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ADB:Riesser, Gabriel

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Artikel „Riesser, Gabriel“ von Karl Wippermann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 586–589, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Riesser,_Gabriel&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 15:01 Uhr UTC)
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Riesser: Gabriel R., Vorkämpfer des Judenthums und deutscher Politiker, wurde am 2. April 1806 zu Hamburg geboren als jüngstes der dreizehn Kinder des Secretärs beim jüdischen Gericht in Altona, Lazarus Jacob aus Oettingen in Baiern (Rieß), welcher von der Ebene, in welcher sein Geburtsort liegt, den Beinamen Riesser angenommen hatte. Die Mutter war Frommaid Cohen, Tochter des Rabbiners der jüdischen Gemeinden in Altona und Hamburg. Infolge des durch die französische Besetzung Hamburgs 1810 herbeigeführten Umschwunges in der Lage der dortigen Juden siedelte der Vater 1813 nach Lübeck über, wo er mit Hamburger Freunden die Stadtlotterie pachtete. Hier besuchte R. seit 1817 das Gymnasium, seit 1820 aber das Johanneum in Hamburg, wohin die Eltern seit 1819 zurückgekehrt waren, 1824–26 studirte er die Rechte in Kiel, Heidelberg und, nachdem er hier im December 1826 promovirt hatte, 1827 in München. Sein lebhafter Wunsch, in Heidelberg, wo er 1828 und 1829 lebte, als Privatdocent an der Universität zugelassen zu werden, wurde, wenn auch seine Religion in Baden kein Hinderniß bildete, unter Vorwänden abgelehnt; ebenso 1830 ein Anmeldung in Jena zu gleichem Zweck. Er meldete sich nun zur Advocatur in Hamburg, obwohl freilich der hierfür vorgeschriebene Besitz des Bürgerrechts von ihm als Juden nicht zu erbringen war, wurde jedoch vom Senate abgewiesen. Bei seiner weichen Gemüthsart machte es auf ihn den tiefsten Eindruck, daß er überall, wo er Eintritt in die Bahnen des bürgerlichen Lebens gesucht, als Jude sich zurückgestoßen sah. Nach der Julirevolution schien ihm der Zeitpunkt gekommen, wo seine Glaubensgenossen eine Besserung ihrer rechtlichen Stellung erwarten konnten. Hierfür aufzutreten, setzte er als Aufgabe seines Lebens. In seiner 1831 in Altona erschienen Schrift „Ueber die Bekenner des mosaischen Glaubens in Deutschland. An die Deutschen aller Confessionen“, stellte er die Forderung gleichen Rechtes für die Uebernahme der gleichen Pflichten mit den übrigen Staatsangehörigen als eine unabweisbare hin. Mit dem Ausdruck schärfsten sittlichen Unwillens trat er gegen die oft vernommene Zumuthung des Uebertrittes zur christlichen Religion als des Preises der bürgerlichen Rechte auf. Er suchte zu zeigen, daß der Zeitpunkt gekommen sei, die Frage der bürgerlichen Gleichstellung der Juden mit dem rücksichtlosesten Ernste zur Sprache zu bringen. Die Schrift machte weithin den tiefsten Eindruck und bezeichnete eine Epoche in der Bildung und Entwicklung der deutschen Juden. Die Worte Riesser’s „Das Menschenrecht kann uns die Niedrigkeit mißgönnen, kann die Gewalt uns vorenthalten, aber an Menschenwürde, an männlichem Bewußtsein, an einer [587] ungetrübten menschlichen Bildung sollen sie uns kein Haarbreit rauben!“ begannen von den deutschen Juden das Gefühl der Unabänderlichkeit der Zurücksetzung zu lockern und mehr Selbstbewußtsein unter ihnen zu verbreiten. Auch auf christlicher Seite fand R. Anerkennung bei den politisch Liberalen. Zunächst aber erstand ihm ein ansehnlicher Gegner im Kirchenrath Paulus zu Hamburg. Dieser sprach in seiner Zeitschrift „Sophronizon“ unter dem Titel „Die jüdische Nationalabsonderung nach Ursprung, Folgen und Besserungsmittel oder über Pflichten, Rechte und Verordnungen zur Verbesserung der jüdischen Schutzbürgerschaft in Deutschland“ den Juden das Anrecht auf Bürgerrecht ab, weil sie eine abgesondert bestehende Nation sein und bleiben wollten und diese Absonderung als religiöse Aufgabe betrachteten, während die Rechte des Staatsbürgers voraussetzen, daß er sich als zur Nation des Landes gehörig betrachte. Hiergegen richtete R. sofort eine Schrift unter dem Titel „Vertheidigung der bürgerlichen Gleichstellung der Juden gegen die Einwürfe des Dr. H. E. G. Paulus. Den gesetzgebenden Versammlungen Deutschlands gewidmet“ (Altona 1831). Hierin führte R. mit großer Beredsamkeit und nicht ohne großen Eindruck in weiteren Kreisen die Sache der Juden. Fremd sei nur der, welcher nicht im Lande geboren und soweit man eine Lossagung von den Resten einer fremden Nationalität überhaupt verlangen könne, sei sie von den Juden längst vollzogen. Es darf zum größten Theil als eine Folge der Riesser’schen Schriften angesehen werden, daß überall, wo seitdem in den deutschen Bundesstaaten constitutionelle Freiheiten verlangt wurden, die bürgerliche Berechtigung der Juden mit dazu gezählt ward und daß diese in Petitionen ihre Ansprüche geltend zu machen suchten. Um den Eifer nicht erkalten zu lassen, das nöthige Material zu sammeln und Irrthümer in der Judenfrage zu berichtigen, gründete R. 1832 eine in Altona erscheinende Zeitschrift „Der Jude. Periodische Blätter für Religion und Gewissensfreiheit“. Darin behandelte er die Emancipationsfrage in Baiern, Baden, Kurhessen und Hannover und gewann so einen nicht unwesentlichen Einfluß auf die betreffenden Entscheidungen der süddeutschen Staatsmänner. Um dieselbe Zeit wandte er sich in der Schrift „Börne und die Juden“ (Altenb. 1832) gegen eine die Juden herabziehende, wider Börne gerichtete Schrift des Lehrers E. Meyer. Die Zeitschrift gab er 1833 wieder auf, als er in der Redaction der Hamburger Abendzeitung den französischen Artikel übernommen und sich so zum ersten Male einen ständigen Erwerb gesichert hatte. Dagegen setzte er die Reformbewegung in anderer Weise fort. Seinen Bemühungen gelang es Ende 1833, in Hamburg ein Comitee von Juden ins Leben zu rufen, um durch nachdrückliche Bitten die dortige Staatsbehörde zu erneuten Vorlagen wegen Verbesserung der bürgerlichen Stellung der Juden an die Bürgerschaft, welche frühere Vorlagen abgelehnt hatte, aufzufordern. Er verfaßte die im Juni 1834 übergebene Denkschrift; als sich aber bei wiederholten Crawallen gegen die Juden in Hamburg herausstellte, daß diese dort nicht einmal gehörigen Schutz finden konnten, hielt er es als Urheber der Judenfragen für angezeigt, die Vaterstadt vorläufig zu verlassen. Nachdem ihm seine dortigen Glaubensgenossen am 27. April 1836 eine ihm zu Ehren geprägte Denkmünze überreicht, auch die badischen Juden ihn durch Geschenke geehrt hatten, siedelte er nach Bockenheim in Kurhessen über, weil den dortigen Juden infolge eines Gesetzes von 29. October 1833 die Wahl des Berufes freistand. Hier verkehrte er viel mit bedeutenden Männern im nahen Frankfurt und war mit juristischen wie geschichtlichen Arbeiten beschäftigt. Er schrieb hier „Untersuchungen der Frage, ob die kurhessischen Capitalschuldner durch die ihnen in Napoleon’s Auftrag ertheilte Quittung von ihrer Schuld befreit worden“ (Frankf. 1837), ferner „Einige Worte über Lessing’s Denkmal, an die [588] Israeliten Deutschlands gerichtet“, mit der Aufforderung zur Förderung dieses Denkmals in Braunschweig, sodann „Jüdische Briefe zur Abwehr und Verständigung“ (Heft 1: 1840; Heft 2: 1842, Berlin) gerichtet gegen Pfizer, Menzel und Gutzkow. Auch war er 1839 mit Processen für den kurhessischen Staatsschatz beschäftigt. Eine große Enttäuschung erfuhr er durch die Ablehnung seines Gesuchs um Verleihung des Bürgerrechts in Bockenheim. Fest auf dieses rechnend, hatte er die Uebersiedelung aller seiner Angehörigen dorthin bewirkt. Schon dachte er an Auswanderung nach England, als in Hamburg ein Gesetz zu Stande kam, wonach künftig ein bis zwei jüdische Notare dort zugelassen werden sollten. Sofort zum Notar gewählt, kehrte er 1840 nach Hamburg zurück, wo er hinfort in vielen gemeinnützigen Angelegenheiten thätig war. Entschieden wandte er sich Ende 1843 gegen die Juden in Frankfurt a. M., welche in öffentlicher Erklärung das Ansehen des Talmud und die Beschneidung als religiösen Act verwarfen. Andererseits hob er 1813 in Weil’s „Constitutionellen Jahrbüchern“ gegen Bruno Bauer’s „Judenfrage“ den Zusammenhang der Judenemancipation mit allen anderen Aufgaben der liberalen Bestrebungen dieser Zeit hervor. Großes Aufsehen erregte er sodann durch eine Rede, in welcher er bei einem Festmahle am 18. October 1846 aufforderte, Alles an die Befreiung Schleswig-Holsteins zu setzen. Abdruck konnte die Rede nur in G. Struve’s „Deutschem Zuschauer“ in Mannheim finden. Der zweite Act von Riesser’s Bedeutung beginnt 1848. Auf Einladung des Heidelberger Ausschusses der Sieben nahm er am Vorparlament Theil, in welchem er sich durch eine gewandte Behandlung einer schwierigen Fragestellung bemerklich machte. Nach der Rückkehr legte er seine politischen Ziel in einem Flugblatt („Ein Wort über die Zukunft Deutschlands“, s. Hamburger Börsenhalle vom 26. April 1848) nieder. Ausgehend vom Grundsatz der Volkssouveränetät, sprach er sich für die constitutionelle Monarchie, ein Volks- und ein Staatenhaus und gegen jeden Census bei den Wahlen aus. In der deutschen Nationalversammlung gehörte R. als Vertreter Lauenburg’s dem Club des „Württemberger Hofes“ an, gründete dann aber mit Biedermann im „Nürnberger Hof“ eine Vermittelungspartei. Anfangs trat er im Parlament weniger hervor, bis er plötzlich am 29. August 1848 bei Berathung des § 13 der Grundrechte gegen einen Antrag M. Mohl’s, wonach die eigenthümlichen Verhältnisse des israelitischen Volksstammes Gegenstand besonderer Gesetzgebung sein sollten, in glänzender Improvisation Angriffe auf seine Glaubensgenossen mit der siegreichen Gewalt eines tiefgekränkten sittlichen Gefühls zurückschlug, und so mit einem Male den Ruf eines der besten Redner der Paulskirche gewann. Am 7. Septbr. wurde er in den Verfassungsausschuß und am 2. Octbr. zum zweiten Vicepräsidenten gewählt. In bemerkenswertherer Weise trat R. im Parlamente fernerhin hervor durch seinen öfteren Vorsitz als Vicepräsident, welche Stellung er jedoch Ende November 1848 nicht wieder annahm, nachdem er in derselben sich hatte hinreißen lassen, sich über das Verhalten der Linken mit Entrüstung zu äußern. Ferner am 20. November gegen das Ministerium Manteuffel und im März 1849 für directe Wahlen und den Malmöer Waffenstillstand, mit Entrüstung gegen einen Compromißvorschlag Simon’s. Sein Ruf als Redner hatte sich mit jedem neuen Auftreten gesteigert und erreichte den Gipfel am 21. März 1849 in seiner Schlußrede zur Vertheidigung des Welcker’schen Antrags wegen Anbietung der Krone an den König von Preußen. Diese Rede wurde vielseitig als ein Meisterstück klarer, scharfsinniger und zugleich von der Wärme edler Leidenschaft durchdrungener Beredsamkeit angesehen. Als Mitglied der Kaiserdeputation nach Berlin führte er mit Beseler die Unterhandlungen mit Graf Brandenburg. Eine Behauptung Varnhagen’s v. Ense im [589] 6. Bande der Tagebücher, der König habe sich gegen R. in einer für ihn als Juden beleidigenden Weise geäußert, wurde von R. im „Neuen Hamburg“ (1862, Nr. 103) für Erfindung erklärt. Nach dem Rücktritt des Ministeriums Gagern versuchte er mit Wurm und Biedermann noch einmal eine Vermittlungspartei zu bilden und trat am 26. Mai aus der Versammlung. Ueber die Gründe des Austritts und sein Verhalten im Parlament schrieb er einen „Rechenschaftsbericht“ an seine Wähler (Bonn 1849). Mitglied der Versammlung in Gotha am 26. Juni 1849, bezeichnete er deren Programm als das „der schmerzlichsten Resignation, der entsagendsten Vaterlandsliebe“. Als er im October 1849 in Hamburg den Besuch Gagern’s und Mathy’s erhielt, sprach er sich bei einem Festmahl in einer Rede gegen den Aufstand im südwestlichen Deutschland wie gegen die Reaction aus (Hamb. Nachr. vom 8. October 1849, Allg. Ztg. 1850 Nr. 305). Im Volkshause des Parlaments zu Erfurt ergriff er als Vertreter Hamburgs nur selten das Wort. Hinfort war er hier als Notar wieder sehr viel beschäftigt und suchte von hier aus für Besserung der Lage der Flüchtlinge aus Schleswig-Holstein zu wirken. Gegen die Rechtmäßigkeit des Bundesbeschlusses bezüglich Kurhessens trat er in den „Hamburger Nachrichten“ vom 7. und 11. November 1850 auf. 1856 unternahm er eine Reise nach Nordamerika und am 11. December 1857 nahm er wegen Kränklichkeit seine Entlassung als Notar. Als es sich im September 1859 in Frankfurt a. M. um die Gründung des deutschen Nationalvereins handelte, stimmte R. dagegen, er wurde aber doch in den Ausschuß gewählt, übernahm auch die Bildung eines Zweigvereins in Hamburg, in der Vereinsversammlung in Coburg 1860 ließ er sich jedoch nicht wieder in den Ausschuß wählen. Bei der Schillerfeier von 1859 hielt er im Hamburger Stadttheater die Festrede. Einen schönen Triumph seiner Bestrebung erlebte er, als er am 17. October 1860 zum Mitglied des Hamburger Obergerichtes ernannt und so der erste Richter jüdischer Religion in Deutschland wurde. 1862 unterlag er bei den Neuwahlen zur Bürgerschaft. Er starb in Hamburg am 22. April 1863. – Nekrol.: Von M. Veit in Berlin in Haym’s Preuß. Jahrb. 1863, Bd. II, S. 516; von Biedermann in Gartenlaube 1863, Nr. 34; von Berth. Auerbach in den Deutschen Blättern und von Isler im Neuen Hamburg 1863, Nr. 34. Am 2. Mai 1863 fand im neuen israeltischen Tempel in Hamburg eine Gedächtnißfeier für R. statt, bei welcher N. Frankfurter die Rede hielt. Freunde setzten ihm am 29. October 1865 in Hamburg ein Denkmal. Seine gesammelten Schriften erschienen 1867. Seine Abhandlung über die Wirkungen der Resolutivbedingung ist in Vangerow’s Pandekten I, 118 beleuchtet.

Hart, Ein Tag in der Paulskirche, 2. Th., S. 12 (Lpz. 1848). – Haym, D. d. Nat.-Vers., Bd. II. (Berl. 1849). – Biedermann, Erinn. a. d. Paulsk. (Lpz. 1849). – Laube, D. 1. d. Parl., Bd. III, S. 36. – Grenzboten, 1849. 1. Sem., 2. Bd., S. 59. – Gabr. Riesser’s Leben nebst Mitth. a. s. Briefen von Dr. W. Isler (Frkf. u. Lpz. 1871). – Im neuen Reich 1871. Bd. II, S. 438. – Grenzboten 1872, Nr. 2. – Biedermann in Histor. Taschenbuch für 1877. – E. Lehmann, Gabr. Riesser, ein Rechtsanwalt (Lpz. 1881). – Biedermann, Mein Leben, Bd. I, S. 370 (Breslau 1886).