzen Daseins ein. Denn wir erblicken in dieser großen Periode von 1808–27 die Zeit seiner vollen Mannesreife vom 39. bis zum 58. Lebensjahr; eine Erntezeit voll wohlbelohnter Mühe, hinter der freilich noch Raum blieb für manche Herbstlese köstlichster Art. In den ersten Jahren, solange er sich noch mit dem Wahne schmeicheln durfte, seine von den verschiedensten Punkten aus rüstig begonnene Riesenpublication in gleicher Geschwindigkeit fortgesetzt und mithin rasch abgethan zu sehen, stand er innerlich sozusagen auf dem Sprunge nach Asien. Denn gerade nun, wo er im Begriff war, die wissenschaftliche Summe aus seinen amerikanischen Forschungen zu ziehen, erschien seinem schrankenlos universellen Verlangen die überwiegende Anschauung des neuen Continents als eine, wenn auch noch so viel in sich begreifende Einseitigkeit, über die ihn nur die vergleichende Betrachtung der asiatischen Natur hinwegheben könne. Mit beharrlichem Eifer studirte er deshalb bei Silvestre de Sacy und anderen Lehrmeistern die persische Sprache als eine der leichteren des Orients. Allein außer der Hemmung, die der bald erlahmende Gang seines vielgestaltigen litterarischen Unternehmens seinen Wünschen bereitete, stießen diese auch auf andere Hindernisse, welche wiederum wie einst, direct oder indirect, mit den gewaltsamen Begebenheiten des Zeitalters zusammenhingen. Zunächst sah er sich dadurch sogar in materielle Bedrängniß versetzt. Von seinem größtentheils im preußischen Polen hypothekarisch angelegten Vermögen hatte er schon seit 1807 in Folge der politischen Umwälzung jener Landstriche keinen Ertrag genossen; jetzt aber, im Januar 1809, ward das Kapital selbst von der Warschauer Regierung zur Vergeltung preußischer Maßregeln in Beschlag genommen. Mit dringenden Vorstellungen wandte sich deshalb H. gegen Ende des Jahres an den gerade in Paris anwesenden König von Sachsen, um wenigstens die Herausgabe seines Werkes nicht ernstlich zu gefährden. Daß an eine zweite Weltreise unter solchen Umständen nicht zu denken war, liegt auf der Hand. Nachdem jedoch 1810 diese Verlegenheit durch Aufhebung des Sequesters glücklich beseitigt worden, traten die asiatischen Projekte sofort wieder in den Vordergrund. Ohne Zweifel bildeten sie eins der Hauptmotive für die Weigerung Humboldt’s, die Leitung des preußischen Unterrichtswesens als Nachfolger seines Bruders zu übernehmen. Und kaum hatte er diesem auf seinem Wiener Gesandtschaftsposten einen kurzen Besuch abgestattet, als er Ende 1811, in Gedanken mit den Vorkehrungen zu einer selbständigen Expedition beschäftigt, unvermuthet von Seiten des Reichskanzlers Grafen Romanzow den Antrag erhielt, sich einer officiellen russischen Forschungsreise anzuschließen, die von Sibirien aus über Kaschgar und Yarkand ins Innere von Tibet vordringen sollte. Mit dem lebhaften Ausruf: „ich will Russe werden, wie ich Spanier geworden bin; alles, was ich angreife, führ’ ich mit Enthusiasmus durch“, sagte er Anfang 1812 seine Betheiligung für das Jahr 1814 zu; da zertrat ihm aufs neue rücksichtslos der militärische Gang der Zeitgeschichte die feinen Zirkel seiner wissenschaftlichen Pläne. Dem russischen Feldzuge folgte die Erhebung Preußens, und schüchtern zog sich H. inmitten der nun feindlichen Hauptstadt in die gelehrte Arbeit zurück, die ihm für den Augenblick abermals den eigenen Unterhalt darreichen mußte. Als im August 1813 unter freudiger Mitwirkung seines Bruders der Waffenstillstand in den entscheidenden europäischen Kampf verwandelt ward, gestand er selber wehmüthig ein, daß er „thöricht genug gewesen sei, an eine prosaischere Lage der Welt zu glauben.“ Undenkbar wäre, daß er den Sturz Napoleons, die Befreiung Deutschlands nicht dennoch von Herzen willkommen geheißen; aber dieser ewige Krieg mit seinen [371] kulturzerstörenden Wirkungen war ihm an sich aus eigener leidiger Erfahrung tief verhaßt. „Das einförmige, trostlose Bild des entzweiten Geschlechts“, das ihm seit dem Eintritt ins handelnde Leben unaufhörlich vor Augen stand, hatte seinen Blick für die sittliche Erhabenheit welthistorischer Verhängnisse abgestumpft. Man thäte sicherlich Unrecht, ihm jede Vaterlandsliebe abzusprechen; Kosmopolit im negativen Sinne des Wortes war er nicht. Wol aber hatte ihm sein odysseischer Lebenslauf eine positiv internationale Gesinnung eingeflößt, welche die Nationalitäten als gleichberechtigt anerkannte, um sie durch friedliche Bildung zu höherer menschlicher Einheit zu verbinden. Ja solche Verbindung suchte er nach Kräften in seiner eigenen weitangelegten Persönlichkeit wirklich darzustellen und so empfand er, wie paradox es immer klingen mag, damals zugleich als Deutscher und Franzose. Während er, wie 1806 in Berlin bei den Marschällen Napoleons, nur jetzt mit besserem Erfolg, 1814 und 1815 bei den Verbündeten in Paris zu Gunsten gelehrter Anstalten und Personen intervenirte, diente er zugleich seinem siegreichen Könige als Führer durch die Weltstadt. Friedrich Wilhelm III. fand dabei an dem vielbewanderten, geistreichen und zudem so liebenswürdig geschmeidigen Kammerherrn ein ungemeines Wohlgefallen; er nahm ihn 1814 mit nach England, entschädigte ihn für allen Aufwand an Zeit durch wiederholte Gnadengeschenke und bewilligte ihm 1818 auf seine Bitte sofort höchst ansehnliche Summen zur Bestreitung der Kosten einer fünfjährigen ostindischen Reise, aus der jedoch aus unbekannten Gründen wiederum nichts geworden ist. Kurze Ausflüge nach London, 1817 mit Arago, 1818 mit Valenciennes, verdienen dem gegenüber kaum Erwähnung; im letzteren Jahre finden wir H. außerdem auf dem Aachener Congreß in der Umgebung des Königs, der ihn auch 1822 auf dem Congreß zu Verona um sich zu haben wünschte und von dort aus unter seiner Führung eine Reise nach Rom und Neapel unternahm, wobei H. Gelegenheit fand, die 17 Jahr früher mit Buch und Gay-Lussac am Vesuv angestellten Messungen zu wiederholen. Auch auf der Rückfahrt nach Berlin begleitete er den König und verweilte im Frühjahr 1823 einige Monate in der Heimath, wo man vergebens hoffte ihn für immer zu behalten. Erst auf einem neuen Besuche, den er im Herbst 1826 mit Valenciennes in Berlin machte, setzte der König die definitive Heimkehr auf den nächsten Frühling unter gnädigen Bedingungen fest, welche H. in seiner üblen finanziellen Lage dankbar annehmen mußte, wie sauer ihm auch die Trennung von Paris in jeder anderen Hinsicht ankam. Denn längst war ihm inzwischen das dortige Treiben in Anstrengung und Erholung, in Wissenschaft und Gesellschaft zur einzig behaglichen Gewohnheit geworden. Von Jahr zu Jahr heller leuchtete ihm, während er ihres vertrauten Umgangs genoß, die Bedeutung der französischen Naturforschung ein, die dermalen immer noch die der anderen Länder überstrahlte; von Tag zu Tag unentbehrlicher dünkte ihn die wundervolle Stadt in ihrer unschätzbar reichen Ausrüstung mit allen geistigen und materiellen Mitteln, deren er zu seinen Studien, zu seinen schriftstellerischen Zwecken bedurfte. Zugleich aber verstrickte er sich auch persönlich immer tiefer in das sociale Wesen der Pariser Salons. Dieser hochkultivirte, allseitig erregte Verkehr der Talente, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Esprit, in der Conversation, ja in der Medisance, das war die Luft, in der seine Seele, begierig und fähig unendliche Mittheilung zu spenden und zu empfangen, am liebsten und bequemsten athmete. Nie wol hat ein deutscher Gelehrter mit gleicher Virtuosität das Zauberwort „Tages Arbeit, Abends Gäste“ verkörpert, wie H. in Paris; besser verstand kein anderer in äußerer Zerstreuung innere Sammlung zu bewahren. Von selber bietet sich die Bemerkung dar, daß so nur ein vermögender Junggesell seine Jahre hinbringen kann; aber man hüte sich, ihn deshalb der Selbstsucht anzuklagen. Denn eben [372] damals ward ihm die gern geübte Pflicht des Gönners und Wohlthäters zur anderen Natur. Nicht den Freunden allein, den Arago und Gay-Lussac, den Bonpland und Valenciennes gegenüber war er zu jedem Opfer stets bereit; auch der Fremde und Unempfohlene, ja am meisten gerade der bescheidene Anfänger, die stille Tüchtigkeit erfreute sich seines Fürworts und, wenn es irgend Noth that, seiner freigebigen Unterstützung, einerlei ob er sich selber gerade im Ueberfluß oder Mangel befand. Dabei aber wußte er die Großmuth seiner Handlungen in die zarteste Höflichkeit einzuhüllen; der Dank, den er erwarb, war nie mit Bitterkeit gewürzt. Vor allen sahen sich jedoch seine deutschen Landsleute durch ihn gefördert; auch des geringsten nahm er sich hülfreich an; er war zu Hause, er hatte Zeit für jeden. Und mancher von den besten trug die Erinnerung davon, daß er durch H. emporgekommen, daß die Stunde ihrer Begegnung ihm selber zur Stunde der Entscheidung geworden. So versah er freiwillig gleichsam ein sociales Consulat, eine unpolitische Nationalvertretung am vornehmsten ausländischen Platze; überschlägt man, wievielen er dadurch den wesentlichsten Dienst geleistet, so erscheint die Schuld seiner langen Abwesenheit dem Vaterlande doch vielleicht aufgewogen.

Das bleibende Denkmal dieser Zeiten ist die große Ausgabe der „Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent . . . . . redigé par A. de Humboldt. Paris, 1807 et années suivantes.“ Sie umfaßt 20 Bände in Folio, von denen indessen einer nur eine einzige Kupfertafel enthält, und zehn in Quart, im Ganzen mit 1425 Kupfern. Ein vollständiges, kolorirtes Exemplar, wie es sich nur an äußerst wenigen Stellen befindet, kostete ursprünglich 9574 Francs. Der Aufwand, der zur Herstellung des Werkes nöthig war, ist schlechthin unberechenbar; es genügt zu sagen, daß außer den enormen Summen, die eine Reihe von Verlegern hineingesteckt, außer den Zuschüssen, die der preußische König einige Male dazu hergab, H. selbst den ganzen Rest seines Vermögens, d. h. zwischen 50,000 und 60,000 Thaler darangesetzt hat. Dazu gehörte freilich seine offene Hand gegen die Schaar der Zeichner, Stecher und sonstigen Mitarbeiter, die Bereitwilligkeit ferner, mit der er, um durchweg Vollkommenes zu bieten, schon fertige Stücke als mißlungen wieder verwarf; es gehörte natürlich mancher Unglücksfall dazu und endlich auch ein gut Theil ökonomischen Unverstandes, wovon H. selbst in diesem Falle durchaus nicht freizusprechen ist. Zu spät beklagte er nicht sowol den eigenen materiellen Verlust als vielmehr den Abbruch, welcher durch den hohen Preis der Verbreitung und damit dem Nutzen des Werkes geschehen. Wohlfeilere Octavausgaben sind nur von wenigen Theilen erschienen; der Plan, das Ganze zu gleicher Zeit in mehreren Sprachen zu veröffentlichen, blieb erst recht im Keime stecken. Die auffallend langsame Folge der einzelnen Lieferungen, der Eintritt jahrelanger Pausen im Fortgang überhaupt, der unvollendete Zustand, in dem am Ende manche Abtheilung nothdürftig abgeschlossen ward, alle diese Uebelstände entsprangen demselben Fehler: der übermäßigen Anlage des Ganzen im Grundriß und Aufbau, dem Trachten nach dem unbedingt Höchsten in Quantität und Qualität. Wenn H. von Goethe wie von anderen Zeitgenossen in theoretischer Hinsicht öfters als eine Akademie für sich allein bezeichnet worden ist, so offenbarte sich hier in der Praxis doch andererseits sehr deutlich die unüberschreitbare Grenze individuellen Wollens und Vollbringens. Auch bei seiner Uebersiedlung nach Berlin 1827 harrten noch verschiedene Partien der Ergänzung. Den meisten Raum nimmt die Botanik ein. Nachdem zuerst 1805, wie erwähnt, H. selbst den Essai sur la géographie des plantes herausgegeben, dem eine graphische Idealdarstellung beilag, eröffnete Bonpland die systematische Arbeit mit zwei Bänden Plantes équinoxiales, 1808–9; auch von der Monographie des Mélastomacées lieferte er noch den [373] größten Theil, bevor er 1816 zum zweiten Mal, um niemals heimzukehren, nach Südamerika ging. Den Rest that 1823 Kunth hinzu, der ferner 1815–25 das Hauptwerk der Nova genera et species plantarum in sieben Folianten und außerdem eine Monographie des Mimoses 1819–24, sowie endlich 1829–34 eine Révision des Graminées edirte. Fast ebenso lange zog sich die Bearbeitung der zoologischen Resultate hin; der Recueil d’observations de zoologie et d’anatomie comparée brachte 1805–33 neben Abhandlungen von H. selbst auch solche von Cuvier, Latreille, Valenciennes und Gay-Lussac. Verhältnißmäßig rasch, 1808 bis 1811, erledigte Oltmanns sein Geschäft im Recueil d’observations astronomiques, d’opérations trigonométriques et de mesures barométriques. H. allein gehören, von der artistischen Ausführung natürlich abgesehen, das große Bilderwerk und die beiden Kartensammlungen an: die Vues des Cordillères et monumens des peuples indigènes de l’Amérique von 1810, auch Atlas pittoresque du Voyage genannt; der Atlas géographique et physique du royaume de la Nouvelle-Espagne von 1811 und der allgemeinere Atlas géographique et physique du Nouveau Continent von 1814, der indessen noch weit später, bis 1834, manche Umänderung erfuhr und namentlich durch eine Reihe historischer Karten auf Anlaß der in die Entdeckungsgeschichte einschlagenden Arbeiten Humboldt’s erweitert ward. Dem mexikanischen Atlas entspricht als Text der ausgezeichnete, auch durch archivalische Forschung an Ort und Stelle bereicherte Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne, der ebenfalls 1811 in zwei Quartbänden erschien und König Karl IV. gewidmet ist. Dem malerischen wie dem physikalisch-geographischen Gesammtatlas sollte sich eigentlich ebenso generell die Relation historique du Voyage anschließen, der chronologische Reisebericht, der indeß, wie er vorliegt, zwar mit mannichfachen Untersuchungen und Erörterungen episodisch durchwebt, allein leider seiner Längsrichtung nach Fragment geblieben ist. Was von 1814–25 wirklich ans Licht trat (einzelne Anhänge reichen dann noch bis 1829), umfaßt nur die Wanderung durch Venezuela, die Erforschung Cubas – ein Abschnitt, der als Essai politique sur l’île de Cuba 1826 als ein Seitenstück der Schilderung Mexikos in einer Separatausgabe wiederholt ward – und bricht bald nach der Landung in Carthagena plötzlich ab. Man vermißt also fast zwei Drittel der erzählenden Reisebeschreibung; besonders, da von dem mexikanischen Aufenthalt der Essai politique wenigstens in concentrirter Form Rechenschaft gibt, die Geschichte der Expedition in den Cordilleren von Neugranada, Ecuador und Peru, sowie an und auf dem stillen Ocean; eine Lücke, welche durch monographische Aufsätze, vornehmlich in den „Ansichten der Natur“ und in der Sammlung „kleinerer Schriften“ von 1853, nur zum geringsten Theile ausgefüllt wird. Nicht minder unvollständig aber, als diese Abtheilung an sich, stellt sich das Werk im Ganzen insofern dar, als man die anfangs von H. selbst in seinen Plan aufgenommenen erdmagnetischen und geologischen Sectionen, sowie eine meteorologische Partie vergebens sucht. Auch in Bezug auf diese Fächer sieht man sich auf die ungemeine Zahl zerstreuter Abhandlungen verwiesen, welche H. zumal während jener Pariser Periode in französischen, seltener in deutschen Zeitschriften, oder sonstwie publicirt hat. Wir heben zwei daraus hervor, weil sie für seine Hauptarbeiten über Meteorologie und Geologie gelten müssen und nach beiden Seiten eben die auf der amerikanischen Reise erworbene Einsicht wiederspiegeln. Es ist der Tractat Des lignes isothermes et de la distribution de la chaleur sur le globe, zuerst 1817 in den Mémoires d’Arcueil gedruckt, und der Essai géognostique sur le gisement des roches dans les deux hémisphères, 1822 für den Dictionnaire des sciences naturelles geschrieben. Würden diese beiden großen Aufsätze nebst vielen kleineren zum mindesten ihrem Inhalt nach sehr wohl in den Rahmen des Reisewerks [374] gepaßt haben, so erfuhr das letztere in einer Richtung doch auch eine Ausdehnung über seinen ursprünglichen Grundriß hinaus durch das Examen critique de l’histoire de la géographie du Nouveau Continent et des progrès de l’astronomie nautique aux XV. et XVI. siècles. Denn die Gegenstände, von denen in den fertigen Abschnitten dieses ebenfalls nicht zum Ziele gelangten Werkes gehandelt wird, „die Ursachen, welche die Entdeckung der neuen Welt vorbereitet und herbeigeführt haben“, sowie die Geschichte des Columbus und des Amerigo Vespucci, erregten zwar schon auf der Reise selbst Humboldt’s lebhaftes Interesse, zu studiren begann er sie jedoch erst hinterher; ja wahrhaft in Fluß geriethen diese Studien nur durch das Erscheinen wichtiger spanischer Quellenpublicationen nach der Mitte der zwanziger Jahre und besonders durch den ihm selber im Frühling 1832 geglückten Fund der alten Karte Juan de la Cosa’s. Das gediegene Buch, das H. als kritischen Geschichtsforscher von der vortheilhaftesten Seite zeigt, ist denn auch, unbeträchtliche Anfänge von 1814 her abgerechnet, fast ganz in den dreißiger Jahren während der späteren Besuche zu Paris verfaßt und sodann dem Reisewerke einverleibt worden, dessen physikalisch-geographischer Aufbau dadurch eine großartige historische Perspektive gewann.

In formeller Hinsicht hat sich H. durch die selbstredigirten Theile seines Reisewerks von der Géographie des plantes bis zum Examen critique wie durch seine Schriftstellerei in jener Lebensperiode überhaupt ähnlich wie einst Friedrich der Große einen Platz in der französischen Litteraturgeschichte errungen. Franzosen selber standen nicht an, ihn unter ihre hervorragenden wissenschaftlichen Prosaiker zu versetzen. Ja man mag zweifeln, ob ihm nach so vieljähriger Uebung das ausländische Idiom trotz aller späteren deutschen Bemühung nicht eigentlich allezeit das bequemere und vertrautere geblieben ist; seine französischen Briefe wenigstens fließen leichter und graziöser, und niemals wol ist ihm in der Muttersprache stilistisch ein so feiner Wurf gelungen, wie etwa die herrliche Introduction zu Arago’s Werken, die er im November 1853 im lebhaften Erguß der Trauer über den Verlust des Freundes in wenigen Tagen niederschrieb. In materieller Beziehung aber besitzen wir natürlich ein Recht, die ganze Summe seiner geistigen Thätigkeit auch während der Pariser Jahrzehnte unserer eigenen Gelehrtengeschichte zuzurechnen; um so mehr, da diese Thätigkeit nur im Zusammenhange seiner gesammten Lebensarbeit recht verständlich wird. Indem er nämlich die streng naturwissenschaftlichen Disciplinen in ihrer reinen Gestalt, mit denen er sich in der Jugend produktiv beschäftigt, Mineralogie, Physik, Chemie und Physiologie jetzt mehr und mehr aus den Augen ließ, ja selbst die systematische Botanik und Zoologie, für die er noch in Amerika so eifrig gesammelt, größtentheils seinen Mitarbeitern überantwortete, widmete er seine eigene Kraft nunmehr vorzugsweise der theoretischen Durchdringung dessen, was er auf der Reise von den einzelnen Seiten der Weltphysik erforscht. Er vertieft sich also abermals in eine Reihe physikalischer Specialfächer, die jedoch sämmtlich bereits die Naturwissenschaft in kosmisch angewandter Form enthalten, um hierauf endlich im letzten großen Abschnitte seines Wirkens den zusammenfassenden Versuch einer physischen Weltbeschreibung zu gründen. Gerade an dieser Stelle wird man daher die Frage aufwerfen dürfen, welche Fortschritte unsere Erkenntniß ihm nach den verschiedenen Richtungen der Erdphysik eigentlich zu danken hat. Der Erdphysik – denn, um es gleich herauszusagen, in demjenigen Gebiete, wodurch dieselbe erst zur Weltphysik im wahren Sinne des Worts erweitert wird, in der uranologischen Sphäre des Kosmos, wie H. sich auszudrücken liebt, kann von produktiven Leistungen bei ihm kaum die Rede sein. Auf der Wanderschaft ließ sich dafür ohnehin nicht viel mehr gewinnen als eine gewisse Physiognomik des gestirnten Himmels; und diese ist außer der merkwürdigen Beobachtung des [375] großen Sternschnuppenfalls in der Nacht vom 11. zum 12. November 1799, da die zahlreichen im Dienste der exacten Geographie angestellten Observationen hier nicht in Anschlag kommen, in der That für H. der einzige astronomische Ertrag seiner Reise gewesen. Wieviel er dann aber hernachmals auch zur Astronomie geschrieben – sie stellt im „Kosmos“, soweit er vollendet worden, alle anderen Specialdisciplinen in Schatten – er war und blieb zu wenig Mathematiker, um diese wesentlich auf mathematischer Einsicht beruhende Wissenschaft selber ernstlich fördern zu können; schon genug, daß er ihrer Geschichte ein andauerndes und nicht unfruchtbares Interesse zuwandte. Im tellurischen Theil seiner Kosmologie dagegen ist er überall mit eigener Arbeit energisch zur Hand gewesen. Besonderen Antheil nahm er zuvörderst an den erdmagnetischen Erscheinungen; er verfolgte die Linien gleicher Neigung der Nadel nebst denen gleicher Intensität der irdischen Gesammtkraft und sprach zuerst die Thatsache aus, daß die letztere im allgemeinen von den magnetischen Polen gegen den magnetischen Aequator hin abnimmt. Die amerikanischen Beobachtungen setzte er in Europa und Asien bis in die dreißiger Jahre hinein unermüdlich fort. Noch wichtiger aber ward auf diesem wie auf so manchem anderen Felde die Anregung, die er fremder Forschung gab; auch sie hat man sicherlich, wo sie in so hohem Grade bewußt und beharrlich auftritt, wenigstens in moralischer Schätzung ihm selber als originales Verdienst um die Wissenschaft anzurechnen. Denn H. war es, der 1829 in Petersburg die russische Regierung, 1836, nachdem inzwischen Gauß die Methode der absoluten Intensitätsmessungen gelehrt hatte, durch den nachdrücklichen Brief an den Herzog von Sussex die Royal Society in London zu erdumfassenden correspondirenden Beobachtungen bewog, wodurch beiläufig auch der Meteorologie die noch unberührten Bezirke der Polargegenden und andere der südlichen Erdhälfte erschlossen wurden. Für die Meteorologie direct sodann war Humboldt’s eigenes Bestreben insofern höchst segensreich, als er zuerst die tropischen Witterungsverhältnisse durch vielfältige messende Wahrnehmung in ihrer einfachen Gesetzmäßigkeit kennen lehrte, wodurch sich die Forschung der Nachfolger zur Aufsuchung der versteckten Regel in den verworreneren Wetterphänomenen höherer Breiten ermuthigt fühlte. Ferner war er eifrig und glücklich bemüht, die Art und Weise der Wärmeabnahme nach der Höhe zu, sowie die meteorologischen Wirkungen der Grundfläche des Luftmeeres zu erkunden. Indem er endlich die Halley’sche Darstellungsmethode, gleiche Daten durch Linien zu verbinden, herübernahm, wußte er die Vertheilung der Wärme in einer orientirenden Uebersicht zur Anschauung zu bringen; durch mittlere Werthe war so die klimatische Mannichfaltigkeit der Erdoberfläche wenigstens im großen Ganzen charakterisirt. Gehen wir zur Geologie über, so finden wir dort Humboldt’s Namen an keine bestimmte Gesammttheorie von eigenthümlicher Bedeutung geknüpft; er hat die Wandlungen dieser jungen Wissenschaft, soviel er deren erlebte, ziemlich alle mitgemacht, immerhin freilich aus dem inneren Antriebe allmählich reifender Ueberzeugung. Vom strengen Neptunismus Werner’s hat ihn, wenn auch keineswegs sofort, im Grunde doch der eigene Anblick der großartigen vulkanischen Stätte von Quito zum plutonistischen Bekenntniß der Gegner bekehrt. Der „Vulkanismus“ sammt dem von ihm selbst aufgestellten Theorem der Erhebung der Gebirge auf Spalten bildete von da an einen seiner Lieblingsgegenstände; an eigener realer Kenntniß vulkanischer Erscheinungen hat ihn niemand übertroffen, wie auch für andere geologische Aufgaben das von ihm beigebrachte Material seinen Werth behält, wenn auch die Lösungen, die er selbst damit versuchte, von der fortschreitenden Wissenschaft wieder aufgegeben wurden. Mit der geognostischen Forschung setzte er übrigens durchaus die orographische in innige Beziehung: die Physiognomie der Erdflächengestalt im Wechsel von Gebirg und [376] Ebene, die allgemeine Bodenplastik der Länder, ja der Continente, darstellbar durch Querschnitte, die auf Höhenmessungen gegründet wurden, und zuletzt durch kühne Schätzung der mittleren Erhabenheit der Massen, hat er zuerst und nicht erfolglos ins Auge gefaßt. Für diese Probleme vornehmlich bot ihm die zweite kleinere Weltreise ins russische Asien die willkommenste Belehrung. An die bisher erwähnten unorganischen Bestandtheile der Erdphysik schließen sich dann die organischen, und zwar zunächst die Pflanzengeographie oder, wie man sie heut, um sie von topographischer Statistik der Gewächse zu unterscheiden, passender bezeichnet: die Geobotanik, welche die Vegetation der Erde nach ihrer klimatischen Anordnung in Floren und Regionen im Großen betrachtet, die einzelnen Pflanzen, die in ihnen wiederkehrenden Vegetationsformen und deren gesellige Verbindung zu Formationen physiognomisch beurtheilt. Von dieser Pflanzengeographie nun existirte vor H. kaum der bloße Name, sie ist ohne Frage seine reizvollste und originellste Schöpfung. Auch sticht sie von jenen anorganischen Disciplinen, in denen es sich doch meist um seitliche Verknüpfung an sich gleichartiger und vergleichbarer Phänomene handelt, insofern merklich ab, als sie von vornherein entschieden auf die Erklärung der geobotanischen Erscheinungen aus meteorologischen oder auch geologischen Bedingungen, mithin auf die Erforschung der Wechselbeziehungen des Heterogenen ausgeht. Eben durch solchen, jeder Isolirung des Gegenstandes widerstrebenden Charakterzug ist sie mit der Kosmosidee selbst auch innerlich nächstverwandt, und es ist deshalb kein Zufall, daß die letztere in Humboldt’s Geist historisch aus ihr hervorgegangen. Neben der Pflanzengeographie hat H. übrigens auch die meisten Fragen der an sie angrenzenden Pflanzengeschichte, so die auf Ursprung, Wanderung und Ausgleichung der Floren bezüglichen, zwar nicht beantwortet, wol aber selbständig erkannt und erwogen. Und auch zoologisch bewegt er sich jetzt in der nämlichen Richtung; auch hier ist es Thiergeographie, was ihn überwiegend interessirt, der Einfluß des Klimas und der Bodenbeschaffenheit nicht auf die Verbreitung allein, sondern auch auf die Sitten der Thiere. Daran aber reiht sich zuletzt von selbst auch die erdphysikalische Betrachtung der menschlichen Existenz, der wilden wie der historisch kultivirten, soweit bei der letzteren ebenfalls eine gewisse Naturbedingtheit unleugbar vorhanden ist. Wie sehr kamen H. dafür seine cameralistischen Studien zustatten! Unter allen reisenden Naturforschern ist er der ökonomisch gebildetste gewesen. Und so hat er uns in den Monographien über Mexiko und Cuba nicht nur mit den besten Länderbeschreibungen, sondern geradezu mit wirthschaftlichen und socialen, oder nach dem Sprachgebrauche jener Tage politischen Naturgemälden beschenkt. Hat er hierdurch wie durch die erzählende Schilderung seiner Reise und so überhaupt durch die örtlich bestimmte Seite seiner Wanderforschung die Geographie direct erheblich bereichert, so arbeitete indirect ohne Zweifel seine ganze Naturkunde der Erde der vergleichenden Erdkunde Ritter’s und seiner Schule mächtig in die Hände, ja Ritter, der zu seinen eigenen Ideen und Thaten wirklich eben von H. den Anstoß empfing, hat diesen deshalb geradezu als den Schöpfer der vergleichenden Erdkunde mit überschwänglicher Dankbarkeit gefeiert. Doch darf man darüber nicht verkennen, daß Humboldt’s Erdphysik sich jedenfalls ein höheres Ziel gesteckt. Wenn Ritter und die Seinen in der Darstellung doch zuletzt auf Topographie im höchsten Sinne hinstreben, so tritt dagegen bei H. das lokal Besondere stetig gegen das Allgemeine zurück, als dessen Modifikation es auftritt; dieser stellt mehr das Gesetz als solches dar, wie es in den Einzelerscheinungen sich ausspricht, jene die Einzelerscheinungen als solche mit Rücksicht darauf, daß sie unter dem Gesetze stehen.

Als H. am 12. Mai 1827 nach einem Umweg über London und Hamburg mit schwerem Herzen in der Heimath eintraf, um daselbst bis an sein [377] Ende mehr als 30 Jahre hindurch seinen Wohnsitz zu behalten, konnte er noch keineswegs ermessen, wieviel wissenschaftlicher Vortheil ihm daraus erwachsen sollte, daß auf die Blüthe der französischen Naturforschung eben jetzt ablösend eine deutsche zu folgen im Begriff war, für die natürlich gerade Berlin alsbald eine Hauptstätte geworden ist. Nur die Philologie, deren Handreichung ihm jedoch erst etwas später für die historische Wendung seiner Studien zum Bedürfniß werden sollte, stand dort schon damals sichtlich in schönster Entfaltung. Vorläufig lag daher der einzige positive Reiz seines neuen Aufenthalts für ihn in der Aussicht, endlich einmal mit dem Bruder Wilhelm in enger geistiger Gemeinschaft leben zu dürfen. Mit warmer Liebe stand er diesem denn auch bis an seinen leider nahen Tod zur Seite, und erhielt hernach sein Andenken mit höchster Pietät bei sich und anderen in beständigen Ehren aufrecht. Im übrigen blieb ihm Berlin, so manchen Zug er auch von dessen intellectuellem Wesen selber an sich trug, zeitlebens widerwärtig, zumal in seiner geselligen Verfassung, deren Mischung aus Elementen der Dürftigkeit und der Anmaßung, der Plumpheit und der Intoleranz in dem alten Löwen der Salons des Faubourg St.-Germain gar wehmüthige Erinnerungen wecken mußte. Dennoch gab er sich anfangs redlich Mühe, auch mit weiteren Kreisen seiner Mitbürger und Landsleute in lebendige Berührung zu treten. Wie schon 1825 einmal in einem vornehmen Privatzirkel in Paris, so hielt er gleich im ersten Winter 1827–28 in Berlin einen zwiefachen Cursus von weltphysikalischen Vorlesungen, hier aber öffentlich, den einen, von 61 Lectionen, an der Universität, wozu er als Mitglied der Akademie berechtigt war, den anderen von nur 16 Stunden auf allgemeines Verlangen im großen Saal der Singakademie vor einem buntgemischten Publicum beiderlei Geschlechts, „vom König bis zum Maurermeister“. Der lebhafteste Beifall belohnte das in mehr als einer Hinsicht bedeutsame Unternehmen. Denn H. brach dadurch persönlich noch kräftiger als 20 Jahr früher durch die litterarische That der „Ansichten der Natur“ der exacten Wissenschaft eine Bahn in das allgemeine Interesse unserer bis dahin fast ausschließlich mit poetischem und philosophischem Inhalt erfüllten nationalen Bildung. Er versetzte dabei insbesondere der von Berlin aus die Geister beherrschenden Hegel’schen Scholastik an der hohlsten Stelle ihres aufgeblasenen Systems, ihrer sogenannten Naturphilosophie, aus unmittelbarer Nähe den empfindlichsten Schlag. Er brachte endlich sich selber Gehalt und Form der eigenartigen Wissenschaft, der er seit einem Menschenalter nachsann und -forschte, zum ersten Mal zu voller und klarer Anschauung. Denn wie das nach der Heimkehr aus Amerika verfaßte Naturgemälde der Tropenländer die Skizze, so bilden diese Vorlesungen den Karton zum großen Weltbilde des „Kosmos“, dessen wesentliche Stücke sie bereits sämmtlich in allgemeinen Hauptlinien vergegenwärtigten. Auch faßte H. in der That sogleich damals auf einen Antrag Cotta’s den Entschluß zur schriftlichen Ausarbeitung seines Hauptwerkes, die jedoch durch allerhand Zwischenfälle wirklich noch auf viele Jahre hinausgeschoben ward. Im Herbst 1828 bot sich ihm eine zweite Gelegenheit zu öffentlicher Wirksamkeit, indem er die vor sechs Jahren durch Oken gestiftete Wanderversammlung der deutschen Naturforscher, welche sich auf seinen Betrieb diesmal in Berlin vereinigte, als Vorsitzender mit einer meisterhaften, von nationalem Schwunge emporgetragenen Rede begrüßte, durch die Einführung der Verhandlung in Sectionen dem ganzen Institut erst eine praktische Einrichtung gab und auf die sinnigste Weise mit einer nur ihm möglichen Artigkeit den 400 Fremden gegenüber den Wirth machte. Als besonderen Ehrengast unter sein eigen Dach hatte er sich Gauß geladen, dem er seitdem eine lebenslängliche, durch liebenswürdigste Bescheidenheit geschmückte Hingebung bewies. Den Naturforscherversammlungen bewahrte [378] er noch lange bis in ihren Verfall hinein ein freundliches Interesse; an die Berliner knüpfte sich für ihn sofort die Verbindung mit einer Anzahl junger Physiker zur gemeinsamen Wiederaufnahme seiner erdmagnetischen Beobachtungen, aus denen ihn im Frühling 1829 der große Ausflug ins asiatische Rußland hinwegriß, welcher seit Ende 1827 mit dem Minister Cancrin verabredet war. Am 12. April 1829 verließ H. mit Ehrenberg und Gustav Rose, die er sich zu Begleitern gewählt, Berlin und ging über Petersburg, Moskau und Kasan nach Jekatherinenburg, von wo aus, der Hauptabsicht gemäß, welche die russische Regierung bei der Expedition verfolgte, die Bergwerke, namentlich die Gold- und Platinlagerstätten im mittleren Ural untersucht wurden. Am 18. Juli brach man von Jekatherinenburg weiter nach Osten ins innere Sibirien auf und erreichte über Tobolsk und Barnaul den Altai und die dsungarische Grenze des chinesischen Reichs. Unter Kosakenbedeckung ward der Rückzug durch die Steppen nach dem südlichen Ural genommen, der von Slatoust bis Orenburg durchforscht ward; worauf ein Abstecher nach Astrachan und aufs kaspische Meer, sowie die Heimfahrt über Woronesch, Tula und die russischen Hauptstädte den Abschluß bildete. Die ganze Reise dauerte bis zum 28. December 1829 etwas unter neun Monat, in welcher Frist 2320 geographische Meilen zurückgelegt wurden. Kaum geringerer Eintrag, als durch solche Eile, geschah der inneren Freiheit der Reisenden durch den officiellen Charakter der Unternehmung. Die russische Regierung strengte dazu in der besten Meinung nicht blos ihre Munificenz, sondern auch ihre politische Allgewalt an; und so kam man zwar nirgends in die geringste zufällige Ungelegenheit, dafür aber auch keinen Augenblick aus der gegenseitigen Repräsentation heraus. H., den man im Hinblick darauf schon daheim wohlweislich zur Excellenz erhoben hatte, durchflog deshalb jene Tausende von Meilen buchstäblich im Frack, in weißer Halsbinde und Cylinderhut. Es versteht sich von selbst, daß er trotzdem sah, was zu sehen war, daß er bedeutender Eindrücke und wichtiger Erfahrungen die Menge nach Hause brachte; für die Lehre vom Erdmagnetismus, für Klimatologie und Geologie, vor allem für die Einsicht in die Configuration der ganzen östlichen Festlandsmasse fiel beträchtlicher Gewinn ab. Dennoch dürfte man in dieser flüchtigen und trotz ihrer Ausdehnung auf eine eintönige Erdgegend beschränkten uralisch-sibirisch-kaspischen Reise keine Erfüllung der langgehegten, oft vereitelten Wünsche Humboldt’s erkennen; den Himalaya zu schauen, beide Indien mit einander zu vergleichen, blieb ihm versagt.

Unterwegs war er zum Sechziger geworden und betrat mit der heimischen Schwelle zugleich die des Alters; aber Lebens- und Arbeitskraft waren in ihm auch jetzt noch kaum merklich verzehrt, und selbst an Seßhaftigkeit sollte er sich noch lange nicht völlig gewöhnen. Wir zählen die gleichgültigen Hofreisen nicht auf, die er dann und wann im Gefolge seiner Könige mitgemacht. Dagegen ward von Belang, daß der Eintritt der Julirevolution ihn, den alten Freund der liberalen Franzosen, ja der Familie Orleans selbst, als den geeignetsten Mann zur Anbahnung und Erhaltung angenehmer Beziehungen zwischen Preußen und dem neuen Frankreich empfahl. Auf acht verschiedenen halbdiplomatischen Sendungen hat er so zwischen dem September 1830 und dem Januar 1848, also während der ganzen Periode der Julimonarchie, insgesammt wiederum viertehalb Jahr in dem geliebten Paris verleben dürfen. Er benahm und bewegte sich dort wie einst, nur daß zu seinem Umgange jetzt auch Hof und Minister gehörten und daß der fürsorgende Schutz, den er schon früher freiwillig so vielen seiner Landsleute hatte angedeihen lassen, nunmehr eine Art von amtlichem Nachdruck erhielt. Seine politischen Aufträge, die meist lediglich auf Beobachtung und Berichterstattung lauteten, vollzog er nicht nur äußerlich beflissen wie [379] immer, sondern auch innerlich mit wahrer Befriedigung, da er für sein Vaterland nichts dringender wünschte, als aufrichtigen Anschluß an das constitutionelle Westeuropa. Natürlich aber blieb ihm die Diplomatie im Grunde dilettantische Nebenarbeit; auch jetzt fühlt er sich in erster Linie als Gelehrter und setzt vor allem die alte wissenschaftliche Thätigkeit fort. In Paris wurden gleich anfangs in den Fragmens de géologie et de climatologie asiatiques von 1831 die neuen Reisefrüchte fürs Publicum zubereitet; ein Werk, das 12 Jahr später in jeder Hinsicht erweitert und vertieft als Asie centrale wieder erschien. Zwischen beide Editionen fällt dann (1834) Humboldt’s „Geschichte der Geographie des Mittelalters“, wie er das oben bereits erwähnte Examen critique wol einmal genannt hat, worin er die Erd- und Weltansicht des Cinquecento bis ins klassische Alterthum hinauf rückwärts verfolgte, um zu zeigen, daß die großen Entdeckungen „ein Reflex des früher Geahnten“ gewesen. Gegenstand und Behandlung beweisen gleich schlagend, was auch der „Kosmos“ allerorten und in geringerem Maße selbst das Buch über Centralasien darthut, welche Stärke in Humboldt’s Geiste jetzt der historische Trieb gewonnen hatte; genau betrachtet, liegt auf dieser Seite sogar entschieden der Schwerpunkt seiner produktiven Gedankenarbeit im höheren Alter. Kein Wunder freilich, daß er auf dem ungewohnten Boden kundiger Führung nicht entrathen mochte. So hörte er 1831 in Paris historisch-philologische Vorlesungen bei Hase, Champollion und Letronne, 1833–35 in Berlin mitten unter den Studenten Böckh’s Collegien über griechische Alterthümer und Litteraturgeschichte; des Gesprächs und Briefwechsels zu geschweigen, wodurch er sich namentlich bei dem letzteren in tausend Einzelfragen Raths erholte. Und diese Methode, dem eigenen Studium durch das Wissen der sachverständigsten Freunde allenthalben nachhelfen, die eigene Ansicht durch deren Urtheil prüfen und berichtigen zu lassen, ward dann im großartigsten Maßstabe bei der Ausarbeitung des „Kosmos“ angewandt. Bescheidenheit und Aengstlichkeit in der Sache machten ihn persönlich beinah dreist und anspruchsvoll; um mit seinem Werke den Besten seiner Zeit genugzuthun, ließ er diese selber in vertrautem Verkehr an der sorgsamen Redaction theilnehmen. Wenn ihn Goethe 1826 schön und treffend einem Brunnen mit vielen Röhren verglich, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht, und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt, so war er nun als Greis mit Recht darauf bedacht, den Aus- und Ueberfluß seines Geistes durch die lebendigsten Quellen zu speisen und aufzufrischen. Beim „Kosmos“ haben neben Philologen und Stilisten auch zwei Generationen von Naturforschern, die sich allerdings selber zuvor nicht nur mit, sondern auch an H. herangebildet, bereitwillig solche Dienste geleistet. Weit überwiegend aber gehören sie dem deutschen Boden an; hier ist es nur Ausnahme gewesen, wenn H. einmal für den dritten Band in Paris, besonders in Arago’s astronomischem Curse, Ideen und Thatsachen zu gewinnen suchte. Ist doch das Buch selbst, wie es nun „am späten Abend eines vielbewegten Lebens“ endlich ans Licht trat, so rein deutsch, wie sein idealer Ursprung ein halbes Jahrhundert vorher; der 1819 in Paris schon angerührte Essai sur la Physique du Monde mußte in der Feder stecken bleiben, weil ein so innig mit dem nationalen Kunstgeiste verwachsener theoretischer Gedanke keine irgend fremdartige Ausführung vertrug. Im Herbst 1834, nachdem er sich das Examen critique vom Halse geschafft, schickte sich H. zum Druck des „Kosmos“ an; allein die beiden ersten Bände, die zusammen den generellen Theil ausmachen, lagen erst in den Jahren 1845 und 1847 vollendet vor. Ursache dieser Zögerung war wiederum das Streben nach den letzten Gipfeln, in der Wahrheit des wissenschaftlichen Inhalts, wie in der Schönheit der künstlerischen Form; am meisten Mühe bereitete, was bei der Natur der Aufgabe wohlbegreiflich [380] ist, bei diesen Bänden jedoch die letztere. Composition und Stil sind gleich sehr überlegt und gefeilt, jene durchaus zum Vortheil, dieser bisweilen über die Linie schlichten Reizes hinaus, zumal in dem „Naturgemälde“, welches, noch immer unter diesem bezeichnenden Namen, als objective Darstellung der Weltphysik den größten Theil des ersten Bandes füllt. Vorausgeschickt ist ihm eine Erörterung des Begriffs der physischen Weltbeschreibung, die sich wieder vom Grunde einleitender Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses abhebt. Humboldt’s Kosmologie giebt sich in solcher Verbindung abermals selbst als die Verklärung einer ästhetischen Empfindung, als höchster, zur intellectualen Liebe gesteigerter Naturgenuß. Dem angemessen schildert der zweite Band die neue Wissenschaft von der subjectiven Seite, und zwar zunächst auf ihrer rein ästhetischen Vorstufe in Poesie, Malerei und Gartenkunst, welche jedoch durch ihre unbeholfene Generalrubrik, als „Anregungsmittel zum Naturstudium“, sofort über sich hinausweisen auf eine wirkliche Erkenntniß des Kosmos, deren Entwickelung als „Geschichte der physischen Weltanschauung“ sodann historisch dargelegt wird. Diese beiden Bände galten H. eigentlich nur für Prolegomena, doch erklärt er sie im selben Athem für die Hauptsache; ein Urtheil, das durch Mit- und Nachwelt bestätigt worden: von ihnen ist die Rede, wo man schlechthin von Humboldt’s Kosmos spricht. Aus einem Guß, in sich abgerundet, im besten Sinn ein Werk der schönen Litteratur, von edelster Volksthümlichkeit, erregten sie die Begeisterung der Nation; durch den duftigen Hauch vom Ende des 18. Jahrhunderts, der aus ihnen hervorweht, fühlte sich die Mitte des 19. über die eigene Wirklichkeit erhoben. Der Gegenwart, in der sie auftraten, von Haus aus nur zum unwesentlichen Theile angehörig, werden sie auch der Zukunft kaum fremder werden und sind gleich der Vergangenheit, der sie innerlich entsprossen, der Unsterblichkeit des Klassischen sicher. Mit ihnen können sich die folgenden Bände nicht messen, deren 1850 und 1858 noch zwei erschienen, während das unbedeutende Bruchstück eines fünften erst posthum herauskam. Ihr Zweck ist, den generellen Inhalt des Naturgemäldes in zweiter Lesung speciell zu wiederholen, nun aber ohne viel Rücksicht auf Composition, vielmehr mit dem peinlichsten Streben nach der Vollständigkeit und vor allem der strengen Genauigkeit, die der momentane Stand der Wissenschaft irgend erlaubte. Leider ist dadurch die Arbeit, die H. anfangs auf einen, dann auf zwei neue Bände berechnete, unmäßig angeschwollen und natürlich auch in jeder Weise verzögert worden, sodaß am Ende außer dem siderischen Theil vom tellurischen nur die allgemeine planetarische Physik des Erdballs einschließlich des Magnetismus ganz, die vulkanistische Geologie nur beinah fertig geworden ist, während alles übrige, namentlich Hydrographie, Meteorologie, Geobotanik, Thiergeographie und Ethnologie, nicht zustande kam. Was vorliegt, entbehrt, wie zu erwarten war, des künstlerischen Zaubers, der den ersten Bänden von früheren Tagen her anhaftet, es zeigt uns H. aber auch als modernen Gelehrten nicht mehr auf der Höhe selbständiger Production. Es hat eine gewisse Wahrheit, was er von diesem neunten und letzten Jahrzehnt seines Daseins selber gutmüthig scherzend zu sagen pflegte, daß er dies „unwahrscheinliche Alter“ nur noch als „antediluvianischer Urmensch“ in „Versteinerung“ durchlebe. Die Originalität seines Thuns war nun zu geduldigem Sammelfleiß eingeschrumpft; selbst seine eigenen schöpferischen Werke von ehemals standen ihm dabei so abgeschlossen und autoritativ gegenüber, wie die der Arago, Buch und Bessel oder die unter der Hand erbetenen Gutachten und Rathschläge der Jüngeren. Immerhin erwuchs daraus ein Handbuch der Astronomie und einiger Abschnitte der Erdphysik, das sich mit den besten ähnlichen Leistungen der Zeit in England und Frankreich vergleichen ließ, ja in einem Betracht ihnen sogar weit überlegen war, in dem [381] Reichthum nämlich an sicheren und merkwürdigen Daten zur Geschichte aller behandelten wissenschaftlichen Fragen. Insofern sind in diesen Bänden die Noten ungleich wichtiger, als der Text; und wenn der letztere der voraneilenden Forschung gegenüber von Jahr zu Jahr an actuellem Werth einbüßen muß, so sichern jene durch den wunderbaren Schatz von historischen und litterarischen Notizen, den sie wohlgeordnet in sich bergen, dem Ganzen doch eine unvergängliche Brauchbarkeit. Auch von diesem seinem schwächeren Ausgang her beleuchtet, erscheint der „Kosmos“ überhaupt noch einmal als ein gewaltiges Werk, als eine der umfassendsten und gewissenhaftesten Codificationen zeitgenössischer und voraufgegangener Geistesthätigkeit, die jemals von einem einzelnen Manne besorgt worden.

Die sonstige Existenz Humboldt’s in seiner letzten Lebensperiode ward vornehmlich durch seine höfische Stellung als Kammerherr bestimmt, von der er sich seiner finanziellen Abhängigkeit wegen niemals hätte losmachen können, die ihm aber auch an sich immer entschiedener zum gewohnten Bedürfniß ward, so mancherlei Beschwerden sie auch mit sich führte. Friedrich Wilhelm III. rühmt er nach, daß er ihm stets die Freiheit seiner abweichenden Meinung ungekränkt gelassen habe; doch empfand er in der wohlwollenden Nähe der rechtschaffenen, aber überaus trockenen Natur dieses Monarchen oft das Unbehagen langer Weile. Bei Friedrich Wilhelm IV., mit dem er wirklich in herzlicher Verbindung stand, dessen zarte Aufmerksamkeit er bei persönlichen und sachlichen Anliegen gerührt erfuhr, dessen edle Anlagen er als täglicher Gesellschafter häufig bewunderte, war ihm umgekehrt bald des geistreichen, aber unsteten Lebens und Treibens eher zuviel. Dazu kam, daß H. die constitutionellen Wünsche der Zeit, denen der König einen so lebhaften Widerstand entgegensetzte, aus innerster Ueberzeugung theilte. Der erst hochfahrende, dann verzagte, zuletzt wieder gewaltsame und dennoch ruhmlose Gang dieser phantastischen Regierung erfüllte sein Gemüth vor, während und nach der unklaren Revolution von 1848 mit wachsender patriotischer Trauer. Die Freunde, gegen die er in mündlichem oder schriftlichem Geplauder mit ernsten und spöttischen Klagen nicht zurückhielt, das Publicum, dem nicht unbekannt war, daß er zwar auf dem Rücken den goldenen Schlüssel des Hofamtes, zugleich aber die „Ideen von 1789“ im Herzen trug, alle die wenigstens, welche von dem unlenkbaren Wesen des Königs, wie von der liebenswürdigen Biegsamkeit Humboldt’s und daher von dem wahren Charakter ihres Umgangs keine rechte Vorstellung hatten, erhofften, ja begehrten im stillen von ihm politischen Einfluß. In Wahrheit hat er einen solchen nicht erlangt. Wol verhalf er ein paar allgemein humanen Grundsätzen zum Durchbruch, so der Judenemancipation und der Verfehmung der Sklaverei, gegen die er in seinen Schriften ein halbes Jahrhundert lang unermüdlich seine Stimme erhoben. Im übrigen aber resignirt er sich früh dahin, als eine „Atmosphäre“ zu wirken; wir verstehen: generell auf die Gesinnung seines Königs; speciell dessen Handlungen hat er nur in einzelnen Fällen persönlicher Herrscherpolitik geleitet, vornehmlich zur Gnadenbezeigung, sei es in Vergeben und Vergessen, sei es in Belohnung des Verdienstes oder in Aufmunterung löblichen Strebens. Und das natürlich vor allem, wo es sich um rein geistige Interessen handelte; will man von Kulturpolitik reden, so standen in ihr allerdings Friedrich Wilhelm und sein großer Kammerherr in reger Wechselwirkung. Wie war da gleich die Stiftung des Ordens pour le mérite für Wissenschaften und Künste, trotz aller Ableugnung, so recht im Geschmacke Humboldt’s! Zum Kanzler ernannt, hat er von 1842 bis an seinen Tod unablässig all seine rührige Diplomatie aufgeboten, um die schimmernde Institution im In- und Auslande bei Ansehen zu erhalten. Mit Vergnügen führt er den Vorsitz in der europäischen Versammlung [382] von Pairs des Geistes; in dem Glanze, den sie auf Preußen zurückstrahlt, erblickt er einen Gewinn für das an solideren Ehren damals arme Vaterland. Derselbe patriotische Gedanke jedoch beherrscht ihn auch bei der nützlicheren Bemühung, allen möglichen wissenschaftlichen oder künstlerischen Unternehmungen die freundliche Theilnahme des Königs und durch sie wiederum reale Unterstützung und Förderung von Seiten des Staates zu verschaffen. Wieviele Berufungen tüchtiger Männer hat er betrieben, wie häufig den Weggang anderer verhindert, wie unzähligen Besserung ihrer Lage, Erleichterung ihrer Arbeiten vermittelt! Wie einst in Paris der Consul aller Deutschen auf eigene Faust, so war er nun in Berlin und Potsdam gewissermaßen der freiwillige Cabinetsminister für sämmtliche Bildungsangelegenheiten. Unendlich kräftiger und systematischer würde er freilich in wahrhaft amtlicher Stellung haben wirken können. Denn so ward er leider vielfach in kleinen Krieg mit den zuständigen Behörden verwickelt, die, wie weit er sie auch übersah, doch oft um der hergebrachten Ordnung willen die unregelmäßige Intervention seiner Fürsprache zurückweisen mußten. Wenn dann all seine „Erniedrigungen“, all seine bestgemeinten Ränke umsonst gewesen waren, so sprang er nach alter Weise mildherzig im verborgenen dem darbenden Talente bei; selber in pecuniärer Bedrängniß, aus der er zuletzt niemals völlig herauskam, kannte er doch bei fremder Noth keine Sparsamkeit. Und wer hätte nicht gerade ihn am liebsten angerufen? Seit Goethe’s Tode rückt er allmählich in den Mittelpunkt des nationalen Ruhmes, seit dem Erscheinen des „Kosmos“ behauptet er unbestritten diesen Platz. Allein weit mehr als das: in einem Zeitalter, das der großen Fürsten, Feldherren und Staatsmänner entbehrte, das nicht mit Unrecht die technischen Wirkungen der Naturforschung als seine wichtigsten, weltumwälzenden Erlebnisse feierte, ward der Name Humboldt unvermeidlich der berühmteste auf Erden; er ward zum Symbol der vielgetheilten, und doch nach ideeller Vereinigung verlangenden Kulturarbeit des Jahrhunderts. In überschwänglicher Huldigung rief ihn die öffentliche Meinung der Gebildeten aller Länder zum „gekrönten Monarchen der Wissenschaft“ aus, und mit königlichem Anstand wußte sich der geduldige Greis in die mühselige Würde zu schicken. Mit ewig gleicher Leutseligkeit behandelte er Hoch und Gering, Gelehrt und Ungelehrt. Der Umfang, die Pünktlichkeit und der höfliche, selbst schmeichlerische Ton seiner Correspondenz suchen ihresgleichen. Auch durch sie hat er übrigens Rath, Anregung, Schutz und Beistand nach allen Seiten ausgestreut; in jeder Zone, soweit die Stimme der europäischen Civilisation einen menschlichen Wiederhall findet, ward er dadurch der Patron der Reisenden. Daheim aber bot ihm der Briefwechsel Ersatz für den geselligen Verkehr, aus dem er sich fast gänzlich zurückgezogen, seit er sich eingeübt hatte, Tag und Nacht – denn sein Schlaf schwand endlich auf das geringste Maß – zwischen Hofdienst und gelehrter Arbeit zu theilen. Eben deshalb spiegeln diese Tausende von schiefgekritzelten Billets so getreu die enorme Vielseitigkeit seines Wesens: sein ungeheures Gedächtniß, wie seine grenzenlose Wißbegier, seine Vertrautheit mit allerlei Sprachen, wie seine Theilnahme an der mannichfachsten Litteratur, vor allem die außerordentliche Lebendigkeit, womit er im höchsten Uralter die größten Begebenheiten, wie die kleinsten Vorgänge des Tages mit seiner Phantasie ergriff, mit seinem Urtheil stempelte. Und wenn dies Urtheil überwiegend die Form der Verneinung, die Farbe ironischer Stimmung an sich trug, so muß man sich billigermaßen erinnern, wie wenig dieser Greis, um seine eigenen Worte zu gebrauchen, im großen Weltlauf erfüllt sah „von dem vielen, wonach er seit früher Jugend mit immer gleicher Wärme gestrebt“. Er glaubte sich „in einem Theile des Niedergangs der weltgeschichtlichen Curve“ zu befinden; von der bevorstehenden Abschaffung der [383] Sklaverei und der Leibeigenschaft im Westen und Osten, von der Wiedergeburt Deutschlands, dem Untergange des weltlichen Papstthums und so mancher anderen Wandlung, die seinen Idealen entsprach, durfte er kein Vorgefühl hinabnehmen; nur noch als schwacher Abendhauch drang ihm der frischere Luftzug der „neuen Aera“ Preußens in die entschlummernde Seele. Auch um seine Person war nicht alles, wie es sein sollte; in wehrloser Güte verbriefte der einsame Alte, dem die Freunde nah und fern vorausstarben, seinem Kammerdiener zum Lohn für langjährige treue Pflege freiwillig seine eigene Schuldknechtschaft und setzte sich selbst zum eigenthumslosen Arbeiter in seinem Haushalt herab. Aber über alles half ihm immer wieder auch innerlich die unermüdliche Thätigkeit hinweg, die theoretische seiner Weltbeschreibung und die praktische der Gunst und Anfeuerung, die er fremder Production zuwandte. Bis in seine letzten Tage hat niemand, der eine Audienz bei H. erbat und erhielt, den unerreichten Meister des Gesprächs ohne neue Begeisterung verlassen; was ihn selber unerschöpflich belebte, strömte auf seine Umgebung über; seine gebeugte Gestalt war von dem kräftigen Odem einer unvergeßlichen Vorzeit geheimnißvoll umwittert. Seine Gesundheit erhielt sich wunderbar, nur 16 Tage lang hatte er das Bett gehütet, als er inmitten seines neunzigsten Jahres sanft entschlief. Das Grab ward ihm in Tegel an Wilhelms Seite bestellt. Nation und Zeitalter sahen ihn mit dem Gefühle scheiden, daß eine nicht mehr unentbehrliche, aber für immer unersetzliche, in keiner Zukunft ähnlich wiederkehrende Geisteserscheinung vorüber sei. –

Alexander v. Humboldt; eine wissenschaftliche Biographie im Verein mit R. Avé-Lallemant, J. V. Carus etc., bearbeitet und herausgegeben von Karl Bruhns, in 3 Bänden; Leipzig 1872. Band I. u. II. enthalten die Lebensbeschreibung, Band III. die Darstellung der Leistungen Humboldt’s nach verschiedenen Seiten der Wissenschaft (wozu noch verglichen werden mag W. C. Wittwer, Alexander v. Humboldt, Sein wissenschaftliches Leben und Wirken, Leipzig 1861). – Bibliographische Uebersicht der Werke, Schriften und zerstreuten Abhandlungen Humboldt’s bei Bruhns, II. S. 485 ff.; Verzeichniß der vor 1872 veröffentlichten Briefe und Briefwechsel ebenda, S. 549 ff. Dazu neuerdings: Briefe zwischen Alexander v. Humboldt und Gauß, herausgegeben von Karl Bruhns, Leipzig 1877, und Briefe Alexander v. Humboldt’s an seinen Bruder Wilhelm, herausgegeben von der Familie v. Humboldt, Stuttgart 1880 (beide Serien übrigens zum größten Theil nebst unzähligen anderen ungedruckten Briefen und Papieren in der großen Biographie bereits benutzt). Neues Material bei Alex. Daguet, Les barons de Forell, Lausanne 1876 und bei Paul Hassel, Gesch. d. preuß. Politik 1807–15. I. Thl. Leipz. 1881.